Gesundheitspolitik vor dem Bundesverfassungsgericht
Berlin/Karlsruhe (pag) – Die Krankenkassen beklagen Zweckentfremdung ihrer Gelder, die Bundesländer fühlen sich bei der Klinikreform übergangen und die Pharmafirmen hadern mit den AMNOG-Leitplanken. Viele Akteure erwägen, zentrale Streitfragen nicht mehr nur auf dem politischen Parkett, sondern vor Gericht zu klären. Auch das Bundesverfassungsgericht wird zunehmend in gesundheitspolitische Grundsatzfragen involviert.
Bei den meisten Gesetzen ist es nicht ungewöhnlich, dass es neben politischer Kritik auch rechtliche Bedenken gibt. Die derzeitigen Entwicklungen zeichnen allerdings ein zunehmend hitzigeres Stimmungsbild. Denn einige Stakeholder wollen es nicht mehr beim juristischen Säbelrasseln belassen, sondern stehen mit ihren Klagen schon in den Startlöchern. Ein aktuelles Beispiel für diese Entwicklung ist die Krankenhausreform. Diese könnte die Kliniklandschaft aller Bundesländer, die eigentlich für ihre jeweilige Krankenhausplanung zuständig sind, radikal verändern. Aus Sicht des Bundesgesundheitsministers Prof. Karl Lauterbach (SPD) benötigt das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) im Bundesrat aber keine Zustimmung. Gesetzgeberisch hat der Rat damit nur die Möglichkeit, den Vermittlungsausschuss einzuberufen, um Einfluss zu nehmen. Landespolitiker wie Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Bündnis 90/Die Grünen) halten das für ein realistisches Szenario. Trotzdem sind die Mehrheiten im Rat bisher unklar.
Daneben liebäugeln einige damit, die Reform über den Rechtsweg zu stoppen. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat schon im April mit dem Gang vor das Bundesverfassungsgericht (BverfG) in Karlsruhe gedroht, sollte der Bund das KHVVG als nicht zustimmungspflichtig verabschieden. Auch Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) hat offen eine Klage angekündigt. Zusammen mit Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg hat man sich Rechtsberatung durch den Juristen Prof. Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg geholt. Dessen Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass eine Verabschiedung ohne Zustimmung der Länder das Risiko einer formellen Verfassungswidrigkeit berge. Er verweist auf „durchgreifende Einwände“ hinsichtlich der Zuständigkeit des Bundes für das KHVVG, da es schwerpunktmäßig Versorgungsstrukturen regele und die Planungsbefugnis der Länder übermäßig beschneide.
Kassen hadern mit Transformationsfonds
Bauchschmerzen bereitet die Krankenhausreform auch der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – konkret der Transformationsfonds für den Umbau der Kliniklandschaft, der jeweils zur Hälfte durch die Kassen und die Länder finanziert werden soll. Der GKV drohen jährliche Kosten von 2,5 Milliarden Euro. Um sich juristisch zu wappnen, hat der GKV-Spitzenverband bei der Sozialrechtlerin Prof. Dagmar Felix von der Universität Hamburg ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Der Gesetzgeber darf strukturverbessernde Maßnahmen nicht aus Sozialversicherungsbeiträgen finanzieren: „Bei der Transformation der Krankenhausversorgung handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deren Umsetzung in keinem hinreichenden Bezug zur Sozialversicherung steht.“ Hält Lauterbach an seinen Plänen fest, „stünde der Rechtsweg zum Sozialgericht offen“.
Wie können sich Kassen wehren?
Wesentlich konkreter klingt es beim Vorstandsvorsitzenden des IKK e.V., Hans-Jürgen Müller. Für ihn ist die Klage beschlossenen Sache, kündigt er bei einem Presse-termin Ende August an. Auch dass dafür ein betroffener Versicherter gefunden wird, gilt als ausgemacht.
Müllers Kritik geht aber noch weiter: Er will grundsätzlich nicht für Staatsaufgaben aufkommen – Stichwort versicherungsfremde Leistungen – und erhält auf dem Pressetermin die Rückendeckung vom ehemaligen Präsi-
denten des Bundessozialgerichts, Prof. Rainer Schlegel. Dieser betont: „Es ist eine ganz zentrale Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass Beitragsmittel das Binnensystem der Sozialversicherung nicht verlassen dürfen.“ Das leite sich aus früheren Entscheidungen ab. In der Realität können sich die Kassen – bis auf ein sehr eingeschränktes Klagerecht vor Sozialgerichten – aber kaum gegen Übergriffe wehren: Aus Sicht des Grundgesetzes sind sie nämlich keine Grundrechtsträger. Der Weg einer Verfassungsbeschwerde ist damit versperrt. Lediglich einzelne Versicherte oder Arbeitgeber könnten klagen und bis vor das BverfG ziehen. Das habe aber nur Aussicht auf Erfolg, wenn ein Eingriff beitragssatzrelevant sei.
