Innovationszugänge modernisieren

Genomsequenzierung, ATMPs und Co. verlangen nach neuer Regulatorik

Berlin (pag) – Extrem ausgeklügelte Mechanismen regulieren hierzulande die Einführung von Innovationen in die Welt der GKV. Diese unterscheiden sich nicht nur nach Art der Innovation, sondern auch nach den Sektoren. Das Problem: Die Regularien werden immer komplexer und die Innovationen drohen im Regulationsdickicht verloren zu gehen. Zeit, neue Wege zu beschreiten.

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Ein neuer Weg wird mit dem Modellprojekt Genomsequenzierung beschritten, das im vergangenen Jahr gestartet ist. Das Ziel: Patienten mit einer seltenen Erkrankung oder einer fortgeschrittenen Krebserkrankung soll mit einer schnelleren Diagnosestellung oder einer zielgerichteteren Therapierempfehlung geholfen werden. Mit dem 2021 verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wurde die rechtliche Grundlage gelegt, um die hochmoderne und komplexe Diagnostik in der Versorgung zu erproben und mögliche zukünftige Anwendungsfälle zu identifizieren. Vertragspartner sind der GKV-Spitzenverband und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD). Es nehmen über 20 Universitätsstandorte teil, der Kassenverband zahlt für die fünfeinhalbjährige Laufzeit 700 Millionen Euro. Für VUD-Generalsekretär Jens Bussmann ist das Modellvorhaben Neuland. Aber ohne die Initiative wäre die Genomsequenzierung „lost in regulation“. Er sieht das Projekt daher als ein positives Beispiel für die Einführung von Innovationen. So äußert sich Bussmann im vergangenen Jahr auf dem genomDE-Symposium. Seit April dieses Jahres steht fest, dass genomDE bis Ende 2025 fortgeführt wird. Dahinter steht die Absicht, die bisher für das Modellvorhaben Genomsequenzierung erarbeiteten Konzepte weiter auszubauen.

Anspruchsvolle Finanzierungsfragen

Innovationen drohen im Regulationsdickicht verloren zu gehen. Zeit, neue Wege zu beschreiten. © iStock.com, gremlin; Bearbeitung: A. Fiolka

Tatsächlich soll der Ansatz des Modellprojekts demnächst „ein wenig kopiert“ werden, wie Thomas Müller vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei einer Tagung des Handelsblattes kürzlich verrät. Es geht um Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP), konkret wohl vor allem um CAR-T-Zelltherapien. Wichtig ist dem BMG-Abteilungsleiter Arzneimittel insbesondere, einen „bürokratiearmen Rahmen“ zu schaffen – sowohl für die Anwendung wie für die Eigenproduktion von CAR-T-Zellen. Auch die sehr anspruchsvollen Finanzierungsfragen sollen grundsätzlich geklärt und nicht mehr von jeder Klinik einzeln verhandelt werden.
Auf Nachfrage der Presseagentur Gesundheit erläutert Müller, dass es sich bei dem Modellvorhaben für universitäre ATMP-Innovationszentren um eine „Konzeptidee für einen weiteren innovativen Versorgungsansatz“ handele, mit dem Therapieoptionen im Bereich der ATMP in einem strukturierten, wissensgenerierenden und qualitätsgesicherten Versorgungsablauf und einem bundeseinheitlichen Erstattungsmodell Patientinnen und Patienten in spezialisierten universitären Einrichtungen zugänglich gemacht werden könnten. „Diese Konzeptidee wollen wir mit den Bundesoberbehörden – PEI und BfArM – und den Stakeholdern weiterentwickeln.“

ATMP-Register mitdenken

Mitgedacht und berücksichtigt werden sollen Müller zufolge auch das nach Paragraf 4c des Arzneimittelgesetzes zu erarbeitende Konzept zur Schaffung eines indikationsbezogenen ATMP-Registers sowie bereits vorhandene einschlägige Strukturen. Zu letzterem zählt insbesondere das vom Innovationsfonds geförderte Projekt INTEGRATE-ATMP (siehe Infokasten).

Was ist INEGRATE-ATMP?
Das Projekt INTEGRATE-ATMP entwickelt harmonisierte und qualitätsgesicherte Instrumente zur Sicherung der bestmöglichen Behandlungsqualität von Patientinnen und Patienten, die mit ATMPs therapiert werden. Dazu gehören strukturierte Pläne für die Vor- und Nachsorge, die in allen beteiligten Zentren angewendet werden. Eine telemedizinische Kommunikationsplattform und App sollen den direkten Austausch aller Beteiligten (Patienten, Ärzte und Case Managern) ermöglichen bzw. vereinfachen. Das im Rahmen des Projekts entstehende Register ist den Verantwortlichen zufolge so angelegt, dass es Daten zu unterschiedlichen Erkrankungen, die mit ATMPs behandelt werden, erfassen kann. Dabei soll es bereits bestehende Krankheitsregister nicht ersetzen, sondern mit ihnen verknüpft werden und in Zukunft auch um neue ATMP-Zulassungen erweiterbar sein.

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Modellvorhaben – sei es aktuell zur Genomsequenzierung oder zukünftig für ATMPs – zeigen, dass die bisherige Regulation neuartiger Innovationen derzeit offenbar an ihre Grenzen stößt. Beim AMNOG wird etwa intensiv darüber diskutiert, ob das Verfahren überhaupt noch zeitgemäß ist oder ein grundsätzliches Update benötigt. Die Grundsatzfrage, die dahintersteckt: Wie kann die Regulation von Innovationen möglichst schnell an den medizinischen Fortschritt angepasst werden? Wie passend ist sie für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie fürchtet etwa, dass der medizinische Fortschritt durch systemische Hürden ausgebremst werden könnte.

Nicht überzeugend funktioniert

Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel im BMG: „Wenn man zu komplex reguliert, erreicht man oft nicht das Angestrebte.“ © iStock.com, sesame

Dieser Aufgabe muss sich die neue Bundesregierung stellen, die im Koalitionsvertrag angekündigt hat, das AMNOG in Bezug auf Leitplanken und die personalisierte Medizin weiterentwickeln zu wollen. „Dabei ermöglichen wir den Zugang zu innovativen Therapien und Arzneien und stellen gleichzeitig eine nachhaltig tragbare Finanzierung sicher“, heißt es salomonisch.

Ob der Kurs der vergangenen Legislatur mit äußerst komplexen Regulierungen weitergeführt wird, dürfte dagegen eher fraglich sein. Im Bundesgesundheitsministerium scheint man von allzu komplexen Regulierungen derzeit nicht mehr angetan. Das legen zumindest Müllers Erfahrungen mit der Leitplanken-Regelung nahe. Er sagt bei der Pharma-Tagung: „Wenn man zu komplex reguliert, erreicht man oft nicht das Angestrebte.“ Insgesamt hätten die sehr komplexen Regeln zur Steuerung und Senkung der Arzneimittelausgaben – wie Leitplanken und der Kombinationsabschlag – nicht überzeugend funktioniert und zudem „politische Antikörperreflexe“ hervorgerufen. Zu AMNOG 2.0 gibt der ministerielle Abteilungsleiter Arzneimittel zu Protokoll, dass er nicht daran glaube, „dass wir beim AMNOG, was die Preisfindung angeht, noch wesentlich weiterkommen“. Das Verfahren habe zwar für die Evidenz viel gebracht, in Sachen Ausgabendämpfung funktioniere es allerdings nur bescheiden.

Vielleicht ist die Zeit reif für einen mutigen Neuaufschlag.

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Mehr Versorgungsperspektive im AMNOG
Bei einem Panel der Pharma-Tagung des Handelsblattes steht das Thema mehr Versorgungsperspektive im AMNOG im Mittelpunkt.
•  Für Han Steutel, Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (vfa), eine wichtige Ergänzung, um das Verfahren auf künftige Herausforderungen vorzubereiten.
•  Sabine Jablonka, Leiterin der Abteilung Arznei-, Heil- und Hilfsmittel beim AOK-Bundesverband, ist skeptisch, die Versorgungsperspektive sei bereits intensiv im AMNOG abgebildet. „Versorgungsbedarf statt Evidenz – das wird nicht funktionieren.“ 

•  Dr. Juliane Cornelsen, Leiterin der Abteilung Arzneimittel bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, hat dagegen den Eindruck, dass die therapeutische Relevanz dem Verfahren über die Jahre etwas abhandengekommen sei. Sie wünscht sich schnellere Anpassungen, etwa bei Endpunkten. „Da ist die Methodik aber an vielen Stellen sehr langsam.“
•  Prof. Bernhard Wörmann von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie fordert angesichts vieler maligner Erkrankungen, die mittlerweile chronifiziert seien: „Wir müssen Overall-Survival in der Onkologie wegkommen.“ Der medizinische Leiter der Fachgesellschaft hebt insbesondere die Bedeutung des Endpunktes Lebensqualität hervor.

Wie viel ist zu viel?

Das Ausmaß von Überversorgung

Berlin (pag) – Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat kürzlich eine Studie zur Überversorgung veröffentlicht. Darin werden 24 Leistungen mit medizinisch zweifelhaftem Nutzen identifiziert. Der Appell: Ärzte sollten künftig kritischer mit der Indikationsstellung umgehen. Mehr zu den Inhalten und Hintergründen der Analyse.

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Die Messung der Schilddrüsenhormone fT3/fT4 bei Personen mit bekannter Schilddrüsenunterfunktion und die Bestimmung von Tumormarkern bei Patienten ohne Krebsdiagnose werden trotz fragwürdigen medizinischen Nutzens häufig durchgeführt. So lautet ein Ergebnis der Zi-Studie, die in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin und der Techniker Krankenkasse (TK) entstanden ist. Die Wissenschaftler haben dabei 24 vermeidbare Leistungen identifiziert, die durch ihre häufige Abrechnung enorme Kosten produzieren. Die Analyse auf der Basis von TK-Abrechnungsdaten stuft dabei von 10,6 Millionen untersuchten jährlichen Leistungen durchschnittlich 430.000 bis 1,1 Millionen in die Kategorie „Leistung mit geringem medizinischen Wert“ ein. Das sind zwischen vier und 10,4 Prozent der untersuchten Leistungen. Es fallen dadurch bei den ambulanten Ausgaben der Krankenkasse pro Jahr zwischen zehn und 15,5 Millionen Euro vermeidbare Kosten an.

