Im Fokus

Chronisch krank am
 Arbeitsplatz

Der Weg zu einer echten Teilhabe ist noch steinig

Berlin (pag) – Mit den Herausforderungen zum Thema „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ beschäftigt sich kürzlich der Patient Advocacy Summit von Novo Nordisk. Fest steht: Für die Teilhabe von chronisch erkrankten Personen am Arbeitsleben ist noch viel zu tun. Dabei könnte der Fachkräftemangel ein Katalysator sein.

Als politischen Anknüpfungspunkt hebt Pia Vornholt, Vice President Public Affairs Germany von Novo Nordisk, die Wachstumsinitiative der Bundesregierung hervor. „Die Maßnahmen und Lösungen, die wir heute hier erarbeiten, können Teil der Antwort auf den herrschenden Fachkräftemangel und den demografischen Wandel sein.“ Wichtig sei, dass eine starke und vereinte Patientenstimme sich auch in der Politik engagiere und gehört werde, um langfristig Veränderungen herbeizuführen und die Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt angemessen zu berücksichtigen.

© iStock.com, Ivan-balvan
© iStock.com, Ivan-balvan

Ähnlich lautet die Botschaft von Franz Donner. In seinem Impuls konstatiert der ehemalige Konzernpersonalleiter bei der ZEISS-Gruppe, dass die Teilhabe von chronisch Erkrankten in der Gesellschaft, der Politik und bei den Unternehmen nicht das Gewicht bekomme, das es verdiene. Er richtet den Fokus auf den Fachkräfte-
mangel, der mit einem Rückgang von 3,8 Millionen Arbeitskräften bis 2035 einhergeht. „Wir tun gut daran, diesen in den Vordergrund zu stellen.“ Im Gegensatz zu den chronisch Erkrankten hätten es die älteren Erwerbstätigen geschafft, explizit in der Wachstumsinitiative der Bundesregierung erwähnt zu werden. Zwar gebe es Firmen, die das Teilhabe-Thema bewusst aufgreifen, aber der klassische Unternehmer hat es Donner zufolge nicht auf der Agenda und benötigt eine „burning platform“ – in diesem Fall den Fachkräftemangel. Mit dem Later Life Workplace Index stellt der Experte zudem einen Werkzeugkasten vor. Das Diagnoseinstrument unterstützt Firmen bei ihrer Einschätzung, wie gut sie auf eine alternde Belegschaft vorbereitet sind.

„Gemeinsam etwas ändern.“

Die am Summit teilnehmenden Betroffenen stellen insbesondere heraus, dass es sich um ein patientengruppenübergreifendes Thema handele. Michael Wirtz, Adipositas-Hilfe Deutschland, sagt etwa, dass es nicht nur um Menschen mit Adipositas gehe: „Wir reden auch über Menschen mit Diabetes, Rheuma, MS etc.“.

Auch für Corinna Elling-Audersch von der Rheuma-Liga ist „Chronisch krank am Arbeitsplatz“ eine Angelegenheit, welche die Zusammenarbeit aller Patienten erfordert. „Wir müssen gemeinsam etwas ändern“, mahnt sie. Arbeit sichere nicht nur den Lebensunterhalt, sondern auch die soziale Integration. Noch immer gebe jeder fünfte Rheumapatient mittleren Alters in den ersten drei Jahren nach der Diagnose seinen Arbeitsplatz auf, berichtet Elling-Audersch.

Zur besseren Teilhabe am Arbeitsplatz nennt die Aktivistin einige Stichwörter: Aufklärung und Offenheit im Umgang mit der Erkrankung, Wechsel zu weniger körperlich anstrengenden Tätigkeiten, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfsmitteln sowie Qualifizierung/Umschulung/Weiterbildung. Oft seien es nur winzige Stellschrauben, die für eine Teilhabe bewegt werden müssten, etwa mehr Pausen oder die Erlaubnis, Physiotherapiestunden in den Arbeitsalltag einzubauen. Auch müssten die staatlichen Zuschüsse für Arbeitgeber noch bekannter gemacht werden. Corinna Elling-Audersch appelliert: „Wir müssen in der Gesellschaft ein Bewusstsein für uns schaffen“.

