Im Fokus

Mitten in der Dekade

Auf dem Weg zur Spitzenposition in Krebsforschung und -versorgung?

© stock.adobe.com, CleverStock
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Berlin (pag) – Es ist fast Halbzeit bei der Dekade gegen Krebs, die 2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) initiiert wurde, und die sich mittlerweile als deutschlandweite Bewegung etabliert hat. Während an der offiziellen Zwischenbilanz noch gearbeitet wird, steht ein wichtiges Thema der kommenden Jahre bereits fest: Survivorship – das Überleben einer Krebserkrankung.

Streit um den Datenschutz: „Wir müssen an jeder Stelle den gesellschaftlichen Diskurs führen“, appelliert Staatssekretärin Judith Pirscher. © Steffen Kugler
Streit um den Datenschutz: „Wir müssen an jeder Stelle den gesellschaftlichen Diskurs führen“, appelliert Staatssekretärin Judith Pirscher. © Steffen Kugler

Das verrät BMBF-Staatssekretärin Judith Pirscher kürzlich auf dem Krebs-Kongress Vision Zero. Der Politikerin zufolge wird das Thema Survivorship ähnlich wie die Prävention noch immer zu wenig betrachtet: „Der Forschungsbedarf ist groß.“ Immer mehr Menschen in Deutschland leben mit einer Krebserkrankung oder haben diese überstanden. In der Dekade wollen sich die Expertinnen und Experten künftig mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Mit welchen Langzeitfolgen haben die Patientinnen und Patienten zu kämpfen? Was wünschen sich Langzeit-Überlebende? Welchen Einfluss hat die Krebserkrankung auf sie und auf ihre Angehörigen? Das Problem besteht Pirscher zufolge insbesondere darin, dass es nur unzureichende Daten gibt oder dass diese nicht strukturiert genutzt werden können – „und genau hier werden wir ansetzen“, verspricht die Staatssekretärin.

Das Datenproblem treibt sie um. In der Forschung und Versorgung generiere man heute so viele Daten wie nie zuvor, aber als Entscheidungsgrundlage für Diagnose und Therapie werde nur ein kleiner Teil davon genutzt – ein viel zu kleiner Teil. „Das wollen und müssen wir ändern, gerade im Hinblick auf die Krebsbehandlung der Zukunft, die ganz stark auf personalisierte Therapien setzen wird“, meint die Politikerin und verweist beispielhaft auf das Projekt PM4Onco, das im Rahmen der Medizininformatik-Initiative umgesetzt wird (siehe Infokasten). Sie will außerdem gezielt mit Datenschützern das Gespräch suchen – zum Beispiel auf deren Fachkonferenzen. Die Szene schätzt die Politikerin, die selbst einmal stellvertretende Landesbeauftragte für Datenschutz des Landes Nordrhein-Westfalen gewesen ist, als „sehr abgekapselt“ ein. „Datenschutz darf kein Verhinderungsinstrument sein für das, was wir dringend nötig haben“, sagt Pirscher und appelliert: „Wir müssen an jeder Stelle den gesellschaftlichen Diskurs führen.“

Ist der Druck hoch genug?

Ihr Plan löst bei Prof. Michael Baumann, dem Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), und bei der Patientenvertreterin Ulla Ohlms spürbar Erleichterung aus. „Wir sagen ja immer etwas frech, dass Datenschutz etwas für Gesunde ist“, erzählt letztere. Das sei natürlich ein bisschen übertrieben. „Aber wir hätten es gerne eine Nummer kleiner.“ Patienten wünschten sich, dass ihre Daten in große Datenbanken und -pools eingespeist werden, damit durch Algorithmen und KI daraus etwas entstehen könne, um Krebs besser zu behandeln oder sogar zu heilen. Dieser Wille von Ärzten, Forschern, Patienten und Krankenkassen müsse in die „Datenschutz-Bürokratie“ eindringen, verlangt die Vorstandsvorsitzende von PATH, einer Stiftung von Brustkrebspatientinnen.

