Im Fokus

„Die ganz große Mission“

Digitalisierungsoffensive: zwischen Aufbruch und Resignation

Berlin (pag) – Die Notwendigkeit einer umfassenden Digitalisierung des Gesundheitswesens wird immer offensichtlicher. Bislang sind jedoch nahezu alle Anstrengungen in diese Richtung wenig erfolgreich gewesen. Das Bundesgesundheitsministerium unternimmt derzeit einen erneuten Anlauf, der intensiv diskutiert wird. Ein Stimmungsbericht.

Wer Veranstaltungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen besucht, erlebt ein Wechselbad der Gefühle: Euphorie ob der weitreichenden medizinischen Möglichkeiten, die Gesundheitsdaten verheißen, Aufbruchstimmung und Begeisterung für die neuen Möglichkeiten wechseln sich ab mit tiefer Resignation aufgrund der bisherigen Fehlschläge und mangelnder Vernetzung, bisweilen sogar Hilflosigkeit.

© iStockphoto.com, CSA-Printstock

Speed matters

Eigentlich soll Olaf Scholz Ende März beim Forschungsgipfel über Blockaden und Chancen bei Energie und Gesundheit sprechen. Doch der Bundeskanzler muss sich um Blockaden in den eigenen Reihen, nämlich im Koalitionsausschuss, kümmern. Eine Ironie, die auch Hubertus Heil nicht verborgen bleibt, den Scholz als Ersatz schickt. Der Arbeitsminister vergleicht die momentan stattfindenden Transformationsprozesse mit der ersten industriellen Revolution. „Das ist die ganz große Mission, an der wir arbeiten müssen.“ Er erwähnt Gremien wie den Zukunftsrat und die Allianz für Transformation, spricht von Aufbruch, Zukunftsfähigkeit und der Innovationskraft Deutschlands. „Speed matters“, heißt es in der Rede des Ministers, die den Schwerpunkt eher auf Energie und weniger auf Gesundheit legt. Allerdings erwähnt Heil das zwischen dem Gebot der Datensparsamkeit und Big Data bestehende Spannungsverhältnis. Ein neues Konzept für Datensouveränität werde gebraucht, sagt der Politiker, der sich entschlossen gibt. „Wenn man will, geht das. Und wenn man will, geht das sogar schnell“, sagt er an anderer Stelle.

Kein Königsweg

Weitaus ernüchternder klingt der Impuls des Vorsitzenden der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) Prof. Uwe Cantner auf dem Gipfel. Der Volkswirt konstatiert: Die aktuelle Bundesregierung, aber auch ihre Vorgänger, haben ein Problem mit der Umsetzung komplexer gesellschaftlicher Transformationsvorhaben. Dies sei insbesondere vor dem Hintergrund der Digitalisierung verschiedener Bereiche sehr gravierend. Es brauche viele Maßnahmen von verschiedenen politischen Akteuren, die sequenziell, parallel und in einer bestimmten politischen Konsistenz zueinander aufgesetzt werden müssen. Zahlreiche Akteure seien einzubinden und die Rahmenbedingungen anzupassen. Dafür gebe es keinen Königsweg, dieser Prozess sei mit vielen Unsicherheiten verbunden, weshalb Cantner die notwendige Bereitschaft herausstellt, Planungen zu verändern und in neue Richtungen aufzubrechen. Wichtig sei, dass die Regierung dafür besondere Governance-Strukturen aufsetzt – „das ist bisher nicht gelungen“.

Strategien überall

Prof. Uwe Cantner © David Ausserhofer

Kritisch bemerkt Cantner zu diversen Strategien: „Die lesen sich alle sehr schön, da werden schöne Zukünfte beschrieben.“ Er vermisst jedoch einen entscheidenden Punkt – die operative Umsetzung: „Wie bringt man das Ganze auf die Straße?“, fragt der Wirtschaftswissenschaftler. In seinem Vortrag stellt er daher exemplarisch eine Roadmap für einen „Datenraum Gesundheit in der deutschen Gesundheitswirtschaft“ (siehe Abbildung am Ende der Seite) vor. Diese skizziert grob den Umsetzungsweg, beschreibt Meilensteine sowie Reflexionszonen und markiert kritische Stellen des Prozesses. Das Beispiel Gesundheitswirtschaft liegt für Cantner deshalb auf der Hand, weil „wir dort ein erhebliches Defizit feststellen“. Er merkt an, dass zu diesem Thema bereits 2017 und 2020 Strategiepapiere aufgesetzt worden seien. In jüngster Zeit habe die Bundesregierung drei Strategien dazu formuliert: Die Digitalstrategie des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr enthalte dazu Passagen, dann die jüngst vorgestellte Digitalstrategie des Bundesgesundheitsministerium. Cantner nennt außerdem die Zukunftsstrategie Forschung und Innovation. Zwar verwiesen die Publikationen aufeinander, aber einen gemeinschaftlichen und integrierten Ansatz vermag der EFI-Vorsitzende nicht zu erkennen.

