Im Fokus

Das ewige Talent

Wann kommt eine echte Ambulantisierung der Versorgung ins Rollen?

Berlin (pag) – Eine Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung haben schon viele Bundesregierungen versprochen, aber von einem echten Durchbruch ist man hierzulande noch immer deutlich entfernt. Andere Länder sind wesentlich weiter. Woran das liegt und welches Potenzial die aktuellen Reformansätze haben.

© iStockphoto.com, retrorocket; Bearbeitung: pag, Fiolka

Die Ambulantisierung steht seit drei Jahrzehnten ganz oben auf der Agenda der Sozial- und Gesundheitspolitik, stellt Prof. Doris Schäffer von der Universität Bielefeld fest. Die Gesundheitswissenschaftlerin kritisiert in einem Aufsatz unter anderem mangelnde langfristig ausgerichtete gesundheitspolitische Strategien und Konzepte. Sie vermisst außerdem flexible rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen, um den mit der Ambulantisierung einhergehenden Anforderungen mit neuartigen Initiativen begegnen zu können. Das Schockierende: Schäffers Aufsatz ist bereits 2001 erschienen, aber ihre Diagnose ist noch immer top aktuell. Namhafte Experten wie Prof. Ferdinand Gerlach, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrats (SVR) Gesundheit und Pflege, sowie der Krankenhauskenner Prof. Boris Augurzky sind sich darin einig, dass hierzulande das Ambulantisierungspotenzial brach liegt. Angesichts des sich verschärfenden Fachkräfteengpasses und des enormen Kostendrucks in der GKV dürfte die Notwendigkeit dafür weiter steigen.

Prof. Doris Schäffer, Prof. Ferdinand Gerlach © pag, Fiolka

Der medizinische Fortschritt ermöglicht, dass immer mehr Eingriffe ambulant durchgeführt werden können – und zwar ohne Abstriche bei der Qualität und bei zugleich geringeren Kosten. Die Patientinnen und Patienten erholen sich im gewohnten Umfeld und binden somit weniger Betten und Personalkapazitäten in den Kliniken. Der SVR unterscheidet in seinem Gutachten aus dem Jahr 2018 zwischen zwei Dimensionen der Ambulantisierung: Zum einen die Ersetzung stationärer Behandlungen durch ambulante, die entweder bei einem niedergelassenen Facharzt oder ambulant im Krankenhaus durchgeführt werden. Zum anderen kann auch die Vermeidung von Klinikaufenthalten durch eine vorherige ambulante Therapie als Ambulantisierung im weiteren Sinne verstanden werden.

Folgenschweres Defizit

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgehalten, die Ambulantisierung voranbringen zu wollen. Solche Bekenntnisse kennt man bereits aus vergangenen Legislaturen. Seit den 1990er-Jahren wurden viele – von Experten als kleinteilig charakterisierte – Lösungen zur ambulanten Leistungserbringung im Krankenhaus geschaffen. Einen Überblick stellen der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem und Dr. Wulf-Dietrich Leber vom GKV-Spitzenverband im Krankenhausreport 2016 dar, der sich dem Schwerpunktthema „Ambulant im Krankenhaus“ widmet. Sie nennen unter anderem: vor- und nachstationäre Behandlung, ambulantes Operieren, diverse Institutsambulanzen und die ambulant spezialfachärztliche Behandlung. Diverse Versorgungsangebote stehen an der Schnittstelle zwischen ambulant und stationär „vergleichsweise inkonsistent nebeneinander“, konstatieren die beiden Experten. Es gebe sogar Fälle, in denen identische Leistungen je nach Regelungskreis unterschiedlich vergütet werden. Kein Wunder also, dass Wasem und Leber eine ordnungspolitische Antwort vermissen und von einem Steuerungsdefizit sprechen. Dieses Defizit ist besonders folgenschwer, da die fehlende Harmonisierung der Vergütungs- und Planungsstrukturen innovative sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen verhindert.

Ähnlich klingt es sieben Jahre später bei einer Veranstaltung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) im Dezember 2022. Dort macht Zi-Vize Thomas Czihal die starken Preisunterschiede zwischen ambulanter und stationärer Leistungserbringung mit dafür verantwortlich, dass die Ambulantisierung nach wie vor nur schleppend voranschreite. Für die finanzielle Besserstellung von stationären Eingriffen gegenüber ambulanten nennt er einige prägnante Beispiele (siehe Infokasten).

V.l.: Prof. Jürgen Wasem, Dr. Wulf-Dietrich Leber © pag

Die spannende Frage lautet nun, ob die sogenannten Hybrid-DRGs, die der Koalitionsvertrag der Ampel angekündigt hat, die verkrusteten Strukturen aufbrechen und der Ambulantisierung den entscheidenden Schub verleihen kann. Als eine Form der sektorengleichen Vergütung hat diese die Techniker Krankenkasse bereits in einem Vergütungsmodell beispielhaft entwickelt und erprobt. Gesetzlich verankert wurden sie im Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Paragraf 115f SGB V sieht vor, dass Kassenärztliche Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und GKV-Spitzenverband für geeignete Leistungen aus dem AOP-Katalog eine spezielle sektorengleiche Vergütung vereinbaren.

