Ignorierte Bedürfnisse

Wie Krebsüberlebende nach der Akuttherapie durchs Raster fallen

Berlin (pag) – Viele Krebsbetroffene kämpfen auch Jahre nach der ersten Diagnose mit Spät- und Langzeitfolgen. Neben körperlichen und psychischen Einschränkungen berichten Betroffene zudem von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung. Ganzheitliche und strukturierte Versorgungsangebote sind noch rar. Allmählich kommt aber Bewegung in das Thema Survivorship.

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Die Situation für Menschen mit einer Krebserkrankung hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Neue Therapien, Frühuntersuchungsprogramme und Fortschritte bei der Diagnostik sorgen dafür, dass die Krankheit heutzutage nicht mehr automatisch ein Todesurteil ist. Bei einer Reihe von Tumorerkrankungen in Deutschland überlebt mittlerweile mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre oder länger. Durch den medi-zinischen Fortschritt ergeben sich damit völlig neue Herausforderungen, auf die das Versorgungssystem allenfalls punktuell vorbereitet ist. Eine Gesamtstrategie fehlt. Die Bedürfnisse von Krebsüberlebenden werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen, kritisiert etwa Prof. Volker Arndt, der die Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet.

Andauernde Angst vor dem Rückfall

Zur Einordnung: Etwa 4,5 bis fünf Millionen Menschen mit aktiver oder überstandener Krebserkrankung sind in Deutschland mit vielzähligen Langzeit- und Spätfolgen konfrontiert, welche teilweise erst Jahre nach der Krebstherapie auftauchen können, so die 2018 eingerichtete Expertengruppe „Langzeitüberleben nach Krebs (AG LONKO)“ des Nationalen Krebsplans. Für drei Millionen von ihnen liegt die Krebserkrankung mindestens fünf Jahre zurück – damit fallen sie unter die Kategorie Langzeitüberlebende, häufig gelten sie als „geheilt“. Und dennoch: Der Krebs überschattet für viele von ihnen auch ein halbes Jahrzehnt später noch das alltägliche Leben. In Form chronischer Schmerzen und ‚Fatigue‘ zum Beispiel, in Gestalt von Herzerkrankungen, Lymphödemen oder als Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Psychisch steht für viele Langzeitüberlebende eine andauernde Angst vor einem Rezi-div auf der Tagesordnung. Zu den häufigen Langzeit- und Spätfolgen gehören daher Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.

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Angebot endet mit Akutphase

Gerade die psychische Unterstützung kommt bei den Krebsüberlebenden häufig zu kurz. Das kritisiert etwa Brustkrebsüberlebende Dr. Cindy Körner (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 14). In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie bestehe an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. „Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie“, so Körner. Sie geht davon aus, dass sich aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden dieser Mangel künftig eher noch verschärfen wird. Doch gerade in dieser Phase nach der Akuttherapie stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. „Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.“

Lost in Transition

Ein weiteres Problem besteht den Betroffenen zufolge darin, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologinnen und Onkologen verwiesen auf die jeweiligen Fachärztinnen und Fachärzte, die auf ihr Gebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. „Da fühlt man sich oft hilflos und verloren“, sagt Körner. Survivorship-Forscher Arndt vom DKFZ bestätigt das Problem. Die Behandler in der Akutphase verlieren dem Experten zufolge oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. (lesen Sie hierzu das Interview auf Seite 17). „Es kann dann eine ‚Lost in Transition‘-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten.“
Keine systematische Bedarfserfassung

Die fehlende Koordination beziehungsweise Ganzheitlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Thema Survivorship. Das zeigt sich auch an den Leitlinien der Fachgesellschaften, die zwar in zahlreichen Fällen Vorgaben zum Thema Nachsorge enthalten. Der Fokus liege aber in erster Linie auf dem Erkennen von Tumorrezidiven, nur vereinzelt würden ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen adressiert, so Arndt. Psychosoziale Aspekte seien zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, gingen aber im Behandlungsalltag oft unter.

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Rufe nach dem „Recht auf Vergessen“ Zum Thema Survivorship gehören auch die sozialen und ökonomischen Folgen der Erkrankung – etwa die eingeschränkte berufliche Perspektive für Cancer Survivors. Besonders gravierend können sich die beruflichen Langzeitfolgen für junge Menschen, die an Krebs erkranken, darstellen. Häufig diagnostizieren Ärzte ihnen die Erkrankung mitten in der Berufsausbildung oder in einer Phase, in welcher die beruflichen Aufstiegschancen definiert werden.
Die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“ fordert unter anderem ein „Recht auf Vergessenwerden“. Obwohl die jungen Betroffenen nach wissenschaftlichen Standards längst als geheilt gelten, erfahren viele von ihnen Benachteiligungen gegenüber Gleichaltrigen. So werden jungen Betroffenen beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kreditaufnahmen oder Verbeamtungen verwehrt. Auch beim Thema Adoption werden ehemals erkrankte junge Menschen benachteiligt.

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Die Arbeitsgruppe LONKO vom Nationalen Krebsplan fasst die Situation wie folgt zusammen: Unter Expertinnen und Experten bestehe ein hoher Konsens darüber, „dass das deutsche Versorgungssystem für Langzeitüberlebende bislang keine adäquat strukturierten und ganzheitlichen Versorgungsangebote systematisch vorhält“. Zwar gebe es viele unterschiedliche Versorgungsangebote, aber keine ganzheitlichen Survivorship-Programme. Ein Grund dafür: Über die verschiedenen Angebote hinweg finde keine systematische Bedarfserfassung der Situation und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden statt. „Es fehlt dementsprechend eine Instanz, die einen systematischen Überblick über die Situation und die Bedarfe und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden hat und die eine bedarfsgerechte Versorgung steuern und eine gezielte Inanspruchnahme spezifischer Angebote initiieren könnte.“

Inzwischen haben einige Akteure reagiert. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und die Deutsche Krebshilfe haben beispielsweise Forschungsprogramme ausgeschrieben. Das Programm der Krebshilfe umfasst ein Budget von drei Millionen Euro. Ende August 2024 veröffentlicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung Förderrichtlinien für „Cancer Survivor-ship“-Projekte, die sich auf molekulare Ursachen und Risikofaktoren sowie molekulare Prädikations- und Präventionsmaßnahmen konzentrieren. Survivorship ist außerdem ein Schwerpunktthema in der zweiten Hälfte der Dekade gegen Krebs.

Auf der Forschungsebene tut sich somit einiges. Bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse der Wissenschaftler möglichst rasch ihren Weg in die Versorgung finden, denn der Druck dürfte mit einer kontinuierlich steigenden Zahl von Krebsüberlebenden wachsen. Rasche Lösungen sind allerdings nicht zu erwarten, dazu ist die Gruppe der Betroffenen zu heterogen. Zwar eint sie alle die Erfahrung einer Krebsdiagnose, aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind höchst unterschiedlich. Schnellschüsse nach dem Motto „One fits all“ dürften daher zum Scheitern verurteilt sein.

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Chancen durch digitale Gesundheitsdaten DKFZ-Forscher Arndt verknüpft auch mit dem Gesundheitsdatennutzungs-
gesetz Hoffnungen. Die Deutschen Krebsregister haben dem BMG im Verbund ein Konzept zur Integration detaillierter Daten zu den Langzeit- und Spätfolgen vorgeschlagen. Hintergrund ist das „Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten“ vom August 2021, welches die systematische Erfassung von Langzeit- und Spätfolgen von Krebserkrankungen anstrebt. Damit soll der Rückstand bei den empirischen Daten im Vergleich zu etwa den skandinavischen Ländern geschlossen werden.
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Gesundheitspolitischer Wettstreit

Stakeholder und Parteien positionieren sich zur Bundestagswahl

Berlin (pag) – Die Wunschliste der Stakeholder im Gesundheitswesen an eine neue Bundesregierung ist lang. Ganz oben steht unter anderem eine Patientensteuerung. Aber auch eine auskömmliche Finanzierung der GKV ist den Verbänden wichtig. Der eine oder andere Punkt findet sich auch in den Wahlprogrammen der Parteien mit den aussichtsreichsten Chancen auf Einzug ins Hohe Haus wieder.

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SPD, Union, Grüne und FDP sind sich im Wettstreit zur Bundestagswahl einig: Eine Patientensteuerung in der ambulanten Versorgung ist bitter notwendig. Während Union, Grüne und FDP Hausärzte und Kinderärzte federführend in einem Primärversorgungssystem vorsehen, bleibt die SPD ungenauer und spricht lediglich von „bedarfsgerechter Steuerung“.
Das Bekenntnis dürfte die Vertragsärzteschaft und die Krankenkassen freuen, sprechen sie sich doch auch für eine Patientensteuerung aus. In ihrem Positionspapier zur Wahl macht sich die Bundesärztekammer (BÄK) für ein Primärversorgungssystem stark. Der Status quo ohne Steuerung ist ihrem Präsidenten Dr. Klaus Reinhardt ein Dorn im Auge. Auf einer Pressekonferenz verweist er auf eine Erhebung seiner Heimatärztekammer Westfalen-Lippe, wonach Patienten in bestimmten Regionen durchschnittlich Kontakt zu 1,5 Hausärzten hätten: „Also jeder Zweite hatte einen zweiten Hausarzt, die voneinander in der Regel nichts wissen. So etwas können wir uns vor dem Hintergrund der zunehmenden Personalnot und steigender Kosten nicht mehr leisten.“

Wunsch nach Entbudgetierung

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Auch der AOK-Bundesverband (AOK-BV) nimmt diesen Punkt auf. „Damit werden Abläufe für Patientinnen und Patienten verlässlicher, weniger komplex, ein bedarfsgerechter Zugang auch zur fachärztlichen Versorgung gewährleistet und damit die Effizienz in der Versorgung gesteigert“, hofft Verbandschefin Dr. Carola Reimann vor Journalisten. Für ein Hausarztmodell kann sich auch die Interessenvertretung der Innungskrankenkassen auf Bundesebene (IKK e.V.) erwärmen.

