Einblicke und Ausblicke zur europäische Perspektive
Eine starke euopäische Gesundheitsunion ist die Vision von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sie 2020 in ihrer Rede zur Lsge der Nation verkündet hat. Stück für Stück wird diese momentan umgesetzt. Was sind die wichtigsten Programme, was kann Brüssel in puncto Gesundheit bewegen und warum wird das Thema meist „über Bande“ gespielt? Eine Übersicht.
Als Dr. Michael Horn vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kürzlich auf einer Tagung über Arzneimittelengpässe spricht, berichtet er nicht nur von deutschen Plänen und Strategien, sondern wirbt vor allem für einen europäischen Weg: „Wenn wir tatsächlich Gehör finden wollen, macht eine europäische Initiative Sinn, wo Ideen gleichartig vertreten und umgesetzt werden.“ Das sorge für die nötige Schlagkraft, um die Versorgungssituation deutlich zu verbessern. Momentan sei die europäische Arzneimittelstrategie im Begriff, „mit Leben gefüllt“ zu werden, berichtet der Vorsitzende des BfArM-Beirats zur Bewertung der Versorgungslage mit Arzneimitteln. Diese adressiere die wesentlichen Punkte zu Engpässen: etwa diversifizierte und sichere Lieferketten, ökologisch nachhaltige Arzneimittel, Mechanismen für Krisenvorsorge und -reaktion sowie last but not least den Aufbau einer offenen strategischen Autonomie der EU.
Auf dem Weg zur Gesundheitsunion
Arzneimittelengpässe sind eine gesundheitspolitische Herausforderung, die neben der nationalen Betrachtung auch zwingend nach einer europäischen Perspektive verlangt. Im Rahmen der EU-Arzneimittelstrategie geht Brüssel dieses Problem – neben weiteren Themen – an. Besagte Strategie ist allerdings nur eine von drei Säulen der EU-Gesundheitsunion, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgerufen hat. „Wir müssen eine starke Europäische Gesundheitsunion schaffen“, hat sie als Reaktion auf die Corona-Krise im September 2020 in ihrer Rede zur Lage der Union angekündigt.
Für Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung, ist das ehrgeizige Vorhaben weniger eine Union als die Chance, „eine Vielzahl bereits existierender Teilstrategien aus den Bereichen Gesundheit, Digitales und E-Health zusammenzufassen“. Prof. Helmut Brand von der Universität Maastricht drückt es kritischer aus. Der Experte für europäische Gesundheitswissenschaften und Berater der Europäischen Kommission, sieht die Initiative zumindest in Teilen als eine Mogelpackung: „Was man vorher schon gemacht hat, bekommt einfach ein neues Label“.
Neben der Arzneimittelstrategie ist der europäische Plan zur Krebsbekämpfung ein weiterer Bestandteil der Gesundheitsunion. Diese mit vier Milliarden Euro ausgestattete Initiative stützt sich wiederum auf unterschiedliche Konzepte der Union, insbesondere zu Digitalisierung, Forschung sowie Innovation. Die EU-Länder sollen bei der Krebsbekämpfung unterstützt werden. Die dritte und zentrale Säule der Gesundheitsunion ist schließlich das Thema Krisenvorsorge und -reaktion. Die Pandemie habe gezeigt, wie wichtig eine Koordinierung zwischen den europäischen Ländern für den Gesundheitsschutz ist, argumentiert die EU. Eine konkrete Konsequenz dieser Erkenntnis ist, dass die Befugnisse der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) erweitert wurden. Außerdem wurde eine neue Agentur geschaffen, die die Krise bereits im Namen trägt: die Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen, kurz HERA (Health Emergency preparedness and Response Authority). HERA soll nichts weniger als die Gesundheitssicherheit in der EU vor und während Krisen besser koordinieren, EU-Mitgliedstaaten, Industrie und relevante Interessenträger an einen Tisch bringen sowie medizinische Gegenmittel entwickeln, herstellen, beschaffen, lagern und gerecht verteilen. Eine weitere noch umfassendere Aufgabe lautet: Stärkung der globalen Krisenreaktionsarchitektur im Gesundheitswesen.
