Im Fokus

Patienten forschen mit

In Deutschland zeichnet sich allmählich ein Kulturwandel ab

Berlin (pag) – Patientenbeteiligung ist in Versorgungsgremien wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Anders sieht es in der Forschung aus, wo sich erst allmählich Kooperationen mit Betroffenen etablieren. Welche Hürden dafür überwunden werden müssen.

© iStockphoto.com, master1305; Bearbeitung: pag, Fiolka
© iStockphoto.com, master1305; Bearbeitung: pag, Fiolka

Für erstaunlich wenig öffentlichen Widerhall sorgt im März eine Erklärung des Forums Gesundheitsforschung. Dabei hat es diese in sich. Das Forum, ein hochrangiges Beratungsgremium des Bundesforschungsministeriums im Bereich der Lebensforschung, proklamiert in dem Dokument, dass es „sinnvoll und notwendig“ sei, die aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten als Partner in der patientenorientierten Gesundheitsforschung „als Standard“ zu etablieren. Eine für alle Seiten gewinnbringende Patientenbeteiligung erfordere einen Kulturwandel bei allen Akteuren und strukturelle Änderungen auf vielen Ebenen, heißt es weiter.

Wandelndes Bewusstsein

Die Erklärung ist ein wichtiges Signal, Patienten nicht länger lediglich als „Rohstofflieferant“ für Studien zu sehen, sondern sie als Partner anzuerkennen, die neue Perspektiven auf den Forschungsgegenstand eröffnen. Dr. Sarah Weschke vom QUEST Center des Berlin Institute of Health liest an der neunseitigen Erklärung sogar einen Bewusstseinswandel ab. „Vor einigen Jahren wäre eine solche Erklärung noch undenkbar gewesen“, glaubt die Leiterin des Teams Patient & Stakeholder Engagement. Im internationalen Vergleich und vor allem im Unterschied zum englischsprachigen Raum, wo sich die Forschungsbeteiligung von Patienten bereits seit Längerem etabliert hat, besteht in Deutschland noch viel Nachholbedarf. Allerdings gibt es auch hierzulande einige Leuchtturmprojekte wie den Patientenbeirat Krebsforschung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ). Das 13-köpfige Gremium unterstützt den Stiftungsvorstand und die Wissenschaftler des DKFZ dabei, mit ihren Erfahrungen die Erwartungen der Patienten besser und umfassender zu verstehen und macht auf unvorhergesehene Risiken, Hindernisse und Folgen bei der Umsetzung von Forschungsvorhaben aufmerksam.

Kein Selbstläufer

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Weitere Good-Practice-Beispiele hat das Forum Gesundheitsforschung in einer Auflistung zusammengestellt. Die immerhin 17 Seiten umfassende Übersicht kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ernstgemeinte Integration von Patientenvertretern in Forschungsprojekte kein Selbstläufer ist. „Die Forschenden benötigten Flexibilität, Geduld und Ergebnisoffenheit, denn die Einbeziehung von Betroffenen kann den gesamten Forschungsprozess umkrempeln“, weiß Weschke. Sie bildet seit einigen Jahren Forscherinnen und Forscher – unter anderem von Universitätskliniken – zu diesem Thema fort. Außerdem hat sie die Publikation „Aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsforschung“ (siehe Grafik unten) mitverfasst, die im Mai erschienen ist.

Das Heft gibt einen Überblick zu verschiedenen Beteiligungskonzepten wie Partizipative Gesundheitsforschung und Citizen Science. Zur bekanntesten Form der aktiven Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsforschung gehört demnach das aus Großbritannien stammende Format Patient and Public Involvement beziehungsweise Patient Engagement. In Deutschland habe sich bislang weder ein einheitlicher Begriff noch eine konsentierte Definition etabliert, konstatieren die Autorinnen. Als Minimaldefinition sprechen sie von einem Mitspracherecht von Patientinnen und Patienten, ihren Angehörigen oder Vertretungen in mindestens einer Phase eines Forschungsprozesses. Das bedeutet: „Sie sind aktiv an der Planung, Durchführung, Auswertung, Interpretation und/oder der Dissemination eines Forschungsprojekts beteiligt. Denn nur wenn der Input von Patientinnen und Patienten auch einen Einfluss auf den Verlauf eines Forschungsprozesses hat, kann von wirklicher Beteiligung gesprochen werden“, heißt es in der Publikation. Diese versteht sich als „Heranführung“ für klinisch Forschende an das Thema, von einem Leitfaden mag QUEST-Mitarbeiterin Weschke ausdrücklich nicht sprechen. Zwar wünschten sich viele Forschende Checklisten und ähnliches, aber einen „One fits it all“-Ansatz gebe es aufgrund der Heterogenität sowohl von Beteiligungsformen als auch von Forschungsvorhaben nicht.
Patienten als Forschungspartner

