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Update dringend erforderlich

Warum das Patientenrechtegesetz in die Jahre gekommen ist

Berlin (pag) – Elf Jahre alt ist mittlerweile das Patientenrechtegesetz. Viele Expertinnen und Experten halten es schon längst für überholungsbedürftig. Bei einer kürzlich stattge-fundenen Konferenz der Grünen-Bundestagsfraktion werden konkrete Reformoptionen diskutiert. Deutlich wird auch: Wenn es um Fehlervermeidung geht, spielt die Verteilung von Ressourcen eine entscheidende Rolle.

 

Die beiden zuständigen Bundesministerien für Gesundheit und Justiz stellen noch für dieses Jahr eine Änderung des Patientenrechtegesetzes in Aussicht. Auf der Konferenz spricht sich Dr. Martin Danner, Bundesgesch.ftsführer der BAG Selbsthilfe, für eine Beweislasterleichterung zugunsten der Patienten aus. Problematisch sei, dass viele Prozesse über die strafrechtliche Schiene ablaufen. Dabei müsse ein mutmaßlich Geschädigter in der Regel den Kunstfehler, den entstandenen Schaden und den direkten Zusammenhang zwischen beidem belegen: „Ein solcher Nachweis ist naturgemäß nur sehr schwer zu erbringen.“

 

© pag, Weger
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Vertragsrecht als Lösungsansatz

Eine Lösung wäre, das Patientenrechtegesetz mit Blick auf das Vertragsrecht auszurichten. Geht es gerichtlich nicht um ein mögliches Delikt des Arztes, sondern „nur“ um die Verletzung von Vertragspflichten, greifen die beweisrechtlichen Grundlagen des Paragrafen §287 der Zivil-Prozessordnung (ZPO). Hier müsste ein Patient „nur“ noch die Pflichtverletzung beweisen. Außerdem müsse bei Delikten ein Fehler mit „an Sicherheit grenzender  Wahrscheinlichkeit“ nachgewiesen werden, im Vertragsrecht ist dagegen eine richterliche Würdigung des Geschehens entscheidend. Für Danner wäre ein expliziter Verweis im Rechtsparagrafen §630a des Bürgerlichen Gesetzbuch, der die vertragstypischen Pflichten beim Behandlungsvertrag regelt, auf den §287 der ZPO sinnvoll, um klarzustellen, welche beweisrechtlichen Grundlagen gelten. Das könne eine sinnvolle Erweiterung des  Patientenrechtegesetzes sein.
Der Fachanwalt für Medizinrecht Jörg Heynemann sieht ein ähnliches Problem durch die Unterscheidung von Fehlern. Bei einfachen Behandlungsfehlern liegt die komplette Beweislast beim Patienten, nur bei groben Behandlungsfehlern – also einem eindeutigen Verstoß gegen die geltenden Richtlinien, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint – muss der beschuldigte Arzt nachweisen, keinen Fehler begangen zu haben. Laut Heymann wüssten medizinische Gutachter vor Gericht genau, welche Formulierungen sie nutzen könnten, damit ein Fall als nur einfacher Behandlungsfehler gilt. Er spricht in diesem Zusammenhang von Gutachtern als „Richter in Weiß“. Eine Absenkung der Beweislast auf „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ bei einfachem Behandlungsfehler sei sinnvoll. Das sei für die Patientenanwälte der zentrale Kern, der bei einer künftigen Gesetzesnovellierung angegangen werden müsse. Einig sind sich alle Experten darüber, dass die enormen Verfahrenszeiten und die Anstrengungen,
die für eine Verfahrenserzwingung notwendig sind, abgebaut werden müssen.

Warnung vor „Defensivmedizin“

Laut der Trierer Strafrechtsprofessorin Prof. Carina Dorneck hat das Patientenrechtegesetz den „Status quo der Rechtsprechung von 2013 versteinert“. Die vorgeschlagenen Änderungen sieht sie trotzdem kritisch. Bei Beweiserleichterungen befürchtet sie Rechtsunsicherheit als Folge. Müssten Ärzte Sorge haben verklagt zu werden, könnten sie künftig nur noch risikolose Eingriffe durchführen oder zu Überbehandlung tendieren, um sich abzusichern. Sie spricht von einer „Defensiv-medizin“. Außerdem sieht sie unzumutbare Dokumentationspflichten auf Behandler zukommen, wenn diese in der Pflicht seien, selbst zu beweisen, dass sie keine Fehler gemacht haben.
Aus ihrer Sicht ist das Thema Beweislast nicht der richtige Ansatzpunkt, vielmehr solle man mehr für die Prävention tun – dafür brauche es an erster Stelle eine transparente Fehlerkultur: „Wer persönlich haftet, kann sich nicht offen und selbstkritisch zu Fehlern äußern.“ Das Hauptproblem sei aber die Überlastung des Gesundheitssystems an sich. Erwiesenermaßen seien Zeitmangel und Stress die größten Risikofaktoren für Fehler. „Was in der heutigen Medizin am meisten fehlt, ist Zeit.“

