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Wer wird gerettet?


Pro und Contra zur Ex-Post-Triage

Berlin (pag) – Die Debatte um die Ex-Post-Triage ist komplex und kontrovers. Sie macht das Kernthema von Gerechte Gesundheit, Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, konkret fassbar. Was für und was gegen die Ex-Post-Triage spricht, stellen der Mukoviszidose-Patient Stephan Kruip und Dr. Martin Danner, Geschäftsführer der BAG Selbsthilfe, in einem Statement dar.

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Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, eine Regelung zu treffen, die Menschen mit Behinderung im Fall einer pandemiebedingten Triage vor Diskriminierung schützen soll. Ende August hat das Kabinett den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen, mit dem die Triage in einer besonderen Ausnahmesituation geregelt werden soll. Ausdrücklich wird darin die Ex-Post-Triage verboten, das heißt der Abbruch einer noch erfolgsversprechenden und vom Patientenwillen getragenen Behandlung zugunsten eines anderen Patienten mit einer höheren aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit. So drückt es das Bundesgesundheitsministerium aus. Einen vorangegangenen Entwurf, der diese Möglichkeit durchaus vorsah, hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach wieder zurückgezogen. Später bezeichnete er die Ex-Post-Triage als unethisch.

Den aktuellen Gesetzentwurf hat das Parlament bis Redaktionsschluss (31. Oktober) noch nicht verabschiedet. Er schließt aus, bereits laufende lebenserhaltende Therapien bei sehr schlechter Erfolgsaussicht zugunsten der Behandlung von Menschen mit einer besseren Überlebenschance zu beenden. Das stößt bei Ärzteorganisationen wie der Bundesärztekammer auf Widerstand. Zahlreiche Fachgesellschaften haben zudem in einer Stellungnahme die geplante Regelung kritisiert: Sie erschwere die Anwendung des Kriteriums der Überlebenswahrscheinlichkeit und führe zu mehr vermeidbaren Todesfällen, heißt es in der Positionierung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Dagegen begrüßen Behindertenaktivisten wie Nancy Poser oder Dr. Sigrid Arnade das geplante Verbot der Ex-Post-Triage. Eine Position, die auch die BAG Selbsthilfe teilt.

Warum sollte die Ex-Post-Triage erlaubt sein?

„Wenn medizinische Hilfe wegen unzureichenden Ressourcen priorisiert werden muss, zwingt das zu tragischen Entscheidungen, dann ist nur noch Schadensbegrenzung möglich, also durch kluges Handeln möglichst viele Leben zu retten. Zu diesem klugen Handeln gehört auch die Ex-Post-Triage:

Zur Person
Stephan Kruip lebt mit der genetischen Lungenerkrankung Mukoviszidose, ist Vorsitzender des bundesweiten Selbsthilfevereins Mukoviszidose e.V. sowie Mitglied im Deutschen Ethikrat.Lungenerkrankung Mukoviszidose, ist Vorsitzender des bundesweiten Selbsthilfevereins Mukoviszidose e.V. sowie Mitglied im Deutschen Ethikrat. Foto © Fabian Helmich

