Die Diskussion um Ambulantisierung nimmt an Fahrt auf
Berlin (pag) – Die Regierung will eine „moderne und bedarfsgerechte“ Krankenhausversorgung auf den Weg bringen, heißt es im Koalitionsvertrag. Starre Sektorengrenzen sind nicht mehr zeitgemäß. Daher wird die Ambulantisierung von Leistungen, die bisher ausschließlich im Krankenhaus erbracht werden, von vielen als längst überfälliger Reformschritt angesehen. Ein Überblick zu Debatten, Gutachten und Forderungen.
„Um die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen zu fördern, setzen wir zügig für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG um“, steht im Koalitionsvertrag auf Seite 66. Auf dem kürzlich stattgefundenen Krankenhausgipfel bekräftigt Prof. Edgar Franke, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium: „Wir müssen das Ambulantisierungspotenzial wirklich heben.“

Weniger Konflikt und Belastung
Gastgeber Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), wird beim Krankenhausgipfel konkret. Bis zu 20 Prozent der bisher vollstationär erbrachten Leistungen könnten Kliniken auch ambulant erbringen, sagt er mit Verweis auf internationale Studien. Auf Basis eines vom IGES Institut angefertigten Gutachtens könne ein Katalog an stationsersetzenden Leistungen definiert werden, bei denen die Krankenhäuser zukünftig nach medizinischen Aspekten selbst entscheiden, ob sie diese Leistungen klinisch-ambulant oder stationär erbringen. Und egal wie die Kliniken agierten, die Krankenkassen rechneten die Leistungen gleich ab. Dadurch verringere sich das Konfliktpotenzial zwischen Kliniken auf der einen Seite und Krankenkassen und Medizinischem Dienst auf der anderen Seite, meint Gaß.
Für die Pflegenden erhofft sich der DKG-Vorstand eine Entlastung, die auch dem Personalmangel entgegenwirke. Die Patienten wiederum müssten auch nach komplexen Eingriffen keine Nacht im Krankenhaus verbringen. Die Vertragsärzte will die DKG miteinbinden. Gaß: „Wir öffnen die Krankenhäuser mit ihrer hochwertigen medizintechnischen Infrastruktur für die intensivere Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und bauen damit die Barrieren zwischen den Sektoren spürbar ab.“ Es müssten allerdings ambulante Behandlungsstrukturen und Prozesse an den Krankenhäusern aufgebaut werden.
In dem von Gaß erwähnten Gutachten führt das IGES Institut 2.467 zusätzliche Leistungen auf, die demnächst ambulant durchgeführt werden könnten. Bislang zählt der Katalog für ambulantes Operieren (AOP) 2.879 Leistungen. Bei den meisten neu vorgeschlagenen Leistungen (1.482) handelt es sich um Operationen an der Haut, am Auge sowie am Muskel- und Skelettsystem. Die neuen Operationen und Prozeduren wurden laut IGES im Jahr 2019 insgesamt rund 15 Millionen Mal als vollstationäre Behandlung durchgeführt. „Das sind mehr als ein Viertel aller etwa 58 Millionen vollstationär erfolgten Leistungen“, hält das Institut fest.
Am Potenzial orientiert
Die hohe Zahl von Leistungen, die Krankenhäuser zukünftig auch ambulant erbringen könnten, resultiere aus einem „potenzialorientierten Ansatz“ der Gutachter. Kliniken sollten aber auch die Möglichkeit bekommen, Leistungen des AOP-Katalogs trotzdem stationär anzubieten. „Gründe dafür können erhöhte Krankheitsschwere, altersbedingte Risiken, soziale Begleitumstände oder erhöhte Betreuungsbedarfe der Patienten sein, also der jeweilige Behandlungskontext“, teilt das IGES mit. Diese Kontextfaktoren könnten weiter abgestuft werden. Damit können Patienten identifiziert werden, die einen erhöhten Versorgungsaufwand bei ambulanter Durchführung benötigen. „Anhand dieser Faktoren lassen sich die zu vereinbarenden sektoreneinheitlichen Vergütungen nach dem Schweregrad des Behandlungsfalles differenzieren und erhöhte Versorgungsbedarfe berücksichtigen.“
Wer kann, der darf?
