Warum der Innovationsfonds einen Reformschub braucht
Berlin (pag) – Der Innovationsfonds muss eine Lernkurve hinlegen, verlangt dessen Vorsitzender Prof. Josef Hecken. Und die sollte offenbar recht steil sein, denn der unparteiische Oberste des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vermisst bei der vom Fonds geförderten Versorgungsforschung mangelnde Durchschlagskraft. Anstelle des bisherigen Klein-Kleins setzt er sich für Priorisierung ein. Wie soll das funktionieren?
Der Innovationsfonds fördert seit 2016 neue Versorgungsformen und Versorgungsforschung in Deutschland. Er unterstützt mit GKV-Geldern innovative, sektorenübergreifende neue Versorgungsformen und Vorhaben der patientennahen Versorgungsforschung. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz von 2019 wurde er modifiziert: Das Gesetz sieht vor, dass der Fonds befristet bis 2024 fortgeführt wird, das jährliche Fördervolumen wird auf 200 Millionen Euro gesenkt. Im Koalitionsvertrag der Ampel ist indes unmissverständlich festgehalten, dass der Innovationsfonds verstetigt werden soll. Vor diesem Hintergrund hat im vergangenen Jahr bereits der Bundesverband Managed Care eine „mutige Weiterentwicklung“ des Fonds verlangt (Gerechte Gesundheit berichtete) – nicht zuletzt, weil neue Versorgungsprojekte bislang nicht den Sprung in die Regelversorgung geschafft hätten. Auch Hecken mahnt kürzlich auf einem Kongress von Monitor Versorgungsforschung eine kritische Reflexion aller Beteiligter an.
Er selbst macht auf der Veranstaltung den Anfang und räumt ein: In der Vergangenheit wurde manches gefördert, obwohl das Wissen bereits in der Versorgung vorhanden gewesen sei. Gleichzeitig wurde manches gefördert, obwohl bei kritischerer Prüfung hätte bemerkt werden können, dass bestimmte Anträge von Anfang an dazu verdammt waren, keine befriedigenden Ergebnisse zu erbringen.
Echter medical need
Für zwingend erforderlich hält es Hecken daher, künftig vor der Förderbekanntmachung enger mit dem Netzwerk Versorgungsforschung zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sollten Themencluster und Schwerpunkte identifiziert werden, bei denen Untersuchungsbedarf und „echter medical need“ gesehen wird. Praktisch könnte das so aussehen, dass sich Forscherinnen und Forscher mit inhaltlich ähnlichen Projekten zusammenschließen. Eine andere Möglichkeit sei, umfassende Projekte an ein vernetztes Konsortium vergeben werden.
Die Agenda des G-BA
Ein drängendes Thema für den Fonds ist aus Sicht des G-BA beispielsweise die Diagnostik. Hecken geht es dabei nicht um die Bewertung eines einzelnen Medizinproduktes, sondern grundsätzlich um Wirksamkeit und Nutzen von Diagnostik im Kontext von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Beispiel Onkologie: Viele Patienten bekämen in den letzten Tagen noch ein CT, nur wenige würden allerdings der palliativmedizinischen Versorgung zugeführt, kritisiert Hecken. Als weitere förderungswürdige Themen nennt er unter anderem Indikationsstellung – konkret die Übersetzung, Entwicklung oder Validierung von Fragebögen beziehungsweise Assessment-Instrumenten. In Sachen Qualitätssicherung denkt der G-BA-Chef an validierte Qualitätsindikatoren aus Routinedaten insbesondere aus der ambulanten Versorgung – „damit die permanenten Dokumentationsexzesse ein Ende finden“.
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Bild: Prof. Josef Hecken, Vorsitzender des Innovationsausschusses © pag, Fiolka
Die Erde bebt
Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem warnt auf der Veranstaltung allerdings davor, bei der Priorisierung das Kind mit dem Bade auszuschütten. „Wir müssen die Balance wahren zwischen den großen Linien und der Vielzahl von indikationsspezifischen Einzelproblemen in der Versorgung, die Balance zwischen Mainstream und differenzierten Fragestellungen“, appelliert er. Das sieht Hecken ebenso. Er schlägt pro Ausschreibungsrunde ein Großthema vor, bei dem „die Erde bebt“. Daneben müsse es Platz für die „Exoten“ geben, als ein Stichwort nennt er Orphan Diseases.