Der wohl größte Wunsch der Vertragsärzteschaft bleibt die Entbudgetierung – und zwar nicht nur für Hausärzte, wie kürzlich vereinbart, sondern für alle ambulant tätigen Ärzte sowie Psychotherapeuten „innerhalb der ersten 100 Tage einer neuen Bundesregierung“, heißt es im Forderungskatalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der bereits Ende des vergangenen Jahres veröffentlicht wurde. Der AOK-BV würde die Uhr dagegen am liebsten zurückdrehen und den Honorardeckel wieder auf Kinder- und Jugendmedizin legen, wie aus seinem Positionspapier hervorgeht.

Und die Parteien? Die FDP will eine ungekürzte Vergütung aller Gesundheitsberufe, die AfD fordert eine „Beendung der Rationierung ärztlicher Leistungen durch Zwang von Behandlungen ohne Vergütung“. Rot und Grün werben mit einer Termingarantie (SPD) beziehungsweise einer Erhöhung der Sprechstunden in Arztpraxen (Grüne).

Die ewige Bürgerversicherung

Kommt die Union ans Ruder, will sie laut Wahlprogramm die Krankenhausreform korrigieren. Das dürfte ihm Sinne der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sein. In einem „Sofortprogramm“ fordert diese den kalten Strukturwandel aufzuhalten und für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen, die Struktur-und Personalvorgaben in den Leistungsgruppen realistischer auszugestalten und die Vorhaltefinanzierung zunächst auszusetzen. Generell wünscht sie sich weniger Dirigismus und kleinteilige Gesetzgebung, stattdessen mehr Spielraum für die Akteure vor Ort. So sollten beispielsweise Personalbemessungsinstrumente lediglich „Empfehlungs- und Orientierungscharakter“ haben, heißt es im Zehn-Punkte-Papier der DKG für die Bundestagswahl.

In den Programmen der linken Parteien (inklusive BSW) findet sich auch der ewige Wahlkampfschlager einer solidarischen Bürgerversicherung. Als Vorstufe sehen SPD und Grüne die Beteiligung der PKV am Risikostrukturausgleich (RSA) vor. Da eine linke Mehrheit im Bundestag unwahrscheinlich ist, dürfte es auch für die kommende Legislatur ein einheitliches Versicherungssystem ein Wunsch bleiben. Die Grünen schlagen überdies eine Reform der Beitragsbemessung mit Berücksichtigung von Kapitaleinnahmen vor.
Den morbiditätsorientierten RSA würde der AOK-Bundesverband gerne um sozioökonomische Aspekte ergänzt wissen. Die Techniker Krankenkasse (TK) will eine einheitliche Kassenaufsicht. „Denn die unterschiedlichen Aufsichtspraxen durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) und die Aufsichtsbehörden der Bundesländer können zu Wettbewerbsverzerrungen führen“, schreibt die größte Ersatzkasse in ihrem Positionspapier.

„Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung

Eine auskömmliche Refinanzierung der versicherungsfremden Leistungen aus dem Bundeshaushalt – bis hin zur vollständigen Übernahme – findet sich ebenfalls in den Papieren von SPD, CDU/CSU, Grüne und AfD und stößt sicherlich auf Wohlwohlen der Krankenkassen. Der IKK e.V. will eine zügige Umsetzung, um die Ausgabendynamik zu bremsen, ohne dabei Versichertenleistungen zu kürzen. „Hierfür muss im Rahmen einer Vorschaltgesetzgebung die Dynamisierung des Bundeszuschusses und die verantwortungsgerechte Beteiligung des Bundes an der Versorgung der Bürgergeldempfangenden ebenso wie an der Finanzierung weiterer gesamtgesellschaftlicher Aufgaben umgesetzt werden“, heißt es in einer Pressemitteilung zum IKK-Positionspapier anlässlich der Bundestagswahl. Die TK will ein „Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung. Darin enthalten: eine Erhöhung des Herstellerabschlags bei Arzneimitteln, Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung und die Rückkehr zur Grundlohnsummenbindung bei Heilmitteln.

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Strukturreformen stehen in der Kassenwelt hoch im Kurs, um die Ausgaben zu drosseln und das System effizienter zu machen. Die Barmer etwa wünscht sich eine gemeinsame Bedarfsplanung für den ambulanten und stationären Sektor, „die das Angebot medizinischer Leistungen möglichst in Einklang mit der Nachfrage bringt und das Nebeneinander nicht abgestimmter Versorgungsangebote und -strukturen beendet“, heißt es im Forderungspapier der Ersatzkasse. Auch die DKG will die Sektoren überwinden. „Ich halte die Länder für den zentralen Akteur einer zukünftigen Versorgungsplanung, die im Dialog mit den Akteuren aus dem ambulanten und stationären Bereich erfolgen muss“, erklärt ihr Vorstandsvorsitzender Dr. Gerald Gaß vor Journalisten. Und schiebt nach: „Auch die Krankenkassen sind natürlich als Akteur zu betrachten.“ Die Parteien sind zögerlicher. SPD und Grüne schlagen allerdings ein einheitliches Vergütungssystem für die ambulante und stationäre Versorgung vor.

Für die Soziale Pflegeversicherung (SPV) schwebt dem politisch linken Lager eine Bürgerversicherung vor. Die SPD möchte darüber hinaus einen „Pflegekostendeckel“ einführen: Heimbewohner sollen für die stationäre Versorgung nicht mehr als 1.000 Euro im Monat zahlen. Die Union schlägt stattdessen einen Finanzierungsmix aus gesetzlicher Pflegeversicherung, betrieblicher Mitfinanzierung, Steuermitteln sowie eigenverantwortlicher Vorsorge. Die FDP stößt ins gleiche Horn.

Arzneimittel: Deutschland und EU first

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In der Arzneimittelversorgung legen viele Parteien Wert auf die Produktion in Deutschland und der EU. FDP und Union träumen von schnelleren Zulassungsverfahren, während Die Linke die Pharmaindustrie am liebsten an die Kette legen würde. Für eine schärfere Gangart in der Arzneimittelpolitik plädiert auch AOK-Bundesverbandschefin Reimann. Mit Blick auf die Preisbildung bei patentgeschützten Arzneimitteln rät sie zur Hebung von „Wirtschaftlichkeitsreserven“. Das dürfte die Industrie nicht freuen, die die Verschärfung des AMNOG durch die Ampel weiterhin kritisiert. Bereits im Dezember 2024 schreibt Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland, der Nachfolgeregierung ins Aufgabenheftchen: „Die aktuellen Leitplanken zur Preisbildung und der Kombinationsabschlag hemmen Innovationen. Wir können viel mehr medizinischen Fortschritt, als wir mit der derzeitigen Regulierung abbilden. Neue Studienkonzepte, Endpunkte und Therapien brauchen eine Nutzenbewertung und eine Preisbildung, die den Zusatznutzen von Therapien besser berücksichtigt.“

Wider die Scheinpartizipation

Digitale Gesundheitsforschung mit Patienten gestalten

Berlin/Hamburg (pag) – Ist in einer Legislatur, in welcher der Bundestag ein Digital-Gesetz, ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz und ein Medizinforschungsgesetz verabschiedet hat, die Patientenbeteiligung in der digitalen Gesundheitsforschung ein blinder Fleck geblieben? Ein kürzlich vorgestelltes Positionspapier rückt dieses vernachlässigte Thema in den Mittelpunkt.

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Im Positionspapier „Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung“ sind auf 19 Seiten Empfehlungen und Lösungsansätze formuliert, um die Beteiligung von Patientinnen und Patienten zu unterstützen. Deren Forderungen lauten unter anderem:

  • Um Erfolg zu gewähren und ein Mindestmaß an Kooperation zwischen Patienten und Forschenden herbeizuführen, müssen Patienten und ihre Vertretungen aktiv in digitale Transformationsprozesse von Anfang an eingebunden werden.
  • Die Partizipation von Patientenorganisationen, Betroffenen und Angehörigen bei der Anwendung von digitalen Forschungsprozessen muss von allen Beteiligten realistisch gestaltet werden.
  • Eine fachliche, monetäre, personelle, strukturelle und technische Ausstattung ist die Grundbedingung für die Einbindung von Patientenorganisationen.
  • Es bedarf einer erhöhten Aufmerksamkeit für vulnerable Gruppen. Stigmatisierung und Diskriminierung müssen verhindert werden.

Erarbeitet haben die Betroffenen das Papier in einem konsensorientierten Prozess, der im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PANDORA begleitet wurde.

Startpunkt war eine Stakeholder-Konferenz, die im Juni 2024 in Hamburg stattgefunden hat und an der über 30 Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen aus ganz Deutschland – sowohl vor Ort als auch digital – teilgenommen haben. Zwei Tage diskutierten sie über Aufklärungs- und Einwilligungsprozesse, Forschungsdatenmanagement, Partizipation an Forschung, digitale Teilhabe und relevante ethische Werte für eine Forschungsbeteiligung. Das Ziel: einen Konsens für das Positionspapier zu erarbeiten. Am Ende des zweiten Tages steht der erste vorläufige Entwurf des Positionspapiers. Fertiggestellt wird dieser von einem Redaktionsteam, das aus vier Vertreterinnen und Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen besteht. Einer von ihnen ist Thomas Duda von der Pro Retina Stiftung Deutschland. Bei der Vorstellung des Positionspapiers auf einer Pressekonferenz im Rahmen der PANDORA-Abschlusskonferenz sitzt er mit auf dem Podium. Er betont dort: „Es gibt ein hohes Potenzial durch Patientenbeteiligung, was leider nicht erkannt wird.“ Ihm ist es wichtig, dass das Positionspapier die momentanen Zustände nicht nur kritisch beschreibt, sondern auch konkrete Verbesserungsvorschläge formuliert. Durch informierte Patienten wie auch durch den Input aus ihrem Erfahrungsschatz werden Daten- und Forschungsergebnisse bedarfsorientierter ver- beziehungsweise angewendet, ist Duda überzeugt.

