Im Fokus

Das Präventionsmomentum

Politisch und medizinisch öffnet sich ein „window of opportunity“

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Berlin (pag) – Lange genug führte die Prävention ein gesundheitspolitisches Schattendasein. Inzwischen mehren sich die Signale, dass das Thema ernster genommen wird. Eine überfällige Entwicklung, denn wir können uns es nicht länger leisten, das Gesundheitswesen als bloßen Reparaturbetrieb laufen zu lassen. Zumal die Möglichkeiten der Präventionsmedizin immer vielversprechender werden.

Eine kürzlich im „Lancet“ veröffentlichte Studie beschäftigt sich mit Beatmungspatienten. Demnach werden hierzulande deutlich mehr Patienten künstlich beatmet als in Ländern mit vergleichbaren Gesundheitssystemen. Inzwischen versterbe „jeder zehnte Deutsche beatmet im Krankenhaus“, teilen die an der Studie beteiligten Pneumologen und Intensivmediziner mit. Die durchschnittlichen Kosten pro beatmeten Patienten liegen bei 22.000 Euro für das Jahr 2019 und über 25.500 Euro für 2022.

Ungünstiger Spagat

Für die beiden Facharztgruppen bietet die Studie reichlich Stoff für Diskussionen. Prof. Wolfram Windisch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), weist etwa darauf hin, dass Deutschland Schlusslicht bei der Tabakprävention sei. Rauchen sei einer der größten Risikofaktoren für viele schwere Herz- wie auch Lungenerkrankungen, die wiederum die Hauptgründe für Beatmungen auf Intensivstationen in Deutschland darstellen. „Wir sind also in einem ganz ungünstigen Spagat: Wir verhindern die Krankheiten nicht, die wir dann aber maximal mit allem, was geht, behandeln“, stellt Windisch fest und fragt: Wäre es nicht andersherum deutlich besser?
Die Kritik an diesem Spagat beziehungsweise der Vernachlässigung der Prävention ist in jüngster Zeit immer lauter geworden. Der Epidemiologe Prof. Henry Völzke verweist zuletzt beim wissenschaftlichen Symposium der NAKO Gesundheitsstudie, dessen Vorstandsvorsitzender er ist, auf die aktuellen Zahlen zur Lebenserwartung in Deutschland sowie auf Risikofaktoren für Erkrankungen: „Mir läuft der kalte Schauer über den Rücken, wie schlecht wir dabei abschneiden.“ Auch Völzke sieht Deutschlands Defizite bei der Tabakkontrolle, nennt außerdem die Stichwörter Jodmangel und die steigende Anzahl von Diabetespatienten („eine extrem teure Erkrankung“). Er kritisiert: „Wir sehen als Gesellschaft zu, wie wir immer kränker werden und wir tun nichts dagegen.“
Ähnlich klingt es beim Wissenschaftsrat, der im Mai bei der Veranstaltung „Prävention neu denken“ das Thema mit zahlreichen Experten diskutiert. „Wir brauchen mehr durch Digitalisierung und innovative Forschung unterstützte und im Alltag der Menschen wirksame Prävention“, verlangt dort Ratspräsident Prof. Wolfgang Wick, der Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg ist. Dafür sei eine umfassende und nachhaltige Initiative für Prävention und Gesundheit nötig. Diese müsse breit unterstützt und getragen werden – und zwar von der Politik und den Medien über die Krankenkassen bis zum Public-Health-Sektor, Kliniken, Praxen sowie in diesem Bereich aktiven Gruppen der Zivilgesellschaft. Auch in der Wissenschaft seien verschiedene Disziplinen gefragt, so Wick. Neben einer umfassenden Vernetzung der Akteure mahnen die Tagungsteilnehmer für die Prävention wirksame Anreize, zielgruppengerechte Kommunikation sowie verbindliche politische Ziele an.

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Datenquellen: Human Mortality Database, Eurostat, ONS England; Berechnungen durch das BiB
Datenquellen: Human Mortality Database, Eurostat, ONS England; Berechnungen durch das BiB

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© stock.adobe.com, pattilabelle

Deutschland fällt bei Lebenserwartung in Westeuropa weiter zurück  Deutschland gehört in Westeuropa zu den Schlusslichtern bei der Lebenserwartung und verliert weiter an Anschluss. Dies zeigt eine aktuelle Studie von Mitarbeitenden des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, bei der die Sterblichkeitstrends über mehrere Jahrzehnte untersucht wurden. Betrug der Rückstand Deutschlands auf die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt im restlichen Westeuropa im Jahr 2000 rund 0,7 Jahre, so hat sich der Abstand bis 2022 auf 1,7 Jahre vergrößert.

