Im Fokus

Vom Leuchtturm Kiel zum 
Versorgungsstandard

Shared Decision Making hat es im Gesundheitssystem (noch) schwer

Berlin/Kiel (pag) – Seit Langem wird Shared Decision Making in Fachkreisen diskutiert. Flächendeckend durchgesetzt hat es sich bisher nicht. Wenig verwunderlich, denn hinter dem Konzept steht nicht weniger als ein Paradigmenwechsel im Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Mittlerweile kommt aber Bewegung in die Sache.

© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka
© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka

2017, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel: Der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt SHARE TO CARE fällt. „Making SDM A REALITY“ setzt in Pionierarbeit die Prozesse partizipativer Entscheidungsfindung (auf Englisch Shared Decision Making, SDM) in einem kompletten Krankenhaus der Maximalversorgung um. Das SHARE TO CARE-Programm umfasst vier Module: Training der Ärztinnen und Ärzte, digitale Entscheidungshilfen, Qualifizierung von Pflegekräften und Patientenaktivierung. Am UKSH werden dabei insgesamt 80 Entscheidungshilfen produziert, die wissenschaftlich fundierte, strukturiert aufbereitete und verständliche Informationen bieten. Genutzt werden können sie von Patienten zur Vorbereitung auf die gemeinsame Entscheidung mit Medizinern. „Heute gehört das UKSH zu den weltweit führenden Kliniken in der Anwendung von SDM“, betont das Klinikum auf seiner Website.

Präferenzen und Prioritäten

Das Projekt in Kiel zeigt hierzulande erstmals, dass SDM in allen Bereichen einer ganzen Klinik mit positiven Effekten etabliert werden kann. Der Ansatz beinhaltet eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, in der Arzt und Patient relevante Informationen austauschen und sich gemeinsam auf eine optimale Behandlungsoption einigen. Dabei informiert der Arzt über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten mit jeweiligen Vor- und Nachteilen. Der Patient teilt seine Präferenzen und Behandlungserfahrungen. Insbesondere Auswirkungen etwaiger Entscheidungen auf den Alltag des Patienten sind entscheidend.

SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic - Own work, CC BY-SA 4.0
SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic – Own work, CC BY-SA 4.0

Johannes Förner, Patientenbeirat am Deutschen Krebsforschungszentrum, sieht darin immense Vorteile: „SDM berücksichtigt Präferenzen und Prioritäten der Patienten bei der Entscheidungsfindung für ein Therapieschema.“ Speziell in der Krebstherapie werde meist auf maximale Lebensverlängerung geschaut, „obwohl dies für den jeweiligen Patienten vielleicht gar nicht so wichtig ist und er lieber eine optimale Lebensqualität erreichen würde.“

Prof. Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wirbt bereits 2015 auf einem Kongress des Bundesverbandes Managed Care für das Konzept: SDM steigere die Gesundheitskompetenz der Patienten. Eine Kompetenz, die defizitär in der Bevölkerung ausgebildet ist. Die Patientenzufriedenheit steige, auch für Ärzte gestalte sich die Kommunikation angenehm.
Fest steht mittlerweile auch, dass sich die Compliance der Patienten durch die gemeinsame Entscheidungsfindung erhöht. Zwar bedeutet diese initial mehr Aufwand für Ärzte – die Schulung der Mitarbeiter dauert etwa einen Arbeitstag. Mittel- bis langfristig wird aber Zeit eingespart – etwa durch effizientere Gespräche und weniger Rückfragen. Allerdings eignet sich das Konzept nur für Krankheitsbilder, bei denen aus medizinischer Sicht mehrere Handlungsmöglichkeiten mit jeweils eigenen Vor- und Nachteilen existieren.

Trotz aller Vorteile ist Shared Decision Making bislang vor allem im angelsächsischen Raum präsent. „In den UK gehört SDM bereits zum Standardrepertoire des National Health Service in der personalisierten Medizin“, berichtet Förner. In den USA sei SDM stark abhängig von der jeweiligen Klinik, werde aber häufiger praktiziert als in Deutschland. Hierzulande ist der Ansatz noch längst kein Versorgungsstandard, auch wenn es politisch so gewollt ist. Dieser politische Wille ist beispielsweise im Patientenrechtegesetz nachzulesen. Dort heißt es, dass sich Arzt und Patient „partnerschaftlich begegnen und gemeinsam über die Behandlung entscheiden“. Laut §§ 13 bis 15 SGB I sind die Sozialversicherungsträger zur Aufklärung, Beratung und Auskunft verpflichtet.

Für SHARE TO CARE-Geschäftsführer Dr. Jens Ulrich Rüffer ist eine Ursache dafür, dass Wunsch und Wirklichkeit so auseinanderklaffen und SDM aktuell noch nicht systematisch im Gesundheitssystem eingesetzt wird, die bisher fehlende konkrete Prozessanleitung für alle Beteiligten (lesen Sie hierzu auch das Interview „Das reine Wollen reicht nicht“, Seite 16).

In die Regelversorgung

„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz
„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz

Immerhin: Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, das Programm SHARE TO CARE in die Regelversorgung zu überführen. Darauf will Rüffer allerdings nicht warten. „Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt“, weiß er. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Von den momentan laufenden Pilotprojekten hofft der Mediziner, dass sie „genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten:
Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung“.

Auch Patientenvertreter Förner hat einige vielversprechende Initiativen fest im Blick: Etwa das groß angelegte Vorhaben an den sechs bayerischen Universitätskliniken, das sich dem Bereich Prostatakrebs widmet. „Bayern versucht hier eine systematische Implementierung von SDM“, berichtet er. Ein anderes Beispiel ist Bremen, wo SHARE TO CARE für den hausärztlichen Bereich adaptiert wird. Das Ziel: SDM in allen Hausarztpraxen im Bundesland verankern. Der SDM-Siegeszug ist für Förner nur eine Frage der Zeit: „Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr. Wir können es verzögern oder aber auch beschleunigen.“

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Drahtseilakt zwischen Autonomie und Anleitung Grundsätzlich geht es um einen Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses. SDM vollführt den Drahtseilakt zwischen den Autonomiebestrebungen des Patienten und seinem Bedarf nach Anlehnung und Anleitung durch den Arzt. Die althergebrachte Vorstellung, dass Patienten stillschweigend mit jeder ärztlichen Entscheidung mitgehen, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Erstmals konkret wurde die Idee des SDM vom US-amerikanischen Bioethiker Dr. Robert Veatch in den frühen 70er-Jahren ins Spiel gebracht. 1982 stellte eine Kommission des US-Präsidenten fest, dass man zwar grundsätzlich immer besser in der Lage sei, Krankheiten effektiv zu behandeln, gleichzeitig aber weitverbreitet Über-, Unter- und Fehlbehandlung herrsche. Die vorgeschlagene Lösung: SDM.
Mittlerweile hat das Konzept Einzug in die Gesetzgebung und Politik zahlreicher Länder gehalten. Wissenschaftler sehen einen Paradigmenwechsel in Richtung Patientenzentrierung und Beteiligung, der sich vor allem in den 80ern vollzieht. Stichwort Forschung: Seit den 70ern wurden mehr als 6.000 wissenschaftliche Artikel zum Thema veröffentlicht, seit 2013 sind es über 500 pro Jahr.