Vorbild aus den USA

Über das Thema Überversorgung wird seit Langem im deutschen Gesundheitswesen diskutiert. Bereits 2001 beschäftigt sich der Sachverständigenrat in einem Gutachten mit Über-, Unter- und Fehlversorgung. Wichtige Impulse gehen auch von der 2012 gestarteten US-amerikanischen Initiative „Choosing Wisely“ aus. Unter Leitung der amerikanischen Gesellschaft für Innere Medizin engagieren sich dabei mehr als 60 Fachgesellschaften: Für jedes Fachgebiet nennen die Expertinnen und Experten jeweils fünf diagnostische Tests und Therapien, die trotz fehlender Evidenz häufig durchgeführt werden – ohne dass Patienten davon profitieren, sie könnten sogar Schaden nehmen. Jede dieser Listen ist gestützt durch die evidenzbasierten Empfehlungen klinischer Leitlinien oder zumindest durch den Konsens von Experten.

Das berichtet die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), als sie sich vor zehn Jahren von „Choosing Wisely“ inspirieren lässt und die Aktion 
„Klug entscheiden“ ins Leben ruft. Die Initiative wendet sich gegen Über- und Unterversorgung und soll die Indikationsqualität verstärken, ist auf der DGIM-Website nachzulesen. Mittlerweile nehmen zwölf Fachgesellschaften daran teil und erstellen wie ihre amerikanischen Kollegen praktische Empfehlungen. Die Positiv- und Negativempfehlungen werden von einer Konsensus-Kommission der DGIM begutachtet und nach Revision verabschiedet. Von der Ankündigung des damaligen Generalsekretärs der Fachgesellschaft, Prof. Ulrich Fölsch, auch Krankenkassen und Patientenorganisationen mit ins Boot zu holen, hat man dagegen nichts mehr gehört.

Das Ausmaß von Überversorgung

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Zwar adressieren sowohl die aktuelle Zi-Studie als auch die DGIM-Initiative das Problem der Überversorgung, doch der Ansatz unterscheidet sich grundlegend: Während es der Fachgesellschaft darum geht, konkrete Hilfen bei der Indikationsstellung zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu entwickeln, ist es das Ziel des Zi-Projekts, die quantitative Bedeutung in Deutschland für ein Indikatorenset medizinisch potenziell unangemessener Leistungen abzuschätzen. Dieses Indikatorenset sollte durch Routinedaten abgebildet werden können, betont das Zi gegenüber der Presseagentur Gesundheit.

Dem Zi zufolge wird mit der Studie eine Forschungslücke geschlossen, da die bisherigen Arbeiten, die das Ausmaß potenziell unangemessener Leistungen in Abrechnungsdaten quantifiziert haben, aus den USA, Kanada und Australien stammten. „In Deutschland blieb das Ausmaß einer potenziellen Überversorgung weitgehend unerforscht“, so das Zi.

Schuldzuweisungen greifen zu kurz

Bleibt die Frage, was beide Initiativen in der realen Versorgungswelt bewirken können. Das Zentralinstitut hat eine eindeutige Position: Für den Erfolg ist eine „sachliche Diskussion auf Basis wissenschaftlicher Evidenz“ erforderlich. Skandalisierende Berichterstattung greife nicht nur inhaltlich zu kurz, sondern führe zu Abwehrreaktionen und zu einer mangelnden Offenheit, konkrete Verbesserungsansätze zu diskutieren. Bei der Versorgung mit potenziell unangemessenen Leistungen müsse ein komplexes Geschehen aus sich verändernden medizinischen Standards, Grenzsituationen, Patientenwünschen, finanziellen Anreizen, Versorgungsstrukturen sowie regulatorischen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. „Schuldzuweisungen allein an die Ärzteschaft greifen zu kurz“, so das Zi.

Weitere Forschungsprojekte notwendig
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) ist Kooperationspartner der Zi-Studie. Dr. Monika Nothacker 
begrüßt als Vertreterin der AWMF die Initiative, Empfehlungen in Bezug auf Abbildbarkeit in Daten zu prüfen, ausdrücklich. „Grundsätzlich sind für alle diese Initiativen laienverständliche Formate zu begrüßen und eine Überprüfung der Umsetzung“, sagt sie außerdem. Erstere seien zum Teil aufwändig, hier bräuchten die Fachgesellschaften Unterstützung, was über die öffentliche Förderung von Leitlinien gelingen könne. Die Messung der Überprüfung gestalte sich aufwändig, weil viele der Empfehlungen auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung abzielen. Diese sei nicht aus Routinedaten zu erheben. „Dazu benötigen wir weitere Forschungsprojekte und Lösungen für zukünftige Befragungen von Patientinnen und Patienten.“

Wie es weitergeht

Ein Folgeprojekt geht diesen Weg weiter und fokussiert sich auf Entscheidungshilfen. Das Ziel von DIAMANT-SD – SchilddrüsenDIagnostik in der AMbulANTen Versorgung – ist die Entwicklung und Machbarkeitsprüfung einer Intervention mit Entscheidungshilfen zu schilddrüsenspezifischen Labortests und Sonografien. Eine sogenannte Diagnostik-Box soll Ärzten und Patienten Tools an die Hand geben, um Notwendigkeit und Risiken diagnostischer Tests mit größerer Sicherheit beurteilen zu können. Dadurch soll die Durchführung nicht notwendiger Diagnostik reduziert werden.

Weiterführender Link:
Die komplette ZI-Studie zur Überversorgung: Selecting indicators for the measurement of low-value care using German claims data.

Neuer Anlauf Registergesetz

Mögliche Inhalte, Herausforderungen und Chancen

Berlin/Köln (pag) – Inhalte des schon lange erwarteten Registergesetzes skizziert kürzlich Jana Holland, Bundesgesundheitsministerium (BMG), bei einer Veranstaltung von Pharma Deutschland. Durch das Ampel-Aus im vergangenen Jahr konnte der „fast fertige Referentenentwurf“ nicht mehr auf die Straße gebracht werden, berichtet sie.

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Zur Erinnerung: Bereits 2020 veröffentlichte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen Rapid Report, der sich mit der Thematik befasst („Konzepte zur Generierung versorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a SGB V“). Für Holland ein Paradigmenwechsel. Ein Jahr später folgt das „Gutachten zur Weiterentwicklung medizinischer Register zur Verbesserung der Dateneinspeisung“, das die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) und das BQS Institut für Qualität & Patientensicherheit im Auftrag des Ministeriums erstellen. Der Koalitionsvertrag der Ampel verspricht dann ein Medizinregistergesetz. 2022 finden Stakeholderprozesse wie Fachgespräche und Workshops mit Registerbetreibern, Datennutzenden etc. statt, berichtet Holland, BMG-Referatsleiterin Medizinische Datenbanken und Register. 2023 werden im BMG Eckpunkte des Gesetzes formuliert, im vergangenen Jahr dann der nahezu fertige Referentenentwurf. „Dieses Thema ist schon sehr lang in unserem Haus in der Überlegung“, fasst sie die Vorgeschichte zusammen. Die Ausgangslage ist noch immer nahezu unverändert: Die Registerlandschaft zeichnet sich durch fehlende Transparenz aus, die circa 400 medizinischen Register sind äußerst heterogen, das ebenso heterogene Normengeflecht sorgt bei den nicht spezialgesetzlich geregelten Registern für Rechtsunsicherheiten.

Kein Korsett

„Wir wollen keines der Register in ein Korsett zwingen“, betont Jana Holland vom BMG. © privat

Der Fokus des künftigen Gesetzes soll daher auf diesen Registern liegen. Die Kernelemente lauten: Transparenz, Qualität, Datenverarbeitung und -nutzung. Zur Qualifizierung der Register sind nach derzeitigem Stand Mindestkriterien vorgesehen, deren Erfüllung allerdings nur auf freiwilliger Basis vorgesehen ist, wie Holland betont. „Wir wollen keines der Register in ein Korsett zwingen.“ Sie spricht von einem Angebot, sich unter den „Schirm der Bundesgesetzgebung“ zu begeben – mit der Maßgabe, dann einen Qualifizierungsprozess zu durchlaufen. Es solle allerdings kein neues Qualifizierungsverfahren eingeführt werden, sondern man wolle bei bisher bereits stattfindenden Prüfungen ansetzen.

Auf diesen Mindestkriterien könnten für bestimmte Zwecke weitere Zusatzkriterien aufgesattelt werden – beispielsweise für das Thema Nutzenbewertung. Diese Zusatzkriterien werden aber nicht Teil des Registergesetzes sein, stellt die BMG-Vertreterin klar. Durch die Mindestkriterien werden die Register allerdings bereits für weitere Verfahren vorbereitet. Holland stellt als einen Vorteil der Qualifizierung die erleichterte Datenverarbeitung dar.

„Nicht nur an eine Daten-, sondern auch an eine Forschungsinfrastruktur denken“, lautet der Appell von IQWiG-Leiter Dr. Thomas Kaiser. © IQWiG

Nach bisherigen Überlegungen soll das Gesetz außerdem eine Zentralstelle für medizinische Register als „Kümmerer“ etablieren. Diese soll ausdrücklich nicht selbst Register betreiben, sondern Prozesse wie das Registerverzeichnis begleiten oder das Qualifizierungsverfahren durchführen. „Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, den Schwerpunkt des Kümmerns auf die Forschung zu legen“, sagt später IQWiG-Leiter Dr. Thomas Kaiser in seinem Vortrag. „Nicht nur an eine Daten-, sondern auch an eine Forschungsinfrastruktur denken“, lautet sein Appell auf der Veranstaltung.

