Im Fokus

Problem vertagt

Eine nachhaltige GKV-Reform lässt weiter auf sich warten

Berlin (pag) – Die gesetzliche Krankenversicherung ist nach einigen goldenen Jahren in schweres Fahrwasser geraten. Das umstrittene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) behebt das Milliardendefizit nur kurzfristig. Bleibt die Hoffnung auf ein Folgegesetz im kommenden Jahr, das die strukturellen Herausforderungen der GKV nachhaltig und gerecht angeht.

© stock.adobe.com, Ulia Koltyrina; Bearbeitung: pag, Fiolka

Von der Öffentlichkeit bleibt der Umstand, dass ein Sozialversicherungszweig mit einem zweistelligen Milliardendefizit ringt, weitgehend unbeachtet. Das dürfte an der gegenwärtigen Konkurrenz gleich mehrerer Krisen liegen: Krieg in der Ukraine, Klima- und Energiekrise, eine bevorstehende Rezession und der Dauerbrenner Corona. Die GKV läuft da unter ferner liefen. Vielleicht ist das Thema auch zu abstrakt, vermutet die Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Carola Reimann bei einer Veranstaltung der Allgemeinen Ortskrankenkassen, bei der es darum gehen soll „Gerechtigkeitslücken in der GKV-Finanzierung“ zu schließen.

Gerecht wird das GKV-FinStG von kaum einem Akteur des Gesundheitswesens empfunden. Eher schlecht als recht gleicht es das 17-Milliarden-Defizit des kommenden Jahres aus. Am Tag, als die Volksvertreter ihren Segen dazu geben, bringt es der BKK-Dachverband in einem Tweet auf den Punkt: Die Finanzierung zum Stopfen der Finanzlücke in der gesetzlichen Krankenversicherung sei „nicht fair verteilt“. Die Hauptlast tragen die Beitragszahler, kritisieren die Betriebskrankenkassen.

Goldene Jahre

Die Hintergründe der tiefroten Zahlen stellt der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen auf der AOK-Veranstaltung dar. Die Jahre 2015 bis 2019 sind für ihn „goldene Jahre der Gesundheitspolitik“, seinerzeit waren nämlich die beitragspflichtigen Einnahmen und die Ausgaben der Kassen im Einklang. Diese Zeit hat die Politik für zahlreiche ausgabenintensive Gesetze genutzt. 2019 deutete es sich laut Wasem bereits an, ab 2020 geht die Schere dann immer weiter zwischen Ausgaben und beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten auseinander. Das habe auf der Ausgabenseite wenig mit COVID zu tun, schließlich sei dieser Kostenblock weitgehend über Bundesmittel finanziert worden, erläutert der Ökonom. Auf der Einnahmenseite habe man es aber durchaus mit den Folgewirkungen des reduzierten Wirtschaftswachstums zu tun.

Mit dem Auseinanderdriften von Einnahmen und Ausgaben nimmt die strukturelle Unterdeckung der GKV deutlich zu: von 30 Milliarden im Jahr 2019 auf 50 Milliarden in diesem Jahr. Aufgefangen wurde dieses Defizit – neben einer merklichen Erhöhung der Zusatzbeiträge und einem Abbau der Kassenrücklagen – vor allem durch die Einführung eines Sonder-Bundeszuschusses. Wenn man den Sonderzuschuss streicht – wie mit GKV-FinStG geschehen – „dann hat man sofort ein zu stopfendes Loch“, sagt Wasem. Er macht klar, dass das im Oktober verabschiedete Gesetz nur auf „knappste Kante“ für 2023 genäht sei. Dauerhafte Regelungen seien daher dringend erforderlich.

