Ilka Wölfle über mehr Gemeinsamkeit und Koordination in der EU-Gesundheitspolitik
Ilka Wölfle behält für die deutsche Sozialversicherung die europäische Gesundheitpolitik im Blick, denn auch in Brüssel werden entscheidende Weichen der nationalen Gesundheitspolitik gestellt. Corona hat dafür gesorgt, dass in der EU gemeinsame gesundheitspolitische Anliegen besser koordiniert werden sollen. Welche Rolle dabei die Gesundheitsunion spielt, erklärt die Europa-Expertin im Interview.
Inwiefern liefert die Coronakrise ein „Window of opportunity“ für eine kohärentere europäische Gesundheitspolitik?
Wölfle: Während der Corona-Krise haben sich einige Schwachstellen der europäischen Gesundheitspolitik offenbart: Auf europäischer Ebene gab es seit jeher eher ein Nebeneinander an fragmentierten Projekten, die nicht immer ausreichend koordiniert waren. In der Pandemie war das natürlich fatal. Für Brüssel war die Situation ein Augenöffner, denn globale Krisen – die eben nicht an der Grenze enden – können nur gemeinsam bewältigt werden. Hier gilt es Kräfte zu bündeln, ohne zu sehr in die nationalen Kompetenzen einzugreifen. Der Ruf nach einer besseren Koordination von gemeinsamen gesundheitspolitischen Anliegen wurde lauter. Konsequenterweise ist daraus die Gesundheitsunion entstanden.
Wie schätzen Sie die von Frau von der Leyen angekündigte europäische Gesundheitsunion ein? Und wie bewerten Sie deren konkreten Umsetzungsschritte?
Wölfle: Sie möchte die Rolle der EU in der Koordinierung von gesundheitspolitischen Themen stärken, um so schneller auf globale Gesundheitsgefahren reagieren zu können, wie etwa auf Covid. Das Vorhaben ist zu begrüßen, denn es geht um eine bessere Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten. Allerdings sehen wir auch kontroverse Diskussionen, vor allem wenn es um die Verteilung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU geht. Aber das liegt in der Natur der Sache.
Sehen Sie die Gefahr von Doppelung bürokratischer Mechanismen und möglichen Zielkonflikten zwischen Gesundheitsunion und dem EU4Health-Programm?
Wölfle: Beides ist eng miteinander verzahnt. EU4Health stellt Gelder für Projekte der Gesundheitsunion zu Verfügung, etwa zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren. EU4Health ist somit ein wichtiger Baustein für die Europäische Gesundheitsunion.
Was macht für Sie eine progressive europäische Gesundheitspolitik aus? Wird eine solche gegenwärtig praktiziert oder setzt man bei der künftigen Gesundheitsunion zu einseitig auf grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren und Krisenmanagement?
Wölfle: Für mich bedeutet eine progressive Gesundheitspolitik nicht notwendigerweise mehr Rechtssetzung aus Brüssel, sondern vielmehr eine gemeinsame Strategie, mehr Koordination und mehr gemeinsame Initiativen – auch losgelöst von der Pandemie. Davon profitieren dann auch andere EU-Mitgliedstaaten, deren Gesundheitssystem nicht so ausgebaut ist wie das deutsche. Im Mittelpunkt sollten immer die Interessen der Versicherten und deren Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung stehen.
Und die Gesundheitsunion?
Wölfle: Mit der wird nun ein Schritt in die richtige Richtung gegangen. Die Initiative beschränkt sich nicht nur auf Gesundheitsversorgung in Zeiten von Covid. Der Blick ist viel weiter gerichtet, z.B. auf Lieferengpässe, auf die Versorgung von Krebspatientinnen und -patienten und die Nutzung von Gesundheitsdaten für gemeinsame Zwecke wie die Forschung.
Gesundheit ist Aufgabe der Nationalstaaten. Der EU wurden aber in diesem Bereich eine Reihe von Zuständigkeiten zugewiesen. Wird der Spielraum der Nationalstaaten zunehmend geringer?
Wölfle: Rechtlich gesehen spielt die EU in der Gesundheitspolitik eher eine ergänzende Rolle, da die Gesetze national ausgestaltet werden. Schaut man genau hin, wird schnell klar, dass auch viele auf nationaler Ebene geplante gesundheitspolitische Themen in Brüssel diskutiert werden. Zudem beobachten wir eine verstärkte Aufwertung von europäischen Initiativen.
Nehmen wir einmal die europäische Arzneimittelagentur EMA oder die neue Agentur HERA, die für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen verantwortlich ist. Hier werden mehr und mehr Kompetenzen in Europa gebündelt. Des Weiteren sehen wir auch eine Zunahme an Verordnungen, d.h. Regelungen, die direkt auf nationaler Ebene anwendbar sind, wie etwa die Medizinprodukteverordnung. Früher war das Medizinprodukterecht in Richtlinien gegossen, d.h. der nationale Gesetzgeber hatte bei der Umsetzung mehr Spielräume. Nach derzeitigem Stand möchte Brüssel auch für den europäischen Gesundheitsdatenraum eine Verordnung durchsetzen. Gerade deswegen sollten wir in jedem Fall verstärkt Brüssel im Blick behalten, da auch hier Weichen für die nationale Gesundheitspolitik gestellt werden.
Macht es für Akteure wie beispielsweise Patientenorganisationen mehr Sinn, ihre Themen in Brüssel als in Berlin zu adressieren?
Wölfle: Sowohl als auch! Denn Gesundheitspolitik spielt sich zunehmend auch auf EU-Ebene ab. Das haben wir gerade auch während der Pandemie gesehen. Nationale Themen werden oft auch in Brüssel diskutiert. Patientenorganisationen, die ihren Blick ausschließlich auf nationale Gesundheitspolitik richten, verpassen wohlmöglich wichtige Weichenstellungen und Diskussionsmöglichkeiten mit Politikerinnen und Politikern. Deshalb macht es Sinn, sich einem europäischen Dachverband anzuschließen, der ausschließlich Patienteninteressen vertritt. Patientinnen und Patienten können so viel stärker auftreten.