Stichwort Datenzusammenführung und Datennutzung: Dafür sei die Einführung eines Unique Identifiers wichtig. 
Man brauche eine Nummer oder eine Kennziffer in den Registern, um Daten personengenau zusammenführen zu können. „Hier ist die Überlegung, allen Registern, auch denjenigen, die nicht qualifiziert sind, die Erhebung der Krankenversichertennummer zu ermöglichen.“ Dies sieht Holland als Einstieg in die sukzessive Einführung einer Forschungskennziffer, um derzeitige Datensilos verknüpfbar zu machen.

Für die Datenzusammenführung und Datennutzung ist die Einführung eines Unique Identifiers wichtig. Man brauche eine Nummer oder eine Kennziffer in den Registern, um Daten personengenau zusammenführen zu können. © iStock.com, 4zevar

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Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung, verlangt „wirksame Anreize, damit die Hersteller regelhaft vergleichende Daten erstellen“. © pag, Fiolka

Unterdessen hat das IQWiG das Ergebnis einer Workshop-Reihe europäischer Zulassungsbehörden und HTA-Agenturen zusammengefasst. Dr. Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung, verlangt „wirksame Anreize, damit die Hersteller regelhaft vergleichende Daten erstellen“. Ziel der Workshop-Reihe in 2024 als Vorbereitung auf das europäische HTA-Verfahren: ein gemeinsames Verständnis für methodische Herausforderungen und Lösungen bei der Bewertung neuer Arzneimittel zu entwickeln. In einem Positionspapier fassen die Beteiligten folgende Kernpunkte zusammen, die den gemeinsamen Evidenzbedarf besser decken sollen:

  • Bei der Bewertung von Nutzen/Risiko und Zusatznutzen von Arzneimitteln bevorzugen Zulassungsbehörden und HTA-Agenturen randomisierte Studien.
  • Randomisierte Studien in Registern und in der Routine-
versorgung bieten erhebliche Chancen, Daten aus klinischen Studien vor der Zulassung zu ergänzen, um Entscheidungen zur Zulassung und im Rahmen von HTA zu unterstützen.
  • Die Verbesserung der Erfassung, Analyse und Berichterstattung eines weiteren Spektrums von Endpunkten – über primäre Studienendpunkte hinaus – kann die Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung erheblich verringern.
  • Bei der Verwendung von Beobachtungsdaten aus der Routineversorgung zur Schätzung von Effekten durch indirekte Vergleiche gibt es erhebliche ungelöste Probleme.

Neuartige Studiendesigns

Für herausfordernde Situationen wie kleine Patientenpopulationen werden neuartige randomisierte Studiendesigns als vielversprechende Alternative zu einarmigen Studien angesehen. Als Beispiele nennt Wieseler: nahtlose Phase-I-II-Designs in der frühen klinischen Entwicklung, mehrarmige Plattformstudien in Indikationen mit sich entwickelnden Behandlungsoptionen und andere flexible, adaptive Designs, die die Randomisierung beibehalten und gleichzeitig die Anforderungen an den Stichprobenumfang und die Entwicklungszeit verringern können. Sie betont außerdem das Potenzial, Daten aus klinischen Studien vor der Zulassung durch „randomisierte Studien in Registern und in der Routineversorgung zu ergänzen“, um Informationen für die Entscheidungsfindung bei der Zulassung und für HTA zu gewinnen.

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Zukunftsperspektive Registerbasierte Interventionsstudien
Aufbauend auf dem Fundament des Medizinregistergesetzes könnten weitere Bausteine – Stichwort Zusatzkriterien – entwickelt werden. Wer diese festlegt? An dem Punkt sei man noch nicht, so Holland. Sie persönlich sehe dies aber lieber in den Händen von denjenigen, die an den Verfahren näher dran seien. Derzeit fördert das BMG noch bis Anfang 2026 das Forschungsvorhaben „Registerbasierte Interventionsstudien in Deutschland – Anforderungen, Möglichkeiten, Limitationen und Perspektiven“ (REGINT). Dort sollen Anknüpfungspunkte gefunden werden, die in das Registergesetz einfließen können.

Herausforderung Record Linkage
Auf das Thema Record Linkage geht auch PD Dr. Anne Regierer, RABBIT-SpA, ein. Sie berichtet vom BMG-geförderten Kooperationsprojekt LinKR. Dabei sollen Daten von drei medizinischen Registern – RABBIT-Register, Multiple Sklerose (MS)-Register, Deutsches Mukoviszidose-Register – mit Daten der klinischen Krebsregister deutschlandweit über einen Kohortenabgleich und ein Datenlinkage verknüpft werden. Bisher gebe es keine Unique Identifier. „Das bedeutet, der Prozess ist ziemlich kompliziert“, so Regierer. Ein halbes Jahr habe es allein gedauert, das Datenschutzkonzept zu entwerfen.

 

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Weiterführender Link:
Heads of HTA Agencies Group, European Medicines Agency: „Joint HTAb-regulatory perspectives on understanding evidence challenges, managing uncertainties and exploring potential solutions“ vom 1. April 2025, PDF, 7 Seiten

Bauplan für die Gesundheit der Zukunft

Experten plädieren für harten Reformkurs

Berlin (pag) – Eine beginnende Zeitenwende im Gesundheitswesen beobachten die drei Professoren Christian Karagiannidis, Boris Augurzky und Mark Dominik Alscher. Um angesichts der vielfältigen Probleme weiterhin eine gute Gesundheitsversorgung sicherzustellen, brauche es tiefgreifende Reformen und eine gesamtgesellschaftliche Transformation. „Wir haben vier Jahre Zeit, um den Turnaround zu schaffen“, sagt Karagiannis bei der Vorstellung eines gemeinsamen Buches.

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„Die Gesundheit der Zukunft“ heißt die Publikation, welche die drei kürzlich bei der Robert Bosch Stiftung in Berlin vorgestellt haben. Deren Zweck umreißt Intensivmediziner Karagiannidis mit wenigen Worten: Die Politik brauche konkrete Reformvorschläge. Alles, was auf der Metaebene bleibe, versickere häufig. Daher will er das Buch als eine Art Bauplan für eine bessere Zukunft verstanden wissen.
Das deutsche Gesundheitswesen ist dem Mediziner zufolge ein System der absoluten Extreme. Extrem viele Arzt-Patienten-Kontakte, extrem viele Krankenhausbetten. Sehr viele Ressourcen werden hineingesteckt, aber am Ende komme „nicht so viel heraus, wie wir uns wünschen“, so Karagiannidis. Das liege nicht an einzelnen Playern, sondern am Gesamtsystem. Sein Credo: Mehr Geld werde die Probleme nicht lösen, sondern nur tiefgreifende Strukturreformen.

Vollkasko mit Selbstbeteiligung

Dafür werden im Buch zahlreiche Vorschläge unterbreitet. Einer der zentralen, den Krankenhausexperte Prof. Boris Augurzky an dem Abend vorstellt, lautet zum Thema Finanzierung: „Vollkasko mit statt ohne Selbstbeteiligung“. Die Experten plädieren dafür, die Vollkaskoversicherung im Gesundheitswesen um eine nach oben gedeckelte und sozial gestaffelte Eigenbeteiligung zu ergänzen. Konkret heißt es im Buch: „Pro Jahr sollten die ersten Ausgaben für Gesundheitsdienstleistungen bis maximal zur Höhe von einem Prozent des beitragspflichtigen Einkommens selbst bezahlt werden.“ Die Autoren rechnen vor, dass die Beitragsbemessungsgrenze (BBG) zur GKV in diesem Jahr bei 66.150 Euro liege. Der maximale Selbstbehalt betrage demnach 661,50 Euro pro Jahr für GKV-Versicherte mit einem Einkommen auf oder oberhalb der BBG. „Für die meisten Versicherten wird er teils deutlich niedriger liegen.“ Bei einem beitragspflichtigen jährlichen Einkommen von 25.000 Euro belaufe sich der maximale Selbstbehalt auf 250 Euro pro Jahr. Damit werde eine soziale Abfederung erreicht, heißt es weiter. Außerdem werden mitversicherte Familienangehörige als Einheit betrachtet, der Selbstbehalt beziehe sich daher auf die Familie als Ganzes.

QALYS moralisch geboten

Darstellung der QALYs für zwei Personen. Person A (blaue Fläche, ohne Behandlung) hat weniger QALYs als Person B (beige Fläche, mit Behandlung). Quelle: wikimedia, Jmarchn, CC BY-SA 3.0

Das Buchkapitel, in dem für die Selbstbeteiligung geworben wird, steht unter dem Titel „Wie wir das künftige System finanzieren“. Darin wird auch klargestellt, dass eine stärkere Steuerfinanzierung kein Heilmittel gegen ungebremste Ausgaben darstelle. Langfristig können sich die Autoren dagegen eine Zusammenführung von GKV und PKV vorstellen. Eine weitere Forderung von ihnen lautet: „Jede medizinische Maßnahme muss auf ihre Kosteneffizienz überprüft werden.“ Dafür bringen sie die sogenannten qualitätsadjustierten Lebensjahre (Quality Adjusted Life Years) ins Spiel.