Meaningful Data

Über konkrete Schritte diskutieren, um das „nächste Level“ der Gesundheitsforschung zu erreichen, will auch der forschende Arzt Prof. Tobias B. Huber vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Dass der Zeitpunkt dafür mehr als reif ist, daran lässt sein Vortrag bei einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrates zur patientenorientierten Datennutzung keinen Zweifel. „Noch nie sind bei einem klinischen Aufenthalt so viele Daten erhoben worden wie heute“, sagt Huber und nennt neben Laborparametern auch molekulare Daten. Bei Routineuntersuchungen gehe man mitunter sehr tief in molekulare, zum Teil genetische Analysen, damit entstünden riesige Datensätze. Parallel dazu gebe es nahezu eine Revolution experimenteller Techniken, um Gewebe tiefer aufzuschlüsseln. Der Mediziner vergleicht das Gewebe mit einem Hochhaus, von dem Rudolf Virchow früher lediglich die Außendimensionen beschrieben habe. „Heute öffnen wir die Tür eines solchen Hochhauses, gehen in jedes beliebige Zimmer, öffnen den Kühlschrank und gucken uns die Details der Zusammensetzung eines Senfes an.“

Hinzu kommt, dass die Daten Huber zufolge zunehmend in digitalisierter Form vorliegen und man erstmals in der Lage ist, deren Vielfalt zu verstehen, zu analysieren und ein Meinungsbild abzuleiten. Früher hätte Big Data für eine leere Hülse gestanden, räumt er ein, „aber heute können wir aus Big Data Meaningful Data, bedeutungsvolle Daten machen, die uns einen wirklich tiefen Einblick geben“. Dem Leiter des UKE-Zentrums für Innere Medizin geht es darum, wie die von ihm geschilderten Entwicklungen sowohl für den individuellen Patienten als auch für das Gemeinwohl genutzt werden können.

Fuzzy Innovation

In Hubers Ausführungen schwingt eine ansteckende Aufbruchstimmung mit, noch stärker ist diese bei Dr. Tobias Gantner zu spüren. Der Geschäftsführer der HealthCare-Futurists schwärmt Mitte März beim Digitalgipfel der Rheumatologen von medizinischen KI-Anwendungen, Arzt-Avataren, Citizen Science, Remote Diagnostics und vielem mehr. Innovation, sagt Gantner, verlaufe nicht linear, sondern „fuzzy“. Und: „Disruptive Innovation ist nicht die lineare Weiterdenkung des Status quo“. Den Rheumatologinnen und Rheumatologen schreibt der Futurist, der einst als Chirurg gearbeitet hat, folgendes ins Stammbuch: Nur weil etwas nicht gleich out of the box funktioniere, bedeute das nicht, dass es keine Zukunft habe. Gantners Optimismus lässt jedoch beim Datenschutz spürbar nach. „Wenn den Leuten bei digitaler Transformation nur Datenschutz einfällt, wird es nicht funktionieren“, sagt er dann. Die Datenschutzdiskussion, die hierzulande geführt werde, sei „völlig obsolet“. Ganz anders müsse man darüber sprechen, „aber leider scheinen wir da noch nicht zu sein“.

Digitaler Fanboy

Es ist einer dieser reizvollen Zufälle, dass zeitgleich zum Digitalgipfel der Rheumatologen und nur ein paar hundert Meter weiter der Bundesdatenschutzbeauftragte Prof. Ulrich Kelber seinen Jahresbericht vorstellt. Vor der versammelten Hauptstadtpresse outet er sich als „großer Fan“ der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Als Privatperson hätte er gerne eine elektronische Patientenakte (ePA). Seine Standardeinstellung wäre: „Alle Ärzte dürfen alles sehen, weil ich eine optimale Versorgung haben möchte.“ Das von Lauterbach geplante Opt-out-Verfahren für die ePA hält Kelber für möglich: Es gebe keinen grundsätzlichen Ausschluss einer solchen Regelung aus datenschutzrechtlichen Erwägungen, stellt er klar. Das stimmt hoffnungsvoll und erinnert an ein Gutachten des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege, in welchem weise formuliert wurde, dass Datenschutz Teil des Lebens- und Gesundheitsschutzes sein sollte und nicht als Gegenteil verstanden werden sollte.
Ein paar Tage hält dieser Blütentraum, dann verflüchtigt er sich angesichts des Hickhacks um die Bestätigungsmails der Terminservice-Stellen, die Kelber in ihrer jetzigen Form verbieten will, und man befindet sich wieder mitten im grauen gesundheitspolitischen Alltag.

 

Roadmap für einen Datenraum Gesundheit in der deutschen Gesundheitswirtschaft

„Roadmap für einen Datenraum Gesundheit in der deutschen Gesundheitswirtschaft“, erstellt von der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI). Der EFI-Vorsitzende Prof. Uwe Cantner hat den Impuls auf dem Forschungsgipfel am 28. März in Berlin vorgestellt. © EFI 2023