Scheinpartizipation entgegenwirken

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Für Prof. Silke Schicktanz, Universitätsmedizin Göttingen, ist das Positionspapier ein wichtiges Instrument, um „reflektierte und selbstbestimmte Position einer Vielzahl von Patientenverbänden in die deutsche Debatte einzubringen“, sagt sie bei der Pressekonferenz. Ihre Forschungskollegin und PANDORA-Leiterin Prof. Sabine Wöhlke von der HAW Hamburg adressiert in ihrem Statement die Wissenschaftscommunity. Die Forschenden sollten reflektieren, wie eine langfristige, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Patientenvertretenden aussehen könne. Für diese Organisation seien Reflexion der eigenen Erwartungen und Ziele, Umgang mit Macht, Transparenz in der Kommunikation aber auch Anerkennung von Erfahrungsexpertise wichtig. Wöhlke appelliert: „Eine intensivere Auseinandersetzung mit Machtasymmetrien und der oft fehlenden Transparenz über Forschungsprozesse ist geboten, um der bisher noch zu oft existierenden Scheinpartizipation in der partizipativen digitalen Gesundheitsforschung entgegenwirken zu können.“

Wie es weiter geht

Die Botschaft ist mehr als deutlich, doch um den angemahnten Umdenkungsprozess einzuleiten, müssen äußerst dicke Bretter sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaftsszene gebohrt werden. Dass keiner der von PANDORA angefragten Gesundheitspolitiker bereit gewesen ist, an der Pressekonferenz teilzunehmen, spricht Bände. Umso drängender die Frage, wie es mit dem Positionspapier weitergehen soll. Wöhlke kündigt an, die wichtigen Ergebnisse der Stakeholder-Konferenz wissenschaftlich zu publizieren und das Positionspapier relevanten Ministerien, Gremien und Entscheidungsträgern zuzuschicken. An dieser Stelle ende der Einfluss als Forschende. Wöhlke: „Aber es kann dann niemand im Forschungsministerium sagen, man wisse ja gar nicht, dass die aktuellen Partizipationsinitiativen nicht wirklich gut im Sinne einer Teilhabe laufen und ob die Patientenorganisationen sich wirklich beteiligen wollen und was es dafür aus deren Sicht bedarf.“

Was ist PANDORA?
PANDORA (Patient*innenorientierte Digitalisierung) ist ein Verbundprojekt unter der Leitung der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg). Kooperationspartner sind die Universitätsmedizin Göttingen und die Medizinische Hochschule Hannover. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler analysieren ethische Fragestellungen, die mit der Einführung und Nutzung von Digitalisierungsprozessen und E-Health-Technologien im Gesundheitswesen einhergehen. Im Fokus stehen die Perspektiven von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen, die an solchen digitalen Entwicklungen partizipieren. Das Ziel von PANDORA ist die Entwicklung und Bereitstellung von Unterstützungsinstrumenten, die es diesen Organisationen ermöglichen sollen, ihre Interessen bei der Beteiligung an Digitalisierungsprojekten zu wahren und ethische Prinzipien zu respektieren.

Weiterführender Link:
Positionspapier: Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung

Reif für eine Generalüberholung?

Forderungen der Industrie nach AMNOG-Reform werden lauter

Berlin (pag) – Ist das AMNOG für Innovationen wie Gen- und Zelltherapien noch das geeignete Bewertungsverfahren? Wie passend ist es für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie verlangt nach einer grundlegenden AMNOG-Reform. Das Argument: Medizinischer Fortschritt dürfe nicht durch systemische Hürden ausgebremst werden.

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2025 wird in Sachen Health Technology Assessment (HTA) ein spannendes Jahr. Am offensichtlichsten ist der Start des europäischen HTA-Verfahrens im Januar. Dieses sieht unter anderem eine Synchronisation mit dem europäischen Zulassungsprozess vor, eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Beteiligten, gilt es doch zum Teil recht sportliche Fristen miteinander zu verzahnen.

Fest steht schon jetzt: Das AMNOG wird vom europäischen Pendant auf Dauer nicht unbeeinflusst bleiben. Im Januar legt das Bundesgesundheitsministerium etwa einen Last-Minute Änderungsentwurf für die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vor. Grundsätzlich gilt: Wertungs- und Preisentscheidung bleiben zwar auf nationaler Ebene, gleichzeitig soll Doppelarbeit vermieden werden. Ein schwieriger Spagat, deshalb vermögen auch Experten die Relevanz des neuen Verfahrens noch nicht so richtig abzuschätzen. Das europäische Verfahren startet mit neuen Krebstherapien und ATMPs – ein besonders innovatives Feld, auf dem sich momentan viel tut. Ist man hierzulande dafür mit dem AMNOG gerüstet?

Grundsatzfragen zur Evidenz

Der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann ist skeptisch. Im Dezember stellt er auf einem parlamentarischen Frühstück der LAWG (Local Area Working Group), einem Verein, dem 17 weltweit agierende, forschungsorientierte Arzneimittelunternehmen angehören, klar, dass das AMNOG für ihn zwar ein wertvolles Werkzeug sei, aber er sieht auch deutliche Limitationen – etwa bei Schrittinnovationen. Ullmann fragt außerdem: „Wie sieht es bei der Personalisierten Medizin aus, wie sieht es aus bei der Gentherapie, bei der wir sehr individuelle Therapieformen haben und die klassische Evaluation des AMNOG-Verfahrens gar nicht funktionieren kann?“ Für ihn steckt dahinter die Grundsatzfrage, was medizinische Evidenz bedeutet. Er plädiert für eine differenzierte AMNOG-Weiterentwicklung: Im klassischen Verfahren sollten herkömmliche Medikamente wie etwa Bluthochdruckarzneimittel bewertet werden. Im Rahmen eines zweiten Moduls – Ullmann nennt es AMNOG innovativ – wird über den Zusatznutzen von neuartigen Therapieformen geurteilt.

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Von Kalle plädiert für flexible Methodik

Ähnlich äußert sich Prof. Christof von Kalle auf der LAWG-Veranstaltung. Der Onkologe, der (zu diesem Zeitpunkt noch) das gemeinsame klinische Studienzentrum von der Charité und dem Berlin Institute of Health leitet, spricht sich für eine flexible AMNOG-Methodik aus. Darunter subsummiert er unter anderem eine Beschleunigung der Prozesse sowie eine Optimierung durch internationale Zusammenarbeit und Harmonisierung internationaler Verfahren – Stichwort EU-HTA. Außerdem betont er: „Ich würde sehr stark dafür plädieren, dass wir wirklich alle verfügbaren Daten verwenden und überlegen, wie wir den Nutzen neu bewerten.“ Sehr wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Konditionalität der Zulassung und der Datenerhebung nach der Zulassung.

vfa: Webfehler des AMNOG

Einen Monat zuvor, im November 2024, hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ein 15-seitiges Reformpapier zum AMNOG mit verschiedenen Handlungsfeldern präsentiert. Unter der Überschrift „Medizinischem Fortschritt gerecht werden“ wird ebenfalls die Frage nach der Evidenzgrundlage thematisiert. Der Verband stellt dar, dass angesichts zunehmend zielgerichteter Therapieansätze für eng definierte, häufig kleinere Gruppen von Patienten die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien nicht in allen Situationen ethisch vertretbar oder praktisch umsetzbar sei. Ein Webfehler des AMNOG sei daher, dass eine Anpassung im Umgang mit nicht-randomisierten Daten noch nicht erfolgt ist. Als Folge werde der therapeutische Zusatznutzen in besonderen Therapiesituationen nicht entsprechend gewürdigt, sodass bei den betroffenen Therapien kein angemessener Erstattungsbetrag vereinbart werden kann. Dies wirke sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien, wie Gentherapien, in der Versorgung aus, so der vfa. Seine Lösung: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) prüft künftig auf Antrag eines Herstellers, ob eine besondere Therapiesituation vorliegt. In diesen Fällen wird die bestverfügbare Evidenz in der Nutzenbewertung herangezogen.

Wie realistisch ist Pay for Performance?

Der Verband bricht in dem Papier außerdem eine Lanze für erfolgsabhängige Erstattungsmodelle, sogenannte Pay-for-Performance-Ansätze. Sie könnten im Einzelfall helfen, bei limitierter Evidenz dieser „begründbaren Unsicherheit bei höherpreisigen Therapien zu begegnen“ und Patienten einen schnellen Zugang zu diesen Therapien zu ermöglichen, heißt es. Die Forderung ist nicht neu, auch der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld macht sich dafür stark – beispielsweise im März 2024 in einem Beitrag für die „Interdisziplinäre Plattform Nutzenbewertung“. In derselben Ausgabe stellt Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbandes, dagegen die Bedenken der Kostenträger dar: Die Preisbildung bei Gentherapien weise weiterhin eine „beträchtliche Diskrepanz“ zur vorhandenen Evidenz auf, konstatiert sie. Ob die Einführung erfolgsorientierter Vergütungssysteme Teil einer effizienten Lösung sein könne, sei fraglich. „Hierzu wären umfangreiche rechtliche und technische Änderungen und die Behebung bestehender Datenlücken erforderlich, die derzeit nicht absehbar sind“, so Haas.