QALYs sind für viele Akteure des Gesundheitswesens ein Schreckgespenst. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Prof. Josef Hecken, warnt seit Jahren vor deren Einführung, er lehnt QALYs als Rationierungsinstrument ab. Das Autorentrio verweist dagegen auf das britische NICE, das solche Bewertungen bereits seit Jahrzehnten durchführe. Dort werden neue Arzneimittel und neue Therapieformen ab einer bestimmten Summe an Kosten pro QALY nicht mehr verabreicht, außer in begründeten Sonderfällen. Augurzky, Alscher und Karagiannidis räumen ein, dass diese nüchterne Herangehensweise auf der Ebene eines Individuums moralisch fragwürdig erscheine. „Wenn man aber bedenkt, dass die Ressourcen, die für die Erbringung einer Leistung mit geringerem Nutzen aufgewandt werden, woanders fehlen, wo sie größeren Nutzen stiften könnten, wird klar, dass diese Vorgehensweise aus gesamtgesellschaftlicher Sicht dagegen moralisch sogar geboten ist.“

Was sind QALYs?
Mit QALYs kann man den Nutzen medizinischer Leistungen messen und mit anderen Leistungen vergleichen. Sie werden auch verwendet, um den erzielbaren Nutzen einer Leistung ihren Kosten gegenüberzustellen. Berücksichtigt werden die verlängerte Lebenszeit des Patienten durch die Therapie, aber auch die Lebensqualität in dieser Lebenszeit. Die Lebensqualität wird anhand eines Nutzwertfaktors bewertet, der zwischen null für die denkbar schlechteste und eins für die bestmögliche Lebensqualität liegt, heißt es in dem Buch. Der QALY errechnet sich aus der verbleibenden Lebenszeit multipliziert mit dem Nutzwertfaktor.

Das medizinisch Sinnvolle

Nach der Finanzierungsfrage nehmen die Autoren die „explodierenden Therapiekosten“ im folgenden Kapitel in den Blick. Explizit sprechen sie dort die jüngere Ärztegeneration an: Deren Aufgabe werde es sein, „kritisch zu hinterfragen, was medizinisch sinnvoll ist, und nicht, was technisch machbar ist“. Ein erster Schritt sei in diesem Zusammenhang die Einrichtung von allgemein-internistischen Stationen in den Krankenhäusern, wo die Spezialisten bei Bedarf hinzugeholt werden. Zur Eindämmung der Therapiekosten wird eine Reihe verschiedener Instrumente aufgezählt. Eine Auswahl:

  • Die Autoren nennen etwa Mengengrenzen. Dabei wird für bestimmte Eingriffe und Therapien je Leistungserbringer ein Gesamtbudget festgelegt, das nicht überschritten werden darf. Ergänzend brauche es Referenzgremien für Einzelfallentscheidungen, wenn der Deckel erreicht sei.
  • Konsequent sollen für neue Arzneimittel Kosten-Nutzen-Bewertungen angewendet werden. Diese Möglichkeit ist gesetzlich sogar möglich, doch zur Anwendung ist dieses Instrument bisher noch nie gekommen.
  • Die Experten plädieren außerdem dafür, das 
„Orphan-Drug-Privileg“ im Rahmen des AMNOG-Verfahrens zu streichen. Bislang gilt für Arzneimittel gegen seltene Leiden automatisch ein Zusatznutzen als belegt.
  • Ein weiteres Stichwort lautet Preisgrenze: Nach den Vorstellungen der Autoren definiert künftig der Gemeinsame Bundesausschuss, wie viel ein zusätzlich gewonnenes Lebensjahr kosten darf. „Dieser Wert dient den Pharmafirmen automatisch als Richtschnur für ihre Preisfestsetzung.“

Die Goldenen Jahre

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Auch für andere Bereiche des Gesundheitswesens wie Prävention, Public Health oder Künstliche Intelligenz und elektronische Patientenakte unterbreiten die Autoren zahlreiche Reformvorschläge. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch der Appell für tiefgreifende und notwendige strukturelle Umbauten. Diese seien bislang versäumt worden, weil das nötige Geld immer ausreichend vorhanden gewesen sei. Dies diente zur Lösung jedes Problems, „insbesondere auch, um Konflikten aus dem Weg zu gehen“, schreiben die Autoren. Damit ist nun Schluss. Karagiannidis, Augurzky und Alscher sind überzeugt, dass die „Goldenen Jahrzehnte des Gesundheitswesens“ mit schier unerschöpflichem Aufbau von neuen Angeboten, hohen Ausgaben und sehr hohen Gehältern jetzt ein jähes Ende finden.

 

Die Autoren
• Prof. Christian Karagiannidis ist praktisch tätiger Internist, Pneumologe und Intensivmediziner. Er ist Mitglied der Krankenhaus-Regierungskommission sowie an der Universität Witten/Herdecke.
• Prof. Boris Augurzky ist Gesundheitsökonom und gesundheitspolitischer Sprecher des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung RWI und ebenfalls Mitglied der Krankenhaus-Regierungskommission. Er leitet die hcb GmbH sowie die Rhön Stiftung.
• Prof. Mark Dominik Alscher ist Geschäftsführer des Bosch Health Campus mit dem Robert Bosch Krankenhaus.

 

Ignorierte Bedürfnisse

Wie Krebsüberlebende nach der Akuttherapie durchs Raster fallen

Berlin (pag) – Viele Krebsbetroffene kämpfen auch Jahre nach der ersten Diagnose mit Spät- und Langzeitfolgen. Neben körperlichen und psychischen Einschränkungen berichten Betroffene zudem von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung. Ganzheitliche und strukturierte Versorgungsangebote sind noch rar. Allmählich kommt aber Bewegung in das Thema Survivorship.

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Die Situation für Menschen mit einer Krebserkrankung hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Neue Therapien, Frühuntersuchungsprogramme und Fortschritte bei der Diagnostik sorgen dafür, dass die Krankheit heutzutage nicht mehr automatisch ein Todesurteil ist. Bei einer Reihe von Tumorerkrankungen in Deutschland überlebt mittlerweile mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre oder länger. Durch den medi-zinischen Fortschritt ergeben sich damit völlig neue Herausforderungen, auf die das Versorgungssystem allenfalls punktuell vorbereitet ist. Eine Gesamtstrategie fehlt. Die Bedürfnisse von Krebsüberlebenden werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen, kritisiert etwa Prof. Volker Arndt, der die Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet.

Andauernde Angst vor dem Rückfall

Zur Einordnung: Etwa 4,5 bis fünf Millionen Menschen mit aktiver oder überstandener Krebserkrankung sind in Deutschland mit vielzähligen Langzeit- und Spätfolgen konfrontiert, welche teilweise erst Jahre nach der Krebstherapie auftauchen können, so die 2018 eingerichtete Expertengruppe „Langzeitüberleben nach Krebs (AG LONKO)“ des Nationalen Krebsplans. Für drei Millionen von ihnen liegt die Krebserkrankung mindestens fünf Jahre zurück – damit fallen sie unter die Kategorie Langzeitüberlebende, häufig gelten sie als „geheilt“. Und dennoch: Der Krebs überschattet für viele von ihnen auch ein halbes Jahrzehnt später noch das alltägliche Leben. In Form chronischer Schmerzen und ‚Fatigue‘ zum Beispiel, in Gestalt von Herzerkrankungen, Lymphödemen oder als Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Psychisch steht für viele Langzeitüberlebende eine andauernde Angst vor einem Rezi-div auf der Tagesordnung. Zu den häufigen Langzeit- und Spätfolgen gehören daher Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.

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Angebot endet mit Akutphase

Gerade die psychische Unterstützung kommt bei den Krebsüberlebenden häufig zu kurz. Das kritisiert etwa Brustkrebsüberlebende Dr. Cindy Körner (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 14). In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie bestehe an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. „Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie“, so Körner. Sie geht davon aus, dass sich aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden dieser Mangel künftig eher noch verschärfen wird. Doch gerade in dieser Phase nach der Akuttherapie stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. „Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.“

Lost in Transition

Ein weiteres Problem besteht den Betroffenen zufolge darin, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologinnen und Onkologen verwiesen auf die jeweiligen Fachärztinnen und Fachärzte, die auf ihr Gebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. „Da fühlt man sich oft hilflos und verloren“, sagt Körner. Survivorship-Forscher Arndt vom DKFZ bestätigt das Problem. Die Behandler in der Akutphase verlieren dem Experten zufolge oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. (lesen Sie hierzu das Interview auf Seite 17). „Es kann dann eine ‚Lost in Transition‘-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten.“
Keine systematische Bedarfserfassung

Die fehlende Koordination beziehungsweise Ganzheitlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Thema Survivorship. Das zeigt sich auch an den Leitlinien der Fachgesellschaften, die zwar in zahlreichen Fällen Vorgaben zum Thema Nachsorge enthalten. Der Fokus liege aber in erster Linie auf dem Erkennen von Tumorrezidiven, nur vereinzelt würden ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen adressiert, so Arndt. Psychosoziale Aspekte seien zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, gingen aber im Behandlungsalltag oft unter.

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Rufe nach dem „Recht auf Vergessen“ Zum Thema Survivorship gehören auch die sozialen und ökonomischen Folgen der Erkrankung – etwa die eingeschränkte berufliche Perspektive für Cancer Survivors. Besonders gravierend können sich die beruflichen Langzeitfolgen für junge Menschen, die an Krebs erkranken, darstellen. Häufig diagnostizieren Ärzte ihnen die Erkrankung mitten in der Berufsausbildung oder in einer Phase, in welcher die beruflichen Aufstiegschancen definiert werden.
Die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“ fordert unter anderem ein „Recht auf Vergessenwerden“. Obwohl die jungen Betroffenen nach wissenschaftlichen Standards längst als geheilt gelten, erfahren viele von ihnen Benachteiligungen gegenüber Gleichaltrigen. So werden jungen Betroffenen beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kreditaufnahmen oder Verbeamtungen verwehrt. Auch beim Thema Adoption werden ehemals erkrankte junge Menschen benachteiligt.

