Im Gespräch

Demografie trifft auf GKV-Finanzkrise

Prof. Jürgen Wasem über verschleppte und zukünftige Reformen

Berlin (pag) – Der demografische Wandel gibt der Politik die Aufgabe, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen. Für die GKV hat es vor 20 Jahren eine Kommission gegeben, die den Namen ihres Vorsitzenden trägt: Rürup. Sein Konterpart war damals Karl Lauterbach. Die Herzog-Kommission, auf Geheiß der damaligen Oppositionsführerin Angela Merkel entstanden, hat ebenfalls Vorschläge unterbreitet. Um es kurz zu machen: Kein Ergebnis fand Eingang in die Gesetzgebung. Prof. Jürgen Wasem spricht im Interview über Reformdruck bei der GKV, der aktueller denn je ist.

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Trotz der zahlreichen Kommissionen stehen wir heute da wie zuvor. Ist die Beschreibung korrekt?

Wasem: Der Auftrag der beiden Kommissionen bezog sich nicht nur auf die Krankenversicherung. In der Rentenversicherung etwa hatte die Rürup-Kommission die Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahren und die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors vorgeschlagen. Beides ist ja dann auch in den Folgejahren eingeführt worden.

Aber bei der Krankenversicherung…

Wasem: … standen sich Rürup mit seinem Vorschlag einer Kopfpauschale und Lauterbach mit dem Konzept der Bürgerversicherung gegenüber. Von der Herzog-Kommission war der Übergang zu einem kapitalgedeckten System mit Kopfpauschalen vorgeschlagen worden. Keines der Konzepte ist umgesetzt worden. Und ich denke, es ist auch richtig zu sagen, dass die GKV in den 20 Jahren, die seitdem vergangen sind, nicht demografiefester geworden ist. Das ist insbesondere deswegen unbefriedigend, weil sich das Thema demografischer Wandel nicht erledigt hat. Im Gegenteil: In den jetzt vor uns liegenden 15 Jahren steigt der Altenquotient deutlich an – das hat die jüngste amtliche Bevölkerungsvorausschätzung noch einmal deutlich gemacht.

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Vor uns liegt ein größerer Versorgungsbedarf – weil mehr Alte – bei weniger Arbeitskräften und weniger Beitragszahlern. Haben wir für einen strukturellen Wandel überhaupt noch genügend Zeit?

Wasem: Die von der Rürup-Kommission diskutierten Lösungsvorschläge lassen sich natürlich noch umsetzen – wobei kontrovers diskutiert wird, inwieweit Bürgerversicherung und Kopfpauschale Antworten auf den demografischen Wandel geben. Soweit man eine Kapitaldeckung, also den Vorschlag der Herzog-Kommission, als ein Lösungsinstrument ansieht, ist es dafür in der Krankenversicherung schon zu spät. Dafür müssten jetzt so große Summen zusätzlich zur Finanzierung der laufenden Gesundheitsausgaben angespart werden, das ist völlig illusorisch. Das kann man gegebenenfalls für die Pflegeversicherung noch diskutieren: Da dort die Leistungen in nennenswertem Umfang erst nach dem 80. Lebensjahr anfallen, hätte man mehr Zeit.

Die Anpassung des Gesundheitswesens an den demografischen Wandel hat aber nicht nur etwas mit der Finanzierung, sondern auch mit den Versorgungsstrukturen zu tun. Politischen Willen vorausgesetzt kann man diese durchaus in den kommenden zehn Jahren an eine stark alternde Bevölkerung weiter anpassen. Ich hoffe sehr, dass die vom BMG im nächsten Jahr vorzulegenden Eckpunkte einer Strukturreform dies im Blick haben.

 

Die GKV hat goldene Jahre gerade erst hinter sich. Die Chance für eine Strukturreform der Krankenhäuser, die ja zunächst Investitionen kostet, wurde verpasst. Welche Konsequenzen wird das haben?

Wasem: Die Beobachtung trifft zu: Solange trotz ausgabenträchtiger Gesundheitsreformen die Beitragssätze stabil bleiben konnten, hat die Politik die Strukturreform der Krankenhäuser nicht angepackt. Ich erinnere mich, dass ich 2019 eine Gesundheitspolitikerin aus der Regierung gefragt habe, wie lange das gut geht. Die Antwort lautete: „Hoffentlich bis zur nächsten Bundestagswahl“. Jetzt ist wohl die Einsicht, dass Handlungsbedarf besteht, gestiegen, aber natürlich lassen sich Reformen in der Rezession sehr viel schwieriger realisieren. Gerade weil die Krankenhausreform erst auf mittlere Sicht zu geringeren Ausgabenzuwächsen führt, zunächst aber Geld auf den Tisch gelegt werden muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das aus Beitragsmitteln allein hinbekommen, sondern gehe davon aus, dass wir dafür die Haushalte von Bund und Ländern brauchen.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Politik nicht über die Legislatur hinaus sachgerechte Lösungen für Herausforderungen der Zukunft angeht?

