In Kürze

Inklusion als „Bringschuld“

Berlin (pag) – Der Weg zu einem inklusiven Gesundheitssystem ist steinig. Die Gesellschaft für Versicherungswirtschaft und -gestaltung (GVG) nimmt sich Anfang Oktober des Themas in einem digitalen Impuls an. Mit dabei sind Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Claudia Hornberg, Dekanin der Medizinischen Fakultät an der Universität Bielefeld, und Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland.

© iStock.com, Ivan Pantic
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„Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir Menschen mit einer Behinderung inkludieren“, lautet Reinhardts Überzeugung. Ihnen müsse das Gefühl genommen werden, dass sie in der sozialen Integration beeinträchtigt seien. „Das ist die Bringschuld derjenigen, die das Glück haben, keine Behinderung zu haben.“ Diese Grundhaltung müsse man als Arzt einnehmen, findet der BÄK-Präsident. Dazu gehöre auch, dass man sich gegebenenfalls eingestehen muss, wenn man mit seinem Wissen an Grenzen stößt und die Expertise von beispielsweise einem der Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB) heranzieht. Für deren strukturelle Weiterentwicklung mache sich die BÄK schon seit Längerem stark. Aber sprechen solche Einrichtungen nicht gegen die freie Arztwahl und sind exklusiv? Wo Inklusion machbar sei, müsse sie umgesetzt werden, so Reinhardt. Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen könnten vom Hausarzt behandelt werden. Sei die Beeinträchtigung schwerer, könne sich der Patient beispielsweise nicht so artikulieren, dass ihn der Behandler versteht, ergebe sich eine Situation, die der Hausarzt nicht bewältigen könne.

In bestimmten Situationen benötige man entsprechende fachliche Kompetenzen, gibt Hornberg dem BÄK-Präsidenten Recht. In ihrem Vortrag geht sie auf den Status quo ein: In Deutschland lebten circa 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen – bezieht sie sich auf Zahlen aus 2017. Im Vergleich zum Jahr 2009 sei diese Zahl um neun Prozent angestiegen. Das stelle die medizinische Versorgung vor Herausforderungen. Dort fehle es oft an Zeit und an Finanzierung des Mehraufwands. „Wir müssen uns damit beschäftigen, das sind essenzielle Barrieren.“ Menschen mit Behinderungen müssten ferner in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung eine größere Rolle einnehmen.

„Revolutionäre Veränderungen“

Existierende Barrieren spricht auch Bentele an. Damit meint sie nicht nur die fehlende Rampe zur Arztpraxis. Ihr sei ein Fall bekannt, in dem ein Mensch mit einem Knieleiden nicht in einer Rehaklinik aufgenommen worden sei, weil er blind sei. „Das finde ich absurd.“ So etwas zu unterbinden, sei Aufgabe des Gesetzgebers. Denn auch Menschen mit Behinderungen seien Beitragszahlende und hätten somit ein Recht auf gleichen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung.

Auch die Erwartungen an den Aktionsplan für ein inklusives Gesundheitswesen, für den vor rund einem Jahr der Startschuss im Bundesgesundheitsministerium fiel, werden thematisiert. Hornberg dreht das Thema um. Ihre Devise: „Jeder muss für sich in seiner Institution gucken, wo sie oder er anfangen kann.“ Bentele spricht die Überwindung der Sektorengrenzen und der Unterschiede zwischen Stadt und Land an. Zudem müssten Prävention und Rehabilitation eine größere Rolle spielen. „Dafür brauchen wir revolutionäre Veränderungen.“