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Die Arbeitsgruppe LONKO vom Nationalen Krebsplan fasst die Situation wie folgt zusammen: Unter Expertinnen und Experten bestehe ein hoher Konsens darüber, „dass das deutsche Versorgungssystem für Langzeitüberlebende bislang keine adäquat strukturierten und ganzheitlichen Versorgungsangebote systematisch vorhält“. Zwar gebe es viele unterschiedliche Versorgungsangebote, aber keine ganzheitlichen Survivorship-Programme. Ein Grund dafür: Über die verschiedenen Angebote hinweg finde keine systematische Bedarfserfassung der Situation und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden statt. „Es fehlt dementsprechend eine Instanz, die einen systematischen Überblick über die Situation und die Bedarfe und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden hat und die eine bedarfsgerechte Versorgung steuern und eine gezielte Inanspruchnahme spezifischer Angebote initiieren könnte.“

Inzwischen haben einige Akteure reagiert. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und die Deutsche Krebshilfe haben beispielsweise Forschungsprogramme ausgeschrieben. Das Programm der Krebshilfe umfasst ein Budget von drei Millionen Euro. Ende August 2024 veröffentlicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung Förderrichtlinien für „Cancer Survivor-ship“-Projekte, die sich auf molekulare Ursachen und Risikofaktoren sowie molekulare Prädikations- und Präventionsmaßnahmen konzentrieren. Survivorship ist außerdem ein Schwerpunktthema in der zweiten Hälfte der Dekade gegen Krebs.

Auf der Forschungsebene tut sich somit einiges. Bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse der Wissenschaftler möglichst rasch ihren Weg in die Versorgung finden, denn der Druck dürfte mit einer kontinuierlich steigenden Zahl von Krebsüberlebenden wachsen. Rasche Lösungen sind allerdings nicht zu erwarten, dazu ist die Gruppe der Betroffenen zu heterogen. Zwar eint sie alle die Erfahrung einer Krebsdiagnose, aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind höchst unterschiedlich. Schnellschüsse nach dem Motto „One fits all“ dürften daher zum Scheitern verurteilt sein.

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Chancen durch digitale Gesundheitsdaten DKFZ-Forscher Arndt verknüpft auch mit dem Gesundheitsdatennutzungs-
gesetz Hoffnungen. Die Deutschen Krebsregister haben dem BMG im Verbund ein Konzept zur Integration detaillierter Daten zu den Langzeit- und Spätfolgen vorgeschlagen. Hintergrund ist das „Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten“ vom August 2021, welches die systematische Erfassung von Langzeit- und Spätfolgen von Krebserkrankungen anstrebt. Damit soll der Rückstand bei den empirischen Daten im Vergleich zu etwa den skandinavischen Ländern geschlossen werden.
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Gesundheitspolitischer Wettstreit

Stakeholder und Parteien positionieren sich zur Bundestagswahl

Berlin (pag) – Die Wunschliste der Stakeholder im Gesundheitswesen an eine neue Bundesregierung ist lang. Ganz oben steht unter anderem eine Patientensteuerung. Aber auch eine auskömmliche Finanzierung der GKV ist den Verbänden wichtig. Der eine oder andere Punkt findet sich auch in den Wahlprogrammen der Parteien mit den aussichtsreichsten Chancen auf Einzug ins Hohe Haus wieder.

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SPD, Union, Grüne und FDP sind sich im Wettstreit zur Bundestagswahl einig: Eine Patientensteuerung in der ambulanten Versorgung ist bitter notwendig. Während Union, Grüne und FDP Hausärzte und Kinderärzte federführend in einem Primärversorgungssystem vorsehen, bleibt die SPD ungenauer und spricht lediglich von „bedarfsgerechter Steuerung“.
Das Bekenntnis dürfte die Vertragsärzteschaft und die Krankenkassen freuen, sprechen sie sich doch auch für eine Patientensteuerung aus. In ihrem Positionspapier zur Wahl macht sich die Bundesärztekammer (BÄK) für ein Primärversorgungssystem stark. Der Status quo ohne Steuerung ist ihrem Präsidenten Dr. Klaus Reinhardt ein Dorn im Auge. Auf einer Pressekonferenz verweist er auf eine Erhebung seiner Heimatärztekammer Westfalen-Lippe, wonach Patienten in bestimmten Regionen durchschnittlich Kontakt zu 1,5 Hausärzten hätten: „Also jeder Zweite hatte einen zweiten Hausarzt, die voneinander in der Regel nichts wissen. So etwas können wir uns vor dem Hintergrund der zunehmenden Personalnot und steigender Kosten nicht mehr leisten.“

Wunsch nach Entbudgetierung

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Auch der AOK-Bundesverband (AOK-BV) nimmt diesen Punkt auf. „Damit werden Abläufe für Patientinnen und Patienten verlässlicher, weniger komplex, ein bedarfsgerechter Zugang auch zur fachärztlichen Versorgung gewährleistet und damit die Effizienz in der Versorgung gesteigert“, hofft Verbandschefin Dr. Carola Reimann vor Journalisten. Für ein Hausarztmodell kann sich auch die Interessenvertretung der Innungskrankenkassen auf Bundesebene (IKK e.V.) erwärmen.

Der wohl größte Wunsch der Vertragsärzteschaft bleibt die Entbudgetierung – und zwar nicht nur für Hausärzte, wie kürzlich vereinbart, sondern für alle ambulant tätigen Ärzte sowie Psychotherapeuten „innerhalb der ersten 100 Tage einer neuen Bundesregierung“, heißt es im Forderungskatalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der bereits Ende des vergangenen Jahres veröffentlicht wurde. Der AOK-BV würde die Uhr dagegen am liebsten zurückdrehen und den Honorardeckel wieder auf Kinder- und Jugendmedizin legen, wie aus seinem Positionspapier hervorgeht.

Und die Parteien? Die FDP will eine ungekürzte Vergütung aller Gesundheitsberufe, die AfD fordert eine „Beendung der Rationierung ärztlicher Leistungen durch Zwang von Behandlungen ohne Vergütung“. Rot und Grün werben mit einer Termingarantie (SPD) beziehungsweise einer Erhöhung der Sprechstunden in Arztpraxen (Grüne).

Die ewige Bürgerversicherung

Kommt die Union ans Ruder, will sie laut Wahlprogramm die Krankenhausreform korrigieren. Das dürfte ihm Sinne der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sein. In einem „Sofortprogramm“ fordert diese den kalten Strukturwandel aufzuhalten und für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen, die Struktur-und Personalvorgaben in den Leistungsgruppen realistischer auszugestalten und die Vorhaltefinanzierung zunächst auszusetzen. Generell wünscht sie sich weniger Dirigismus und kleinteilige Gesetzgebung, stattdessen mehr Spielraum für die Akteure vor Ort. So sollten beispielsweise Personalbemessungsinstrumente lediglich „Empfehlungs- und Orientierungscharakter“ haben, heißt es im Zehn-Punkte-Papier der DKG für die Bundestagswahl.

In den Programmen der linken Parteien (inklusive BSW) findet sich auch der ewige Wahlkampfschlager einer solidarischen Bürgerversicherung. Als Vorstufe sehen SPD und Grüne die Beteiligung der PKV am Risikostrukturausgleich (RSA) vor. Da eine linke Mehrheit im Bundestag unwahrscheinlich ist, dürfte es auch für die kommende Legislatur ein einheitliches Versicherungssystem ein Wunsch bleiben. Die Grünen schlagen überdies eine Reform der Beitragsbemessung mit Berücksichtigung von Kapitaleinnahmen vor.
Den morbiditätsorientierten RSA würde der AOK-Bundesverband gerne um sozioökonomische Aspekte ergänzt wissen. Die Techniker Krankenkasse (TK) will eine einheitliche Kassenaufsicht. „Denn die unterschiedlichen Aufsichtspraxen durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) und die Aufsichtsbehörden der Bundesländer können zu Wettbewerbsverzerrungen führen“, schreibt die größte Ersatzkasse in ihrem Positionspapier.

„Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung

Eine auskömmliche Refinanzierung der versicherungsfremden Leistungen aus dem Bundeshaushalt – bis hin zur vollständigen Übernahme – findet sich ebenfalls in den Papieren von SPD, CDU/CSU, Grüne und AfD und stößt sicherlich auf Wohlwohlen der Krankenkassen. Der IKK e.V. will eine zügige Umsetzung, um die Ausgabendynamik zu bremsen, ohne dabei Versichertenleistungen zu kürzen. „Hierfür muss im Rahmen einer Vorschaltgesetzgebung die Dynamisierung des Bundeszuschusses und die verantwortungsgerechte Beteiligung des Bundes an der Versorgung der Bürgergeldempfangenden ebenso wie an der Finanzierung weiterer gesamtgesellschaftlicher Aufgaben umgesetzt werden“, heißt es in einer Pressemitteilung zum IKK-Positionspapier anlässlich der Bundestagswahl. Die TK will ein „Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung. Darin enthalten: eine Erhöhung des Herstellerabschlags bei Arzneimitteln, Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung und die Rückkehr zur Grundlohnsummenbindung bei Heilmitteln.

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Strukturreformen stehen in der Kassenwelt hoch im Kurs, um die Ausgaben zu drosseln und das System effizienter zu machen. Die Barmer etwa wünscht sich eine gemeinsame Bedarfsplanung für den ambulanten und stationären Sektor, „die das Angebot medizinischer Leistungen möglichst in Einklang mit der Nachfrage bringt und das Nebeneinander nicht abgestimmter Versorgungsangebote und -strukturen beendet“, heißt es im Forderungspapier der Ersatzkasse. Auch die DKG will die Sektoren überwinden. „Ich halte die Länder für den zentralen Akteur einer zukünftigen Versorgungsplanung, die im Dialog mit den Akteuren aus dem ambulanten und stationären Bereich erfolgen muss“, erklärt ihr Vorstandsvorsitzender Dr. Gerald Gaß vor Journalisten. Und schiebt nach: „Auch die Krankenkassen sind natürlich als Akteur zu betrachten.“ Die Parteien sind zögerlicher. SPD und Grüne schlagen allerdings ein einheitliches Vergütungssystem für die ambulante und stationäre Versorgung vor.