Keine Chance mit Bordmitteln

Dass das Stabilisierungsgesetz „keine Antwort auf die Gesamtherausforderung“ liefere und für eine nachhaltige Sicherung nicht ausreichend sei, räumt Heike Baehrens (SPD) auf der AOK-Veranstaltung im September ein. Nur kurze Zeit später kündigen Gesundheitspolitikerinnen und -politiker der Ampel ein Folgegesetz für das kommende Jahr an. Anlässlich der Verabschiedung des GKV-FinStG im Bundestag twittert Maria Klein-Schmeink von den Grünen: „…die Arbeit an einer nachhaltigen und gerechten Lösung für 2024 ff beginnt jetzt.“

Eine nachhaltige Lösung muss die demografische Entwicklung zwingend mitdenken, denn bis etwa 2035 gehen die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge in den Ruhestand. Auf diese Herausforderung weist DAK-Chef Andreas Storm bei einer Veranstaltung von RS Medical Consult im Oktober eindringlich hin. Er nennt folgende Zahlen: Der Anteil von Rentnern bezogen auf Erwerbsbevölkerung beträgt im Jahr 2010 40 Prozent, 2040 wird er dagegen bei 70 Prozent liegen. Diese Entwicklung führe auf der Ausgabenseite tendenziell zu höheren Leistungsausgaben. Eine weitere Konsequenz: „Wenn Menschen ins Rentenalter kommen, sinken die Einnahmen dieser Versicherten drastisch gegenüber der Erwerbsphase“, sagt Storm.
Zur Erinnerung: Der Versicherte zahlt als Erwerbstätiger 16 Prozent Beitragssatz auf seinen Bruttolohn, im Ruhestand dagegen 16 Prozent Beitrag auf seine Rente. „Deshalb haben wir hier auch ein strukturelles Einnahmenproblem“, warnt der Kassenchef. Er sagt voraus: „Zwischen 2020 und 2035 geht demografisch in diesem Land die Post ab.“ Mit Bordmitteln gebe es keine Chance, die Schere zwischen GKV-Einnahmen und -Ausgaben wieder zu schließen.

Dringliche Warnungen vor den Folgen des GKV-FinStG: Carola Reimann und Andreas Storm. Auch Josef Hecken (rechts) sieht die GKV vor massiven Herausforderungen. Fotos © pag, Fiolka

Mit Volldampf gegen die Wand

Der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesauschusses, Prof. Josef Hecken, spitzt das von Storm erläuterte Problem weiter zu. Künftig werde man es vermehrt mit Rentnern zu tun haben, die unstete Erwerbsbiografien aufweisen und teilweise ihr Leben lang nur wenig verdient haben. „Mindestlohn ist schon nichts, 48 Prozent vom Mindestlohn ist gar nichts und 16 Prozent Beitrag von gar nichts – da rentiert sich am Ende des Tages der Beitragseinzug nicht mehr.“ Außerdem kumuliere die demografische Entwicklung mit dem medizinisch-technischen Fortschritt. Immer mehr Erkrankungen, die früher zur Auszahlung des Sterbegeldes geführt hätten, seien heute behandelbar. Hecken befürchtet daher: „Wir fahren mit Volldampf gegen die Wand.“

Eine nachhaltige und faire Weiterentwicklung der GKV muss Einnahmen und Ausgaben betrachten. Der, so Hecken, „größte und ineffizienteste“ Ausgabenblock der GKV sind die Krankenhäuser. Konsens besteht seit Langem, dass eine Strukturreform dieses Sektors überfällig ist. Allerdings muss für eine solche Reform zunächst zusätzliches Geld in die Hand genommen werden. Einiges an Zeit dauert ein solch umfassender Reformprozess ebenfalls.

Vorschläge für mehr Mittel gibt es reichlich

Bezüglich der Einnahmen werden vielfältige Maßnahmen diskutiert. Am häufigsten: die Aufstockung der GKV-Beiträge von ALG-II-Beziehern. Ein Vorhaben, das bereits im Koalitionsvertrag der Großen Koalition stand und das zu Reibereien mit dem Arbeitsminister führen dürfte. Einige Politiker nennen die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze als Option. Wasem regt beispielsweise an, die Beitragsgrundlage auf Arbeitgeberseite zu erweitern. Bisher seien lohnintensive Firmen benachteiligt. Denkbar sei eine zweite Säule, früher als „Maschinensteuer“ diskutiert. Die Innungskrankenkassen schlagen außerdem vor, einen Anteil aus den Steuereinnahmen auf Alkohol und Tabak der GKV in die Kassen zu spülen.

Welche Reformschritte letztlich realisiert werden, ist derzeit noch völlig offen. Festzuhalten bleibt: Die Erwartungen sind groß, die politischen Spielräume eher gering.