Ein fundamentaler Wandel steht bevor
Berlin (pag) – Aufbruchsstimmung liegt im April bei der Digitalmesse DMEA in der Luft. Über 800 Aussteller geben Einblicke in Innovationen, mehr als 300 Speaker beleuchten aktuelle Themen, vieles dreht sich um Künstliche Intelligenz (KI). Experten wissen: KI macht neue Strategien erforderlich. Ein Anpassungsprozess beginnt.
Der Publizist und Keynote-Speaker Sascha Lobo sagt auf der DMEA voraus, dass generative KI zukünftig in fast alle Arbeitsprozesse des Gesundheitssystems integriert werde. Allerdings sei die KI-Debatte hierzulande noch immer von einer kontraproduktiven Angst beherrscht.
Bei Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach ist indes keine Überzeugungsarbeit notwendig. „KI in all Policies“ lautet das von ihm auf der Messe verkündete Motto. Der Politiker ist davon überzeugt, dass die Künstliche Intelligenz es beispielsweise möglich mache, viele Krankheiten durch Mustererkennung präziser vorherzusehen. Eine bessere Versorgung durch KI hält er etwa in der Onkologie und im demenziellen Bereich für möglich. Weitere Chancen sieht er bei administrativen Prozessen, die durch KI vereinfacht und qualitativ erhöht werden könnten.
KI und Arzneimittelforschung
Die Plattform Lernende Systeme erkennt unterdessen viel Potenzial beim Einsatz von KI in der Arzneimittelforschung. Im März hat das Expertennetzwerk dazu ein Weißbuch veröffentlicht. Zu den Autorinnen und Autoren gehört Prof. Dagmar Krefting. Der Direktorin des Instituts für medizinische Informatik an der Universitätsmedizin Göttingen zufolge gibt es weltweit nur etwa 700 Unternehmen, die KI-gestützte Lösungen in der Arzneimittelentwicklung anbieten – insbesondere im präklinischen Bereich. „Ein Einsatzbereich ist die Vorhersage von geeigneten Einflussmöglichkeiten auf Krankheitsentwicklungen, den sogenannten Targets.“ Dabei werden zum Beispiel genetische Daten mit wissenschaftlicher Literatur verknüpft, um Wirkstofftargets vorherzusagen. Auf Basis eines Targets könnten KI-Ansätze die Wirkstoffstrukturen vorhersagen, teilweise bereits auch wichtige Eigenschaften wie Toxizität und Herstellbarkeit abschätzen, so Krefting. „Die Wirkstoffstruktur kann anschließend KI-gestützt weiterentwickelt werden.“ Damit ist der Herstellungsprozess gemeint, aber auch Wechselwirkungen mit dem menschlichen Stoffwechsel könnten in virtuellen Experimenten erprobt und optimiert werden. Bisher wenig eingesetzt werde KI bei der Durchführung der klinischen Studien bis zur Zulassung eines Arzneimittels, so die Expertin. Dabei machten diese zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Gesamtentwicklungskosten aus und stellten zudem besonders kritische Phasen dar.
Mangelnde rechtliche Vorgaben
Dass die Potenziale von KI in der Evidenzgenerierung und der Prozessoptimierung bei klinischen Studien aktuell noch nicht genutzt werden, führt Krefting auch auf mangelnde rechtliche Vorgaben zurück. Selbst ein wissenschaftlich fundiertes und vertrauenswürdiges KI-gestütztes System könne nur in klinischen Prüfungen eingesetzt werden, wenn die Zulassungsbehörden dieses als geeignetes Verfahren akzeptieren. „Inwieweit hier EU-weite Regelungen wie der European Health Data Space, die Medical Device Regulation oder der AI Act für Planungssicherheit sorgen können oder weitere Hürden im internationalen Vergleich darstellen, muss sich in der Praxis zeigen“, meint die Professorin.