Für die Soziale Pflegeversicherung (SPV) schwebt dem politisch linken Lager eine Bürgerversicherung vor. Die SPD möchte darüber hinaus einen „Pflegekostendeckel“ einführen: Heimbewohner sollen für die stationäre Versorgung nicht mehr als 1.000 Euro im Monat zahlen. Die Union schlägt stattdessen einen Finanzierungsmix aus gesetzlicher Pflegeversicherung, betrieblicher Mitfinanzierung, Steuermitteln sowie eigenverantwortlicher Vorsorge. Die FDP stößt ins gleiche Horn.

Arzneimittel: Deutschland und EU first

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In der Arzneimittelversorgung legen viele Parteien Wert auf die Produktion in Deutschland und der EU. FDP und Union träumen von schnelleren Zulassungsverfahren, während Die Linke die Pharmaindustrie am liebsten an die Kette legen würde. Für eine schärfere Gangart in der Arzneimittelpolitik plädiert auch AOK-Bundesverbandschefin Reimann. Mit Blick auf die Preisbildung bei patentgeschützten Arzneimitteln rät sie zur Hebung von „Wirtschaftlichkeitsreserven“. Das dürfte die Industrie nicht freuen, die die Verschärfung des AMNOG durch die Ampel weiterhin kritisiert. Bereits im Dezember 2024 schreibt Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland, der Nachfolgeregierung ins Aufgabenheftchen: „Die aktuellen Leitplanken zur Preisbildung und der Kombinationsabschlag hemmen Innovationen. Wir können viel mehr medizinischen Fortschritt, als wir mit der derzeitigen Regulierung abbilden. Neue Studienkonzepte, Endpunkte und Therapien brauchen eine Nutzenbewertung und eine Preisbildung, die den Zusatznutzen von Therapien besser berücksichtigt.“

Wider die Scheinpartizipation

Digitale Gesundheitsforschung mit Patienten gestalten

Berlin/Hamburg (pag) – Ist in einer Legislatur, in welcher der Bundestag ein Digital-Gesetz, ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz und ein Medizinforschungsgesetz verabschiedet hat, die Patientenbeteiligung in der digitalen Gesundheitsforschung ein blinder Fleck geblieben? Ein kürzlich vorgestelltes Positionspapier rückt dieses vernachlässigte Thema in den Mittelpunkt.

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Im Positionspapier „Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung“ sind auf 19 Seiten Empfehlungen und Lösungsansätze formuliert, um die Beteiligung von Patientinnen und Patienten zu unterstützen. Deren Forderungen lauten unter anderem:

  • Um Erfolg zu gewähren und ein Mindestmaß an Kooperation zwischen Patienten und Forschenden herbeizuführen, müssen Patienten und ihre Vertretungen aktiv in digitale Transformationsprozesse von Anfang an eingebunden werden.
  • Die Partizipation von Patientenorganisationen, Betroffenen und Angehörigen bei der Anwendung von digitalen Forschungsprozessen muss von allen Beteiligten realistisch gestaltet werden.
  • Eine fachliche, monetäre, personelle, strukturelle und technische Ausstattung ist die Grundbedingung für die Einbindung von Patientenorganisationen.
  • Es bedarf einer erhöhten Aufmerksamkeit für vulnerable Gruppen. Stigmatisierung und Diskriminierung müssen verhindert werden.

Erarbeitet haben die Betroffenen das Papier in einem konsensorientierten Prozess, der im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PANDORA begleitet wurde.

Startpunkt war eine Stakeholder-Konferenz, die im Juni 2024 in Hamburg stattgefunden hat und an der über 30 Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen aus ganz Deutschland – sowohl vor Ort als auch digital – teilgenommen haben. Zwei Tage diskutierten sie über Aufklärungs- und Einwilligungsprozesse, Forschungsdatenmanagement, Partizipation an Forschung, digitale Teilhabe und relevante ethische Werte für eine Forschungsbeteiligung. Das Ziel: einen Konsens für das Positionspapier zu erarbeiten. Am Ende des zweiten Tages steht der erste vorläufige Entwurf des Positionspapiers. Fertiggestellt wird dieser von einem Redaktionsteam, das aus vier Vertreterinnen und Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen besteht. Einer von ihnen ist Thomas Duda von der Pro Retina Stiftung Deutschland. Bei der Vorstellung des Positionspapiers auf einer Pressekonferenz im Rahmen der PANDORA-Abschlusskonferenz sitzt er mit auf dem Podium. Er betont dort: „Es gibt ein hohes Potenzial durch Patientenbeteiligung, was leider nicht erkannt wird.“ Ihm ist es wichtig, dass das Positionspapier die momentanen Zustände nicht nur kritisch beschreibt, sondern auch konkrete Verbesserungsvorschläge formuliert. Durch informierte Patienten wie auch durch den Input aus ihrem Erfahrungsschatz werden Daten- und Forschungsergebnisse bedarfsorientierter ver- beziehungsweise angewendet, ist Duda überzeugt.

Scheinpartizipation entgegenwirken

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Für Prof. Silke Schicktanz, Universitätsmedizin Göttingen, ist das Positionspapier ein wichtiges Instrument, um „reflektierte und selbstbestimmte Position einer Vielzahl von Patientenverbänden in die deutsche Debatte einzubringen“, sagt sie bei der Pressekonferenz. Ihre Forschungskollegin und PANDORA-Leiterin Prof. Sabine Wöhlke von der HAW Hamburg adressiert in ihrem Statement die Wissenschaftscommunity. Die Forschenden sollten reflektieren, wie eine langfristige, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Patientenvertretenden aussehen könne. Für diese Organisation seien Reflexion der eigenen Erwartungen und Ziele, Umgang mit Macht, Transparenz in der Kommunikation aber auch Anerkennung von Erfahrungsexpertise wichtig. Wöhlke appelliert: „Eine intensivere Auseinandersetzung mit Machtasymmetrien und der oft fehlenden Transparenz über Forschungsprozesse ist geboten, um der bisher noch zu oft existierenden Scheinpartizipation in der partizipativen digitalen Gesundheitsforschung entgegenwirken zu können.“

Wie es weiter geht

Die Botschaft ist mehr als deutlich, doch um den angemahnten Umdenkungsprozess einzuleiten, müssen äußerst dicke Bretter sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaftsszene gebohrt werden. Dass keiner der von PANDORA angefragten Gesundheitspolitiker bereit gewesen ist, an der Pressekonferenz teilzunehmen, spricht Bände. Umso drängender die Frage, wie es mit dem Positionspapier weitergehen soll. Wöhlke kündigt an, die wichtigen Ergebnisse der Stakeholder-Konferenz wissenschaftlich zu publizieren und das Positionspapier relevanten Ministerien, Gremien und Entscheidungsträgern zuzuschicken. An dieser Stelle ende der Einfluss als Forschende. Wöhlke: „Aber es kann dann niemand im Forschungsministerium sagen, man wisse ja gar nicht, dass die aktuellen Partizipationsinitiativen nicht wirklich gut im Sinne einer Teilhabe laufen und ob die Patientenorganisationen sich wirklich beteiligen wollen und was es dafür aus deren Sicht bedarf.“

Was ist PANDORA?
PANDORA (Patient*innenorientierte Digitalisierung) ist ein Verbundprojekt unter der Leitung der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg). Kooperationspartner sind die Universitätsmedizin Göttingen und die Medizinische Hochschule Hannover. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler analysieren ethische Fragestellungen, die mit der Einführung und Nutzung von Digitalisierungsprozessen und E-Health-Technologien im Gesundheitswesen einhergehen. Im Fokus stehen die Perspektiven von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen, die an solchen digitalen Entwicklungen partizipieren. Das Ziel von PANDORA ist die Entwicklung und Bereitstellung von Unterstützungsinstrumenten, die es diesen Organisationen ermöglichen sollen, ihre Interessen bei der Beteiligung an Digitalisierungsprojekten zu wahren und ethische Prinzipien zu respektieren.

Weiterführender Link:
Positionspapier: Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung

Reif für eine Generalüberholung?

Forderungen der Industrie nach AMNOG-Reform werden lauter

Berlin (pag) – Ist das AMNOG für Innovationen wie Gen- und Zelltherapien noch das geeignete Bewertungsverfahren? Wie passend ist es für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie verlangt nach einer grundlegenden AMNOG-Reform. Das Argument: Medizinischer Fortschritt dürfe nicht durch systemische Hürden ausgebremst werden.

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2025 wird in Sachen Health Technology Assessment (HTA) ein spannendes Jahr. Am offensichtlichsten ist der Start des europäischen HTA-Verfahrens im Januar. Dieses sieht unter anderem eine Synchronisation mit dem europäischen Zulassungsprozess vor, eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Beteiligten, gilt es doch zum Teil recht sportliche Fristen miteinander zu verzahnen.

Fest steht schon jetzt: Das AMNOG wird vom europäischen Pendant auf Dauer nicht unbeeinflusst bleiben. Im Januar legt das Bundesgesundheitsministerium etwa einen Last-Minute Änderungsentwurf für die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vor. Grundsätzlich gilt: Wertungs- und Preisentscheidung bleiben zwar auf nationaler Ebene, gleichzeitig soll Doppelarbeit vermieden werden. Ein schwieriger Spagat, deshalb vermögen auch Experten die Relevanz des neuen Verfahrens noch nicht so richtig abzuschätzen. Das europäische Verfahren startet mit neuen Krebstherapien und ATMPs – ein besonders innovatives Feld, auf dem sich momentan viel tut. Ist man hierzulande dafür mit dem AMNOG gerüstet?

