Wie unbequeme Reformprozesse neu gedacht werden müssen
Berlin (pag) – Die Versorgungslandschaft befindet sich im Wandel, der bisherige Standard wird nicht überall aufrechtzuerhalten sein. Politikerinnen und Politiker müssen sich unpopulären Entscheidungen stellen, die für Unruhe und Skepsis in der Bevölkerung sorgen. Ist die Bürgerbeteiligung ein für die Gesundheitspolitik geeignetes Modell, um Kritik und Protest in konstruktiven Aktivismus umzuwandeln? Eine Bestandsaufnahme.
„Wir erkennen jetzt, dass Bürgerbeteiligung innerhalb des Gesundheitssystems nötig ist und dazu beitragen wird, Reformen innerhalb des Systems zu beschleunigen, konkurrierende Interessen auszugleichen und die Versorgungsqualität zu verbessern“, lautet die zentrale Schlussfolgerung einer vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) geförderten und von der Universität Bielefeld durchgeführten Tagung. Stattgefunden hat die Veranstaltung zu Bürgerbeteiligung im Gesundheitswesen bereits im Jahr 1999. Der Gedanke ist also bereits ein Vierteljahrhundert alt. Getan hat sich seitdem nicht viel. Während die Patientenbeteiligung längst im System etabliert ist und kürzlich 20. Jubiläum feierte, herrscht in puncto Bürgerbeteiligung weitgehend Stillstand. Zumindest in Deutschland.
Über internationale Avantgarden
Anders ist die Situation im Ausland: Als Vorreiter für gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung gelten etwa skandinavische Länder und auch Großbritannien. „Ich selbst schaue seit vielen Jahren mit einem gewissen Neid nach Großbritannien, wo ich sehe, dass die Organisation der Interessen von Bürgern, Patienten und Konsumenten einen Reifegrad erreicht hat, von dem wir hier noch weit entfernt sind,“ konstatiert der damalige BMG-Abteilungsleiter Dr. Herrmann Schulte-Sasse auf der Tagung vor 25 Jahren. Gegenüber der Presseagentur Gesundheit nennt Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim weitere wichtige Leuchttürme: Das österreichische Bundesland Vorarlberg mit seinen Bürgerräten, der US-amerikanische Bundesstaat Oregon mit seinen Citizens‘ Juries oder Irland mit seinen Citizens‘ Assemblies.
Ostalbkreis als Blaupause
Brettschneider, der zu Kommunikation bei Infrastrukturprojekten forscht, ist selbst in ein gesundheitspolitisches Beteiligungsformat im Ostalbkreis in Baden-Württemberg involviert: Im Sommer 2023 tauschten sich dort 51 Bürger über die Zukunft der dortigen Gesundheitsversorgung, insbesondere die Neugestaltung der Kliniklandschaft, aus. Dem Kommunikationswissenschaftler zufolge ist das Projekt als Blaupause für andere Kreise geeignet. Die Probleme seien vergleichbar, zudem sei das Verfahren relativ unkompliziert. Brettschneider erklärt es wie folgt: „Zunächst werden die betroffenen Personengruppen identifiziert. Mit ihnen hält man alle relevanten Aspekte auf einer Themenlandkarte fest.“ Diese komme im Anschluss ins Internet, sodass die Bürger Ergänzungen vornehmen können. Im nächsten Schritt hören zufällig ausgewählte Bürger Interessengruppen und Fachleute zu den Fragestellungen an. „Dafür brauchen sie vier bis fünf Termine. Abschließend formulieren die Bürger ihre Empfehlungen an den Kreistag.“ Diese seien allerdings nicht bindend. Folge der Kreistag einzelnen Empfehlungen nicht, muss er dies jedoch begründen (Mehr über das Projekt lesen Sie im Interview mit Lena Kümmel auf der nächsten Seite).
Im Ostalbkreis hat man sich für ein Bürgerforum entschieden, um die Bevölkerung in die Neugestaltung der Kliniklandschaft einzubinden. Solche Foren eignen sich besonders, um wichtige Gremienentscheidungen durch Bürgerempfehlungen vorzubereiten, es können aber auch andere Formate gewählt werden (siehe Infokasten).
Vielleicht ist das Forum ein Indiz dafür, dass hierzulande ein Umdenken stattfindet und sich die Gesundheitspolitik stärker öffnet – als Nebeneffekt des spürbaren Reformdrucks, der die politischen Entscheidungsträger zu unbequemen Maßnahmen zwingt. Denn Beteiligung, da sind sich Wissenschaftler einig, kann die Akzeptanz in politische Entscheidungen erhöhen und das Vertrauen in demokratische Institutionen stärken. Brettschneider kann sich gut vorstellen, dass Gesundheitspolitiker künftig häufiger Bürger mit ins Boot holen. „Sie tragen auch unbequeme Maßnahmen mit, wenn sie die Gründe dafür nachvollziehen können. Dafür muss man die Bürgerinnen und Bürger aber ernst nehmen und mit ihnen sprechen“, so der Kommunikationsexperte. Entscheidend für den Erfolg sei eine Vielfalt von Lösungsalternativen statt einer singulären Vorgabe. Innerhalb eines Beteiligungsprozesses empfiehlt er bis zu drei Varianten zur Diskussion zu stellen, samt aller Vor- und Nachteile. „Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sind da manchmal sogar mutiger als einige Politiker, die sich von den lauten Stimmen in der Bürgerschaft beeindrucken lassen und sie für die Mehrheitsmeinung halten.“
Beteiligungsformate – eine Auswahl
Runde Tische kommen vor allem bei kontroversen Themen zum Einsatz. Vertreter verschiedener Interessen erarbeiten hier gemeinsame Ergebnisse. In Themen- und Fokusgruppen steht nicht die partizipatorische Natur im Vordergrund, sondern die Beratung von Entscheidungsträgern durch Bürger. Meinungsbilder aus speziellen Bevölkerungsgruppen können in Fokusgruppen besonders gut dargestellt werden. Zukunftswerkstätten ermöglichen es Bürgern, sich in Ideenfindung zu Entwicklungen und Entscheidungen einzubringen. Das Format dockt meist direkt am Lebensumfeld von Betroffenen an. Charakteristisch ist eine ausgeprägte Visionsphase. Ein Beispiel dafür ist „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ der Robert Bosch Stiftung.