Welche Herausforderungen Expertinnen und Experten sehen
Berlin (pag) – Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach hat angekündigt, das Gesundheitswesen auf Evidenz auszurichten. Was es konkret bedeutet, wenn Evidenz und Wissenschaftlichkeit als Grundlage gesundheitspolitischer Entscheidungen sind, welche Weichen dafür gestellt werden müssen und wo die Grenzen dessen liegen, haben wir renommierte Expertinnen und Experten gefragt.
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„Überbordende Erlösoptimierung beseitigen“
Prof. Tanja Krones
Welches ist die wichtigste Weichenstellung für eine konsequent an der evidenzbasierten Medizin orientierten Gesundheitspolitik?
Niemand würde heute ernsthaft behaupten, dass es eine Alternative zu einer auf Evidenz, also auf wissenschaftlichen Fakten, beruhenden Medizin gibt. „Evidenz“ und „evidenzbasierte Medizin“ sind aber keine geschützten Begriffe, sondern vielfach nur Schlagworte. In Medizin und Gesundheitspolitik wird oft selektiv nur auf die Evidenz verwiesen, die zur eigenen Meinung und Überzeugung passt. Leitend sind also nicht die Fakten, sondern finanzielle Anreize. Aus Sicht des EbM-Netzwerks sind daher zentrale Kurskorrekturen erforderlich, die wir kürzlich als fünf Forderungen für eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik publiziert haben. Als wichtigste Maßnahme haben wir festgehalten, dass die finanziellen Fehlanreize und die überbordende Erlösoptimierung im Gesundheitswesen beseitigt werden müssen. Wir brauchen insgesamt eine konsequentere Ausrichtung an einer Daseinsfürsorge statt einer Kommerzialisierung des Gesundheitswesens.
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„Ein großes Gefälle“
Dr. Monika Lelgemann
Wie hoch ist der Anteil gesicherter evidenzbasierter Leistungen im GKV-Leistungskatalog? Wie stehen Sie zu einer kritischen Sichtung des Leistungskatalogs und dem Ausschluss von Leistungen ohne Evidenznachweis?
Die Ankündigung, beim GKV-Leistungskatalog verstärkt auf einen echten Evidenzbezug zu achten, interpretiere ich als Unterstützung der Arbeit des G-BA. Das ist der richtige Weg. Derzeit nehme ich allerdings in der Bewertung ein großes Gefälle zwischen Arzneimitteln und nichtmedikamentösen Leistungen wahr. Das darf so nicht bleiben. Bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden braucht es ebenfalls einen stärkeren datengestützten Vergleich zu etablierten Methoden durch aussagekräftige Studien – und zwar bevor Innovationen auf den Markt kommen. Bisher ist die Evidenz zu oft unzureichend. Bei vielen Leistungen, die schon vor Gründung des G-BA im Leistungskatalog waren, können wir nichts zum Evidenzlevel sagen. Ich glaube, Ressourcen auf die Bewertung neuer Methoden zu konzentrieren, fördert den konsequenten Evidenzbezug mehr, als es eine umfassende Sichtung des bestehenden Katalogs jemals könnte. Völlig klar ist: Unwirksame oder gar schädliche Methoden sind natürlich auszuschließen.
„Genaue Messung und schnelle Auswertung“
Prof. Christof von Kalle
Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie evidenzbasiert schätzen Sie die Gesundheitspolitik der vergangenen Legislatur ein? In welchem Bereich ist der Nachholbedarf an Evidenzbasierung besonders hoch?
Die SARS-CoV-2-Pandemie hat gezeigt, dass wissenschaftliche Daten aus Grundlagenforschung, translationaler und klinischer Forschung die einzige Chance sind, große Herausforderungen an das Gesundheitssystem wirksam, human, sozial und wirtschaftlich zu bewältigen. Wissenschaftliche Daten stehen im Gesundheitssystem aber oft hinter wirtschaftlichen Interessenkonflikten der Stakeholder zurück. Zudem ist evidenzbasierte Entscheidungsfindung ohne Evidenzerhebung nicht möglich. Dabei sind die genaue Messung und schnelle Auswertung primärer Daten entscheidend. Hierfür fehlt in Deutschland aber leider bisher eine nachhaltig geförderte Infrastruktur für randomisierte klinische Studien und eine systematische digitale Gesundheitsdatenerfassung völlig. Dies hat unserer Bevölkerung geschadet.
Klinisch ermöglichen nur vorangelegte digitale Datennetzwerke eine Beschleunigung der Entwicklung von Wissen und Innovationen, zum Beispiel zu Impfstoffen. Metaanalysen der finalen Stufen evidenzbasierter Medizin über randomisierte klinische Studien erzeugen zwar keine primäre molekulare oder biologische Evidenz, aber liefern später extrem wichtige Korrelationen zur Wirksamkeit neuer Verfahren. Mit den richtigen Werkzeugen wird die Wissenschaft in Zukunft also Evidenz noch besser bereitstellen und bei ihrer Interpretation beraten können. Dabei bleibt die Verantwortung für Entscheidungen zu Interventionen letztendlich die Aufgabe der demokratischen Volksvertretung in Bund und Ländern und der aus ihr gebildeten Regierung
„Im Mittelpunkt steht der Patient“
Dr. Ellen Lundershausen
Welche Baustellen muss eine stärker an der evidenzbasierten Medizin orientierte Gesundheitspolitik aus ärztlicher Sicht als erstes angehen?
