Lieferketten – globale Märkte, lokale Folgen
Berlin (pag) – Nicht erst seit Corona bedrohen Arzneimittel-Lieferengpässe die Versorgung von Patienten. Die Pandemie jedoch verleiht dem Thema ungeahnte Dringlichkeit. Bei einem Experten-Talk der Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“ diskutieren Expertinnen und Experten über neue Impulse für die Sicherheit und Zuverlässigkeit von Lieferketten.
Dem Vorwurf, dass es in der Vergangenheit nichts unternommen hätte, um Lieferengpässen vorzubeugen, will sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nicht aussetzen. Bereits seit 2013 wurden Engpässe in der Behörde registriert, erläutert Gabriele Eibenstein, die als Fachgebietsleiterin im Institut mit dem Thema betraut ist. Mittlerweile existieren gefestigte Strukturen, um Lieferschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen. „2016 ist die Aktivität wesentlich dokumentiert worden, indem ein Jour Fixe etabliert wurde, in dem das BfArM sein Lieferengpassmanagement deutlich verbessert hat“, erläutert Eibenstein. Pharmazeutische Unternehmer melden seither auf Basis einer freiwilligen Selbstverpflichtung Lieferengpässe für versorgungsrelevante Arzneimittel, die dann in einem öffentlich zugänglichen Online-Portal des BfArM abrufbar sind.
Eibenstein lobt das gewachsene Bewusstsein für die Problematik seitens der Industrie und das Miteinander der beteiligten Akteure, das auch losgelöst von Mitteilungen funktioniere und auf „Transparenz, Kooperation, Abstimmung“ basiere. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Meldung von Engpässen besteht jedoch unverändert nicht für die Unternehmen. Welche Medikamente als versorgungsrelevant gelten, legt der besagte Jour Fixe, der mittlerweile in einen Experten-Beirat überführt wurde, fest. Darin vertreten sind neben Behörden wie dem BfArM und dem Paul-Ehrlich-Institut auch medizinische Organisationen und Industrieverbände.
Neue Ansätze beim Monitoring
Daneben setzt das BfArM seit Kurzem aber auch auf künstliche Intelligenz und Big Data. Das Institut erhebt umfangreiche Daten zu Produktionskapazitäten und Herstellungswegen und wertet diese mittels KI aus. Ziel ist es, Risikopotenziale möglichst lückenlos und weltweit abzubilden und Maßnahmen zu erarbeiten, die die kontinuierliche Verfügbarkeit aller Komponenten im Herstellungsprozess sicherstellen. Dafür bietet das BfArM den relevanten Akteuren unter anderem konkrete Beratungen an.
In Zukunft soll das Thema Lieferengpässe jedoch nicht mehr nur auf nationaler Ebene angegangen werden. „Auch Europa hat erkannt: Es bedarf einer harmonisierten Herangehensweise unter den Member States“, sagt Eibenstein. Mit Verweis auf aktuelle EU-Gesetzgebung kündigt sie zudem an: „Die EMA wird eine deutliche Erweiterung ihrer Kompetenzen im Bereich Lieferengpass-Management, -Koordination, -Festlegungen und -Maßnahmen erhalten.“ Noch sei die gesetzliche Grundlage dafür jedoch nicht in Kraft getreten.
Liefersicherheit muss sich lohnen
Bei der Diskussionsrunde wird deutlich: Die Initiativen des BfArM finden in der Praxis durchaus Anklang. „Es hat eine Weile gedauert und kam in Scheibchen“, resümiert Onkologe Prof. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Klinische Onkologie, mit Blick auf das verbesserte Lieferengpass-Monitoring. Aber: „Insgesamt sind wir froh, dass die Politik reagiert hat, auch wenn es vier bis fünf Jahre gedauert hat.“ Zwar wirkten sich schlagzeilenträchtige Lieferengpässe längst nicht in jedem Fall unmittelbar auf die Versorgung oder gar die Prognose der Patienten aus, doch aktuelle Beispiele wie das des kaum ersetzbaren Krebsmedikaments Vincristin machten deutlich: „Es muss alles getan werden, damit so etwas vermieden wird.“ Dies sei auch vor dem Hintergrund eines guten Arzt-Patienten-Verhältnisses unerlässlich. Aufgabe von Medizinerinnen und Medizinern sei es schließlich, Brücken zu bauen und Vertrauen zu schaffen. Dafür sei es „wichtig, dass wir Konstruktionen haben, die zuverlässig sind“, so Wörmann, der seine Feststellung mit einem Plädoyer für mehr europäische Arzneimittelproduktion verbindet: „Das muss qualitätsgesichert bei uns in der Region stattfinden, wo wir Einblick in die Herstellungsqualität haben und auch die Lieferketten selbst überwachen können.“
Kostendruck macht abhängig
In dieselbe Kerbe schlägt Prof. Frank Dörje, Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen und Präsidiumsmitglied beim Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA). Er macht vor allem den Kostendruck im Gesundheitswesen für die zunehmende Abhängigkeit von asiatischen Herstellern verantwortlich. Niedrige Preise bei gleichbleibender Qualität und Zuverlässigkeit? „Das ist ein Trugschluss: Man kann nicht alles gleichzeitig haben“, mahnt Dörje. Er betont, auch mit Blick auf die Erfahrungen im Zuge der Corona-Pandemie: „Die Rückverlagerung von Produktionsprozessen ist sicherlich eine wichtige Erkenntnis.“
In Ergänzung hierzu schlägt Dörje vor, für Ausschreibungen von Krankenkassen künftig neben einem weltweiten auch ein ausschließlich europäisches Vergabesegment zu schaffen. Das geht jedoch nicht zum Nulltarif, denn: „Dann haben Sie möglicherweise auch zwei Preissegmente“, so Dörje. Er hält trotzdem an seinem Vorschlag fest und fordert: „Wir müssen dafür sorgen, dass sich Liefersicherheit auch lohnt.“
Lieferketten im Lichte der Menschenrechte
Johannes Klotz, Referent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, bringt derweil einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein. Im Ministerium hat er zuletzt das Lieferketten-Sorgfaltspflichten-Gesetz begleitet, das Unternehmen mit Sitz in Deutschland dazu verpflichtet, die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten sicherzustellen. Dazu müssen sie ab 2023 in einem abgestuften System unter anderem Risikoanalysen durchführen, Präventions- und Abhilfemaßnahmen entwickeln und einen Beschwerdemechanismus für Betroffene einrichten.
Von dem Gesetz erfasst werden allerdings nur große Unternehmen mit mindestens 3.000 (ab 2023) beziehungsweise 1.000 (ab 2024) Beschäftigten. Neben der Einhaltung der Menschenrechte soll das Gesetz auch für mehr Transparenz in den Lieferketten sorgen, betont Klotz, der darin auch einen unmittelbaren Nutzen in Bezug auf die Liefersicherheit erkennt: „Aus Unternehmenssicht lassen sich Lieferengpässe gut vermeiden, wenn man seine Lieferketten kennt, weiß, wo Probleme liegen und eine Risikoanalyse durchführt.“ Auch hier dürfte die nationale Regelung jedoch nur eine Übergangslösung darstellen. Ein Vorschlag der EU-Kommission für eine europäische Regelung soll noch in diesem Jahr vorgelegt werden, kündigt Klotz an.