In Sachen Health Security besteht dringender Nachholbedarf
Berlin (pag) – Die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte Zeitenwende betrifft auch das Gesundheitswesen. Auf einer Tagung der Bundesärztekammer (BÄK) nehmen Expertinnen und Experten eine Bestandsaufnahme vor, ob das gegenwärtige „Schönwettersystem“ auf den Ernstfall vorbereitet ist. Ihre Einschätzungen fallen ernüchternd aus.
Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), findet klare Worte: „Für das Szenario Krieg sind wir nicht gut aufgestellt“, sagt er. Dies sei jahrzehntelang nicht vorstellbar gewesen. Deshalb müssten jetzt die Prioritäten neu gesetzt werden.
Tiesler spricht bei der BÄK-Veranstaltung von einer veränderten Bedrohungslage: Seit 2022 sei Krieg eine neue Realität in Europa. Aufgrund seiner geografischen Lage sei Deutschland im Bündnis- und Verteidigungsfall besonders betroffen. Und insbesondere für das Gesundheitssystem stelle das „Themenfeld Krieg“ eine besondere Herausforderung dar. Verteidigung, so Tiesler, sei keine allein militärische Angelegenheit.
Neue Realitäten
Konsens ist bei der Tagung, dass neben dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch Klimawandel, Cyberangriffe und Sabotage sowie politischer Extremismus die Frage nach der Krisenresilienz der Gesellschaft in einer neuen Dringlichkeit stellen. Das gelte im Besonderen für das Gesundheitswesen. BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt mahnt daher, die neuen Realitäten zu akzeptieren und sich in allen gesellschaftlichen Bereichen auf den Ernstfall vorzubereiten. „Wir müssen aber auch über die Resilienz des Gesundheitswesens insgesamt sprechen.“
Im März dieses Jahres hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach angekündigt, das Gesundheitssystem mit einem gesonderten Gesetz besser auf Katastrophen und militärische Konflikte vorbereiten zu wollen. Der für den Sommer angekündigte Entwurf lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor. Umso dringlicher verlangt der Vorstandsvorsitzende der Charité, Prof. Heyo Kroemer, Health Security – Gesundheitssicherheit – in Deutschland zu etablieren.
Nur ein Schönwettersystem?
In seinem Vortrag verschweigt er nicht, dass es eine „gewaltige Aufgabe“ sei, das deutsche Gesundheitswesen resilient zu machen. Das dürfte nicht zuletzt an der vom Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege konstatierten mangelnden Kooperation zwischen Sicherheitsbehörden, Militär und Gesundheitswesen liegen. Der Rat bezeichnet in diesem Zusammenhang das hiesige Gesundheitswesen als „Schönwettersystem“.
Der Charité-Chef Kroemer ist Vorsitzender des „ExpertInnenrats Gesundheit und Resilienz“ und hat sich mit dem Thema intensiv befasst. Ihm zufolge ist Deutschland für sogenannte MANV-Situationen gut aufgestellt. Der Massenanfall von Verletzten (MANV) bezeichnet im Rettungswesen eine Situation, bei der eine große Zahl von Verletzten oder Erkrankten versorgt werden muss – etwa aufgrund von Bombenattentaten, Eisenbahnunglücken, Flugzeugabstürzen, Seuchen sowie großflächigen ABC-Einsatzlagen. Solche MANV-Situationen dauern in der Regel mehrere Stunden oder wenige Tage. Eine komplett andere Dimension stellt ein Verteidigungsfall dar, der Monate oder sogar Jahre andauern könne, so Kroemer. Um mit solchen Situationen fertig zu werden, müsse man sich dringlich mit Gesundheitssicherheit auseinandersetzen.
International hat das Thema Health Security bereits deutlich an Fahrt aufgenommen. Bei der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Union ist es stärker in den Fokus gerückt. Kroemer berichtet, dass viele Länder bereits eine Strategie ausgearbeitet haben. In den USA und in den UK gebe es dafür nationale Einrichtungen. In Ländern wie Schweden oder Dänemark wurde ein ziviles Krankenhaus mit Aufgaben der Gesundheitssicherheit beauftragt. So weit ist man hierzulande noch nicht. Aber immerhin nimmt der Resilienzexperte ein beginnendes Problembewusstsein wahr. Es bestehe ein enger Austausch zwischen Bundeswehr und zivilen Strukturen – „allerdings in erheblichen Teilen auf individueller Ebene, weil man sich kennt und noch nicht in richtigen Strukturen“, schränkt Kroemer ein.
