In Kürze

Die Achillesferse der Notaufnahme

Berlin (pag) – Prognostische Unsicherheit ist die Achillesferse auf dem Weg zu einer ethisch gut begründeten Entscheidungsfindung in der Notaufnahme, sagt Dr. Annette Rogge beim Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.

Auf der Veranstaltung diskutieren Experten über Ethik in der Notaufnahme. Dort gebe es besonders viele Unsicherheitsfaktoren, erläutert Rogge, die Oberärztin für klinische Ethik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein ist. „In der Regel kommen unbekannte Patienten, es fehlen häufig Zusatzinformationen zur Anamnese oder anderen Erkrankungen.“ Gleichzeitig bestehe der Zwang zu einer schnellen Entscheidung.

Eine weitere Herausforderung: In der aktuellen pandemischen Lage müssen sich Mediziner damit auseinandersetzen, wie potenziell knappe intensivmedizinische Ressourcen „gerecht und ethisch gut begründet“ verteilt werden können. Dabei orientiert man sich laut Empfehlung der Fachgesellschaften an der Erfolgsaussicht, die intensivmedizinische Behandlung zu überleben. „Man kann sich vorstellen, was das für eine schwierige und komplexe Aussage beinhaltet“, sagt Rogge. Prognostische Unsicherheit könne man unter anderem durch Big Data reduzieren. Trotzdem müsse der Behandler noch eine prognostische Aussicht machen. Ein Rest Unsicherheit verbleibe.

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„Wir brauchen menschliche Zuwendung“

In der Zusatz-Weiterbildung Klinische Akut- und Notfallmedizin kommen Ethik und Palliativmedizin nicht vor, kritisiert Prof. Guido Michels, Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Im Moment kämen zwei bis zehn Prozent der Patienten mit einem palliativen Ansatz in die Notaufnahme, in Zukunft werde man wegen des demografischen Wandels etwa 40 Prozent haben. Er fordert darum: „Wir müssen viel mehr an dieses Konzept Sterben in der Notaufnahme denken.“ Mediziner müssten Sterben erkennen, um es zuzulassen. „In dieser Situation ist die Medizin im Sinne der Kuration nicht an oberster Stelle, wir brauchen menschliche Zuwendung.“ Laut Dr. Susanne Jöbges, Institut für Bioethik der Universität Zürich, ist es „eine der größten Herausforderungen in der Notaufnahme“, jemanden sterben zu lassen. „Dieses Zulassen, ich glaube das fällt uns sehr, sehr schwer.“