 

Techniker Krankenkasse: Pay for Performance ist kein guter Weg
„Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ lautet der Titel eines im März 2024 veröffentlichten Reports der Techniker Krankenkasse (TK), der die Arzneimittelpreisgestaltung im internationalen Vergleich – USA, Frankreich und Japan – darstellt. Zur Preisbildung für Gentherapeutika in Deutschland könnten demnach fünf Ansätze zur Anwendung kommen: Budgetierung, geheime Preise, kriterienbasierte Preise, Kostentransparenz sowie Raten- beziehungsweise Rückzahlungsmodelle. Letztere können auch mit einer Performance-Komponente ergänzt werden. Der Kasse zufolge erweist sich deren Umsetzung jedoch als äußerst schwierig. Tim Steimle, Leiter des TK-Fachbereichs Arzneimittel, erläutert gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „Pay for Performance bedeutet ja folgendes: Tritt eine gewisse Non-Performance ein und das Medikament funktioniert nicht, dürfen Raten ausgesetzt werden.“ Darauf könnten sich aber die pharmazeutischen Unternehmen und die Krankenkassen fast nie verständigen. Strittig sei zum Beispiel, was wirklich ein guter Non-Performance-Indikator sei und wie dieser sauber erfasst werden könne. „Wer erfasst den? Benötigen wir ergänzende Informationen von Ärzten oder Patienten, um zu beurteilen, ob die Performance eingetreten ist oder nicht?“, fragt Steimle. Darüber streite man sich jedes Mal, wenn solche Verträge abgeschlossen werden. „Auf einen guten Weg einigen wir uns leider nicht.“

Chronisch krank am
 Arbeitsplatz

Der Weg zu einer echten Teilhabe ist noch steinig

Berlin (pag) – Mit den Herausforderungen zum Thema „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ beschäftigt sich kürzlich der Patient Advocacy Summit von Novo Nordisk. Fest steht: Für die Teilhabe von chronisch erkrankten Personen am Arbeitsleben ist noch viel zu tun. Dabei könnte der Fachkräftemangel ein Katalysator sein.

Als politischen Anknüpfungspunkt hebt Pia Vornholt, Vice President Public Affairs Germany von Novo Nordisk, die Wachstumsinitiative der Bundesregierung hervor. „Die Maßnahmen und Lösungen, die wir heute hier erarbeiten, können Teil der Antwort auf den herrschenden Fachkräftemangel und den demografischen Wandel sein.“ Wichtig sei, dass eine starke und vereinte Patientenstimme sich auch in der Politik engagiere und gehört werde, um langfristig Veränderungen herbeizuführen und die Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt angemessen zu berücksichtigen.

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Ähnlich lautet die Botschaft von Franz Donner. In seinem Impuls konstatiert der ehemalige Konzernpersonalleiter bei der ZEISS-Gruppe, dass die Teilhabe von chronisch Erkrankten in der Gesellschaft, der Politik und bei den Unternehmen nicht das Gewicht bekomme, das es verdiene. Er richtet den Fokus auf den Fachkräfte-
mangel, der mit einem Rückgang von 3,8 Millionen Arbeitskräften bis 2035 einhergeht. „Wir tun gut daran, diesen in den Vordergrund zu stellen.“ Im Gegensatz zu den chronisch Erkrankten hätten es die älteren Erwerbstätigen geschafft, explizit in der Wachstumsinitiative der Bundesregierung erwähnt zu werden. Zwar gebe es Firmen, die das Teilhabe-Thema bewusst aufgreifen, aber der klassische Unternehmer hat es Donner zufolge nicht auf der Agenda und benötigt eine „burning platform“ – in diesem Fall den Fachkräftemangel. Mit dem Later Life Workplace Index stellt der Experte zudem einen Werkzeugkasten vor. Das Diagnoseinstrument unterstützt Firmen bei ihrer Einschätzung, wie gut sie auf eine alternde Belegschaft vorbereitet sind.

„Gemeinsam etwas ändern.“

Die am Summit teilnehmenden Betroffenen stellen insbesondere heraus, dass es sich um ein patientengruppenübergreifendes Thema handele. Michael Wirtz, Adipositas-Hilfe Deutschland, sagt etwa, dass es nicht nur um Menschen mit Adipositas gehe: „Wir reden auch über Menschen mit Diabetes, Rheuma, MS etc.“.

Auch für Corinna Elling-Audersch von der Rheuma-Liga ist „Chronisch krank am Arbeitsplatz“ eine Angelegenheit, welche die Zusammenarbeit aller Patienten erfordert. „Wir müssen gemeinsam etwas ändern“, mahnt sie. Arbeit sichere nicht nur den Lebensunterhalt, sondern auch die soziale Integration. Noch immer gebe jeder fünfte Rheumapatient mittleren Alters in den ersten drei Jahren nach der Diagnose seinen Arbeitsplatz auf, berichtet Elling-Audersch.

Zur besseren Teilhabe am Arbeitsplatz nennt die Aktivistin einige Stichwörter: Aufklärung und Offenheit im Umgang mit der Erkrankung, Wechsel zu weniger körperlich anstrengenden Tätigkeiten, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfsmitteln sowie Qualifizierung/Umschulung/Weiterbildung. Oft seien es nur winzige Stellschrauben, die für eine Teilhabe bewegt werden müssten, etwa mehr Pausen oder die Erlaubnis, Physiotherapiestunden in den Arbeitsalltag einzubauen. Auch müssten die staatlichen Zuschüsse für Arbeitgeber noch bekannter gemacht werden. Corinna Elling-Audersch appelliert: „Wir müssen in der Gesellschaft ein Bewusstsein für uns schaffen“.

Wachstumsinitiative der Bundesregierung
Um der deutschen Wirtschaft neue Impulse zu geben, hat die Bundesregierung zusammen mit dem Haushalt 2025 eine umfassende Wachstumsinitiative beschlossen. Mit 49 Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen will sie den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken, um den Wohlstand langfristig zu sichern – „für gute Arbeitsplätze und für die erfolgreiche Umsetzung der Dekarbonisierung“, wie es heißt. Unter anderem sollen Anreize dafür geschaffen werden, dass es sich für Ältere mehr lohnt, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck hat angekündigt, dass aufgrund des Fachkräftemangels auch „Arbeitsausfälle infolge von Krankheit reduziert werden sollen“. Konkrete Maßnahmen innerhalb der Initiative sind jedoch nicht benannt.

Erkrankungen sind ein Vollzeitjob

Ein Bewusstsein zu schaffen, ist auch ein Anliegen von Lea Raak. Die Aktivistin für Barrieresensibilität lebt seit 13 Jahren mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und arbeitet außerdem in Vollzeit. Sie sagt: „Meine chronischen Erkrankungen sind auch schon ein Vollzeitjob.“ Jeden Tag lebt sie mit einer Vielzahl von Symptomen. „Wenn man mich sieht, würde man das nicht unbedingt denken.“ In ihrem Vortrag gibt sie Einblicke in ihre Arbeit mit einer nicht ersichtlichen Behinderung. Beeinträchtigt fühlt sie sich etwa von Verurteilungen und Diskriminierungen, obgleich sie an ihrem Arbeitsplatz an der Universität das Glück habe, offen mit ihrer Erkrankung umgehen zu können. Dennoch blieben das schlechte Gewissen und ein Ringen mit sich selbst, ob und wann sie sich krankmeldet.

Raak plädiert dafür, gemeinsam mit dem Arbeitgeber Strategien für die Vereinbarkeit zu entwickeln. Ein wichtiges Anliegen sei es ihr auch, dass es auf der Arbeit einen sicheren Raum gibt, um Dinge anzusprechen und offenzulegen. Die Aufgabe von Führungskräften sei es, einen solchen Raum zu schaffen. Lea Raak verlangt: „Nicht ich muss mich anpassen, sondern der Arbeitsplatz sollte sich anpassen und die Führungskräfte sollen sich anpassen.“

 

Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen
Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen

Sag ich es ?
Prof. Mathilde Niehaus, Universität zu Köln, stellt bei dem Summit den Online-Selbsttest www.sag-ichs.de
vor. Dieser unterstützt Betroffene
bei der Entscheidung für oder gegen die Offenlegung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung am Arbeitsplatz. Dafür werden verschiedene Bereiche wie „Auf der Arbeit“, „Persönliche Voraussetzungen“, „Einstellungen und Werte“ so-
wie „Erfahrungen und Lebenssitua-tion“ abgefragt. Unter Wahrung des Datenschutzes wird basierend auf den Antworten ein persönliches Profil erstellt. Die Frage, die eigene gesundheitliche Beeinträchtigung am Arbeitsplatz zu offenbaren, sei hochkomplex und ziehe viel Energie, weiß Niehaus. Sie hebt hervor, dass Personen, deren Beeinträchti-gung man von außen nicht sehen könne, ganz anders mit sich und anderen im Konflikt stehen, über ihre Erkrankung zu sprechen. Oft seien sie Vorurteilen ausgesetzt, beispielsweise sich vor der Arbeit zu drücken. Beide Entscheidungsmöglichkeiten – die Erkrankung offenzulegen oder sie für sich zu behalten – seien legitim. „Wichtig ist, dass ich die Entscheidung mit mir selbst ausgemacht habe und sie selbstbestimmt fälle.“

 

 

Der Ernstfall

In Sachen Health Security besteht dringender Nachholbedarf

Berlin (pag) – Die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte Zeitenwende betrifft auch das Gesundheitswesen. Auf einer Tagung der Bundesärztekammer (BÄK) nehmen Expertinnen und Experten eine Bestandsaufnahme vor, ob das gegenwärtige „Schönwettersystem“ auf den Ernstfall vorbereitet ist. Ihre Einschätzungen fallen ernüchternd aus.

© Bundeswehr, Patrick Grüterich
© Bundeswehr, Patrick Grüterich

Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), findet klare Worte: „Für das Szenario Krieg sind wir nicht gut aufgestellt“, sagt er. Dies sei jahrzehntelang nicht vorstellbar gewesen. Deshalb müssten jetzt die Prioritäten neu gesetzt werden.