Den Eindruck einer noch unausgereiften Zusammenarbeit bestätigt Tiesler. So sei Katastrophenschutz Ländersache. Deshalb gebe es keine übergreifende Steuerung zwischen Bund und Ländern. „Es gibt keinen Krisenstab auf Bundesebene für alle“, räumt er ein, „es gibt nichts, was geübt und trainiert und vorgedacht ist an der Stelle, das ist tatsächlich ein echtes Defizit“. Der Behördenleiter sieht als größtes Problem die föderale Staatsstruktur sowie die Betonung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Das funktioniere in Friedenszeiten, stelle aber in der gegenwärtigen Lage ein Hindernis dar. „Und trotzdem müssen wir da durch und schneller werden“, appelliert er.
Der Bündnisfall BBK-Chef Tiesler konkretisiert, was im NATO-Bündnisfall, wenn Deutschland zur Drehscheibe werde, auf das Gesundheitssystem zukommt: bis zu 1.000 neue Patienten pro Tag, kriegsbedingte Verletzungsmuster, strategischer Patiententransport, Sabotageakte und Anschläge auf die Gesundheitsinfrastruktur. Man müsse sich auch auf großflächige CBRN-Lagen einrichten. CBRN-Schutz ist ein Sammelbegriff und bezeichnet chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren. Auch verlange die NATO die Aufnahme von Geflüchteten, in einer Größenordnung bis zu zwei Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung.
Wie viele Ehrenamtliche?
Auf der Agenda seiner Behörde stehen eine Menge Aufgaben. Tiesler nennt unter anderem: Sanitätsmittelbevorratung, strategischer Patiententransport sowie medizinischer CBRN-Schutz. Auch der gesundheitliche Bevölkerungsschutz, der in besonderen Langen – Krisen, Katastrophen und Krieg – eine Ergänzung der medizinischen Grund- und Alltagsversorgung darstellen soll, ist im Fokus des Bundesamtes. Dieses Hilfesystem wird nämlich im Wesentlichen von Ehrenamtlichen getragen. Von wie vielen genau, ist derzeit unklar. Zwar kursiert eine Zahl von 1,7 Millionen, allerdings sind dabei Mehrfachverpflichtungen von Personen nicht berücksichtigt. Tieslers Behörde versucht daher, eine realistische Größenordnung zu ermitteln.
Zwar existieren bereits unzählige Leitfäden, Konzepte und Handbücher, dennoch muss aktuell vieles neu gedacht werden. Für Vorhaltungsstrategien, die noch aus Zeiten des Kalten Krieges stammen, braucht es zeitgemäße Nachfolgemodelle, so der BBK-Chef. Dabei gehe es insbesondere um „Lösungen in Bezug auf Personal, Material, Koordination und Steuerung“. Dahinter sieht er die Grundsatzfrage, ob andere Regeln in dieser Zeit, in der vieles geplant und vorbereitet werden muss, benötigt werden. Eine Zeit, die Tiesler weder Frieden noch Krieg nennen möchte.
„Effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit“
„Aufgrund der zentralen geopolitischen Lage in Europa ist Deutschland bereits in frühen Phasen eines Konfliktes in besonderer Weise als Drehscheibe gefordert, dies gilt insbesondere auch für die Gesundheitsversorgung. Um für unsere Soldatinnen und Soldaten sowie unsere multinationalen Partner eine adäquate medizinische Versorgung sicherstellen zu können, ist der Sanitätsdienst der Bundeswehr auf eine effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitssystem angewiesen. In der Vergangenheit hat der Sanitätsdienst der Bundeswehr regelmäßig in Deutschland das zivile Gesundheitssystem unterstützt, beispielsweise im Rahmen der Fluthilfe oder der COVID-19-Pandemie. Zukünftig werden sich die Akteure des zivilen Gesundheitssystems im Rahmen der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung verstärkt auch auf die Unterstützung der Bundeswehr vorbereiten müssen. Die hierfür notwendige enge Verzahnung von zivilen und militärischen Strukturen sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten gilt es nun, aktiv zu planen und so konkret wie möglich vorzubereiten.“