Es wird konkreter
Unbestritten ist jedoch, dass das Thema in den vergangenen Monaten enorm an Fahrt aufgenommen hat. Neben dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das bereits in Kraft getreten ist, wird es auch beim Europäischen Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS) immer konkreter. An den Vorarbeiten beteiligt sich auch das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelte Forschungsdatenzentrum (FDZ). Dessen Leiter, Dr. Steffen Heß, berichtet gegenüber der Presseagentur Gesundheit, dass das Zentrum als Teil des internationalen Projektes TEHDAS2 Guidelines und Spezifikationen für den Datenraum ausarbeite. Relativ konkret sei auch der Health Data@EU-Pilot, in dessen Rahmen bereits Kernaspekte des EHDS technisch aufgebaut werden. „Daran hat mir gut gefallen, dass man nicht darauf wartet, bis das Konzept zu 100 Prozent fertig gestellt ist, sondern dass man bereits mit einem Teil loslegt und sich zum Beispiel mit konkreten Fragen beschäftigt“, so Heß weiter. Dabei geht es unter anderem darum, wie die Daten europäisch gefunden werden können. Und: Wie bekomme ich den Zugang zu ihnen? Heß zufolge wird eine dezentrale Infrastruktur für diese Anfragen geschaffen. „Das muss aufgebaut werden und damit möchte man nicht erst anfangen, wenn die Verordnung bereits beschlossen wird.“
Beneidenswerter Datenschatz
Das Forschungsdatenzentrum, das voraussichtlich im Herbst online gehen wird, dürfte hierzulande bald eine Schlüsselrolle in Sachen versorgungsnahe Daten spielen. Es führt die Abrechnungsdaten aller gesetzlich Versicherten aus dem ambulanten und stationären Bereich als Quer- und Längsschnitt zusammen. Dazu sollen die Daten aus der elektronischen Patientenakte sowie die Daten der Krebsregister kommen. Auch die Digitalen Gesundheitsanwendungen enthalten bereits Schnittstellen. BfArM-Präsident Prof. Karl Broich spricht auf einer Tagung im Februar von einem „extrem großen Datenschatz“, um den die Food and Drug Administration (FDA) in den USA das BfArM beneide.
Und natürlich hat das FDZ auch das Thema KI auf dem Schirm. Bereits seit zwei Jahren beschäftige man sich damit, so Zentrumsleiter Heß. Insbesondere mit AI-Readiness, denn viele der Prozesse seien mit KI nicht besonders kompatibel. Als Stichwort nennt er Datensparsamkeit. Im regulären Prozess erhielten die Wissenschaftler nur jene Daten, die sie für ihre Forschungsfrage benötigten. Fragt man KI-Forscher, welche Daten sie benötigen, laute die Antwort: alle. Die Schlussfolgerung von Heß: „Das sind Knackpunkte, bei denen manche Konzepte aus dem konventionellen Verfahren nicht mehr greifen. Deshalb sind andere Strategien gefragt.“
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Leitplanken für den KI-Einsatz
Gegenwärtige KI-Modelle für die Krebsbehandlung werden nur für bestimmte Zwecke trainiert und zugelassen. Im Gegensatz dazu können GMAI-Modelle ein breites Spektrum medizinischer Daten verarbeiten, darunter verschiedene Arten von Bildern und Text. GMAI steht für Generalist Medical Artificial Intelligence. Bei Erkrankten mit Darmkrebs könnte ein einziges GMAI-Modell beispielsweise Endoskopievideos, pathologische Gewebeschnitte und Daten aus der elektronischen Patientenakte interpretieren. Solche Mehrzweck- oder Generalistenmodelle stellen einen Paradigmenwechsel weg von den bisherigen, eng definierten KI-Modellen dar, betonen Prof. Stephen Gilbert und Prof. Jakob N. Kather, in einem Kommentar für Nature Reviews Cancer. Den Professoren für Digitale Gesundheit der TU Dresden zufolge stellen GMAI-Modelle eine Herausforderung für die Validierung und Zuverlässigkeitsbewertung dar. Gleichzeitig werde es unmöglich sein, Patienten und medizinisches Fachpersonal davon abzuhalten, generische Modelle oder nicht zugelassene Unterstützungssysteme für medizinische Entscheidungen zu verwenden. Ärzte sollten daher als befähigte Übersetzer von Informationen gestärkt werden. Gilbert und Kather schlagen außerdem einen flexiblen Regulierungsansatz vor, der die einzigartigen Merkmale von GMAI-Modellen berücksichtigt und gleichzeitig die Patientensicherheit gewährleistet sowie die Entscheidungsfindung von Medizinern unterstützt. Ein starrer regulatorischer Rahmen könnte den Fortschritt in der KI-gestützten Gesundheitsversorgung behindern. Notwendig sei daher ein nuancierter Ansatz, der Innovation und Patientenwohl gleichermaßen berücksichtige.