Der AOK-Bundesverband nimmt das Gutachten zum Anlass, um die bisherigen gesetzlichen Regelungen für ein mehr an Ambulantisierung als nicht ausreichend zu kritisieren. Derzeit verständigen sich Vertragsärzte, Krankenhäuser und Kassen auf Bundesebene über den Katalog ambulantes Operieren und ein Vergütungssystem. Auf regionaler Ebene können Kliniken und Niedergelassene dann entscheiden, ob sie diese ambulanten Leistungen anbieten. Das Ambulantisierungsdefizit solle bisher allein über finanzielle Anreize beseitigt werden, kritisiert Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes.

„Ein ‘Wer kann, der darf‘-Ansatz trägt aber nicht zu effizienten regionalen Versorgungsangeboten bei und führt auf Dauer zu deutlich überteuerten Honoraren.“ Dabei sollte die Ambulantisierung der erste Anwendungsfall einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung sein, die im Koalitionsvertrag vorgesehen ist.
Um die sogenannten „ambulant-sensitiven“ Krankenhausfälle, die nach Einschätzung von Experten häufig auch ambulant versorgt werden könnten, geht es auch beim kürzlich vorgestellten Krankenhaus-Report. Bei diesen Fällen gibt es laut Analyse einen deutlichen Pandemie-Effekt: Der Report stellt 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 durchgängig starke Rückgänge fest, die auch in den Sommermonaten zwischen den Pandemiewellen anhielten. Sie reichten 2021 von minus 13 Prozent bei Herzinsuffizienz-Behandlungen bis zu minus 34 Prozent bei der Behandlung der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung. Für Jürgen Klauber, Mitherausgeber des Reports, können diese Erkenntnisse helfen, einen dauerhaften Strukturwandel zu befördern. Jedenfalls sollten sie bei der aktuell anstehenden Krankenhaus-Reform aufgegriffen werden“, fordert der Geschäftsführer der Wissenschaftlichen Instituts der AOK.
Wo die Einigkeit endet
Es ist wie so oft in der Gesundheitspolitik: Über das Ziel besteht weitgehend Einigkeit, aber am Weg dorthin scheiden sich die Geister. Das zeigt etwa eine Umfrage vom Deutschen Krankenhausinstitut und Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, die das Stimmungsbild von Vertragsärzten und Krankenhäusern zur Ambulantisierung ermittelt hat. Beide Gruppen wünschen sich demnach, dass der Umfang ambulant erbringbarer Leistungen erweitert wird. Als Hauptmotivation nennen Kliniken und Ärzte vor allem die Möglichkeit, „Betreuung aus einer Hand“ anbieten zu können, die es den Patientinnen und Patienten erlaube, schnell ins häusliche Umfeld zurückzukehren.
Weniger einig sind sich die beiden Versorgungsbereiche bei der Frage, wie ein sektorengleiches Vergütungskonzept bezogen auf die Personalkosten ausgestaltet sein soll. 36 Prozent der Kliniken bevorzugen eine pauschalierte Vergütung, aber nur 11 Prozent der Vertragsärzte votieren für diese Option. 42 Prozent von ihnen sprechen sich dagegen für eine einzelleistungsorientierte Vergütungssystematik aus. Dies trifft nur bei 18 Prozent der Krankenhäuser auf Zustimmung.
Ein Stichwort, das immer genannt wird, wenn es um die Vergütung der Ambulantisierung geht, sind die Hybrid-DRG, die es bis in den Koalitionsvertrag geschafft haben. Auf sie verweist etwa Staatssekretär Franke beim Krankenhausgipfel. Für den Grünen-Gesundheitspolitiker Armin Grau besteht ihr Charme darin, dass damit vieles in der Zusammenarbeit zwischen den Sektoren verbessert werden könne – und zwar ohne große Finanzierungsreform, erläutert der Bundestagsabgeordnete im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit. DKG-Chef Gaß sieht als Grundlage der Ambulantisierung zwar zunächst das Fallpauschalensystem, das aber durch ein Hybrid-DRG-System abgelöst werden könne.
Droht die „Jägerzaun-Ambulantisierung“?