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Eine seriöse Kooperation erfordert nicht nur Fortbildungen für Forschende, sondern auch für Patienten. „Damit Patientenvertreter zu ‚Forschungspartnern‘ werden können – ist es für sie wichtig zu lernen, wie Forschung funktioniert und welche ‚Fachsprache‘ Mediziner und Forscher verwenden“, bringt die Patienten Experten-Akademie für Tumorerkrankungen (PEAK) den Schulungsbedarf auf den Punkt. PEAK organsiert regelmäßig Seminare und Workshops, im September beschäftigt sich eine Veranstaltung beispielsweise mit Forschungsethik in der Medizin. Schulungen für Betroffene bietet außerdem die europäische Patientenakademie EUPATi sowie das Zentrum für Kompetenzentwicklung in der Krebs-Selbsthilfe an. Letzteres ist bei der Stiftungsprofessur Selbsthilfeforschung am Universitätsklinikum Freiburg angesiedelt.
Viel Aufwand ist das alles, es ist jedoch allgemeiner Konsens, dass diese Investitionen sich für die Forschung auszahlen. Die Mitglieder des Forums Gesundheitsforschung sind etwa davon überzeugt, dass eine frühe und aktive Beteiligung die Qualität der Forschung steigern, Forschungsfragen relevanter machen, den Transfer der Ergebnisse in der Praxis unterstützen, Patienteninteressen stärken und Akzeptanz von Forschung in der Gesellschaft erhöhen könnte.

Ähnlich wird es bei der Dekade gegen Krebs formuliert. Die 2019 gegründete und vom Bundesforschungsministerium unterstützte Initiative hat sich die Patientenbeteiligung groß auf die Fahnen geschrieben. Die Forschenden lernten dadurch eine andere Sichtweise auf ihr Forschungsfeld kennen und erhielten wertvolle Einblicke in die „Bedürfnisse, Sorgen und Nöte von denjenigen, zu deren Wohl sie forschen“. Aus Befragungen sei bekannt, dass Patientinnen und Patienten manchmal andere Dinge wichtig sind als den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Lebensqualität im Fokus

Die Einschätzung, dass Patienten mitunter andere Prioritäten setzen, teilt Bernd Crusius ausdrücklich. Den Betroffenen liege vor allem die Lebensqualität und die Verbesserung der Versorgung am Herzen, so der Geschäftsführer des Hauses der Krebs-Selbsthilfe in Bonn. Ebenso wie Weschke bemerkt auch er ein allmähliches Umdenken. Die zunehmende Bereitschaft, Patienten in Forschungsprozesse einzubinden, macht er unter anderem an den stetig steigenden Kooperationsanfragen an das Haus der Krebs-Selbsthilfe fest. Derzeit ist die gesamte Organisation in 260 Aktivitäten der Patientenbeteiligung involviert. Patienten müssen auf Forschung, die sie betrifft, Einfluss haben, gemäß dem Leitbild „Nichts über uns ohne uns!“, betont Crusius.

Auch die Art der Beteiligung hat sich weiterentwickelt. Noch im letzten Jahr sind „Last Minute“-Anfragen keine Seltenheit gewesen: Forschende baten am Tag vor der Abgabe ihres Antrages in einem hektischen Telefonat um einen Letter of Intent der Selbsthilfe. Eine Aufwandsentschädigung für die Betroffenen war in diesen Anträgen fast nie enthalten. Solche Anfragen erlebt Crusius mittlerweile kaum noch. Verbesserungspotenzial sieht er aktuell insbesondere bei der frühzeitigeren Einbindung der Betroffenen. Ideal wäre es, wenn die Patientenvertreter bereits beim Studiendesign involviert werden, etwa wenn es um die Auswahl geeigneter Endpunkte geht und nicht erst „am Ende der Kette“, sagt er. Crusius stört auch, dass es in Deutschland noch immer keine einheitlich geregelte finanzielle Kompensation für die Patientenbeteiligung an Forschungsprojekten gibt, wie es in anderen Ländern schon gute Praxis ist. Diese Defizite dürften in die Kategorie Kulturwandel und strukturelle Änderungen fallen, die das Forum Gesundheitsforschung in seiner Erklärung so nachdrücklich eingefordert hat.

 

Kategorisierung von Patientinnen und Patienten nach Art ihrer Expertise

Quelle Grafik: Schütt, A., Müller-Fries, E., & Weschke, S. (2023). Aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsforschung. Eine Heranführung. Bonn/Berlin: DLR Projektträger. DOI: 10.5281/zenodo.7908077 • Download unter: https://zenodo.org/record/7908077