Berlin (pag) – Vor Corona gab es Schätzungen zufolge bis zu 300.000 Menschen, die an ME/CFS, dem Chronischen Fatigue Syndrom, leiden. Da dieses auch durch Corona ausgelöst werden kann, fürchten Experten, dass die Zahlen dramatisch ansteigen könnten. Das Gesundheitssystem reagiert auf die Betroffenen bislang hilflos. Das soll sich jetzt ändern.
Es gibt keine Versorgung, keine Netzwerke, keine ursächliche Therapie, zählt Christina Bernades von der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK) auf einem von mehreren BKKen organisierten Expertendialog die Probleme auf. Dazu gehört auch das fehlende Wissen über die Erkrankung unter Ärztinnen und Ärzten. Daher dauert es durchschnittlich fünf Jahre, bis die Betroffenen eine Diagnose erhalten.
Nur Fragmente
Im Rahmen eines Innovationsfonds-Projektes der SBK, der Bahn-BKK und der BKK VBU werden derzeit Diagnose- und Therapiekonzepte erarbeitet, die langfristig in die Regelversorgung kommen sollen. Auch an Long-Covid Erkrankte könnten hiervon profitieren. Dafür arbeiten die Betriebskrankenkassen unter anderem mit der Charité zusammen. Dort leitet Prof. Carmen Scheibenbogen das Fatigue Centrum. Auch sie beschreibt auf der Veranstaltung die extrem schwierige Versorgungssituation. Ein Beispiel: In ganz Deutschland gibt es nur zwei Ambulanzen für die Erkrankung: eine für Erwachsene an der Charité und eine für Kinder in München.
Der Ärztin zufolge fehlt es außerdem an einem grundlegenden Verstehen der Krankheit. „Wir haben bisher nur Fragmente.“ Vieles spreche dafür, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handele, an der deutlich mehr Frauen als Männer erkranken. Umso wichtiger sind klinische Studien. Doch bei deren Planung und Durchführung ist Scheibenbogen mit vielen Hürden etwa in Form von ausuferndem Datenschutz konfrontiert.
Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK, spricht das Thema Teilhabe an. Unternehmen, Schulen und Kitas könnten viel dafür tun, dass die Menschen nicht in ihren vier Wänden verschwinden. „Indem wir Home-Office- beziehungsweise -Schooling-Angebote und Möglichkeiten zu Pausen und Rückzug schaffen, geben wir den Menschen die Möglichkeit, wenigstens in kleinen Teilen ihren Alltag weiterzuleben.“
Auch bei den Rehakliniken ist ein Umdenken erforderlich. Da die Behandlung dort oft auf Aktivierung und Bewegung setzt, sind deren Angebote für Menschen mit ME/CFS nicht geeignet. „Körperliche Belastungen sind für ME/CFS-Patientinnen und -Patienten schädlich und können den Zustand deutlich verschlimmern“, warnt Peter Pollakowski von der Bahn-BKK.
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Zum Hintergrund
Myalgische Enzephalomyelitis (ME), auch bekannt als Chronisches Fatigue Syndrom (CFS), ist eine komplexe neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird häufig durch eine Infektionskrankheit wie den Epstein-Barr-Virus ausgelöst und nimmt oft einen schweren Verlauf. Zu den Symptomen gehören neben einer schweren Fatigue auch Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Gelenk-, Muskel- und Kopfschmerzen. Charakteristisch ist die Post-Exertional Malaise: Schon nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung verstärken sich die Symptome deutlich für einen längeren Zeitraum. Bei Schwerstbetroffenen kann diese bereits durch das Umdrehen im Bett ausgelöst werden. Viele Menschen mit ME/CFS sind arbeitsunfähig und können ihren Alltag nicht mehr bewältigen.