Im Fokus

Paradigmenwandel beim AMNOG

Risiken und Nebenwirkungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes

Berlin (pag) – Höhlt das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) das AMNOG aus? Das befürchten verschiedene Experten angesichts der im Gesetz enthaltenen Änderungen zum Verfahren. Welche Regelungen sind besonders folgenreich? Eine Übersicht.

Mitte September schlägt die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) angesichts der geplanten AMNOG-Modifizierungen Alarm. Konkret geht es um den geänderten Rahmen für Preisverhandlungen von Arzneimitteln mit geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen. Die ärztlichen Wissenschaftler befürchten, dass dadurch insbesondere chronisch kranken Patientinnen und Patienten der Zugang zu neuen wirksamen Arzneimitteln erschwert werde.

 

© stock.adobe.com, NOBU

Chroniker haben das Nachsehen

Zur Einordnung: Den Zusatznutzen neuer Medikamente bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss in vier Kategorien: gering, beträchtlich, erheblich oder nicht quantifizierbar. Künftig soll es ausnahmslos nur noch für die beiden obersten Kategorien – beträchtlich und erheblich – einen höheren Preis gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie geben können. Gemessen an den bisherigen Erfahrungen wären das noch 20 Prozent der neuen Arzneimittel statt bisher 56 Prozent, erläutert AWMF-Präsident Prof. Rolf Treede. „Damit würde ein wesentlicher Anreiz zur Verfügbarkeit neuer Arzneimittel in Deutschland wegfallen.“

Der AWMF zufolge hätte das vor allem negative Auswirkungen auf innovative Arzneimittel für chronische Erkrankungen wie sie in der Diabetologie, Endokrinologie, Hämostaseologie oder Psychiatrie besonders häufig seien. „Hier würde aus methodischen Gründen fast nie ein so positiver Zusatznutzen gesehen wie beispielsweise in der Onkologie“, betont Prof. Bernhard Wörmann, Vorsitzender der Ständigen AWMF-Kommission Nutzenbewertung von Arzneimitteln. Die bisherige Methodik der frühen Nutzenbewertung mit vier Kategorien müsse daher beibehalten und die Bewertung von Parametern wie Patient-Reported-Outcome und Lebensqualität gefördert werden, verlangt er.

„Ernsthafte Gefahr“

Ähnlich lautet die Einschätzung des unparteiischen Vorsitzenden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Auch Prof. Josef Hecken geht davon aus, dass diese AMNOG-Neuerung vor allem Arzneimittel für Chroniker betrifft, die etwa an Diabetes oder Koronarer Herzkrankheit leiden. „Hier sehe ich eine ernsthafte Gefahr, das ist ein Paradigmenwechsel“, warnt er eine Woche vor Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes auf einer Veranstaltung von RS Medical Consult. Hecken sagt voraus, dass er einen geringen oder nicht quantifizierbarer Zusatznutzen künftig nicht mehr vergeben brauche, „weil der dann am Ende des Tages nichts mehr wert ist“.

Das AMNOG hat im vergangenen Jahr seinen zehnten Geburtstag gefeiert und sich als Systeminnovation längst bewährt. Wegen der zahlreichen Änderungen, die das Verfahren im Laufe der Jahre erfahren hat, gilt es als lernendes System – Grabenkämpfe um Evidenz und Endpunkte inklusive. Die letzte große Änderung, die der Gesetzgeber eingeführt hat, ist die anwendungsbegleitende Datenerhebung. Wird das System jetzt mit dem GKV-FinStG überdreht? Der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, jahrelanger Vorsitzender der AMNOG-Schiedsstelle, befürchtet einen „erheblichen Flurschaden“.

