Im Gespräch

„Es fehlt an strukturierter Langzeitnachsorge“

Prof. Volker Arndt zu Defiziten in der Betreuung von Krebsüberlebenden

Heidelberg (pag) – Bei der Betreuung von Langzeitüberlebenden fehlt es trotz vieler Angebote an ganzheitlichen Programmen, sagt Krebsforscher Prof. Volker Arndt. Im Interview spricht er über den Stand der Survivorship-Forschung, die deutsche Versorgungslandschaft und die „Lost in Transition“-Problematik.

In den letzten Jahrzehnten gab es enorme Fortschritte in der Krebsbehandlung. Was bedeutet diese medizinische Entwicklung?

Arndt: Langfristiges Überleben ist für viele Krebspatientinnen und Krebspatienten zu einer realistischen Perspektive geworden. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Tumorerkrankungen, bei denen mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre und länger überlebt. Allerdings gilt das nicht für alle Tumorarten.

Prof. Arndt: „Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, (…) beginnt die Phase des ,dauerhaften Überlebens‘.“ © stock.adobe.com, Svitlana

Was folgt aus diesem Fortschritt?

Arndt: Es gibt in Deutschland derzeit etwa fünf Millionen Menschen mit akuter oder überstandener Krebserkrankung. Über 60 Prozent davon – drei Millionen – sind sogenannte Langzeitüberlebende: Personen, bei denen die Diagnose fünf und mehr Jahre zurückliegt. Für viele ist Krebs dabei eine chronische Erkrankung, die auch Jahre nach der Diagnose Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität hat.

Wie kann man dieses große Feld fassen?

Arndt: Wir unterscheiden verschiedene Phasen beim Leben mit beziehungsweise nach einer Krebserkrankung. Das erste Jahr nach der Diagnose wird von den diagnostischen und therapeutischen Bemühungen dominiert. Nach Abschluss der primären Therapie schließt sich – wenn eine Heilung oder zumindest eine Remission eingetreten ist – eine Phase des beobachtenden Abwartens mit regelmäßigen Nachuntersuchungen an. Psychologisch gesehen ist diese Zeit von der Angst vor einem Wiederauftreten der Krankheit geprägt.

Wie geht es dann weiter?

Arndt: Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, sofern dann kein aktives Tumorgeschehen mehr nachweisbar ist, beginnt die Phase des „dauerhaften Überlebens“. Sie wird häufig mit „Heilung“ gleichgesetzt. Unsere Untersuchungen zeigen einerseits, dass sich gut zwei Drittel aller Langzeitüberlebenden nach Ende der regulären Tumornachsorge nicht mehr als „Krebspatientin“ oder „Krebspatient“ sehen. Dies gilt insbesondere, solange kein Rezidiv aufgetreten ist. Andererseits gibt ein Drittel der Langzeitüberlebenden an, dass sie die Krebserkrankung noch belastet.

Hier kommt das Konzept Survivorship ins Spiel?

Arndt: Ja, das Forschungsgebiet „Cancer Survivorship“ hat die Gesundheit und Lebenssituation über die akute Diagnose- und Behandlungsphase hinaus im Blick. Wir verfolgen das Ziel, Langzeit- und Spätfolgen besser zu behandeln und Negatives im Idealfall zu verhindern. Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Aspekten umfasst das auch solche der Nachsorge und Tertiärprävention. Das Konzept betrachtet die Betreuung von Langzeit-Krebsbetroffenen als integralen Bestandteil des Behandlungskontinuums. Deren Bedürfnisse werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen. Ein „Cancer-Survivorship-Nachsorgeprogramm“ ist bislang nicht etabliert.

Was für Probleme gibt es dabei?

Nach Abschluss der regulären Nachsorgephase kann eine „Lost in Transition“-Problematik eintreten, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist. © iStock.com, mathisworks

Arndt: Die Behandler in der Akutphase verlieren oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. Es kann dann eine „Lost in Transition“-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten. Es fehlt immer noch eine strukturierte Langzeitnachsorge, die alle physischen, psychoonkologischen und sozialen Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Außerdem sind die Betroffenen und behandelnde Ärzte oft unzureichend informiert.

Wie ist die Nachsorge in Deutschland geregelt?

Arndt: Bisher gibt es dazu in zahlreichen klinischen Leitlinien der Fachgesellschaften Vorgaben. Diese fokussieren aber in erster Linie das Erkennen von Tumorrezidiven und adressieren nur einzelne ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen. Psychosoziale Aspekte sind zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, werden aber im Behandlungsalltag oftmals nicht angesprochen oder nicht erkannt. Kolleginnen und Kollegen der Universität Duisburg-Essen erstellen gerade im Rahmen der vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Optilater-Studie eine umfassende Ist-Soll-Analyse zur Langzeitbetreuung von Krebs-Betroffenen.