 

Lauterbach will Trendwende

Apropos Politik: Anwesend bei der Veranstaltung des Wissenschaftsrates ist auch Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach. Er bekräftigt, dass es eine „Trendwende bei Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz“ brauche. Zwei aktuelle Gesetzesentwürfe aus seinem Haus, das „Gesetz zur Stärkung der Öffentlichen Gesundheit“ sowie das „Gesundes-Herz-Gesetz“, greifen diese Themen auf (lesen Sie hierzu auch „Rückfall in der Bedeutungslosigkeit?“). So umstritten die beiden Initiativen von der Fachwelt gesehen werden, so zeigen sie dennoch, dass die Politik in Sachen Prävention aufgewacht und den drängenden Nachholbedarf erkannt hat.
Auch andere Akteure werden aktiv – zum Beispiel bei Krebs. Denn immerhin könnten 40 Prozent der Krebsneuerkrankungen allein durch Impfungen und Veränderungen der Lebensführung verhindert werden. „60 Prozent der Todesfälle wären mit Sekundärprävention vermeidbar“, umreißt Prof. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), das Präventionspotenzial beim Wissenschaftsrat. Nur wenige Wochen nach der Tagung fällt Ende Juni der Startschuss für eine bauliche Erweiterung des DKFZ in Heidelberg. In dem neuen Gebäudekomplex werden wichtige Zukunftsfelder des DKFZ Einzug halten – wie das Nationale Krebspräventionszentrum, dass sich derzeit bereits im inhaltlichen Aufbau befindet. Es entsteht als strategische Partnerschaft des DKFZ und der Deutschen Krebshilfe, die den Bau mit 25 Millionen Euro unterstützt. Das Zentrum soll alle wesentlichen Komponenten für die Präventionsforschung sowie für die Umsetzung der Prävention unter einem Dach vereinen: die Präventionsambulanz mit Beratungs- und Studienangeboten für die personalisierte Krebsprävention, Labor- und Büroflächen für die Präventionsforschung sowie die Aus- und Weiterbildung von Präventionsfachleuten.

Undenkbare Einblicke

Denkbar wäre übrigens auch, die NAKO Gesundheitsstudie für die Präventionsforschung zu nutzen. Diesen Gedanken will ihr Vorstandsvorsitzender Völzke auf dem wissenschaftlichen Symposium der NAKO der Politik nahebringen (lesen Sie hierzu auch „Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial“). Bei Judith Pirscher, Staatssekretärin im Bundesforschungsministerium (BMWF), stößt er mit diesem Anliegen auf offene Ohren. Zumindest betont sie in ihrem Grußwort: „Die NAKO ermöglicht mit ihrem Datenschatz bisher undenkbare Einblicke in Mechanismen der Krankheitsentstehung.“ Wie genau präzisiert im Anschluss Prof. Maike Sander, Vorstandsvorsitzende das Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Es seien bereits rund 3.800 NAKO-Teilnehmende mittels Magnetresonanztomographie (MRT) untersucht worden. Darüber könnten kleinste Veränderungen über die Zeit beobachtet werden, und zwar lange bevor Symptome auftreten. So erhalte man sehr wichtige Einblicke in die Früherkennung, sagt Sander: „Die NAKO schlägt somit eine Brücke vom gesunden zum kranken Menschen.“ Die Medizinerin erinnert daran, dass Kohortenstudien wie die NAKO besonders für die Präventionsmedizin eine enorme Chance bieten, bedeutende Erkenntnisse zu gewinnen. So habe beispielsweise die UK Biobank genetische Marker für die Früherkennung von Brust- und Bauchspeichelkrebs identifiziert. Im Unterschied zur UK-Studie werden die NAKO-Teilnehmer sogar noch viel detaillierter klinisch untersucht. „Diesen Schatz müssen wir jetzt heben“, verlangt sie. 

 

Forschungsprojekt: Krebsrisiken-Prognose mit Gesundheitsdaten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DKFZ und des European Bioinformatics Institute aus Großbritannien nutzen die dänischen  Gesundheitsregister, um die individuellen Risiken für 20 verschiedene Krebsarten mit hoher Treffsicherheit vorherzusagen. Das Vorhersagemodell lässt sich auch auf andere Gesundheitssysteme übertragen. Es könnte helfen, Menschen mit hohen Krebsrisiken zu identifizieren, für die man gezielt individuelle Früherkennungsangebote im Rahmen von Studien erproben könnte, vermeldet das DKFZ.