Nach vorne gestolpert
Die EU folgt damit Brand zufolge ihrem typischen Krisenmodus. „Wenn es ein Problem gibt, wird in Europa eine neue Agentur gegründet.“ Nach Contergan sei es die EMA gewesen, nach SARS das ECDC und Corona hat nun eben HERA aus der Taufe gehoben. Dass Europa meist nur in Krisen „voranstolpert“, ist unter Experten wohlbekannt. Mit der Coronakrise gebe es jetzt ein Window of Opportunity, etwas im Gesundheitsbereich zu bewegen, ist Brand überzeugt. Er warnt aber auch: „Dieses Fenster wird sich sehr schnell wieder schließen.“ Noch ist viel Bewegung in der europäischen Gesundheitspolitik. Da wäre auf Parlamentsebene etwa der neu eingerichtete Sonderausschuss für Corona. Der Sonderausschuss für Krebs hat dagegen gerade seine einjährige Arbeit mit einer Abschlussempfehlung beendet. Was außerdem auf der europäischen Gesundheitsagenda steht:
- Die Evaluation der Patientenmobilitätsrichtlinie wird im zweiten Quartal fortgesetzt, Experten erwarten gesetzliche Änderungsvorschläge.
- Stichwort Europäischer Gesundheitsdatenraum: Ein Verordnungsvorschlag der Kommission war eigentlich für April vorgesehen.
Da dieser jedoch vorher durchgestochen wurde, ist die offizielle Vorstellung auf Mai verschoben. - Europäische Strategie für Pflege und Betreuung: Die Vorschläge für die Ratsempfehlungen werden im dritten Quartal 2022 erwartet.
- Für das vierte Quartal 2022 ist eine Ratsempfehlung zum Thema antimikrobielle Resistenzen geplant.
- Im vierten Quartal sind zudem die Überarbeitung der allgemeinen Arzneimittelvorschriften, der Verordnung für Arzneimittel für Kinder und seltene Leiden sowie der Rechtsvorschriften über ergänzende Schutzzertifikate (SPC) vorgesehen.
- EU-HTA: Die ersten Bewertungen starten zwar erst 2025, aber hinter den Kulissen wird bei EUnetHTA 21 eifrig an Methodik, Standards und Co. gearbeitet, auch der Gemeinsame Bundesausschuss ist in diesen Prozess involviert.
Unter ferner liefen?
In der europäischen Gesundheitspolitik kommen derzeit verstärkt Verordnungen anstatt von Richtlinien zum Einsatz, hat Wölfle von der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung beobachtet. Sie verweist auf die Medizinprodukte-Verordnung, die Verordnung über In-Vitro-Diagnostika, die am 26. Mai Geltung erlangt, die geplante Verordnung zum Gesundheitsdatenraum und die Verordnung über die Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA), der ein mehr als zähes Ringen vorangegangen war.
Mehr Verbindlichkeit sowie viele Initiativen, die derzeit unter dem Eindruck von Corona gebündelt werden, das sind aktuelle Kennzeichen der europäischen Gesundheitspolitik. Darüber hinwegtäuschen, dass dieses Politikfeld in Brüssel bislang meist „unter ferner liefen“ rangierte, können sie jedoch nicht so ganz. Fakt ist: In Sachen Gesundheit hat die EU kein besonders weitreichendes Mandat. Gesundheitspolitik ist die Angelegenheit der Nationalstaaten, eine Einmischung in deren Organisation und Finanzierung der medizinischen Versorgung ist tabu. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur dann ins (gesundheits-)politische Geschehen eingreifen darf, wenn die Angelegenheit nicht auf der einzelstaatlichen Ebene gelöst werden kann. Folgerichtig ist die Generaldirektion Gesundheit vergleichsweise klein, die zuständigen Kommissarinnen und Kommissare kommen meist aus kleineren Staaten wie Malta und Zypern. „Kein deutscher Kommissar würde je den Gesundheitsbereich übernehmen“, ist Brand überzeugt. Auch das EU-Gesundheitsprogramm sei bei der Kommission nie beliebt gewesen.