Goldener DRG-Käfig

Ende März wurde offiziell verkündet, was Insider längst erwartet haben: Die Verhandlungen der Selbstverwaltung sind ergebnislos zu Ende gegangen. Einer der Gründe dafür dürfte gewesen sein, dass die DKG die Ambulantisierung mehr oder weniger ausschließlich an den Krankenhäusern stattfinden lassen will. Es kommt jetzt auf das Bundesgesundheitsministerium (BMG) an, ob die Ambulantisierung durch die Hybrid-DRGs zum Fliegen kommt oder weiterhin vor sich hin dümpelt und ein Dasein als leeres Politversprechen führt. Das Ministerium ist nämlich im Falle einer Nicht-Einigung mit einer Ersatzvornahme am Zug.

Dem Zi-Vorstandsvorsitzenden Dr. Dominik von Stillfried zufolge muss es darum gehen, den „goldenen Käfig der DRGs“ aufzubrechen. Für die Krankenhäuser seien alle Vergütungen außerhalb dieser Fallpauschalen unattraktiver. Es gebe daher einen starken ökonomischen Anreiz, möglichst viele Leistungen in diesem Rahmen stationär zu erbringen. Paragraf 115f hat von Stillfried zufolge das Potenzial, dass bestimmte Leistungen nicht mehr zu DRG-Sätzen gemacht werden können, sondern nur zu einem sektorengleichen Betrag, der auch für die Niedergelassenen gilt. Das hätte eine neue ambulante Versorgungsstruktur zu Folge, argumentiert er, die aber vermutlich nicht für alle Klinken attraktiv wäre. 115f könnte seiner Auffassung nach im Zuge der Krankenhausreform eine ideale Grundlage für die kleinsten Häuser (Level Ii) sein, die im Grunde ambulante Leistungen erbringen, wenn der Leistungskatalog entsprechend breit gefasst wird. 

Der Krankenhausminister

Ob Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach, der gelegentlich auch Krankenhausminister genannt wird, dafür mit der Ersatzvornahme tatsächlich die Weichen stellt, ist derzeit allerdings ziemlich ungewiss. Fakt ist jedoch, dass das BMG bei der Ersatzvornahme auf Vorarbeiten zurückgreifen kann. Der Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg hat im Auftrag des Ministeriums bereits eine initiale Auswahl von Leistungsbereichen für eine sektorengleiche Vergütung vorgenommen. Nachzulesen ist das in einem Gutachten, das vor einem Jahr veröffentlicht wurde. Außerdem hat der Wissenschaftler der Universität Hamburg in einem Projekt des Innovationsfonds Möglichkeiten einer schnellen Umsetzung einer sektorengleichen Vergütung geprüft. Er schlägt eine Implementierung in zwei Phasen vor. Beide sehen die Vergütung unabhängig vom Ort der Behandlung, aber in Abhängigkeit der medizinischen Komplexität vor.

V.l.: Dr. Dominik von Stillfried, Thomas Czihal © Georg Johannes Lopata

Apropos Komplexität: Das Thema Ambulantisierung ist auch deshalb so komplex, weil es sehr eng mit den noch immer ungelösten Fragen der Strukturreform der Krankenhauslandschaft zusammenhängt. Damit verbunden sind wiederum die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren, wie etwa jüngst wieder auf dem Krankenhausgipfel zu beobachten gewesen ist. Der ehemalige SVR-Vorsitzende Gerlach hofft, dass die Akteure endlich aus ihren Schützengräben herauskommen, denn die Ambulantisierung sei längst überfällig, sagt er gegenüber der Presseagentur Gesundheit. Durch diverse digitale Optionen und Geräte könnten bereits heute Patienten ambulant mit einem Dutzend verschiedener Vitalparameter lückenlos überwacht werden. Konzepte wie „hospital at home“ und „healthcare anywhere“ etablierten sich international gerade mit bemerkenswerter Geschwindigkeit. Gerlach prognostiziert daher, dass der allergrößte Teil der heutigen Krankenhausbelegtage in der Zukunft wegfallen werde und auch müsse. Das bedeute für den ambulanten Bereich, dass er diese Leistungen zukünftig zu erbringen hat. „Und es ist alternativlos, dass ambulanter und stationärer Sektor viel, viel enger zusammenarbeiten, als dies bisher der Fall ist“, mahnt der Experte. Wenn das nicht passiert, müsse der Gesetzgeber tatsächlich eine sektorenübergreifende Versorgung mit aller Macht durchsetzen.

 

.

Ambulante versus stationäre Vergütung
Thomas Czihal nennt die Leistenbruch- und Katarakt-Operation: Die stationäre Durchführung der Leistenbruch-Operation werde 3,4-mal höher vergütet als die ambulante. Die Operation wird zu 96 Prozent stationär erbracht. Die stationäre Durchführung der Katarakt-Operation wird 1,8-mal höher vergütet als die ambulante; sie wird heute bereits zu 84 Prozent ambulant erbracht, so der Versorgungsforscher. Er verweist auf Berechnungen des Zi, wonach die Vergütung der stationären Durchführung von Leistungen des Abschnitts 1 des AOP-Katalogs rund das Vierfache der Vergütung einer ambulanten Leistungserbringung betrage. „Eine möglichst hohe Vergütung für die ambulante Durchführung wird ein wichtiger Anreiz zur Förderung der ressourcenschonenderen ambulanten Behandlung sein“, meint Czihal.
Beim AOP-Katalog handelt es sich um den Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen. Ein Gutachten des IGES Instituts empfiehlt kürzlich rund 2.500 medizinische Leistungen, die zusätzlich in den AOP-Katalog aufgenommen werden sollten. Damit würde sich die Anzahl der derzeit möglichen ambulanten Leistungen von Kliniken nahezu verdoppeln.