Für Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, ist das AMNOG „zu wertvoll“, um es in einem Konvolut von anderen Regeln zu verschlimmbessern, sagt er bei RS Medical Consult. Einen Tag bevor der Bundestag das Gesetz verabschiedet, legt Joachimsen noch einmal öffentlich via Pressemitteilung nach: „Wenn ein zusätzlicher therapeutischer Vorteil, den der G-BA festgestellt hat, im Rahmen der Erstattungsverhandlungen nicht mehr vergütet werden soll, wird die Bewertung des G-BA zur Farce.“

Verzweiflungstat als richtige Idee

Das Gesetz enthält noch weitere Änderungen zum AMNOG. Beim 20-prozentigen Preisabschlag für Arzneimittelkombinationen erkennt Hecken ebenfalls „großen Diskussionsbedarf“. Zwar sei es „absolut richtig“, dass dieses Thema angegangen werde, denn die Kombinationen stellen nach seiner Einschätzung erhebliche Preistreiber dar.

„Negative Auswirkungen auf innovative Arzneimittel für chronische Erkrankungen“ befürchten Rolf Treede (oben links) und Bernhard Wörmann (oben rechts). Vor einem Paradigmenwechsel beim AMNOG warnt Josef Hecken (unten links). Jürgen Wasem (unten rechts) befürchtet einen „erheblichen Flurschaden“.
Fotos © pag, Fiolka

Mittlerweile gebe es in fortgeschrittenen Therapielinien – vor allem in der Onkologie, aber auch im Orphan-Bereich – keine ersetzenden Arzneimitteltherapien mehr. Stattdessen werden neue Komparatoren von Therapielinie zu Therapielinie auf teure Wirkstoffe aufgesetzt, erläutert Hecken. Diese „add-on-Systematik“ sei im heutigen Paragrafen 130b SGB V nicht wiedergegeben. Mit der Rasenmäher-Methode des Gesetzgebers, pauschal 20 Prozent abzuziehen, hat er allerdings Probleme. Wichtig sei eine Analyse der Kombinationen: Was ist der wertvollste Bestandteil, was lediglich „Beifang“? Skeptisch ist Hecken auch, ob die neue Regelung rechtlich Bestand haben wird. Sein Fazit lautet daher: die richtige Idee, aber von der Umsetzung her eher eine „Verzweiflungstat“.

Kein Problem hat das G-BA-Oberhaupt dagegen mit der abgesenkten Orphan-Drug-Umsatzschwelle und der Rückwirkung des Erstattungsbetrags ab dem siebten Monat. Bezogen auf den Erstattungsbetrag erinnert Hecken daran, dass es in anderen Ländern Europas je nach Preis zum Teil bis zu 500 Tage dauere, bis diese Arzneimittel im dortigen Sozialversicherungssystem überhaupt erstattungsfähig seien. „Bei uns ist das ab Tag eins der Fall.“ Für ihn handelt es sich daher um eine Änderung, die längst überfällig und ordnungspolitisch sinnvoll sei, deren Einsparvolumen er jedoch für überschaubar hält.

Kaum Protest

Auffällig ist, dass die AMNOG-Änderungen im gesetzgeberischen Prozess und der begleitenden öffentlichen Diskussion nahezu kaum eine Rolle gespielt haben – wenn man von einigen Interventionsbemühungen in letzter Minute absieht. Bemerkenswert ist etwa der Vergleich zum Ärzteprotest angesichts der einkassierten Neupatientenregelung. Darüber wundert man sich offenbar selbst im Bundesgesundheitsministerium. Entsprechend zurückhaltend fallen die Modifikationen in den Änderungsanträgen der Regierungsfraktionen zum AMNOG aus. Statt auf 20 Millionen Euro wird die bisherige 50-Millionen-Umsatzschwelle für Orphans jetzt auf 30 Millionen abgesenkt. Stichwort Kombinationstherapien: Jene mit beträchtlichem Zusatznutzen verschont der Gesetzgeber vom Abschlag. Außerdem haben die MdBs ergänzt, dass die Folgen der Änderungen im kommenden Jahr vom Bundesgesundheitsministerium evaluiert werden sollen. Zusammen mit dem Bundeswirtschaftsministerium werden die Auswirkungen auf die Versorgung und den Standort bewertet.