Zwar hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof Ende der 1990er-Jahre in Sachen Patientenmobilität einiges und vor allem auch für EU-Bürger konkret Erfahrbares bewirkt, wenn man an die Kostenerstattung von Behandlungen im europäischen Ausland durch die heimische Krankenkasse denkt. Doch angesichts der überschaubaren Gestaltungsmöglichkeiten wird Gesundheit in Europa weiterhin meist über Bande gespielt. Von einer „Einmischungskompetenz“ spricht Brand. Diese geht auf den Maastrichter Vertrag zurück, mit dem vor 20 Jahren die Europäische Union begründet und in den die öffentliche Gesundheit aufgenommen wurde. Zwar ist der Geltungsbereich nicht sehr weit gefasst, dafür wurde eine klare Rechtsgrundlage für die Einführung gesundheitspolitischer Maßnahmen geschaffen. Im Vertrag von Amsterdam von 1997 wurden die Bestimmungen dann weiter gestärkt. Die vorrangige Zuständigkeit für Gesundheitsangelegenheiten blieb zwar bei den Mitgliedstaaten, doch der EU wurde mehr Gestaltungsspielraum eingeräumt. Sie konnte nun Maßnahmen mit dem Ziel erlassen, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen (nicht mehr nur „dazu beizutragen“ wie zuvor).
„Health in all policies“
Im Prinzip handelt es sich dabei um einen „Health in all policies“-Ansatz, die Beeinflussung gesundheitlicher Determinanten in Politikfeldern wie Umwelt, Ernährung oder Verkehr. Beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und beim Verbraucherschutz, der den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Verbraucher einschließt, hat die EU weitergehende Kompetenzen. Unstrittig ist, dass sich durch EU-weites Vorgehen in vielen Bereichen – zum Beispiel bei der Nahrungsmittelsicherheit, der Infektionskontrolle, dem Nichtraucherschutz oder der Produktsicherheit – der Gesundheitsschutz für mehr als 500 Millionen Bürger deutlich verbessert hat. Ob die neu postulierte Gesundheitsunion tatsächlich zu einer kohärenten Gesundheitspolitik auf EU-Ebene führt, muss dagegen noch abgewartet werden.
EU4Health – Gesundheit als Programm
1993 veröffentlichte die Kommission eine „Mitteilung über den Aktionsrahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“, so der sperrige Titel. Darin legt sie acht Aktionsbereiche fest – von der Gesundheitsförderung über Krebs und Arzneimittel bis hin zu seltenen Krankheiten. Diese Mitteilung war der Vorläufer der späteren mehrjährigen Gesundheitsprogramme. Diese sind jedoch stärker bereichsübergreifend und interdisziplinär zugeschnitten. Das derzeit laufende vierte Gesundheitsprogramm EU4Health (2021 bis 2027) verfügt über ein Volumen von 5,1 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Vorgängerprogramm von 2014 bis 2020 belief sich auf 449 Millionen. EU4Health soll unter anderem die Gesundheitsunion finanziell unterstützen. Im Gegensatz zu den regulären Förderprogrammen ist die Union nämlich nicht mit eigenen Finanzmitteln ausgestattet. Aufgrund der zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen zwischen EU4Health und Gesundheitsunion fragen Dr. Thomas Kostera und Uwe Schwenk von der Bertelsmann Stiftung, wie eine „Doppelung bürokratischer Mechanismen und mögliche Zielkonflikte“ vermieden werden sollen.
Weiterführender Link:
Health in all Policies – Sonderausgabe April 2020
www.gerechte-gesundheit.de/newsletter/newsletter-detail/newsletter-detail/58.html