Auch Prof. Bertram Häussler bricht bei seinem Vortrag eine Lanze für mehr Priorisierung – und für mehr thematischen Weitblick. „Wenn wir heute über Versorgungsforschung nachdenken, dann muss uns klar sein, dass wir über eine Zukunft nachdenken, die locker zehn Jahre von heute entfernt ist, vielleicht sogar noch mehr.“ Damit spielt der Direktor des Berliner IGES Instituts auf die Jahre an, die es dauert, bis die Projekte überhaupt auf dem Markt sind. Hinzu kommt die müheselige Implementierung. Häusslers Schlussfolgerung: Bei der Forschung müsse es um „unmet needs“ gehen, die in zehn Jahren eine Rolle spielen. „Wir sollten davon ausgehen, dass wir in zehn Jahren Digitalisierung haben werden und brauchen nicht mehr zu erforschen, ob es hilft, wenn wir mit einer App eine Information von A nach B schicken.“
Mehr Druck erzeugen
Neben der Priorisierung der Versorgungsforschung kommen bei der Tagung weitere Reformbedarfe des Innovationsfonds zur Sprache. Hecken etwa will mehr Professionalisierung bei der der Vorauswahl der Projekte durch den Expertenpool, dem mittlerweile über 100 Personen angehören. Der Pool hat den Beirat abgelöst, der Hecken zufolge nach relativ einheitlichen Kriterien die Forschungsvorhaben begutachtet habe. Das ist beim Pool derzeit offenbar nicht der Fall.
Problematisch findet der G-BA-Chef außerdem das Thema Adressaten, wenn es um die Überführung neuer Versorgungsformen und Versorgungsforschung geht. Als Adressaten kommen dafür neben dem G-BA beispielsweise die Trägerorganisationen des Ausschusses, Vertragspartner auf Landesebene, medizinische Fachgesellschaften, Ministerien oder Organisationen der Pflege in Frage. Regt der Innovationsfonds eine Überprüfung oder eine Überführung an, ist nur der G-BA als Adressat gezwungen, bestimmte Schritte zu veranlassen oder dem Bundesgesundheitsministerium Meldung zu erstatten, wenn nichts passiert. Um auch bei den anderen Akteuren einen „gewissen Druck“ zu erzeugen, plädiert Hecken dafür, einen Rechtfertigungszwang für alle Adressanten einzuführen.
Priorisierungskatalog
Wie lässt sich die Versorgungsforschung konkret priorisieren? Häussler nennt dafür unter anderem einen ursprünglich aus der Pädiatrie stammenden Ansatz, der sich mittlerweile in vielen Bereichen der Medizin etabliert habe: die CHNRI method.
Fünf Kernfragen stehen dabei im Mittelpunkt, die Häussler wie folgt wiedergibt:
Answerability: Kann man eine (Forschungs-)Frage überhaupt beantworten?
Equity: Ist es gerecht, diese Frage zu beantworten, auch in Hinblick auf die Ressourcen?
Impact on burden: Wird es den Menschen später besser gehen, wenn wir das erforscht haben?
Deliverability: Lässt es sich umsetzen?
Effectiveness: Wird es brauchbare beziehungsweise bezahlbare Ergebnisse liefern?
Der eigene Beritt
Dieses Problem sieht auch Prof. Wolfgang Hoffmann, Vorsitzender des Netzwerkes Versorgungsforschung. Er konstatiert, dass die Maßnahmen zur Überführung in die Regelversorgung nicht effektiv seien. „So wie es bei neuen Medikamenten und Medizinprodukten einen geraden Weg in Regelversorgung gibt, braucht es das auch für innovative Versorgungsmodelle“, verlangt er. Der Versorgungsforscher von der Universitätsmedizin Greifswald räumt ein, dass die Versorgungsforschung gefordert sei, sich so zu organisieren, dass die Dinge „nicht im Sande verlaufen“. Als großen Bremsklotz für Versorgungsinnovationen sieht er allerdings den Gemeinsamen Bundesausschuss. Die Bänke des Gremiums seien nicht innovativ, weil sie alle ihren Beritt zu verteidigen hätten. Deshalb passiere nichts, was eine der Bänke in Frage stellen würde. Hoffmann ist deshalb davon überzeugt, dass letztlich nur der Weg über den Gesetzgeber bleibe: „Um neue Versorgungsformen in die Breite der Regelversorgung zu implementieren, wird es fast nie ohne gesetzliche Regelung funktionieren“, meint er. Die Nachfrage Häusslers, wie viele einzelne Paragraphen das SGB V vertragen kann, ist allerdings nicht unberechtigt.