Tiesler spricht bei der BÄK-Veranstaltung von einer veränderten Bedrohungslage: Seit 2022 sei Krieg eine neue Realität in Europa. Aufgrund seiner geografischen Lage sei Deutschland im Bündnis- und Verteidigungsfall besonders betroffen. Und insbesondere für das Gesundheitssystem stelle das „Themenfeld Krieg“ eine besondere Herausforderung dar. Verteidigung, so Tiesler, sei keine allein militärische Angelegenheit.

Neue Realitäten

Konsens ist bei der Tagung, dass neben dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch Klimawandel, Cyberangriffe und Sabotage sowie politischer Extremismus die Frage nach der Krisenresilienz der Gesellschaft in einer neuen Dringlichkeit stellen. Das gelte im Besonderen für das Gesundheitswesen. BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt mahnt daher, die neuen Realitäten zu akzeptieren und sich in allen gesellschaftlichen Bereichen auf den Ernstfall vorzubereiten. „Wir müssen aber auch über die Resilienz des Gesundheitswesens insgesamt sprechen.“

Im März dieses Jahres hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach angekündigt, das Gesundheitssystem mit einem gesonderten Gesetz besser auf Katastrophen und militärische Konflikte vorbereiten zu wollen. Der für den Sommer angekündigte Entwurf lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor. Umso dringlicher verlangt der Vorstandsvorsitzende der Charité, Prof. Heyo Kroemer, Health Security – Gesundheitssicherheit – in Deutschland zu etablieren.

Nur ein Schönwettersystem?

In seinem Vortrag verschweigt er nicht, dass es eine „gewaltige Aufgabe“ sei, das deutsche Gesundheitswesen resilient zu machen. Das dürfte nicht zuletzt an der vom Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege konstatierten mangelnden Kooperation zwischen Sicherheitsbehörden, Militär und Gesundheitswesen liegen. Der Rat bezeichnet in diesem Zusammenhang das hiesige Gesundheitswesen als „Schönwettersystem“.

Der Charité-Chef Kroemer ist Vorsitzender des „ExpertInnenrats Gesundheit und Resilienz“ und hat sich mit dem Thema intensiv befasst. Ihm zufolge ist Deutschland für sogenannte MANV-Situationen gut aufgestellt. Der Massenanfall von Verletzten (MANV) bezeichnet im Rettungswesen eine Situation, bei der eine große Zahl von Verletzten oder Erkrankten versorgt werden muss – etwa aufgrund von Bombenattentaten, Eisenbahnunglücken, Flugzeugabstürzen, Seuchen sowie großflächigen ABC-Einsatzlagen. Solche MANV-Situationen dauern in der Regel mehrere Stunden oder wenige Tage. Eine komplett andere Dimension stellt ein Verteidigungsfall dar, der Monate oder sogar Jahre andauern könne, so Kroemer. Um mit solchen Situationen fertig zu werden, müsse man sich dringlich mit Gesundheitssicherheit auseinandersetzen.

Ralph Tiesler, Präsident des BBK © BBK
Ralph Tiesler, Präsident des BBK © BBK

International hat das Thema Health Security bereits deutlich an Fahrt aufgenommen. Bei der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Union ist es stärker in den Fokus gerückt. Kroemer berichtet, dass viele Länder bereits eine Strategie ausgearbeitet haben. In den USA und in den UK gebe es dafür nationale Einrichtungen. In Ländern wie Schweden oder Dänemark wurde ein ziviles Krankenhaus mit Aufgaben der Gesundheitssicherheit beauftragt. So weit ist man hierzulande noch nicht. Aber immerhin nimmt der Resilienzexperte ein beginnendes Problembewusstsein wahr. Es bestehe ein enger Austausch zwischen Bundeswehr und zivilen Strukturen – „allerdings in erheblichen Teilen auf individueller Ebene, weil man sich kennt und noch nicht in richtigen Strukturen“, schränkt Kroemer ein.

Den Eindruck einer noch unausgereiften Zusammenarbeit bestätigt Tiesler. So sei Katastrophenschutz Ländersache. Deshalb gebe es keine übergreifende Steuerung zwischen Bund und Ländern. „Es gibt keinen Krisenstab auf Bundesebene für alle“, räumt er ein, „es gibt nichts, was geübt und trainiert und vorgedacht ist an der Stelle, das ist tatsächlich ein echtes Defizit“. Der Behördenleiter sieht als größtes Problem die föderale Staatsstruktur sowie die Betonung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Das funktioniere in Friedenszeiten, stelle aber in der gegenwärtigen Lage ein Hindernis dar. „Und trotzdem müssen wir da durch und schneller werden“, appelliert er.

Der Bündnisfall BBK-Chef Tiesler konkretisiert, was im NATO-Bündnisfall, wenn Deutschland zur Drehscheibe werde, auf das Gesundheitssystem zukommt: bis zu 1.000 neue Patienten pro Tag, kriegsbedingte Verletzungsmuster, strategischer Patiententransport, Sabotageakte und Anschläge auf die Gesundheitsinfrastruktur. Man müsse sich auch auf großflächige CBRN-Lagen einrichten. CBRN-Schutz ist ein Sammelbegriff und bezeichnet chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren. Auch verlange die NATO die Aufnahme von Geflüchteten, in einer Größenordnung bis zu zwei Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung.

Wie viele Ehrenamtliche?

Auf der Agenda seiner Behörde stehen eine Menge Aufgaben. Tiesler nennt unter anderem: Sanitätsmittelbevorratung, strategischer Patiententransport sowie medizinischer CBRN-Schutz. Auch der gesundheitliche Bevölkerungsschutz, der in besonderen Langen – Krisen, Katastrophen und Krieg – eine Ergänzung der medizinischen Grund- und Alltagsversorgung darstellen soll, ist im Fokus des Bundesamtes. Dieses Hilfesystem wird nämlich im Wesentlichen von Ehrenamtlichen getragen. Von wie vielen genau, ist derzeit unklar. Zwar kursiert eine Zahl von 1,7 Millionen, allerdings sind dabei Mehrfachverpflichtungen von Personen nicht berücksichtigt. Tieslers Behörde versucht daher, eine realistische Größenordnung zu ermitteln.

Zwar existieren bereits unzählige Leitfäden, Konzepte und Handbücher, dennoch muss aktuell vieles neu gedacht werden. Für Vorhaltungsstrategien, die noch aus Zeiten des Kalten Krieges stammen, braucht es zeitgemäße Nachfolgemodelle, so der BBK-Chef. Dabei gehe es insbesondere um „Lösungen in Bezug auf Personal, Material, Koordination und Steuerung“. Dahinter sieht er die Grundsatzfrage, ob andere Regeln in dieser Zeit, in der vieles geplant und vorbereitet werden muss, benötigt werden. Eine Zeit, die Tiesler weder Frieden noch Krieg nennen möchte.

„Effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit“

Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr © BÄK, Marten Ronnebur
Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr © BÄK, Marten Ronnebur

„Aufgrund der zentralen geopolitischen Lage in Europa ist Deutschland bereits in frühen Phasen eines Konfliktes in besonderer Weise als Drehscheibe gefordert, dies gilt insbesondere auch für die Gesundheitsversorgung. Um für unsere Soldatinnen und Soldaten sowie unsere multinationalen Partner eine adäquate medizinische Versorgung sicherstellen zu können, ist der Sanitätsdienst der Bundeswehr auf eine effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitssystem angewiesen. In der Vergangenheit hat der Sanitätsdienst der Bundeswehr regelmäßig in Deutschland das zivile Gesundheitssystem unterstützt, beispielsweise im Rahmen der Fluthilfe oder der COVID-19-Pandemie. Zukünftig werden sich die Akteure des zivilen Gesundheitssystems im Rahmen der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung verstärkt auch auf die Unterstützung der Bundeswehr vorbereiten müssen. Die hierfür notwendige enge Verzahnung von zivilen und militärischen Strukturen sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten gilt es nun, aktiv zu planen und so konkret wie möglich vorzubereiten.“

Vom Leuchtturm Kiel zum 
Versorgungsstandard

Shared Decision Making hat es im Gesundheitssystem (noch) schwer

Berlin/Kiel (pag) – Seit Langem wird Shared Decision Making in Fachkreisen diskutiert. Flächendeckend durchgesetzt hat es sich bisher nicht. Wenig verwunderlich, denn hinter dem Konzept steht nicht weniger als ein Paradigmenwechsel im Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Mittlerweile kommt aber Bewegung in die Sache.

© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka
© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka

2017, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel: Der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt SHARE TO CARE fällt. „Making SDM A REALITY“ setzt in Pionierarbeit die Prozesse partizipativer Entscheidungsfindung (auf Englisch Shared Decision Making, SDM) in einem kompletten Krankenhaus der Maximalversorgung um. Das SHARE TO CARE-Programm umfasst vier Module: Training der Ärztinnen und Ärzte, digitale Entscheidungshilfen, Qualifizierung von Pflegekräften und Patientenaktivierung. Am UKSH werden dabei insgesamt 80 Entscheidungshilfen produziert, die wissenschaftlich fundierte, strukturiert aufbereitete und verständliche Informationen bieten. Genutzt werden können sie von Patienten zur Vorbereitung auf die gemeinsame Entscheidung mit Medizinern. „Heute gehört das UKSH zu den weltweit führenden Kliniken in der Anwendung von SDM“, betont das Klinikum auf seiner Website.