Wasem: Für die Krankenversicherung ist – wie eben dargestellt – bereits die Analyse, was man eigentlich bei der Finanzierung tun müsste, alles andere als klar: Bürgerversicherung, Kopfpauschale, Kapitaldeckung? Bei der Rentenversicherung war die Situation einfacher, weil es rasch Konsens gab, im bestehenden System zu bleiben und man sich „nur“ darauf verständigen musste, wie stark die Wirkungen des demografischen Wandels den Beitragszahlern aufgebürdet werden sollen und in welchem Maß die Rentner den Wandel über geringere Rentenanpassungen selbst finanzieren. Hinzu kommt, dass wir in der Krankenversicherung Versorgungsleistungen absichern.

Das bedeutet?

Wasem: Die Festlegung eines Niveaus ist deutlich komplexer als in der Rentenversicherung – und wird zudem dadurch geprägt, dass die Ausgaben der Krankenkassen die Einnahmen und Einkommen der Leistungserbringer sind. Gleichwohl finde ich, wir müssen die Niveau-Diskussion auch für die Krankenversicherung führen. Sie kumuliert meines Erachtens insbesondere in der Frage nach der Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt in einer alternden Gesellschaft.

Nun kommt zur demografischen Herausforderung noch eine akute Not, verursacht durch Pandemie, Krieg, Inflation – bald Rezession. Das GKV-Löcher-Stopf-Gesetz für 2023 mag ja noch hinhauen, aber dann?

Wasem: Das Löcher-Stopfen ist deswegen notwendig, weil wir seit vier Jahren wieder ein stärkeres Wachstum der Ausgaben als der beitragspflichtigen Einnahmen haben. Bis einschließlich dieses Jahr haben wir das insbesondere über einen jeweils diskretionären Sonder-Bundeszuschuss finanziert. Wenn der plötzlich weitestgehend wegfällt, weil er politisch nicht mehr durchsetzbar ist, entsteht akuter Handlungsbedarf. Und da es vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eher unwahrscheinlich ist, dass Einnahmen- und Ausgabenwachstum von selbst im Gleichklang ist, müssen entweder dauerhaft zusätzliche Einnahmequellen erschlossen werden oder die Ausgabenzuwächse gebremst werden.

Kommen wir um Rationierung herum? Ulla Schmidt hat zu dem Instrument gegriffen, obwohl sie 2003 nur vier Milliarden Euro zum Löcher-Stopfen einsammeln musste.

Wasem: Na ja, ob das GKV-Modernisierungsgesetz schon Rationierung war, würde ich mit einem Fragezeichen versehen. Das Sterbegeld wurde abgeschafft und die Leistungspflicht für nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel ist weitestgehend entfallen. Richtig aber ist: Wir müssen die Frage nach dem Leistungsumfang im Solidarsystem stellen – auch wenn sie deutlich schwieriger als in der Rentenversicherung ist. Wobei man die Augen davor nicht verschließen darf, dass jede Leistungsbegrenzung natürlich eine Umverteilung von oben nach unten bewirkt, weil einkommensabhängig finanzierte Leistungen in die Finanzierung durch den Markt oder die PKV verlagert werden. In einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung haben wir das beim GKV-Modernisierungsgesetz schön zeigen können.

Wie kann eine Finanzierungsreform aussehen, die dem Problem angemessen ist?

Wasem: Wichtig ist sicherlich, dass die Maßnahmen – anders als der jeweils einmalig beschlossene Sonder-Bundeszuschuss oder der Griff in die Rücklagen von Gesundheitsfonds und Krankenkassen – „basiswirksam“ sind. Sonst wiederholt sich das Löcher-Stopfen alljährlich. Wir brauchen aus meiner Sicht einen Mix: einen dauerhaft höheren und dynamisierten Bundeszuschuss, mit Augenmaß weiter steigende Beitragssätze und auf der Ausgabenseite ein Konzept für einen kritischeren Blick auf den Leistungskatalog und die Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt.

 

Zur Person
Der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem befasst sich seit mehreren Jahrzehnten mit der sozialen Selbstverwaltung. Er hat verschiedene Bundesregierungen beraten. Die Liste seiner Funktionen ist lang. Der Lehrstuhlinhaber für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen ist unter anderem Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses und der Schiedsstelle für Preisvereinbarungen zwischen GKV-Spitzenverband und Herstellern digitaler Anwendungen.
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