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Wie viel ist zu viel?

Das Ausmaß von Überversorgung

Berlin (pag) – Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat kürzlich eine Studie zur Überversorgung veröffentlicht. Darin werden 24 Leistungen mit medizinisch zweifelhaftem Nutzen identifiziert. Der Appell: Ärzte sollten künftig kritischer mit der Indikationsstellung umgehen. Mehr zu den Inhalten und Hintergründen der Analyse.

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Die Messung der Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bei Personen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion und die Bestimmung von Tumormarkern bei Patienten ohne Krebsdiagnose werden trotz fragwürdigen medizinischen Nutzens häufig durchgeführt. So lautet ein Ergebnis der Zi-Studie, die in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin und der Techniker Krankenkasse (TK) entstanden ist. Die Wissenschaftler haben dabei 24 vermeidbare Leistungen identifiziert, die durch ihre häufige Abrechnung enorme Kosten produzieren. Die Analyse auf der Basis von TK-Abrechnungsdaten stuft dabei von 10,6 Millionen untersuchten jährlichen Leistungen durchschnittlich 430.000 bis 1,1 Millionen in die Kategorie „Leistung mit geringem medizinischen Wert“ ein. Das sind zwischen vier und 10,4 Prozent der untersuchten Leistungen. Es fallen dadurch bei den ambulanten Ausgaben der Krankenkasse pro Jahr zwischen zehn und 15,5 Millionen Euro vermeidbare Kosten an.

Vorbild aus den USA

Über das Thema Überversorgung wird seit Langem im deutschen Gesundheitswesen diskutiert. Bereits 2001 beschäftigt sich der Sachverständigenrat in einem Gutachten mit Über-, Unter- und Fehlversorgung. Wichtige Impulse gehen auch von der 2012 gestarteten US-amerikanischen Initiative „Choosing Wisely“ aus. Unter Leitung der amerikanischen Gesellschaft für Innere Medizin engagieren sich dabei mehr als 60 Fachgesellschaften: Für jedes Fachgebiet nennen die Expertinnen und Experten jeweils fünf diagnostische Tests und Therapien, die trotz fehlender Evidenz häufig durchgeführt werden – ohne dass Patienten davon profitieren, sie könnten sogar Schaden nehmen. Jede dieser Listen ist gestützt durch die evidenzbasierten Empfehlungen klinischer Leitlinien oder zumindest durch den Konsens von Experten.

Das berichtet die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), als sie sich vor zehn Jahren von „Choosing Wisely“ inspirieren lässt und die Aktion 
„Klug entscheiden“ ins Leben ruft. Die Initiative wendet sich gegen Über- und Unterversorgung und soll die Indikationsqualität verstärken, ist auf der DGIM-Website nachzulesen. Mittlerweile nehmen zwölf Fachgesellschaften daran teil und erstellen wie ihre amerikanischen Kollegen praktische Empfehlungen. Die Positiv- und Negativempfehlungen werden von einer Konsensus-Kommission der DGIM begutachtet und nach Revision verabschiedet. Von der Ankündigung des damaligen Generalsekretärs der Fachgesellschaft, Prof. Ulrich Fölsch, auch Krankenkassen und Patientenorganisationen mit ins Boot zu holen, hat man dagegen nichts mehr gehört.

Das Ausmaß von Überversorgung

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Zwar adressieren sowohl die aktuelle Zi-Studie als auch die DGIM-Initiative das Problem der Überversorgung, doch der Ansatz unterscheidet sich grundlegend: Während es der Fachgesellschaft darum geht, konkrete Hilfen bei der Indikationsstellung zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu entwickeln, ist es das Ziel des Zi-Projekts, die quantitative Bedeutung in Deutschland für ein Indikatorenset medizinisch potenziell unangemessener Leistungen abzuschätzen. Dieses Indikatorenset sollte durch Routinedaten abgebildet werden können, betont das Zi gegenüber der Presseagentur Gesundheit.

Dem Zi zufolge wird mit der Studie eine Forschungslücke geschlossen, da die bisherigen Arbeiten, die das Ausmaß potenziell unangemessener Leistungen in Abrechnungsdaten quantifiziert haben, aus den USA, Kanada und Australien stammten. „In Deutschland blieb das Ausmaß einer potenziellen Überversorgung weitgehend unerforscht“, so das Zi.

Schuldzuweisungen greifen zu kurz

Bleibt die Frage, was beide Initiativen in der realen Versorgungswelt bewirken können. Das Zentralinstitut hat eine eindeutige Position: Für den Erfolg ist eine „sachliche Diskussion auf Basis wissenschaftlicher Evidenz“ erforderlich. Skandalisierende Berichterstattung greife nicht nur inhaltlich zu kurz, sondern führe zu Abwehrreaktionen und zu einer mangelnden Offenheit, konkrete Verbesserungsansätze zu diskutieren. Bei der Versorgung mit potenziell unangemessenen Leistungen müsse ein komplexes Geschehen aus sich verändernden medizinischen Standards, Grenzsituationen, Patientenwünschen, finanziellen Anreizen, Versorgungsstrukturen sowie regulatorischen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. „Schuldzuweisungen allein an die Ärzteschaft greifen zu kurz“, so das Zi.

Weitere Forschungsprojekte notwendig
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) ist Kooperationspartner der Zi-Studie. Dr. Monika Nothacker 
begrüßt als Vertreterin der AWMF die Initiative, Empfehlungen in Bezug auf Abbildbarkeit in Daten zu prüfen, ausdrücklich. „Grundsätzlich sind für alle diese Initiativen laienverständliche Formate zu begrüßen und eine Überprüfung der Umsetzung“, sagt sie außerdem. Erstere seien zum Teil aufwändig, hier bräuchten die Fachgesellschaften Unterstützung, was über die öffentliche Förderung von Leitlinien gelingen könne. Die Messung der Überprüfung gestalte sich aufwändig, weil viele der Empfehlungen auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung abzielen. Diese sei nicht aus Routinedaten zu erheben. „Dazu benötigen wir weitere Forschungsprojekte und Lösungen für zukünftige Befragungen von Patientinnen und Patienten.“

Wie es weitergeht

Ein Folgeprojekt geht diesen Weg weiter und fokussiert sich auf Entscheidungshilfen. Das Ziel von DIAMANT-SD – SchilddrüsenDIagnostik in der AMbulANTen Versorgung – ist die Entwicklung und Machbarkeitsprüfung einer Intervention mit Entscheidungshilfen zu schilddrüsenspezifischen Labortests und Sonografien. Eine sogenannte Diagnostik-Box soll Ärzten und Patienten Tools an die Hand geben, um Notwendigkeit und Risiken diagnostischer Tests mit größerer Sicherheit beurteilen zu können. Dadurch soll die Durchführung nicht notwendiger Diagnostik reduziert werden.

Weiterführender Link:
Die komplette ZI-Studie zur Überversorgung: Selecting indicators for the measurement of low-value care using German claims data.