Präferenzen und Prioritäten

Das Projekt in Kiel zeigt hierzulande erstmals, dass SDM in allen Bereichen einer ganzen Klinik mit positiven Effekten etabliert werden kann. Der Ansatz beinhaltet eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, in der Arzt und Patient relevante Informationen austauschen und sich gemeinsam auf eine optimale Behandlungsoption einigen. Dabei informiert der Arzt über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten mit jeweiligen Vor- und Nachteilen. Der Patient teilt seine Präferenzen und Behandlungserfahrungen. Insbesondere Auswirkungen etwaiger Entscheidungen auf den Alltag des Patienten sind entscheidend.

SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic - Own work, CC BY-SA 4.0
SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic – Own work, CC BY-SA 4.0

Johannes Förner, Patientenbeirat am Deutschen Krebsforschungszentrum, sieht darin immense Vorteile: „SDM berücksichtigt Präferenzen und Prioritäten der Patienten bei der Entscheidungsfindung für ein Therapieschema.“ Speziell in der Krebstherapie werde meist auf maximale Lebensverlängerung geschaut, „obwohl dies für den jeweiligen Patienten vielleicht gar nicht so wichtig ist und er lieber eine optimale Lebensqualität erreichen würde.“

Prof. Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wirbt bereits 2015 auf einem Kongress des Bundesverbandes Managed Care für das Konzept: SDM steigere die Gesundheitskompetenz der Patienten. Eine Kompetenz, die defizitär in der Bevölkerung ausgebildet ist. Die Patientenzufriedenheit steige, auch für Ärzte gestalte sich die Kommunikation angenehm.
Fest steht mittlerweile auch, dass sich die Compliance der Patienten durch die gemeinsame Entscheidungsfindung erhöht. Zwar bedeutet diese initial mehr Aufwand für Ärzte – die Schulung der Mitarbeiter dauert etwa einen Arbeitstag. Mittel- bis langfristig wird aber Zeit eingespart – etwa durch effizientere Gespräche und weniger Rückfragen. Allerdings eignet sich das Konzept nur für Krankheitsbilder, bei denen aus medizinischer Sicht mehrere Handlungsmöglichkeiten mit jeweils eigenen Vor- und Nachteilen existieren.

Trotz aller Vorteile ist Shared Decision Making bislang vor allem im angelsächsischen Raum präsent. „In den UK gehört SDM bereits zum Standardrepertoire des National Health Service in der personalisierten Medizin“, berichtet Förner. In den USA sei SDM stark abhängig von der jeweiligen Klinik, werde aber häufiger praktiziert als in Deutschland. Hierzulande ist der Ansatz noch längst kein Versorgungsstandard, auch wenn es politisch so gewollt ist. Dieser politische Wille ist beispielsweise im Patientenrechtegesetz nachzulesen. Dort heißt es, dass sich Arzt und Patient „partnerschaftlich begegnen und gemeinsam über die Behandlung entscheiden“. Laut §§ 13 bis 15 SGB I sind die Sozialversicherungsträger zur Aufklärung, Beratung und Auskunft verpflichtet.

Für SHARE TO CARE-Geschäftsführer Dr. Jens Ulrich Rüffer ist eine Ursache dafür, dass Wunsch und Wirklichkeit so auseinanderklaffen und SDM aktuell noch nicht systematisch im Gesundheitssystem eingesetzt wird, die bisher fehlende konkrete Prozessanleitung für alle Beteiligten (lesen Sie hierzu auch das Interview „Das reine Wollen reicht nicht“, Seite 16).

In die Regelversorgung

„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz
„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz

Immerhin: Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, das Programm SHARE TO CARE in die Regelversorgung zu überführen. Darauf will Rüffer allerdings nicht warten. „Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt“, weiß er. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Von den momentan laufenden Pilotprojekten hofft der Mediziner, dass sie „genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten:
Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung“.

Auch Patientenvertreter Förner hat einige vielversprechende Initiativen fest im Blick: Etwa das groß angelegte Vorhaben an den sechs bayerischen Universitätskliniken, das sich dem Bereich Prostatakrebs widmet. „Bayern versucht hier eine systematische Implementierung von SDM“, berichtet er. Ein anderes Beispiel ist Bremen, wo SHARE TO CARE für den hausärztlichen Bereich adaptiert wird. Das Ziel: SDM in allen Hausarztpraxen im Bundesland verankern. Der SDM-Siegeszug ist für Förner nur eine Frage der Zeit: „Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr. Wir können es verzögern oder aber auch beschleunigen.“

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Drahtseilakt zwischen Autonomie und Anleitung Grundsätzlich geht es um einen Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses. SDM vollführt den Drahtseilakt zwischen den Autonomiebestrebungen des Patienten und seinem Bedarf nach Anlehnung und Anleitung durch den Arzt. Die althergebrachte Vorstellung, dass Patienten stillschweigend mit jeder ärztlichen Entscheidung mitgehen, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Erstmals konkret wurde die Idee des SDM vom US-amerikanischen Bioethiker Dr. Robert Veatch in den frühen 70er-Jahren ins Spiel gebracht. 1982 stellte eine Kommission des US-Präsidenten fest, dass man zwar grundsätzlich immer besser in der Lage sei, Krankheiten effektiv zu behandeln, gleichzeitig aber weitverbreitet Über-, Unter- und Fehlbehandlung herrsche. Die vorgeschlagene Lösung: SDM.
Mittlerweile hat das Konzept Einzug in die Gesetzgebung und Politik zahlreicher Länder gehalten. Wissenschaftler sehen einen Paradigmenwechsel in Richtung Patientenzentrierung und Beteiligung, der sich vor allem in den 80ern vollzieht. Stichwort Forschung: Seit den 70ern wurden mehr als 6.000 wissenschaftliche Artikel zum Thema veröffentlicht, seit 2013 sind es über 500 pro Jahr.

Das Präventionsmomentum

Politisch und medizinisch öffnet sich ein „window of opportunity“

© pag
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Berlin (pag) – Lange genug führte die Prävention ein gesundheitspolitisches Schattendasein. Inzwischen mehren sich die Signale, dass das Thema ernster genommen wird. Eine überfällige Entwicklung, denn wir können uns es nicht länger leisten, das Gesundheitswesen als bloßen Reparaturbetrieb laufen zu lassen. Zumal die Möglichkeiten der Präventionsmedizin immer vielversprechender werden.

Eine kürzlich im „Lancet“ veröffentlichte Studie beschäftigt sich mit Beatmungspatienten. Demnach werden hierzulande deutlich mehr Patienten künstlich beatmet als in Ländern mit vergleichbaren Gesundheitssystemen. Inzwischen versterbe „jeder zehnte Deutsche beatmet im Krankenhaus“, teilen die an der Studie beteiligten Pneumologen und Intensivmediziner mit. Die durchschnittlichen Kosten pro beatmeten Patienten liegen bei 22.000 Euro für das Jahr 2019 und über 25.500 Euro für 2022.

Ungünstiger Spagat

Für die beiden Facharztgruppen bietet die Studie reichlich Stoff für Diskussionen. Prof. Wolfram Windisch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), weist etwa darauf hin, dass Deutschland Schlusslicht bei der Tabakprävention sei. Rauchen sei einer der größten Risikofaktoren für viele schwere Herz- wie auch Lungenerkrankungen, die wiederum die Hauptgründe für Beatmungen auf Intensivstationen in Deutschland darstellen. „Wir sind also in einem ganz ungünstigen Spagat: Wir verhindern die Krankheiten nicht, die wir dann aber maximal mit allem, was geht, behandeln“, stellt Windisch fest und fragt: Wäre es nicht andersherum deutlich besser?
Die Kritik an diesem Spagat beziehungsweise der Vernachlässigung der Prävention ist in jüngster Zeit immer lauter geworden. Der Epidemiologe Prof. Henry Völzke verweist zuletzt beim wissenschaftlichen Symposium der NAKO Gesundheitsstudie, dessen Vorstandsvorsitzender er ist, auf die aktuellen Zahlen zur Lebenserwartung in Deutschland sowie auf Risikofaktoren für Erkrankungen: „Mir läuft der kalte Schauer über den Rücken, wie schlecht wir dabei abschneiden.“ Auch Völzke sieht Deutschlands Defizite bei der Tabakkontrolle, nennt außerdem die Stichwörter Jodmangel und die steigende Anzahl von Diabetespatienten („eine extrem teure Erkrankung“). Er kritisiert: „Wir sehen als Gesellschaft zu, wie wir immer kränker werden und wir tun nichts dagegen.“
Ähnlich klingt es beim Wissenschaftsrat, der im Mai bei der Veranstaltung „Prävention neu denken“ das Thema mit zahlreichen Experten diskutiert. „Wir brauchen mehr durch Digitalisierung und innovative Forschung unterstützte und im Alltag der Menschen wirksame Prävention“, verlangt dort Ratspräsident Prof. Wolfgang Wick, der Ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg ist. Dafür sei eine umfassende und nachhaltige Initiative für Prävention und Gesundheit nötig. Diese müsse breit unterstützt und getragen werden – und zwar von der Politik und den Medien über die Krankenkassen bis zum Public-Health-Sektor, Kliniken, Praxen sowie in diesem Bereich aktiven Gruppen der Zivilgesellschaft. Auch in der Wissenschaft seien verschiedene Disziplinen gefragt, so Wick. Neben einer umfassenden Vernetzung der Akteure mahnen die Tagungsteilnehmer für die Prävention wirksame Anreize, zielgruppengerechte Kommunikation sowie verbindliche politische Ziele an.

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Datenquellen: Human Mortality Database, Eurostat, ONS England; Berechnungen durch das BiB
Datenquellen: Human Mortality Database, Eurostat, ONS England; Berechnungen durch das BiB

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© stock.adobe.com, pattilabelle

Deutschland fällt bei Lebenserwartung in Westeuropa weiter zurück  Deutschland gehört in Westeuropa zu den Schlusslichtern bei der Lebenserwartung und verliert weiter an Anschluss. Dies zeigt eine aktuelle Studie von Mitarbeitenden des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, bei der die Sterblichkeitstrends über mehrere Jahrzehnte untersucht wurden. Betrug der Rückstand Deutschlands auf die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt im restlichen Westeuropa im Jahr 2000 rund 0,7 Jahre, so hat sich der Abstand bis 2022 auf 1,7 Jahre vergrößert.