Grundsatzfragen zur Evidenz

Der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann ist skeptisch. Im Dezember stellt er auf einem parlamentarischen Frühstück der LAWG (Local Area Working Group), einem Verein, dem 17 weltweit agierende, forschungsorientierte Arzneimittelunternehmen angehören, klar, dass das AMNOG für ihn zwar ein wertvolles Werkzeug sei, aber er sieht auch deutliche Limitationen – etwa bei Schrittinnovationen. Ullmann fragt außerdem: „Wie sieht es bei der Personalisierten Medizin aus, wie sieht es aus bei der Gentherapie, bei der wir sehr individuelle Therapieformen haben und die klassische Evaluation des AMNOG-Verfahrens gar nicht funktionieren kann?“ Für ihn steckt dahinter die Grundsatzfrage, was medizinische Evidenz bedeutet. Er plädiert für eine differenzierte AMNOG-Weiterentwicklung: Im klassischen Verfahren sollten herkömmliche Medikamente wie etwa Bluthochdruckarzneimittel bewertet werden. Im Rahmen eines zweiten Moduls – Ullmann nennt es AMNOG innovativ – wird über den Zusatznutzen von neuartigen Therapieformen geurteilt.

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Von Kalle plädiert für flexible Methodik

Ähnlich äußert sich Prof. Christof von Kalle auf der LAWG-Veranstaltung. Der Onkologe, der (zu diesem Zeitpunkt noch) das gemeinsame klinische Studienzentrum von der Charité und dem Berlin Institute of Health leitet, spricht sich für eine flexible AMNOG-Methodik aus. Darunter subsummiert er unter anderem eine Beschleunigung der Prozesse sowie eine Optimierung durch internationale Zusammenarbeit und Harmonisierung internationaler Verfahren – Stichwort EU-HTA. Außerdem betont er: „Ich würde sehr stark dafür plädieren, dass wir wirklich alle verfügbaren Daten verwenden und überlegen, wie wir den Nutzen neu bewerten.“ Sehr wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Konditionalität der Zulassung und der Datenerhebung nach der Zulassung.

vfa: Webfehler des AMNOG

Einen Monat zuvor, im November 2024, hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ein 15-seitiges Reformpapier zum AMNOG mit verschiedenen Handlungsfeldern präsentiert. Unter der Überschrift „Medizinischem Fortschritt gerecht werden“ wird ebenfalls die Frage nach der Evidenzgrundlage thematisiert. Der Verband stellt dar, dass angesichts zunehmend zielgerichteter Therapieansätze für eng definierte, häufig kleinere Gruppen von Patienten die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien nicht in allen Situationen ethisch vertretbar oder praktisch umsetzbar sei. Ein Webfehler des AMNOG sei daher, dass eine Anpassung im Umgang mit nicht-randomisierten Daten noch nicht erfolgt ist. Als Folge werde der therapeutische Zusatznutzen in besonderen Therapiesituationen nicht entsprechend gewürdigt, sodass bei den betroffenen Therapien kein angemessener Erstattungsbetrag vereinbart werden kann. Dies wirke sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien, wie Gentherapien, in der Versorgung aus, so der vfa. Seine Lösung: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) prüft künftig auf Antrag eines Herstellers, ob eine besondere Therapiesituation vorliegt. In diesen Fällen wird die bestverfügbare Evidenz in der Nutzenbewertung herangezogen.

Wie realistisch ist Pay for Performance?

Der Verband bricht in dem Papier außerdem eine Lanze für erfolgsabhängige Erstattungsmodelle, sogenannte Pay-for-Performance-Ansätze. Sie könnten im Einzelfall helfen, bei limitierter Evidenz dieser „begründbaren Unsicherheit bei höherpreisigen Therapien zu begegnen“ und Patienten einen schnellen Zugang zu diesen Therapien zu ermöglichen, heißt es. Die Forderung ist nicht neu, auch der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld macht sich dafür stark – beispielsweise im März 2024 in einem Beitrag für die „Interdisziplinäre Plattform Nutzenbewertung“. In derselben Ausgabe stellt Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbandes, dagegen die Bedenken der Kostenträger dar: Die Preisbildung bei Gentherapien weise weiterhin eine „beträchtliche Diskrepanz“ zur vorhandenen Evidenz auf, konstatiert sie. Ob die Einführung erfolgsorientierter Vergütungssysteme Teil einer effizienten Lösung sein könne, sei fraglich. „Hierzu wären umfangreiche rechtliche und technische Änderungen und die Behebung bestehender Datenlücken erforderlich, die derzeit nicht absehbar sind“, so Haas.

 

Techniker Krankenkasse: Pay for Performance ist kein guter Weg
„Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ lautet der Titel eines im März 2024 veröffentlichten Reports der Techniker Krankenkasse (TK), der die Arzneimittelpreisgestaltung im internationalen Vergleich – USA, Frankreich und Japan – darstellt. Zur Preisbildung für Gentherapeutika in Deutschland könnten demnach fünf Ansätze zur Anwendung kommen: Budgetierung, geheime Preise, kriterienbasierte Preise, Kostentransparenz sowie Raten- beziehungsweise Rückzahlungsmodelle. Letztere können auch mit einer Performance-Komponente ergänzt werden. Der Kasse zufolge erweist sich deren Umsetzung jedoch als äußerst schwierig. Tim Steimle, Leiter des TK-Fachbereichs Arzneimittel, erläutert gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „Pay for Performance bedeutet ja folgendes: Tritt eine gewisse Non-Performance ein und das Medikament funktioniert nicht, dürfen Raten ausgesetzt werden.“ Darauf könnten sich aber die pharmazeutischen Unternehmen und die Krankenkassen fast nie verständigen. Strittig sei zum Beispiel, was wirklich ein guter Non-Performance-Indikator sei und wie dieser sauber erfasst werden könne. „Wer erfasst den? Benötigen wir ergänzende Informationen von Ärzten oder Patienten, um zu beurteilen, ob die Performance eingetreten ist oder nicht?“, fragt Steimle. Darüber streite man sich jedes Mal, wenn solche Verträge abgeschlossen werden. „Auf einen guten Weg einigen wir uns leider nicht.“

Chronisch krank am
 Arbeitsplatz

Der Weg zu einer echten Teilhabe ist noch steinig

Berlin (pag) – Mit den Herausforderungen zum Thema „Arbeiten mit chronischen Erkrankungen“ beschäftigt sich kürzlich der Patient Advocacy Summit von Novo Nordisk. Fest steht: Für die Teilhabe von chronisch erkrankten Personen am Arbeitsleben ist noch viel zu tun. Dabei könnte der Fachkräftemangel ein Katalysator sein.

Als politischen Anknüpfungspunkt hebt Pia Vornholt, Vice President Public Affairs Germany von Novo Nordisk, die Wachstumsinitiative der Bundesregierung hervor. „Die Maßnahmen und Lösungen, die wir heute hier erarbeiten, können Teil der Antwort auf den herrschenden Fachkräftemangel und den demografischen Wandel sein.“ Wichtig sei, dass eine starke und vereinte Patientenstimme sich auch in der Politik engagiere und gehört werde, um langfristig Veränderungen herbeizuführen und die Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Gesellschaft und der Arbeitswelt angemessen zu berücksichtigen.

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Ähnlich lautet die Botschaft von Franz Donner. In seinem Impuls konstatiert der ehemalige Konzernpersonalleiter bei der ZEISS-Gruppe, dass die Teilhabe von chronisch Erkrankten in der Gesellschaft, der Politik und bei den Unternehmen nicht das Gewicht bekomme, das es verdiene. Er richtet den Fokus auf den Fachkräfte-
mangel, der mit einem Rückgang von 3,8 Millionen Arbeitskräften bis 2035 einhergeht. „Wir tun gut daran, diesen in den Vordergrund zu stellen.“ Im Gegensatz zu den chronisch Erkrankten hätten es die älteren Erwerbstätigen geschafft, explizit in der Wachstumsinitiative der Bundesregierung erwähnt zu werden. Zwar gebe es Firmen, die das Teilhabe-Thema bewusst aufgreifen, aber der klassische Unternehmer hat es Donner zufolge nicht auf der Agenda und benötigt eine „burning platform“ – in diesem Fall den Fachkräftemangel. Mit dem Later Life Workplace Index stellt der Experte zudem einen Werkzeugkasten vor. Das Diagnoseinstrument unterstützt Firmen bei ihrer Einschätzung, wie gut sie auf eine alternde Belegschaft vorbereitet sind.

„Gemeinsam etwas ändern.“

Die am Summit teilnehmenden Betroffenen stellen insbesondere heraus, dass es sich um ein patientengruppenübergreifendes Thema handele. Michael Wirtz, Adipositas-Hilfe Deutschland, sagt etwa, dass es nicht nur um Menschen mit Adipositas gehe: „Wir reden auch über Menschen mit Diabetes, Rheuma, MS etc.“.

Auch für Corinna Elling-Audersch von der Rheuma-Liga ist „Chronisch krank am Arbeitsplatz“ eine Angelegenheit, welche die Zusammenarbeit aller Patienten erfordert. „Wir müssen gemeinsam etwas ändern“, mahnt sie. Arbeit sichere nicht nur den Lebensunterhalt, sondern auch die soziale Integration. Noch immer gebe jeder fünfte Rheumapatient mittleren Alters in den ersten drei Jahren nach der Diagnose seinen Arbeitsplatz auf, berichtet Elling-Audersch.

Zur besseren Teilhabe am Arbeitsplatz nennt die Aktivistin einige Stichwörter: Aufklärung und Offenheit im Umgang mit der Erkrankung, Wechsel zu weniger körperlich anstrengenden Tätigkeiten, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfsmitteln sowie Qualifizierung/Umschulung/Weiterbildung. Oft seien es nur winzige Stellschrauben, die für eine Teilhabe bewegt werden müssten, etwa mehr Pausen oder die Erlaubnis, Physiotherapiestunden in den Arbeitsalltag einzubauen. Auch müssten die staatlichen Zuschüsse für Arbeitgeber noch bekannter gemacht werden. Corinna Elling-Audersch appelliert: „Wir müssen in der Gesellschaft ein Bewusstsein für uns schaffen“.

