Im Fokus

„Ganz dicht vor der Wand“

Wie lange hält sich die Pflegeversicherung noch über Wasser?

Düsseldorf/Hamburg (pag) – Besorgniserregend ist nicht nur die Lage der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch der sozialen Pflegeversicherung. Das jüngst vom Kabinett auf den Weg gebrachte und in erster Lesung im Bundestag diskutierte Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) dürfte daran nur marginal etwas ändern. Auf einer Veranstaltung der AOK Rheinland/Hamburg fordern Experten einhellig, dass der Staat seine Verantwortung in der Daseinsvorsorge tragen und den finanziellen Verpflichtungen nachkommen müsse. Ein frommer Wunsch?

© iStockphoto.com, delihayat

Pflege- und Krankenversicherung kommen nach Ansicht von Günter Wältermann in der politischen Priorisierung eindeutig zu kurz und verdienen mehr Aufmerksamkeit. Der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg stellt die Bedeutung der Sozialversicherungssysteme im Kontext multipler Krisenszenarien heraus: Kranken- und Pflegeversicherung machten die Gesellschaft erst widerstandsfähig, „weil sich die Menschen darauf verlassen können, im Krankheits- und Pflegefall versorgt zu sein“.

Zu langes Warten

Damit das auch zukünftig so bleibt, müssen gewaltige Herausforderungen gemeistert werden. Für den nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) ist das Problem, Personal für die Pflege zu finden, momentan das drängendste. Pflegeexperte Prof. Heinz Rothgang von der Universität Bremen ergänzt, dass die Engpässe auch Assistenz- und Hilfskräfte betreffen. „Wir haben Probleme, das Personal auf allen Qualifikationsstufen zu mobilisieren“, sagt er. Die Folgen stellt Laumann für das bevölkerungsreichste Bundesland unverblümt dar: Es gebe mittlerweile in fast allen Regionen des Landes Wartelisten – sowohl für die stationäre als auch für die ambulante Pflege. „Wer im System ist, hat eine Versorgung, aber viele Leute warten sehr oder zu lange, bis sie einen Platz in diesem System finden.“ Der Politiker verschweigt nicht, dass das offizielle System ohne die osteuropäischen Betreuungskräfte, deren Arbeit teilweise in einer Grauzone stattfindet, zusammenbrechen würde. Die Zahl der Personen, die einen Pflegegrad bekommen, habe sich in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen vier Jahren um 25 Prozent gesteigert.

Seit Beginn dieses Jahres können Pflegedienste nur noch mit den Pflegekassen abrechnen, wenn sie einen Tarifvertrag haben. Kostensteigerungen von bis zu 30 Prozent, über die ebenfalls auf der Veranstaltung diskutiert wird, gebe es nur bei jenen Diensten, die vorher keinen Tarifvertrag gehabt hätten, klärt Laumann auf und betont: „Pflege muss tariflich bezahlt werden, sonst kommen wir nie aus der Diskussion heraus, dass die Pflege attraktiver sein soll.“ Auf der anderen Seite brauche es aber auch eine diesen Kostensteigerungen entsprechende Erhöhung der Leistungen in der ambulanten und stationären Pflege.

 

„Kampf um Ressourcen“

Plädoyer für solidarische Pflegeversicherung

Die private und soziale Pflegeversicherung zusammenzulegen, hält Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, für einen extrem sinnvollen Schritt. Sie weist darauf hin, dass die Leistungen deckungsgleich seien und spricht von einem „großen Akt der Solidarität“. Ähnlich klingt es bei Rothgang. Bei einer steigenden Anzahl von Pflegebedürftigen, dem Wunsch nach besserer Pflegequalität und einer angemessenen Bezahlung der Pflegekräfte gehe es nicht mehr um die Frage, wie Pflege billiger wird, sondern wie die steigenden Kosten fair verteilt werden können, argumentiert er. Die Antwort biete eine solidarische Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, die endlich alle Bürger einbeziehe.
© Susie Knoll

Auch über die angespannte finanzielle Lage der sozialen Pflegeversicherung wird bei der Veranstaltung intensiv diskutiert. Für mehr Steuerzuschüsse gibt es momentan nicht viel Spielraum. Von einem „Kampf um staatliche Ressourcen“ spricht etwa Laumann und nennt beispielhaft die Stichwörter Klimawandel, Sondervermögen und Wohngeldreform. Auch habe sich der Staat in der Pandemie – etwa mit Impfungen und Kurzarbeitergeld – bereits sehr solidarisch gezeigt. An der Beitragsschraube kann ebenfalls nicht viel gedreht werden. Beitragserhöhungen treffen insbesondere jene mit wenig Lohn, warnt der Sozialpolitiker. Und außerdem gibt es ja auch noch die kritische Zielmarke von 40 Prozent, welche die Sozialversicherungsbeiträge nicht übersteigen sollten. Johannes Pöttering, Hauptgeschäftsführer von unternehmer nrw, spricht von einer Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. „Nicht alles, was sozialpolitisch wünschenswert wäre, ist am Ende auch ökonomisch darstellbar.“
Demgegenüber geht der Pflegeexperte Rothgang auf die steigenden Eigenanteile ein. Im ambulanten Setting bestehe die Konsequenz oft darin, dass Leistungen von den Pflegebedürftigen nicht mehr in Anspruch genommen werden. Stationär liege die durchschnittliche Zuzahlung mittlerweile bei mehr als 2.500 Euro monatlich. „Und das bei Renten, die für einen männlichen Arbeitnehmer in Westdeutschland etwa halb so hoch liegen.“ Der Wissenschaftler erinnert daran, dass die Pflegeversicherung eingeführt wurde, um eine pflegebedingte Verarmung zu verhindern – „genau das leistet die Pflegeversicherung nicht mehr“. Gut ein Drittel der Heimbewohnenden seien Sozialhilfeempfänger. Rothgang weist auf kostentreibende Faktoren, wie etwa eine höhere Entlohnung von Pflegekräften, hin. Den nächsten Kostensprung erwartet er bereits im Sommer, wenn mit der zweiten Umsetzungsstufe des Personalbemessungsverfahrens die Einrichtungen mehr Stellen refinanziert bekommen. Das PUEG hält nach seiner Einschätzung die Situation bis zum Ende der Legislatur unter Kontrolle. „Aber spätestens dann sind wir wieder ganz dicht vor der Wand, gegen die wir fahren.“

„Nicht mal bis zum Jahresende“

Den anwesenden Bundestagsabgeordneten ist die dringliche Problemlage bewusst. Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, berichtet, dass sich Pflegebedürftige und pflegende Angehörige zunehmend alleingelassen fühlten – „immer mehr Bürokratie, alles komplizierter und kaum Entlastung vor Ort“. Die SPD-Politikerin sieht daher die Kommunen in einer Schlüsselfunktion. „Hierfür notwendige strukturelle und finanzielle Fragen müssten dringend angegangen werden.“ Ebenso wichtig sei die Modernisierung des Leistungskataloges der Pflegeversicherung. Auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink, räumt Nachbesserungsbedarf ein. Ihrer Ansicht nach muss die soziale Pflegeversicherung mit Priorität behandelt werden. „Sie wird schon jetzt nur durch Vorziehen verschiedener Maßnahmen über Wasser gehalten, das trägt aber nicht mal bis zum Jahresende.“