Bereits getroffene Zuteilungsentscheidungen sollten in Abständen anhand der aktuellen klinischen Erfolgsaussicht geändert werden dürfen. Die Zumutung ist bei der Beendigung einer laufenden Intensivtherapie nicht größer als die Verweigerung in der Notaufnahme: In beiden Fällen muss ein Mensch sterben, der bei ausreichend verfügbaren Ressourcen hätte gerettet werden können. Warum sollte bevorzugt werden, wer zufällig früher aufgenommen wurde?
Ich habe Verständnis dafür, dass viele Menschen mit Behinderung nach zwei Jahren Pandemieerfahrung befürchten, auch bei der Triage benachteiligt zu werden. Ein Verbot der Ex-Post-Triage würde aber Behandlungsversuche verhindern und wäre damit gerade für unsere Personengruppe von Nachteil: In der Notaufnahme kann eine Behinderung – mangels anderer Kriterien – als vermeintliche Einschränkung der Erfolgschancen missdeutet werden, während sich die aktuelle Erfolgsaussicht im Rahmen eines Behandlungsversuchs viel objektiver beurteilen lässt.
Wir Menschen mit Behinderung leben in vielen Fällen mit einer höheren Gefahr eines schweren COVID-19-Verlaufs. Umso mehr sind wir darauf angewiesen, dass wir beim Eintreffen in der Notaufnahme nicht wegen voller Intensivstationen abgewiesen werden. Wenn die Überprüfung von Zuteilungsentscheidungen verboten wird, bleiben die Intensivstationen mit aussichtslosen Patienten gefüllt, zum Nachteil für die, die zufällig später kommen.
Wir sollten den Weg einschlagen, der möglichst viele Menschenleben rettet. Ärztinnen und Ärzte, die unter höchstem Druck solche Entscheidungen treffen müssen, brauchen dafür unser Vertrauen und Rechtssicherheit. Und bei all dem gilt weiterhin: Der Staat muss dafür sorgen, dass Triage vermieden wird!“

Warum sollte die Ex-Post-Triage verboten werden?

„Die Frage sollte eher lauten: Warum kann die Ex-Post-Triage nicht erlaubt werden? Bei der sogenannten Ex-Post-Triage verfügt ein Patient bereits über eine lebensrettende Behandlungsmöglichkeit. Das heißt, dass man solchen Patient:innen bewusst etwas wegnehmen müsste. Zurecht wird dieses aktive Tun strafrechtlich ganz herrschend als Totschlag angesehen. Auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht wäre es ja ein aktiver Eingriff in eine bestehende Rechtsposition bereits behandelter Personen, wenn der Gesetzgeber es legitimieren würde, diese Position jederzeit zu entziehen. Dass auch andere Bürgerinnen und Bürger eine solche Position anstreben, kann einen solchen Eingriff nicht rechtfertigen.

Zur Person
Dr. Martin Danner ist Geschäftsführer der BAG Selbsthilfe. Der Jurist ist außerdem Sprecher der Patientenvertretung beim Gemeinsamen Bundesausschuss.
Foto © pag, Fiolka

Unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsschutzes kommt aber noch ein Weiteres hinzu: Bei der Triage geht es um die krisenhafte Notsituation eines Kollaps‘ des Gesundheitswesens. Hier ist es schlichtweg nicht möglich, hinsichtlich aller in Betracht kommenden Patient:innen fortlaufend (!) und nicht extra nur bei Schichtbeginn auf der Station evidenzbasierte Prognosen zu Überlebenswahrscheinlichkeiten zu erstellen. Es besteht vielmehr die Gefahr gefühlsmäßiger Abschätzungen auch von Mediziner:innen mit der Tendenz, die Resilienz von Menschen mit Behinderungen zu unterschätzen.

Genau dies ist aber eine typische Ausgangslage für Diskriminierungen. Ohnehin ist die Frage, ob es noch der Würde des Menschen entspricht, wenn die Betroffenen und ihre Angehörigen unter Umständen über Tage und Wochen im Unklaren bleiben müssen, ob ihnen nicht in den nächsten Minuten die lebensrettende Behandlungsmöglichkeit entzogen wird. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist ein besonderes Vertrauensverhältnis und kein Verhältnis der Über- und Unterordnung.

Der Gedanke, Leben zu evaluieren führt in einen utilitaristischen Wertekosmos, in dem eben nicht jedes Leben gleich viel wert ist, sondern in dem nach einem Nutzen für die Gesellschaft oder nach Entlastung für das Gesundheitssystem gefragt wird. Menschen mit Behinderung würden in einem solchen Kosmos tendenziell den Kürzeren ziehen. Dies ist nicht Zielrichtung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.“