Nicht alle überzeugen die Hybrid-DRG, ein Schlagwort ohne Substanz, monieren einige. Der Begriff sei nicht eindeutig definiert und suggeriere einen „Mixpreis aus ambulanter und stationärer Vergütung“, kritisiert etwa die Barmer. Der Begriff könnte im ambulanten Sektor die Erwartung schüren, dass die Vergütung sich sehr stark an den DRG orientiert und damit zu starken Kostensteigerungen führt, heißt es in einem Positionspapier der Ersatzkasse. Darin wird ein modulares Vergütungssystem gefordert, das eine Basisvergütung vorsieht. Ergänzt werden soll diese durch weitere Vergütungsbestandteile wie etwa Zuschläge für unterschiedliche Schweregerade der Behandlung.
Infokasten
„Komplex-ambulante DRG“
Ähnlich wie das modulare Konzept der Barmer klingt auch die Grundidee eines Gutachtens des Insitute for Health Care. Autor und Gesundheitsökonom Prof. Boris Augurzky macht sich darin für „komplex-ambulante DRG“ stark, „die auf Basis von Fallkosten der Eintagesfälle mit nur einer Prozedur kalkuliert werden sollten“. Dazu schlägt er ein nach Schweregraden differenziertes Stufenmodell – „Basis“, „erhöht“ und „sehr erhöht“ vor. Die Schweregrade definieren sich über die Patienteneigenschaften und die Länge der Prozeduren und führen zu einer gestuften Vergütung der komplex-ambulanten DRG: „je höher der Schweregrad, desto höher die Vergütung“, sagt Augurzky. Abhängig von Schweregrad und Leistungsart seien außerdem unterschiedliche Voraussetzungen an das Personal und die Infrastruktur notwendig. „Dabei ist es unerheblich, wer die Voraussetzungen erfüllt: Krankenhäuser oder niedergelassene Ärzte.“
Auch bei den Niedergelassenen, namentlich der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, herrscht Skepsis bezüglich der Hybrid-DRG. Für deren Vorstandsvorsitzenden Dr. Andreas Gassen sind diese erst einmal nur ein „Platzhalter“, wie er auf dem Fachärztetag des Spitzenverbands Fachärzte Deutschlands sagt. Er spricht lieber von „Hybrid-Ärzten“, also Mediziner, die sowohl ambulant wie auch stationär behandeln. Ganz wichtig ist ihm: „Es kann nicht sein, dass es für eine Prozedur zwei Preise gibt.“ Er warnt vor einer „Jägerzaun-Ambulantisierung“, in der ein Katalog mit ambulanten Leistungen definiert werde, die aber nur die Krankenhäuser erbringen dürften. „Es gibt auch einige Jägerzäune, die den vertragsärztlichen Bereich beschützen“, spielt Matthias Einwag, Vorsitzender des DKG-Fachausschusses Krankenhausfinanzierung, den Ball bei der Veranstaltung zurück. Er plädiert dafür, am gemeinsamen Strang zu ziehen. „Entweder gelingt es uns gemeinsam, die Versorgung der Menschen sicherzustellen oder es wird uns nicht gelingen.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.

„Komplex-ambulante DRG“
Ähnlich wie das modulare Konzept der Barmer klingt auch die Grundidee eines Gutachtens des Insitute for Health Care. Autor und Gesundheitsökonom Prof. Boris Augurzky macht sich darin für „komplex-ambulante DRG“ stark, „die auf Basis von Fallkosten der Eintagesfälle mit nur einer Prozedur kalkuliert werden sollten“. Dazu schlägt er ein nach Schweregraden differenziertes Stufenmodell – „Basis“, „erhöht“ und „sehr erhöht“ vor. Die Schweregrade definieren sich über die Patienteneigenschaften und die Länge der Prozeduren und führen zu einer gestuften Vergütung der komplex-ambulanten DRG: „Je höher der Schweregrad, desto höher die Vergütung“, sagt Augurzky. Abhängig von Schweregrad und Leistungsart seien außerdem unterschiedliche Voraussetzungen an das Personal und die Infrastruktur notwendig. „Dabei ist es unerheblich, wer die Voraussetzungen erfüllt: Krankenhäuser oder niedergelassene Ärzte.“