Seit 2016 leiten Sie die Arbeitsgruppe Cancer Survivorship beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Arndt: Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen interessieren uns Fragen im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung, dem Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und der Nachsorge. Wir arbeiten dabei primär „epidemiologisch“ im Rahmen von groß angelegten, meist bevölkerungsbezogenen Befragungsstudien und versuchen, uns ein Bild über die gesundheitliche Situation der Betroffenen zu machen. Wir versuchen, Bedarfe und damit Ansatzpunkte für eine verbesserte Betreuung in der Nachsorge zu identifizieren. Hier sind wir auch im Rahmen nationaler und internationaler Projekte bei der Instrumentenentwicklung zur Erfassung der gesundheitlichen Situation nach einer Krebsdiagnose aktiv beteiligt. Das Thema „Survivorship“ ist aber durch seine Multidisziplinarität noch bei weiteren Gruppen, etwa bei der Abteilung „Gesundheitsökonomie“ oder der Abteilung „Bewegung, Präventionsforschung und Krebs“ am DKFZ, verankert. Durch die Einrichtung zweier weiterer Abteilungen mit dem Fokus auf psychologische Resilienz sowie junge Personen mit Krebs wird die Expertise am DKFZ noch weiter ausgebaut. Hierfür sind wir der Dietmar-Hopp- und der Hector-Stiftung sehr dankbar.

Wie sieht die generelle Entwicklung in Deutschland aus?

Arndt: „Survivorship“ hat in den letzten Jahren zunehmend Niederschlag in der deutschen Forschungslandschaft gefunden. Es sind aber meist isolierte Aspekte oder Entitäten, die von den einzelnen Forschungsgruppen untersucht werden. Diese Gruppen sind zudem meist an deren größeren Abteilungen angegliedert. Eigenständige „Survivorship“-Abteilungen gibt es meines Wissens in Deutschland noch nicht. Allerdings gibt es zunehmend Aktivitäten. Ein wichtiger Impuls resultierte aus dem Nationalen Krebsplan, in dem 2018 eine Experten-Arbeitsgruppe „Langzeitüberleben nach Krebs“ eingerichtet wurde.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

Arndt: Bei der empirischen Datenlage sind die meisten Länder abgesehen von den skandinavischen auch nicht viel weiter. Um die Lücke zu schließen, haben wir gerade im Verbund der Deutschen Krebsregister dem Bundesgesundheitsministerium ein Konzept zur Integration detaillierter Daten auf Basis des kürzlich in Kraft getretenen Gesundheitsdatennutzungsgesetzes vorgeschlagen. Bei den umfassenden „ganzheitlich orientierten“ Nachsorgeprogrammen haben wir auch Aufholbedarf. Wir sind gerade im Rahmen eines europäischen Konsortiums dabei, uns einen Überblick über die „Survivorship“-Programme in allen europäischen Ländern zu verschaffen. Für Deutschland gibt es bisher nur eine Handvoll Modellprojekte.

Wie sieht die Versorgungslandschaft aus?

Arndt: Es gibt zahlreiche Versorgungsangebote für Langzeitüberlebende, die jeweils separate Themen adressieren aber nicht vernetzt sind. Neben der medi-zinischen Routine-Nachsorge gibt es Angebote wie psychosoziale Krebsberatungsstellen, Rehabilitationsmaßnahmen oder Physio- und Ergotherapie. Auch die Krebs-Selbsthilfe und Patientenverbände spielen eine wichtige Rolle. Die Selbsthilfe ist für viele Langzeitüberlebende schon lange eine bewährte Instanz zur Begleitung und Beratung von Betroffenen durch Betroffene. Trotzdem ist die Entwicklung von spezifischen und zugleich ganzheitlich ausgerichteten Survivorship-Angeboten notwendig. Um das zu erreichen, braucht es mehr Koordinierung.

Wie kann das gelingen?

Arndt: Es sind verschiedene Modelle denkbar und in anderen Ländern auch bereits im Einsatz. Die Spannbreite erstreckt sich von „nicht-ärztlichen“ Lotsen über ein allgemeinmedizinisches Gemeinschaftsmodell unter Einbeziehung spezifischer Konsiliardienste bis hin zur multidisziplinären Survivorship-Klinik. Bei allen Ansätzen ist aber zu bedenken: Die Gruppe der von Krebsbetroffenen ist nicht homogen. Zwar eint alle die Erfahrung, mit einer Krebsdiagnose konfrontiert gewesen zu sein – aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind unterschiedlich. Deswegen braucht es eine differenzierte Betrachtung und zielgruppenspezifische Betreuungskonzepte.

.

privat

Zur Person Der Wissenschaftler Prof. Volker Arndt ist seit 2016 Leiter der Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Beim DKFZ ist er aber schon seit über 19 Jahren in der Krebsforschung aktiv. Außerdem ist er Leiter des Epidemiologischem Krebsregisters Baden-Württemberg.
.
.
.
.
.
.
.
.