 

Lauterbach will Trendwende

Apropos Politik: Anwesend bei der Veranstaltung des Wissenschaftsrates ist auch Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach. Er bekräftigt, dass es eine „Trendwende bei Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz“ brauche. Zwei aktuelle Gesetzesentwürfe aus seinem Haus, das „Gesetz zur Stärkung der Öffentlichen Gesundheit“ sowie das „Gesundes-Herz-Gesetz“, greifen diese Themen auf (lesen Sie hierzu auch „Rückfall in der Bedeutungslosigkeit?“). So umstritten die beiden Initiativen von der Fachwelt gesehen werden, so zeigen sie dennoch, dass die Politik in Sachen Prävention aufgewacht und den drängenden Nachholbedarf erkannt hat.
Auch andere Akteure werden aktiv – zum Beispiel bei Krebs. Denn immerhin könnten 40 Prozent der Krebsneuerkrankungen allein durch Impfungen und Veränderungen der Lebensführung verhindert werden. „60 Prozent der Todesfälle wären mit Sekundärprävention vermeidbar“, umreißt Prof. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), das Präventionspotenzial beim Wissenschaftsrat. Nur wenige Wochen nach der Tagung fällt Ende Juni der Startschuss für eine bauliche Erweiterung des DKFZ in Heidelberg. In dem neuen Gebäudekomplex werden wichtige Zukunftsfelder des DKFZ Einzug halten – wie das Nationale Krebspräventionszentrum, dass sich derzeit bereits im inhaltlichen Aufbau befindet. Es entsteht als strategische Partnerschaft des DKFZ und der Deutschen Krebshilfe, die den Bau mit 25 Millionen Euro unterstützt. Das Zentrum soll alle wesentlichen Komponenten für die Präventionsforschung sowie für die Umsetzung der Prävention unter einem Dach vereinen: die Präventionsambulanz mit Beratungs- und Studienangeboten für die personalisierte Krebsprävention, Labor- und Büroflächen für die Präventionsforschung sowie die Aus- und Weiterbildung von Präventionsfachleuten.

Undenkbare Einblicke

Denkbar wäre übrigens auch, die NAKO Gesundheitsstudie für die Präventionsforschung zu nutzen. Diesen Gedanken will ihr Vorstandsvorsitzender Völzke auf dem wissenschaftlichen Symposium der NAKO der Politik nahebringen (lesen Sie hierzu auch „Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial“). Bei Judith Pirscher, Staatssekretärin im Bundesforschungsministerium (BMWF), stößt er mit diesem Anliegen auf offene Ohren. Zumindest betont sie in ihrem Grußwort: „Die NAKO ermöglicht mit ihrem Datenschatz bisher undenkbare Einblicke in Mechanismen der Krankheitsentstehung.“ Wie genau präzisiert im Anschluss Prof. Maike Sander, Vorstandsvorsitzende das Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Es seien bereits rund 3.800 NAKO-Teilnehmende mittels Magnetresonanztomographie (MRT) untersucht worden. Darüber könnten kleinste Veränderungen über die Zeit beobachtet werden, und zwar lange bevor Symptome auftreten. So erhalte man sehr wichtige Einblicke in die Früherkennung, sagt Sander: „Die NAKO schlägt somit eine Brücke vom gesunden zum kranken Menschen.“ Die Medizinerin erinnert daran, dass Kohortenstudien wie die NAKO besonders für die Präventionsmedizin eine enorme Chance bieten, bedeutende Erkenntnisse zu gewinnen. So habe beispielsweise die UK Biobank genetische Marker für die Früherkennung von Brust- und Bauchspeichelkrebs identifiziert. Im Unterschied zur UK-Studie werden die NAKO-Teilnehmer sogar noch viel detaillierter klinisch untersucht. „Diesen Schatz müssen wir jetzt heben“, verlangt sie. 

 

Forschungsprojekt: Krebsrisiken-Prognose mit Gesundheitsdaten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DKFZ und des European Bioinformatics Institute aus Großbritannien nutzen die dänischen  Gesundheitsregister, um die individuellen Risiken für 20 verschiedene Krebsarten mit hoher Treffsicherheit vorherzusagen. Das Vorhersagemodell lässt sich auch auf andere Gesundheitssysteme übertragen. Es könnte helfen, Menschen mit hohen Krebsrisiken zu identifizieren, für die man gezielt individuelle Früherkennungsangebote im Rahmen von Studien erproben könnte, vermeldet das DKFZ.

Rückfall in die Bedeutungslosigkeit?

Widersprüchliche Signale – die Zukunft des ÖGD ist ungewiss

Berlin (pag) – Mit der Corona-Pandemie ist der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) von seinem Schattendasein in den Mittelpunkt des öffentlichen Bewusstseins gerückt. Die Politik hat einen milliardenschweren Förderpakt auf den Weg gebracht, ein Institut für öffentliche Gesundheit wurde angekündigt. Doch die Euphorie scheint mittlerweile verflogen. Droht dem ÖGD die Rückkehr in die „graue Normalität der Bedeutungslosigkeit“?

Die Hoffnungen, die viele in das im Koalitionsvertrag angekündigte Institut für öffentliche Gesundheit gesetzt haben, waren nicht nur in der Public-Heath-Szene groß. Umso herber fällt dann die Enttäuschung aus, als Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) im Herbst vergangenen Jahres die Grundzüge des Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin, kurz BIPAM, vorstellt. Diese sehen unter anderem eine Zerschlagung des Robert Koch-Instituts vor. Von einem Rückfall und einem „nach hinten gerichteten Blick“ sprechen beispielsweise der KLUG-Vorstandsvorsitzende Dr. Thomas Götz und Prof. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes, in ihrer auf Gerechte Gesundheit veröffentlichten Grundsatzkritik an der Konzeption des neuen Instituts (Link am Ende des Beitrags).

© istockphoto.com, FG Trade
© istockphoto.com, FG Trade

Kein einseitiger Abschied

Mittlerweile scheint auch klar, dass der Bund den Pakt für den ÖGD nicht weiter finanzieren wird. Bei der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) im Juni erinnert Lauterbach vor Journalisten an die vier Milliarden Euro, die bereits seitens des Bundes ausgegeben wurden. 4.500 Stellen seien bezahlt worden, „aus der Perspektive des Bundes ist die Aufgabe jetzt bei den Ländern angekommen“, so der Minister.
Ähnlich klingt es in einem Bericht des Bundesrechnungshofs aus dem vergangenen Frühjahr, in dem angemahnt wird, dass der Bund die Länder und Kommunen auf ihre eigene Zuständigkeit für den ÖGD verweisen müsse. Dies schließe aus, weitere Mittel aus dem Umsatzsteueraufkommen für Personal in den Gesundheitsämtern ohne klare Ziele und wirksame Kontrolle der Zielerreichung zur Verfügung zu stellen.
Die schleswig-holsteinische Gesundheitsministerin und GMK-Vorsitzende Prof. Kerstin von der Decken (CDU) betont dagegen, dass die Bemühungen um einen zukunftsfähigen und krisenresilienten ÖGD nicht mit Ablauf des Paktes Ende 2026 beendet sein dürften. Es sei nicht akzeptabel, wenn sich der Bund davon einseitig verabschieden möchte. Die GMK hat ihrerseits beschlossen, dass das Bundesgesundheitsministerium und die Länder den Dienst über das Jahr 2027 hinaus weiterzuentwickeln haben. Beschluss 8.2 sieht dafür eine gemeinsame Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Abteilungsleiterebene vor.

Nur ein Strohfeuer?

Begrüßt wird der GMK-Beschluss vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Dessen Vorsitzende Dr. Kristina Böhm befürchtet angesichts der auslaufenden Förderung durch den Bund und der desolaten Haushaltslage in den Kommunen, dass Stellen in den Gesundheitsämtern wieder auslaufen beziehungsweise abgebaut werden. Dabei brauche Deutschland eine nachhaltige und dauerhafte Verbesserung der Personalsituation im ÖGD. „Die Förderung für den ÖGD darf kein Strohfeuer bleiben“, appelliert sie.
Eine nachhaltige Stärkung und zukunftssichere Finanzierung des ÖGD verlangt auch Dr. Klaus Reinhardt auf einer Fachtagung der Bundesärztekammer (BÄK). Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche, die mit Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung einhergehen, werde der ÖGD als dritte Säule des Gesundheitssystems zunehmend wichtiger, ist der BÄK-Präsident überzeugt. Der ÖGD müsse resilienter werden, um den künftigen Krisen – wie der Verschärfung sozialer Ungleichheit, dem Klimawandel und der befürchteten Zunahme von Epidemien – Stand halten zu können.

„Jeder macht sein eigenes Ding“

Auf der Veranstaltung, die unter dem Motto „Public Health vor Ort: Gegenwart und Zukunft eines krisenfesten Öffentlichen Gesundheitsdienstes“ steht, stellt Dr. Matthias Gruhl diverse Schwierigkeiten des ÖGD dar. Das Grundproblem: Hierzulande gibt es nicht den einen ÖGD, sondern rund 360. „Jedes Gesundheitsamt, jede Kreisbehörde, jede Form, die sich irgendwie mit dem Thema befasst, macht ihr eigenes Ding.“ Aufgabenvielfalt „bis hin zur Aufgabenbeliebigkeit“ lautet seine Diagnose. Diese dürfte auch dadurch bedingt sein, dass der ÖGD verschiedene Rechtsebenen zu bedienen hat. Er sei abhängig vom Bundes- und Landesrecht sowie von kommunalen Strukturen, führt Gruhl aus. Die kommunale Unterordnung führe den ÖGD in finanzielle Konkurrenz zu anderen Ämtern, die vor Ort deutlich wichtiger seien. Gruhl – selbst Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen – kritisiert außerdem, dass der Schritt von der ärztlichen Ausrichtung hin zu Interdisziplinarität weitgehend verpasst worden sei. In diesem Zusammenhang erinnert er daran, dass das Faktum Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen noch immer ein „Seltenheitsphänomen“ sei. Die Zahl von Ärzten im ÖGD sei konstant niedrig und in den letzten Jahren auch nicht deutlich angestiegen, hält er fest.

