Wie Ärztinnen und Ärzte mit der Sterbehilfe ringen
Berlin (pag) – Ein aufsehenerregendes Urteil und seine Folgen: Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Februar 2020 das Recht auf selbstbestimmtes Sterben anerkannt. Im Parlament haben mittlerweile die Beratungen zur Verwirklichung dieses Rechts begonnen. Parallel dazu findet in der Ärzteschaft der Meinungsbildungsprozess zu diesem Thema statt, das für viele Medizinerinnen und Mediziner ein Tabu ist.
Die Bundesärztekammer kritisiert, dass es sowohl der öffentlichen als auch der parlamentarischen Debatte bisher zu stark um die Frage nach der Verwirklichung des Suizidwunsches gehe. „Wir müssen als Gesellschaft aber auch Wege diskutieren, wie wir Menschen auffangen, die beispielsweise unter Depressionen oder Vereinsamung leiden“, heißt es im Vorfeld der Tagung „Suizidprävention vor Suizidhilfe“, die die Kammer im Oktober veranstaltet hat.
Unter Zugzwang
Die Veranstaltung ist nur ein Beispiel für den Meinungsbildungsprozess, der momentan bei vielen ärztlichen Organisationen im Gange ist – nicht ganz freiwillig, sondern vom Urteil des Bundesverfassungsgerichtes unter Zugzwang gesetzt. Das gleiche gilt für die Politik. Die Volksvertreter ringen schon länger mit dem Thema Sterbehilfe. In dieser Legislatur soll nun endlich ein Gesetz dazu verabschiedet werden. Dabei haben die Abgeordneten insbesondere zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht eine sehr weitreichende Entscheidung getroffen hat: Es spricht nämlich nicht nur Todkranken das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu. Dieses sei nicht an bestimmte Beweggründe wie eine unheilbare Krankheit gekoppelt. Auch Menschen, die völlig gesund sind, haben den Karlsruher Richtern zufolge das Recht, sich beim Suizid professionell begleiten zu lassen. Gerade mit diesem Punkt tun sich viele Ärzte schwer.
Grundsätzlich gilt: Zwar bleibt die aktive Sterbehilfe, die Tötung auf Verlangen, weiterhin in Deutschland verboten. Aber es darf das tödliche Medikament zur Verfügung gestellt werden, welches vom Sterbewilligen dann eingenommen wird. Der Deutsche Ärztetag hat zwar im Mai vergangenen Jahres als Reaktion auf das Urteil beschlossen, das berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe nicht mehr aufrechtzuerhalten. Betont wurde aber: Suizidbeihilfe ist keine ärztliche Aufgabe.
Seltenes Phänomen
Die Diskussion über die assistierte Selbsttötung fordert das ärztliche Selbstverständnis heraus. Gerade deshalb sind Befragungen von Fachgesellschaften ein so wichtiges Instrument, um einen Einblick zu den Einstellungen, Erfahrungen und zur Handlungspraxis der Mitglieder zu gewinnen. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie verfolgt das Thema schon seit Jahren und hat dazu bereits einige Umfragen initiiert. Der aktuellen, im September vorgestellten Befragung zufolge bleibt die assistierte Selbsttötung ein seltenes Phänomen: Lediglich 22 von 745 Befragten geben an, bereits Assistenz bei der Selbsttötung geleistet zu haben. Allerdings berichten gleichzeitig 40 Prozent der Umfrageteilnehmenden, dass sie bereits von Patientinnen und Patienten auf das Thema angesprochen worden seien. Studienautor Prof. Jan Schildmann von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg geht davon aus, dass Ärztinnen und Ärzte in der Hämatologie und Onkologie in Zukunft angesichts des veränderten rechtlichen Rahmens häufiger mit Anfragen konfrontiert werden. In der Schweiz habe sich die Zahl der assistierten Selbsttötungen seit 2010 etwa verdreifacht und mache dort heute knapp zwei Prozent aller Todesfälle aus.
Hierzulande befürwortet laut Umfrage nur eine Minderheit der Onkologen (26,7 Prozent) ein berufsrechtliches Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung. Freiverantwortlichkeit und unerträgliches Leiden werden als wichtige Kriterien für die Bereitschaft zur ärztlich assistierten Selbsttötung gesehen.
„Kein Richtig oder Falsch“
Auch die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) will mit einer Umfrage unter ihren Mitgliedern Haltungen und Erfahrungen zum assistierten Suizid ermitteln. „Es gibt hier kein Richtig oder Falsch“, betont DGS-Vizepräsident Norbert Schürmann. Die Befragung hat im September begonnen und soll für ein halbes Jahr online sein. Gefragt werden die Schmerzmediziner unter anderem, welche Patienten aktuell um Unterstützung bitten. Weiter will die Fachgesellschaft wissen: Sollen nur Palliativpatientinnen und Palliativpatienten das Anrecht auf unterstützten Suizid haben oder auch chronisch somatisch und/oder psychisch Kranke, wenn die Behandlungen keinen Erfolg zeigen? Oder haben auch gesunde Menschen einen Anspruch auf ärztliche oder nicht-ärztliche Unterstützung?
Wunsch nach klarem Gesetz
Im Jahr 2020 kamen 9.206 Personen in Deutschland durch Suizid zu Tode, die meisten davon im Rahmen einer psychischen Erkrankung. Suizid und Suizidprävention sind daher auch zentrale Themen der Psychiatrie und Psychotherapie. Hinzu kommt, dass die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit einer Suizidentscheidung, die vom Bundesverfassungsgericht zur Voraussetzung für eine legitime Assistenz gemacht wurde, wesentlich in die fachärztliche Kompetenz von Psychiatern fällt, betont die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Eine in diesem Jahr veröffentlichte Online-Befragung der Gesellschaft zeigt, dass sich deren Mitglieder eine klare gesetzliche Regelung der Suizidbeihilfe wünschen. „Sie sollte unter anderem eine Begutachtung der Freiverantwortlichkeit umfassen, die nicht von derselben Person durchgeführt wird wie die Suizidassistenz,“ ergänzt DGPPN-Präsident Prof. Thomas Pollmächer.
Insgesamt liegen Daten von 2.048 Befragten und damit von mehr als einem Fünftel der Mitglieder der DGPPN vor. Der überwiegende Teil hält die Beihilfe bei freiverantwortlichen Suiziden nur unter bestimmten Umständen für legitim, zum Beispiel im Angesicht einer terminalen Erkrankung mit hohem Leidensdruck. Jeder fünfte Befragte findet allerdings, es gebe keinerlei Umstände, die eine Assistenz beim Suizid legitimierten. Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung schließt nach Einschätzung von drei Viertel der Befragten eine selbstbestimmte Entscheidung nicht per se aus. Allerdings könne die Freiverantwortlichkeit durch psychotische Symptome, depressive Symptome, kognitive Beeinträchtigungen und Suchterkrankungen deutlich eingeschränkt sein.
Die Befragungen der Fachgesellschaften zeigen – ebenso wie die kürzlich erschienene Stellungnahme des Ethikrates – wie vielschichtig das Thema Suizid ist. Dennoch darf das Parlament nicht länger davor zurückschrecken und muss endlich eine verlässliche gesetzliche Regelung entwickeln, nachdem es diese Aufgabe bereits in der vergangenen Legislatur vernachlässigt hat. Das sind die Volksvertreter nicht zuletzt auch jenen Bürgern schuldig, die noch immer auf der Warteliste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte stehen und bereits seit Jahren hingehalten werden.