Wenn Bundesgesundheitsminister Lauterbach sagt, dass er die Gesundheitspolitik nach Evidenz und Wissenschaftlichkeit ausrichten wird, dann halte ich das für vernünftig. Entscheiden wir Ärztinnen und Ärzte doch gleichfalls auf Grundlage einer evidenz- und wissenschaftsbasierten Medizin. Hinsichtlich der vom Bundesgesundheitsminister anzugehenden „Baustellen“, fällt mir zuerst die Krankenhauslandschaft ein. Dabei denke ich insbesondere an „Qualität“! So muss es eine Mindestbesetzung in den Abteilungen mit entsprechendem Personal, unter anderem Fachärzten, geben. Dies führt zu mehr Spezialisierung und Arbeitsteilung, wodurch auch beim Fachkräfteproblem etwas „Druck“ aus dem Kessel genommen wird. Wir in Thüringen haben bereits gute Erfahrungen gesammelt, dass in einzelnen Fachgebieten innerkollegial Mindestanforderungen definiert worden sind. Eine weitere Baustelle wäre die neue GOÄ. Diese ist erarbeitet und muss endlich in Kraft gesetzt werden. Darüber hinaus verweise ich auf das Papier der Bundesärztekammer „12 Punkte, die die neue Bundesregierung in der Gesundheitspolitik sofort angehen muss …“. Schlussendlich gilt: Im Mittelpunkt steht der Patient. Dessen Wohl ist der Orientierungspunkt.
„Differenzierte Folgerungen“
Prof. Stefan Huster
Sehen Sie Evidenzprobleme im Bereich der Arzneimittel?
Die Ausrichtung des Gesundheitssystems an den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin und Versorgung gehört zweifellos zu den großen gesundheitspolitischen Fortschritten der letzten Jahre und Jahrzehnte. Dies umfasst auch eine an der vorhandenen Evidenz orientierte Vergütung für medizinische Leistungen, wie sie das AMNOG-Verfahren für Arzneimittel anstrebt. Allerdings muss man sich immer der Grenzen dieser Vorgehensweise bewusst sein, will man sie nicht diskreditieren. Nicht selten wird die für die Bewertung erforderliche Evidenz nämlich (noch) nicht vorliegen, so dass Entscheidungen unter großer Unsicherheit zu treffen sind. Hier wird man dann den „(noch) nicht belegten Zusatznutzen“ nicht ohne Weiteres mit einem „belegt fehlenden Zusatznutzen“ gleichsetzen können, sondern im Interesse der Patienten, aber auch der Erhaltung der Innovationskraft der Industrie zu differenzierten Folgerungen gelangen müssen.
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„Evidenzbasierung heißt, Lernen zu wollen“
Prof. Reinhard Busse
Sie selbst bezeichnen sich als ein „Kind der evidenzbasierten Gesundheitspolitik“. Was ist die entscheidende Voraussetzung, um eine solche konsequent umzusetzen?
Das European Observatory on Health Systems and Politics unterstützt seit 1998 eine evidenzbasierte Politikgestaltung. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern ist Deutschland trotz mehrfacher Aufforderung nicht beigetreten. Warum? Weil zu viele Akteure bei uns davon ausgehen, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben – oder zumindest „eines der besten“. Wenn man nach Evidenz für die Aussage fragt, hört man zumeist, dass Deutsche im Ausland im Falle einer notwendigen medizinischen Maßnahme nach Deutschland möchten. Aber exakt das gleiche „Argument“ hört man in Großbritannien oder Spanien. Was brauchen wir stattdessen? Wir müssen lernen wollen. Das setzt voraus, dass wir die Möglichkeit in Erwägung ziehen, andere könnten es besser machen. Wir brauchen daher eine vorurteilsfreie Aufarbeitung der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems im Vergleich zu anderen hinsichtlich Zugänglichkeit, Qualität oder Beitrag zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit, ein „Health System Performance Assessment“. Und dann müssen wir gucken, was die Länder machen beziehungsweise gemacht haben, die besser abschneiden als wir. Ach so, und wir müssen noch bereit sein, auch selbst Daten zu sammeln und sie transparent zu machen, damit sie für Vergleiche zur Verfügung stehen. Eigentlich ganz einfach … Wann beginnen wir endlich?
„Echter politischer Wille dringend gebraucht“
Prof. Jürgen Windeler
Das IQWiG gilt hierzulande ein Gralshüter der evidenzbasierten Medizin. Welche Hürden haben Sie bei der Evidenzvermittlung in Richtung Politik als besonders hoch erlebt?
Ein evidenzbasiertes Gesundheitssystem zeigt ehrliches Interesse an qualifizierter Evidenz bei Systementscheidungen und im medizinischen Alltag. Dort, wo gesetzliche Regelungen diesen Bezug nicht ernst nehmen, besteht kein Anreiz eine gute Datenbasis zu schaffen. Die Unterschiede in der rechtlichen Regulierung zwischen Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Interventionen machen dies drastisch deutlich. Deutschland leistet derzeit in sehr vielen medizinischen Bereichen keinen relevanten Beitrag für die Schaffung qualifizierter Evidenz. Studien werden nicht gemacht, notwendige Strukturen vernachlässigt. Die Idee, für eine medizinische Maßnahme in Studien grundlegende Evidenz zu generieren und sie gleichzeitig uneingeschränkt in der Versorgung einsetzen zu wollen, ist ein Widerspruch in sich. Es braucht dringend den politischen Willen, qualifizierte Evidenz zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. Daraus muss ein neuer, sinnvoller gesetzlicher Rahmen entstehen, also die Schaffung von Anreizen und Strukturen, um den Begriff „evidenz-basiert“ im deutschen Gesundheitssystem wirklich mit Leben zu füllen.