Ähnlich argumentiert Baumann, der auf repräsentative Umfragen verweist, wonach Patienten die Forschung mit ihren Daten befürworteten. Aber die Datenschützer hörten „offensichtlich nicht, was die Betroffenen sagen“, kritisiert der Mediziner. Letztlich könne der Datenschutz aber nur das repräsentieren, „was wir als Gesellschaft wollen und da frage ich mich, ob der politische Druck aus der Gesellschaft und ganz speziell von Patientinnen und Patientin hoch genug ist“.

Staatssekretärin Pirscher ist trotz der komplexen Gemengelage optimistisch. Sie glaubt sogar, dass Gesundheitsdaten der Treiber sein könnten, um den Datenschutz zu ändern, denn: „Im Gesundheitsbereich ist dieses überbordende Schützen eigentlich ein Vernachlässigen.“ Ein weiteres Argument liefert Dr. Ruth Hecker, die zu bedenken gibt, dass der Datenschutz darauf ausgerichtet sei, Sicherheitslücken zu erkennen und zu schließen. „Aber es gibt viel, viel größere Sicherheitslücken in der Versorgung der Patientin und Patienten, weil wir eben den Datenschutz haben“, sagt die Vorstandsvorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Das werde allerdings nicht gleichberechtigt diskutiert. Sie empfiehlt, die Probleme anhand praktischer Beispiele auf Augenhöhe gegenüberzustellen.

Vieles spricht dafür, dass der Umgang mit Daten einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren für die Dekade sein wird. Nach dem Jahrzehnt sollte Deutschland eine „Spitzenposition in Krebsforschung und -versorgung“ einnehmen. So formuliert DKFZ-Chef Baumann die Zielmarke. Das Format der Dekade hat Pirscher allerdings schon jetzt überzeugt: Es gebe für zehn Jahre eine klare Priorisierung. Auch werde das Thema aus politischen Streitigkeiten herausgehalten und die verschiedenen Akteure hätten Gelegenheit, „in Ruhe“ miteinander zu arbeiten. Vor einem inflationären Einsatz rät sie jedoch ab: Eine Dekade für dieses und jenes sollte es nicht geben.

© pag, Fiolka
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Innovationen in die Klinik bringen
Auf dem Krebskongress Vision Zero verkündet der DKFZ-Vorstandsvorsitzende Prof. Michael Baumann schlechte Nachrichten: Bei der klinisch-translationalen Krebsforschung, bei der es darum geht, Innovationen in die Klinik zu bringen, bestehe großer Nachholbedarf. Die gute Nachricht: Diese Situation werde durch die Erweiterung des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) „gezielt angegriffen“, wie es der Wissenschaftler ausdrückt. Neben Heidelberg und Dresden wird es vier neue Standorte geben. Damit arbeiteten elf Universitätsklinika und das DKFZ zusammen, um Innovationen zur klinischen Anwendung zu bringen. Die Mission des erweiterten NCT sei nicht nur Forschung, sondern auch der faire Zugang zu Studien und Innovationen in ganz Deutschland, stellt Baumann klar. Förderbeginn sei am 1. Juni gewesen, man befinde sich damit in der Phase der Implementierung, und „wir haben das Versprechen abgegeben, dass Ende dieses Jahrzehntes dieses NCT mit einer weltweit einmaligen Struktur komplett implementiert ist“.

 

 

 Personalized Medicine for Oncology
Ziel von PM4Onco ist es, die IT-technischen Grundlagen zur Etablierung der personalisierten Medizin in der Krebsbehandlung zu legen, um an Krebs erkrankten Patientinnen und Patienten eine bestmögliche, individuell angepasste und somit möglichst wirksame Therapie zu bieten. Indem sämtliche Datenquellen zusammengebracht werden – etwa aus der genetischen Diagnostik, der standardisierten Tumordokumentation, der Vorgeschichte der Betroffenen und letztlich dem Verlauf der Erkrankung nach der Therapie – kann der gesamte Krankheitsverlauf für die Wissenschaft und damit für viele weitere und künftige Erkrankte nutzbar gemacht werden.
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Weiterführender Link:
Mehr Informationen über das Projekt
https://www.uniklinikum-dresden.de/de/das-klinikum/universitaetscentren/zentrum-fuer-medizinische-informatik/leistungen/pm4-onco