Durchbruch in den Köpfen

Den Pakt sieht Gruhl vor diesem Hintergrund durchaus als Durchbruch: Viel sei passiert – „in der Personalausstattung, im digitalen Bereich, in den Köpfen derjenigen, die für den Gesundheitsdienst zuständig sind, und auch im ÖGD selbst.“ Fachgesellschaften haben sich gegründet,  Stiftungsprofessuren wurden ins Leben gerufen. Fraglich ist jedoch, ob diese Aufbruchstimmung angesichts des Paktrückzuges vom Bund und der umstrittenen BIPAM-Installation bestehen bleibt. Wohlweißlich lässt Gruhl die von ihm aufgeworfene Frage, ob der ÖGD die Kraft der Krise nutzen wird oder ob durch Abwarten eine Rückkehr in die „graue Normalität der Bedeutungslosigkeit“ erfolgt, unbeantwortet. 


Weiterführender Link:

„Blick nach hinten“ – Eine Kritik am geplanten BIPAM von Dr. Thomas Götz und Prof. Rolf Rosenbrock

Wenn Überleben zur Glückssache wird

Zu oft übersehen: die seltenen Krebserkrankungen

Berlin (pag) – Zwar werden neue Fortschritte in der Onkologie kontinuierlich vermeldet, aber gerade bei den seltenen Krebserkrankungen ist die Situation immer noch äußerst unbefriedigend. Auf dem Kongress Vision Zero tauschen sich Expertinnen und Experten kürzlich über Defizite und Vorbilder aus. Patientenvertreter Markus Wartenberg hält fest: „Da gibt es ganz viel, was wir in den nächsten Jahren besser machen müssen.“

Annährend jeder vierte neue Krebspatient erkrankt hierzulande an einer seltenen Krebsform. Das sind rund 120.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Das Spektrum umfasst über 200 Diagnosen. Ein entscheiden-der Unterschied zwischen den häufigen und seltenen Krebsarten besteht hinsichtlich der Fünf-Jahres-Überlebensrate. „Mit 47 Prozent ist diese bei Rare Cancer signifikant schlechter als bei Common Cancer mit 65 Prozent“, berichtet Prof. Bernd Kasper bei Vision Zero.

© istockphoto.com, Sarawut
© istockphoto.com, Sarawut.

Netzwerke helfen

„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung
„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung

In seinem Impuls stellt der Ärztliche Geschäftsführer des Mannheim Cancer Centers die Herausforderungen seltener Krebserkrankungen am Beispiel der Sarkome dar. Dabei handelt es sich um seltene, bösartige Tumore, die vom Bindegewebe, Knochen und Muskeln ausgehen können. Genaue Zahlen zu Prävalenz und Inzidenz gibt es in Deutschland nicht, Experten gehen von bis zu 6.000 Fällen pro Jahr aus. Kasper weist auf die große Heterogenität dieser Krebsform hin: Es gebe 175 Subgruppen und -typen mit jeweils ganz unterschiedlichen Behandlungsstrategien. Rezidive könnten sogar noch nach 20 Jahren auftreten.
Trotz schwieriger Ausgangslage kann Kasper von einigen Erfolgen berichten: Mittlerweile existieren rund 20 zertifizierte Sarkom-Zentren, auch eine S3-Leitlinie gibt es. Auf europäischer Ebene haben sich zudem eine Reihe von Netzwerken zu seltenen Krebserkrankungen etabliert. Der Onkologe nennt unter anderem RareCareNet und Rare Cancers Europe. Als jüngste Initiative hebt er die 20 European Reference Networks (ERN) hervor. Davon kümmern sich vier um das Thema Krebs, das ERN EURACAN fokussiert sich auf seltene solide Krebsarten im Erwachsenenalter. Solche Netzwerke seien wichtig, um Informationen, aber auch Proben auszutauschen, heißt es auf der Veranstaltung.

„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung
„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung

Späte und falsche Diagnosen

Patientenvertreter Markus Wartenberg, Vorstand Deutsche Sarkom Stiftung, bedauert, dass der Schwung von der europäischen Ebene nicht in Deutschland angekommen zu sein scheint. Die von ihm vorgetragene Liste an Defiziten ist lang: „Wir sehen vor allem späte und falsche Diagnosen“, zum Teil seien die Patienten vier bis sechs Monate oder noch länger unterwegs. Es fehle die „Awareness“ bei den Erstbehandlern, dass Schwellungen etwas Bösartiges sein könnten. Probleme gebe es auch in der Pathologie, so Wartenberg, der den Anteil falscher Diagnosen auf 20 Prozent beziffert.
Stichwort Therapie: Probleme bereiten gerade in der Anfangsphase falsch durchgeführte Behandlungen und Biopsien sowie Operationen, die nicht von Experten durchgeführt werden. Wartenberg kritisiert insbesondere, dass nur maximal 40 Prozent der Patienten an zertifizierten Zentren behandelt werden. Die meisten würden dort viel zu spät landen, nach dem Motto: „Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht ein Sarkomzentrum.“ Die Folge: Den Betroffenen werden Spezialwissen und -verfahren sowie klinische Studien vorenthalten. Hinzu komme ein Mangel an innovativen Therapien und an organisierten Daten- und Gewebesammlungen, so der Patientenvertreter.

Keine zweite Chance

Aus Perspektive der Betroffenen prangert Wartenberg an, dass die bisherigen Erfolge vor allem auf Einzelinitiativen basierten, die Krebs-Community und die Politik hätten organsiert bisher zu wenig getan. Beispielhaft nennt er den nationalen Krebsplan, der seltene Formen nicht berücksichtige. Er fordert daher mehr Verbund, mehr Zusammenarbeit: „Es kann nicht sein, dass bei Patienten mit seltenen Krebserkrankungen das Überleben zur Glückssache wird.“ Je nachdem, wo sie zuerst behandelt werden, falle die Prognose günstiger oder weniger günstig aus. „Der erste Behandlungsschritt hat keine zweite Chance“, ergänzt Prof. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Kinderonkologie und -hämatologie der Charité Berlin. Wartenberg fordert eine Multi-Stakeholder-Initiative für die seltenen Krebsarten, eine nationale Strategie oder einen Aktionsplan, „um das ganze wirklich voranzutreiben“.

Eine Blaupause könnte die onkologische Pädiatrie sein, von der Privat-Dozentin Dr. Ines Brecht, Universitätsklinikum Tübingen, auf dem Kongress berichtet. Man habe effektive Strukturen und ein enges Netzwerk aufgebaut, die als vorbildliches Modell für den Umgang mit seltenen Tumoren dienen könnten, so die Fachärztin für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Durch kontinuierliches Sammeln von Daten und Proben sei es gelungen, die Evidenz für Behandlungen konsequent zu verbessern. Als Beispiel nennt sie die Heilungsraten bei Leukämie, die in den 70er- und 80er-Jahren bei bis zu 40 Prozent lagen. Jetzt beträgt die Rate über 90 Prozent – „und zwar langfristig mit wenig Nebenwirkungen“, berichtet Brecht. Stolz ist die Pädiaterin auch darauf, dass 90 Prozent der jungen Patienten in klinischen Studien und Registern eingeschlossen sind. „Davon sind wir im adulten Bereich meilenweit entfernt“, sagt Sarkom-Experte Kasper. Von den zertifizierten Zentren werde gefordert, dass gerade einmal fünf Prozent der Patienten in Studien eingeschlossen sind.

Trotz beeindruckender Erfolge müssen aber auch in der Kinderonkologie noch einige Herausforderungen gemeistert werden. Brecht spricht beispielsweise von Datenschutzregularien, „die uns erdrücken.“ Sie verlangt zu dem Thema eine ethische Debatte, in die auch Patienten eingeschlossen werden. Die Klinikerin fragt: „Ist es moralisch, den Datenschutz so wichtig werden zu lassen, dass Patienten nicht mehr am medizinischen Fortschritt teilhaben?“

RCT oder anders denken?
Stichwort Studien: In der onkologischen Pädiatrie habe man im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (Randomized controlled trials, RCT) Standardtherapien gegeneinander verglichen und so einen „soliden Fortschritt“ erzielt, berichtet Brecht. Sie sagt aber auch, dass man bei besonders seltenen Tumoren anders denken müsse. Unter europäischen Forschern gelte daher: „If you work on frequent cancers, do randomised trials. If you work on rare cancers, find friends.“ berichtet PD Dr. Ines Brecht vom Universitätsklinikum Tübingen.

Jeder darf alles?
Der Onkologe Prof. Peter Reichardt kritisiert, dass jeder Arzt Erwachsene mit seltenen Krebsbehandlungen behandeln dürfe. Das Motto laute: „Jeder glaubt, das kriegen wir schon hin.“ Der Leiter des Sarkomzentrums Berlin-Brandenburg am Helios Klinikum Berlin-Buch befürwortet daher regulierende Eingriffe, die eben dies verhindern. Reichardt wird auf dem Kongress deutlich: „Dass ein approbierter Arzt in der Medizin, von Mindestmengen abgesehen, fast alles darf, auch jedes Medikament verordnen, ist in jeder anderen Branche undenkbar.“