Engpässe bei Immunglobulinen – neue Strategien sind gefragt
Berlin (pag) – Mittlerweile kann hierzulande auch die Versorgungsicherheit mit lebenswichtigen Medikamenten auf wackeligen Füßen stehen. Das gerade verabschiedete Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) wird daran nur zum Teil etwas ändern. Bei Immunglobulin-Präparaten ist das Problem besonders komplex, einfache Antworten gibt es nicht.
Betroffen von der Knappheit sind im vergangenen Herbst Kinder und Erwachsene, die selbst nicht ausreichend Immunglobuline bilden können, um sich vor Infektionen zu schützen. Dabei handelt es sich um Menschen mit angeborenen Immundefekten oder Patienten mit bestimmten Krebserkrankungen wie der chronisch lymphatischen Leukämie oder des Multiplen Myeloms, die dauerhaft oder vorübergehend auf eine Antikörper-Therapie angewiesen sind.

Kein wirtschaftlicher Vertrieb
Rückblende: Die Versorgung mit Immunglobulinen, die aus menschlichem Blutplasma gewonnen werden, gerät im vergangenen Jahr aufgrund pandemiebedingter Lieferkettenprobleme ins Stocken. Hinzu kommt, dass deutlich weniger Blutplasma gespendet wird. Dann stoppt Octapharma, ein Hersteller in Deutschland, im Juni 2022 die Lieferung seines neuen Immunglobulin-Präparats. Als Grund nennt das Unternehmen Rabattforderungen des GKV-Spitzenverbandes. Dadurch könne das neue Präparat nur unter Herstellungskosten vertrieben werden. „Durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine sind die Rohstoff- und Herstellungskosten erheblich gestiegenen – und steigen weiter. Ein Vertrieb unter den Herstellungskosten ist aus nachvollziehbaren Gründen wirtschaftlich nicht möglich“, teilt die Firma noch in einem Update vom 18. August 2022 mit.
Im Herbst wird die Versorgungslücke für die Betroffenen deutlich spürbar: Tausende Patientinnen und Patienten müssen zusehen, wie sich die Regale in den Apotheken leeren. Die Apothekerinnnen und Apotheker fangen an, die Mengen zu reduzieren und die Abgabe zu stückeln. Patientenorganisationen schlagen angesichts verzweifelter Anrufe – insbesondere von Eltern betroffener Kinder – Alarm. Viele fürchten, dass die Immunglobulin-Präparate ganz ausgehen könnten.
Gesetzgeber lockert Vorgaben
Der öffentliche Druck wirkt offenbar: Kurz vor Weihnachten verabschiedet der Bundestag das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Darin enthalten ist eine fachfremde Regelung, welche Immunglobuline menschlicher Herkunft vom sogenannten erweiterten Preismoratorium im Fall von Neuzulassungen beziehungsweise einer neuen EU-Genehmigung für das Inverkehrbringen ausnimmt. Rückwirkend ab dem 31. Dezember 2018 entfalle damit auch die Preisfestsetzung durch das Vorgängerpräparat, erläutert das Bundesgesundheitsministerium auf Nachfrage. Octapharma hebt daraufhin im Januar den Lieferstopp für sein neues Präparat auf. An seiner Kritik an den verordneten Medikamenten-Rabatten hält das Unternehmen jedoch fest: Es würde in keinem anderen Wirtschaftszweig „derartige Forderungen“ erhoben. „Dies trifft die Hersteller von plasmatischen Produkten in besonderem Maße aufgrund überproportional hoher Rohstoff- und Herstellungskosten“, betont die Firma.
Der Gesetzgeber reagiert außerdem im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Dieses führt eine Ausnahme vom erweiterten Preismoratorium ein: Hersteller können sich vom Abschlag für Arzneimittel ganz befreien lassen, „wenn für das in den Markt eingeführte Arzneimittel eine neue arzneimittelrechtliche Genehmigung erteilt wurde, die im Vergleich zu bereits zugelassenen Arzneimitteln mit demselben Wirkstoff eine neue Patientengruppe oder ein neues Anwendungsgebiet erfasst, und wenn eine Verbesserung der Versorgung zu erwarten ist“, teilt das BMG der Presseagentur Gesundheit mit. Im Fall einer Bewilligung vereinbart der GKV-Spitzenverband mit dem pharmazeutischen Unternehmer einen neuen Herstellerabgabepreis für das Arzneimittel.