 Dr. Martin Danner (Bundesgeschäftsführer Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe) und Prof. Dr. Carina Dorneck (Uni Trier), © pag, Weger
Dr. Martin Danner (Bundesgeschäftsführer Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe) und Prof. Dr. Carina Dorneck (Uni Trier) © pag, Weger
Jörg Heynemann (Fachanwalt Medizin- und Versicherungsrecht) und Claus Fahlenbrach (Referatsleiter Versorgungsqualität AOK-Bundesverband), 
© pag, Weger
Jörg Heynemann (Fachanwalt Medizin- und Versicherungsrecht) und Claus Fahlenbrach (Referatsleiter Versorgungsqualität AOK-Bundesverband) © pag, Weger

Never Structures und Never Procedures

Das zweite große Thema der Konferenz lautet „Behandlungsverantwortung versus Organisationsverantwortung“. Dr. Charlotte Hölscher von der Fachstelle Patientensicherheit des Medizinischen Dienstes (MD) sieht ein Register für Never Events (NE) als ersten wichtigen Schritt für bessere Fehlerkultur. Die Datenlage zum Thema sei unzureichend, Schätzungen zufolge würden nur drei Prozent der Schadenfälle verfolgt. Eine Meldepflicht für NE im Patienten-rechtegesetz wäre auch zum Erkennen systemischer Probleme notwendig. „Oftmals stehen nach einem Schaden Personen – wie der behandelnde Arzt – im Haftungsfokus, die präventiv gar keinen Einfluss auf die Fehlerkette haben“, betont Hölscher. Die eigentlichen organisatorischen Probleme, die ursächlich für einen Fehler seien, seien schwer greifbar. Danner von der BAG Selbsthilfe fordert, dass parallel zu NE über Never Structures und Never Procedures – also unbedingt zu vermeidende Organisationsstrukturen und Verfahrensabläufe – nachgedacht werden müsse.
Um organisatorische Verantwortungen erfassen zu können, müssten im Patientenrechtegesetz laut Dorneck Einsichtsrechte erweitert werden. Es reiche nicht, nur die eigene Patientenakte zu bekommen, sondern man müsste auch Hygienepläne oder etwa Schichtplanungen einsehen können.

Erlösgesteuerte Strukturen als Fehlerquelle

Einig sind sich alle Konferenzteilnehmer, dass man, um Behandlungsfehler wirklich aktiv zu vermeiden, an den Grundlagen des Gesundheitssystems arbeiten müsse. Dahinter steht die Frage, wer über die Verteilung von Ressourcen entscheidet. Laut den Experten Prof. Karl Beine, Facharzt für Psychotherapie, Prof. Karsten Scholz, Leiter des Dezernat Recht der Bundesärztekammer, und dem Richter Dr. Tim Neelmeier sorge die erlösgesteuerte Ausrichtung des Systems – vor allem bei Krankenhäusern – zwangsläufig zu fehleranfälligen Strukturen. Eine Entökonomisierung des Gesundheitswesens sei dringend erforderlich. Wie die Grünen-Abgeordnete Linda Heitmann zusammenfasst, brauche es für eine richtige Fehlerkultur auch betriebswirtschaftliche Anreize, denn das aktuelle DRG-System begünstige Fehler. 

 

Fehler schon vor Behandlungsstart?
Dr. Tim Neelmeier, Vorsitzender Richter am Landgericht Itzehoe, sieht zwei Fehlertypen. Erstens: Während eines Eingriffs geht etwas schief. Zweitens: Schon vor Start besteht ein erhöhtes Risiko, etwa bei viel zu dünner Personalbesetzung. Beispielhaft seien Narkose-Todesfälle in kleinen Praxen, in denen MFAs gleichzeitig den Praxistresen besetzen, Telefondienst haben und Patienten im Aufwachraum überwachen. Ursächlich sieht er „Fatale Anreizstrukturen, weil man wirtschaftlich sein muss.“ Pflichtverletzungen, bei denen die Behandlung gar nicht erst hätte begonnen werden dürfen, sollten für ihn künftig explizit strafbar sein.