Wachstumsinitiative der Bundesregierung
Um der deutschen Wirtschaft neue Impulse zu geben, hat die Bundesregierung zusammen mit dem Haushalt 2025 eine umfassende Wachstumsinitiative beschlossen. Mit 49 Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen will sie den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken, um den Wohlstand langfristig zu sichern – „für gute Arbeitsplätze und für die erfolgreiche Umsetzung der Dekarbonisierung“, wie es heißt. Unter anderem sollen Anreize dafür geschaffen werden, dass es sich für Ältere mehr lohnt, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck hat angekündigt, dass aufgrund des Fachkräftemangels auch „Arbeitsausfälle infolge von Krankheit reduziert werden sollen“. Konkrete Maßnahmen innerhalb der Initiative sind jedoch nicht benannt.

Erkrankungen sind ein Vollzeitjob

Ein Bewusstsein zu schaffen, ist auch ein Anliegen von Lea Raak. Die Aktivistin für Barrieresensibilität lebt seit 13 Jahren mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und arbeitet außerdem in Vollzeit. Sie sagt: „Meine chronischen Erkrankungen sind auch schon ein Vollzeitjob.“ Jeden Tag lebt sie mit einer Vielzahl von Symptomen. „Wenn man mich sieht, würde man das nicht unbedingt denken.“ In ihrem Vortrag gibt sie Einblicke in ihre Arbeit mit einer nicht ersichtlichen Behinderung. Beeinträchtigt fühlt sie sich etwa von Verurteilungen und Diskriminierungen, obgleich sie an ihrem Arbeitsplatz an der Universität das Glück habe, offen mit ihrer Erkrankung umgehen zu können. Dennoch blieben das schlechte Gewissen und ein Ringen mit sich selbst, ob und wann sie sich krankmeldet.

Raak plädiert dafür, gemeinsam mit dem Arbeitgeber Strategien für die Vereinbarkeit zu entwickeln. Ein wichtiges Anliegen sei es ihr auch, dass es auf der Arbeit einen sicheren Raum gibt, um Dinge anzusprechen und offenzulegen. Die Aufgabe von Führungskräften sei es, einen solchen Raum zu schaffen. Lea Raak verlangt: „Nicht ich muss mich anpassen, sondern der Arbeitsplatz sollte sich anpassen und die Führungskräfte sollen sich anpassen.“

 

Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen
Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen

Sag ich es ?
Prof. Mathilde Niehaus, Universität zu Köln, stellt bei dem Summit den Online-Selbsttest www.sag-ichs.de
vor. Dieser unterstützt Betroffene
bei der Entscheidung für oder gegen die Offenlegung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung am Arbeitsplatz. Dafür werden verschiedene Bereiche wie „Auf der Arbeit“, „Persönliche Voraussetzungen“, „Einstellungen und Werte“ so-
wie „Erfahrungen und Lebenssitua-tion“ abgefragt. Unter Wahrung des Datenschutzes wird basierend auf den Antworten ein persönliches Profil erstellt. Die Frage, die eigene gesundheitliche Beeinträchtigung am Arbeitsplatz zu offenbaren, sei hochkomplex und ziehe viel Energie, weiß Niehaus. Sie hebt hervor, dass Personen, deren Beeinträchti-gung man von außen nicht sehen könne, ganz anders mit sich und anderen im Konflikt stehen, über ihre Erkrankung zu sprechen. Oft seien sie Vorurteilen ausgesetzt, beispielsweise sich vor der Arbeit zu drücken. Beide Entscheidungsmöglichkeiten – die Erkrankung offenzulegen oder sie für sich zu behalten – seien legitim. „Wichtig ist, dass ich die Entscheidung mit mir selbst ausgemacht habe und sie selbstbestimmt fälle.“