Der IKK e.V. will ein eigenes Klagerecht der Krankenkassen vor dem BverfG. Es geht um die Möglichkeit, gesetzgeberische Maßnahmen vom Gericht prüfen zu lassen. Institutionen wie Rundfunkanstalten oder Universitäten dürften längst für ihre Mitglieder Rechte beim Verfassungsgericht einklagen. „Warum sollte für Kassen etwas anderes gelten?“, fragt Schlegel.
Ein Problem mit mutmaßlich zweckentfremdenden Geldern hat auch die Pflege. Der Chef der DAK-Gesundheit Andreas Storm fordert die Rückzahlungen der Corona-Hilfen in Höhe von sechs Milliarden Euro. Ein ebenfalls von Felix erstelltes Gutachten belege, dass ein Ausbleiben der Rückzahlung verfassungswidrig sei. 2020 wurde die Pflegekassen verpflichtet, Zahlungen im Rahmen der Pandemiebewältigung an anspruchsberechtigte Pflegeeinrichtungen zu leisten. Finanziert wurde dies aus dem Ausgleichsfonds der sozialen Pflegeversicherung, also erneut aus Versicherungsbeiträgen.
Vier Pharmafirmen bald in Karlsruhe
Am weitesten auf dem Klageweg sind die Arzneimittel- hersteller. Der Verband Forschender Arzneimittelher- steller (vfa) informiert im November vergangenen Jahres, dass das Pharma-Unternehmen Ipsen Verfassungsbeschwerde gegen das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) eingereicht hat. Es ist nicht allein: Zuvor haben Roche, AbbVie und Johnson & Johnson Innovative Medicine (ehemals Janssen) geklagt. Die Grundkritik ist gleich: Sowohl die Neuregelung der Rabattfolgen einer Nutzenbewertung als auch der Zusatzrabatt auf Medikamentenkombinationen seien ein systemwidriger Eingriff in die etablierten Regeln der Arzneimittelerstattung. Wie etwa Ipsen mitteilt, sehe man den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, da die sogenannten „AMNOG-Leitplanken“ medizinische Innovationen systematisch gegenüber Vergleichstherapien abwerteten. Der Zusatzabschlag sei zudem eine unzulässige Doppelregulierung. J&J Innovative Medicine sieht eine Reihe von Rechtsverstößen: „unter anderem die Berufsausübungsfreiheit, das allgemeine Gleichheitsgebot, die Rechtsschutzgarantie und das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot [würden] in nicht zu rechtfertigender Art und Weise“ verletzt.
Kombi-Abschlag in Kraft
Zum Hintergrund: Das GKV-FinStG ist seit November 2022 in Kraft. Um die Finanzlage der GKV zu stabilisieren, greift es in verschiedene Leistungsbereiche – und insbesondere in den Arzneimittelsektor – regulierend ein. Aktuell hat das Bundesgesundheitsministerium die Modalitäten des Kombi-Abschlags per Festsetzungsbescheid festgelegt. Der 20-prozentige Abschlag wird auf sämtliche vom Gemeinsamen Bundesausschuss benannten neuen Kombinationstherapien erhoben.
Die Regelung wurde 2022 eingeführt, greift aber erst jetzt, da ursprünglich vorgesehen war, dass sich GKV-Spitzenverband und Pharmaverbände über das Prozedere selbst einigen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass J&J Innovative Medicine und Ipsen auch gegen das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz Verfassungs-beschwerde eingelegt haben.
Ob die Bundesländer klagen oder Lauterbach ihnen bei der Krankenhausreform doch noch entgegenkommt, bleibt abzuwarten. Die Kassen dürften auf jeden Fall weiter entschlossen bleiben, den Transformationsfonds zu verhindern. Bestärkt dürften sie sich durch die unlängst vom Schätzerkreis bekanntgegebenen drohenden und saftigen Beitragssatzerhöhungen fühlen. Ob sie ein Klagerecht für sich erreichen können, ist fraglich, aber zumindest bei den Sozialgerichten dürften einige Klagen folgen. Fest steht: Die kommenden Wochen und Monate bleiben im deutschen Gesundheitswesen äußerst konfrontativ.