Berlin (pag) – Kann Digital Health zu mehr Gerechtigkeit in der Versorgung beitragen? Diese Frage wird bei einer von Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und Holtzbrinck Berlin veranstalteten Diskussionsrunde debattiert. Unter der Überschrift Gesundheitsgerechtigkeit geht es um Chancen und Grenzen digitaler Angebote.
Psychisch kranke Menschen müssen sich lange gedulden, bevor sie einen Behandlungsplatz bei einem Psychotherapeuten bekommen. Einer Auswertung der Bundespsychotherapeutenkammer zufolge warteten im Jahr 2019 rund 40 Prozent der Patientinnen und Patienten zwischen drei und neun Monate auf ihren Behandlungsbeginn. Dass sie psychisch krank und behandlungsbedürftig sind, wurde vorher in einer speziellen Sprechstunde festgestellt. Seit der Corona-Pandemie hat sich der Mangel an Behandlungsplätzen noch verschärft.
Patienten werden depriorisiert
Nora Blum weiß um die Unterversorgung und empfindet die Situation als ungerecht. Ebenso wie die Kammer fordert sie mehr Kassensitze für Therapeuten. „Die Patienten werden depriorisiert“, kritisiert sie auf der Veranstaltung. Blum hat mit den Online-Kursen von Selfapy ein digitales Hilfsangebot für Menschen mit psychischen Belastungen wie Depressionen oder Angststörungen entwickelt. Bezahlt wird eine Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) von den Krankenkassen, wenn eine ärztliche Verordnung vorliegt.
Die App-Gründerin betont, dass das digitale Angebot auch Betroffene erreiche, die keinen Zugang zum herkömmlichen Versorgungssystem hätten. Sie spricht von Personen, die im ländlichen Raum wohnen und denen Kraft und Zeit fehle, 20 weitere Therapeuten abzutelefonieren. Eine App zu installieren sei im Vergleich zu anderen Hürden der Versorgung einfach zu bewerkstelligen. Momentan wird das Angebot in andere Sprachen übersetzt, um den Kreis möglicher Nutzerinnen und Nutzer zu erweitern.
Blum spricht auch über die Grenzen ihres Angebots: Die App ist beispielweise nur für Personen mit einer leichten oder mittelschweren Depression zugelassen. Für schwer Erkrankte ist sie nicht geeignet. Trotzdem stellt sich die Frage, ob digitale Gesundheitsangebote dazu geeignet sind, Versorgungsengpässe abzumildern. Machen sie die Versorgung gerechter?
Apps und medizinisches Ethos
Für die Medizinethikerin Prof. Verina Wild ist Digital Health eine der großen Ideen, um niedrigschwellig und kostengünstig benachteiligte Gruppen zu erreichen. Wild unterscheidet bei Apps allerdings zwischen Anbietern, die ihre Anwendung als DiGA anerkennen lassen und in medizinischen Studien die Wirksamkeit der App beweisen wollen. „Solche Apps sind von einem medizinischen Ethos motiviert“, sagt Wild. Es gehe darum, Menschen nützlich zu sein und vernachlässigte Gruppen in den Fokus zu nehmen. Daneben gebe es zahlreiche Anbieter, die aus finanziellem Interesse Apps entwickeln. Der Markt biete viele Möglichkeiten, sagt Wild und nennt das Stichwort Gesundheitsdaten.
MdB Ruppert Stüwe sieht die Digitalisierung als große Chance für mehr Gesundheitsgerechtigkeit. Die Politik müsse sich vor allem um die Rahmenbedingungen dieses Prozesses kümmern, so der SPD-Forschungspolitiker. Seine größte Sorge: Das ganze Geschäft werde drei bis vier großen Playern überlassen und ein gesellschaftlicher Diskurs finde nicht statt.