Eine dritte Reaktion erfolgt im Rahmen des im Juni verabschiedeten ALBVVG. Dieses sieht die Möglichkeit vor, die Preismoratoriums-Preise für versorgungskritische Arzneimittel anzuheben. Zum 1. Juli werden außerdem die Basispreise im Zuge des Inflationsausgleichs beim Preismoratorium um 6,9 Prozent angehoben. Das eröffnet den Herstellern die Möglichkeit, Preise abschlagsneutral auch um bis zu 6,9 Prozent anzuheben. Abschläge, die bereits bestehen, da die Abgabepreise oberhalb der Basispreise liegen, werden durch Anhebung der Basispreise entsprechend gemindert oder fallen weg. „Dies wird einer weiteren Entlastung der Hersteller dienen“, ist das Ministerium überzeugt.
Bedarf an Blutplasma steigt

Die aktuelle Lage sieht folgendermaßen aus: Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bezeichnet die Versorgung von Immunglobulin-Präparaten im Juni noch als „angespannt, aber grundsätzlich gedeckt“. Zu diesem Zeitpunkt sind sieben Immunglobulin-Präparate nicht lieferbar. Diese Situation dürfte künftig häufiger eintreten. Die Bundesregierung muss bezüglich der Versorgung mit Blutplasma-Präparaten bereits einräumen, dass auch ohne Pandemie künftig mit gewissen Unwägbarkeiten zu rechnen ist. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion Ende vergangenen Jahres erläutert sie die Gründe dafür: Zum einen steige der Verbrauch an Immunglobulin-Präparaten in Deutschland seit zehn Jahren – aufgrund von Indikationserweiterungen, verbesserter Diagnostik und ansteigenden Diagnosen. Prognosen des PEI zufolge wird der Bedarf jährlich um acht Prozent wachsen. Zum anderen wirken sich rückläufige Plasmaspenden aus den USA aus. Eine konkrete Zahl nennt die Regierung in ihrer Antwort nicht, aber laut Octapharma werden rund 40 Prozent des europäischen Blutplasmabedarfs mittels US-Importen gedeckt. Hinzu kommt, dass es nicht klar sei, in welche Länder die global agierenden Hersteller ihre Immunglobulin-Präparate in den Verkehr bringen, führt die Regierung aus. Langfristig werden die Hersteller von Blutplasmaprodukten ihre Präparate dorthin verkaufen, wo sie dauerhaft gute Preise erzielen werden – zum Beispiel in die USA oder ins europäische Ausland, befürchtet der Immunologe und Kinderarzt Prof. Volker Wahn, ehemals Charité. Mehr Blutplasmaspenden in Europa und vor allem in Deutschland sind ihm zufolge unerlässlich, um eine stabile Versorgung zu sichern.
BMG richtet Arbeitsgruppe Blut ein
Das BMG lässt bereits seit einiger Zeit von einer eigens gegründeten Arbeitsgruppe „Blut“ ausloten, wie das Spendenaufkommen in Deutschland gesteigert werden kann. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ruft zum Blutspendetag 2023 erstmals gezielt zum Spenden von Blutplasma auf. Nach Wahns Ansicht reicht eine solche Kampagne aber nicht aus. Die Anforderungen an die Plasmaspendezentren sollten verschlankt werden, fordert er im Interview des Monats (Link am Ende des Beitrages). Außerdem sei das ganze Spendenprozedere umzukrempeln, ist der Experte überzeugt. So müsse durch deutlich höhere Aufwandsentschädigungen das Spenden attraktiver gemacht werden.
Das dürften noch dicke Bretter sein, die dafür gebohrt werden müssen.
Weiterführender Link:
Interview des Monats mit Prof. Volker Wahn: Wegen Engpässen: Rutschen wir in eine Sparmedizin?
https://www.gerechte-gesundheit.de/debatte/interviews/uebersicht/detail/interview/104.html