Wachstumsinitiative der Bundesregierung
Um der deutschen Wirtschaft neue Impulse zu geben, hat die Bundesregierung zusammen mit dem Haushalt 2025 eine umfassende Wachstumsinitiative beschlossen. Mit 49 Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen will sie den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken, um den Wohlstand langfristig zu sichern – „für gute Arbeitsplätze und für die erfolgreiche Umsetzung der Dekarbonisierung“, wie es heißt. Unter anderem sollen Anreize dafür geschaffen werden, dass es sich für Ältere mehr lohnt, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck hat angekündigt, dass aufgrund des Fachkräftemangels auch „Arbeitsausfälle infolge von Krankheit reduziert werden sollen“. Konkrete Maßnahmen innerhalb der Initiative sind jedoch nicht benannt.

Erkrankungen sind ein Vollzeitjob

Ein Bewusstsein zu schaffen, ist auch ein Anliegen von Lea Raak. Die Aktivistin für Barrieresensibilität lebt seit 13 Jahren mit verschiedenen chronischen Erkrankungen und arbeitet außerdem in Vollzeit. Sie sagt: „Meine chronischen Erkrankungen sind auch schon ein Vollzeitjob.“ Jeden Tag lebt sie mit einer Vielzahl von Symptomen. „Wenn man mich sieht, würde man das nicht unbedingt denken.“ In ihrem Vortrag gibt sie Einblicke in ihre Arbeit mit einer nicht ersichtlichen Behinderung. Beeinträchtigt fühlt sie sich etwa von Verurteilungen und Diskriminierungen, obgleich sie an ihrem Arbeitsplatz an der Universität das Glück habe, offen mit ihrer Erkrankung umgehen zu können. Dennoch blieben das schlechte Gewissen und ein Ringen mit sich selbst, ob und wann sie sich krankmeldet.

Raak plädiert dafür, gemeinsam mit dem Arbeitgeber Strategien für die Vereinbarkeit zu entwickeln. Ein wichtiges Anliegen sei es ihr auch, dass es auf der Arbeit einen sicheren Raum gibt, um Dinge anzusprechen und offenzulegen. Die Aufgabe von Führungskräften sei es, einen solchen Raum zu schaffen. Lea Raak verlangt: „Nicht ich muss mich anpassen, sondern der Arbeitsplatz sollte sich anpassen und die Führungskräfte sollen sich anpassen.“

 

Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen
Prof. Mathilde Niehaus © Kasper Jensen

Sag ich es ?
Prof. Mathilde Niehaus, Universität zu Köln, stellt bei dem Summit den Online-Selbsttest www.sag-ichs.de
vor. Dieser unterstützt Betroffene
bei der Entscheidung für oder gegen die Offenlegung ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung am Arbeitsplatz. Dafür werden verschiedene Bereiche wie „Auf der Arbeit“, „Persönliche Voraussetzungen“, „Einstellungen und Werte“ so-
wie „Erfahrungen und Lebenssitua-tion“ abgefragt. Unter Wahrung des Datenschutzes wird basierend auf den Antworten ein persönliches Profil erstellt. Die Frage, die eigene gesundheitliche Beeinträchtigung am Arbeitsplatz zu offenbaren, sei hochkomplex und ziehe viel Energie, weiß Niehaus. Sie hebt hervor, dass Personen, deren Beeinträchti-gung man von außen nicht sehen könne, ganz anders mit sich und anderen im Konflikt stehen, über ihre Erkrankung zu sprechen. Oft seien sie Vorurteilen ausgesetzt, beispielsweise sich vor der Arbeit zu drücken. Beide Entscheidungsmöglichkeiten – die Erkrankung offenzulegen oder sie für sich zu behalten – seien legitim. „Wichtig ist, dass ich die Entscheidung mit mir selbst ausgemacht habe und sie selbstbestimmt fälle.“

 

 

Der Ernstfall

In Sachen Health Security besteht dringender Nachholbedarf

Berlin (pag) – Die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte Zeitenwende betrifft auch das Gesundheitswesen. Auf einer Tagung der Bundesärztekammer (BÄK) nehmen Expertinnen und Experten eine Bestandsaufnahme vor, ob das gegenwärtige „Schönwettersystem“ auf den Ernstfall vorbereitet ist. Ihre Einschätzungen fallen ernüchternd aus.

© Bundeswehr, Patrick Grüterich
© Bundeswehr, Patrick Grüterich

Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), findet klare Worte: „Für das Szenario Krieg sind wir nicht gut aufgestellt“, sagt er. Dies sei jahrzehntelang nicht vorstellbar gewesen. Deshalb müssten jetzt die Prioritäten neu gesetzt werden.

Tiesler spricht bei der BÄK-Veranstaltung von einer veränderten Bedrohungslage: Seit 2022 sei Krieg eine neue Realität in Europa. Aufgrund seiner geografischen Lage sei Deutschland im Bündnis- und Verteidigungsfall besonders betroffen. Und insbesondere für das Gesundheitssystem stelle das „Themenfeld Krieg“ eine besondere Herausforderung dar. Verteidigung, so Tiesler, sei keine allein militärische Angelegenheit.

Neue Realitäten

Konsens ist bei der Tagung, dass neben dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch Klimawandel, Cyberangriffe und Sabotage sowie politischer Extremismus die Frage nach der Krisenresilienz der Gesellschaft in einer neuen Dringlichkeit stellen. Das gelte im Besonderen für das Gesundheitswesen. BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt mahnt daher, die neuen Realitäten zu akzeptieren und sich in allen gesellschaftlichen Bereichen auf den Ernstfall vorzubereiten. „Wir müssen aber auch über die Resilienz des Gesundheitswesens insgesamt sprechen.“

Im März dieses Jahres hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach angekündigt, das Gesundheitssystem mit einem gesonderten Gesetz besser auf Katastrophen und militärische Konflikte vorbereiten zu wollen. Der für den Sommer angekündigte Entwurf lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor. Umso dringlicher verlangt der Vorstandsvorsitzende der Charité, Prof. Heyo Kroemer, Health Security – Gesundheitssicherheit – in Deutschland zu etablieren.

Nur ein Schönwettersystem?

In seinem Vortrag verschweigt er nicht, dass es eine „gewaltige Aufgabe“ sei, das deutsche Gesundheitswesen resilient zu machen. Das dürfte nicht zuletzt an der vom Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege konstatierten mangelnden Kooperation zwischen Sicherheitsbehörden, Militär und Gesundheitswesen liegen. Der Rat bezeichnet in diesem Zusammenhang das hiesige Gesundheitswesen als „Schönwettersystem“.

Der Charité-Chef Kroemer ist Vorsitzender des „ExpertInnenrats Gesundheit und Resilienz“ und hat sich mit dem Thema intensiv befasst. Ihm zufolge ist Deutschland für sogenannte MANV-Situationen gut aufgestellt. Der Massenanfall von Verletzten (MANV) bezeichnet im Rettungswesen eine Situation, bei der eine große Zahl von Verletzten oder Erkrankten versorgt werden muss – etwa aufgrund von Bombenattentaten, Eisenbahnunglücken, Flugzeugabstürzen, Seuchen sowie großflächigen ABC-Einsatzlagen. Solche MANV-Situationen dauern in der Regel mehrere Stunden oder wenige Tage. Eine komplett andere Dimension stellt ein Verteidigungsfall dar, der Monate oder sogar Jahre andauern könne, so Kroemer. Um mit solchen Situationen fertig zu werden, müsse man sich dringlich mit Gesundheitssicherheit auseinandersetzen.

Ralph Tiesler, Präsident des BBK © BBK
Ralph Tiesler, Präsident des BBK © BBK

International hat das Thema Health Security bereits deutlich an Fahrt aufgenommen. Bei der Weltgesundheitsorganisation und der Europäischen Union ist es stärker in den Fokus gerückt. Kroemer berichtet, dass viele Länder bereits eine Strategie ausgearbeitet haben. In den USA und in den UK gebe es dafür nationale Einrichtungen. In Ländern wie Schweden oder Dänemark wurde ein ziviles Krankenhaus mit Aufgaben der Gesundheitssicherheit beauftragt. So weit ist man hierzulande noch nicht. Aber immerhin nimmt der Resilienzexperte ein beginnendes Problembewusstsein wahr. Es bestehe ein enger Austausch zwischen Bundeswehr und zivilen Strukturen – „allerdings in erheblichen Teilen auf individueller Ebene, weil man sich kennt und noch nicht in richtigen Strukturen“, schränkt Kroemer ein.

Den Eindruck einer noch unausgereiften Zusammenarbeit bestätigt Tiesler. So sei Katastrophenschutz Ländersache. Deshalb gebe es keine übergreifende Steuerung zwischen Bund und Ländern. „Es gibt keinen Krisenstab auf Bundesebene für alle“, räumt er ein, „es gibt nichts, was geübt und trainiert und vorgedacht ist an der Stelle, das ist tatsächlich ein echtes Defizit“. Der Behördenleiter sieht als größtes Problem die föderale Staatsstruktur sowie die Betonung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Das funktioniere in Friedenszeiten, stelle aber in der gegenwärtigen Lage ein Hindernis dar. „Und trotzdem müssen wir da durch und schneller werden“, appelliert er.

Der Bündnisfall BBK-Chef Tiesler konkretisiert, was im NATO-Bündnisfall, wenn Deutschland zur Drehscheibe werde, auf das Gesundheitssystem zukommt: bis zu 1.000 neue Patienten pro Tag, kriegsbedingte Verletzungsmuster, strategischer Patiententransport, Sabotageakte und Anschläge auf die Gesundheitsinfrastruktur. Man müsse sich auch auf großflächige CBRN-Lagen einrichten. CBRN-Schutz ist ein Sammelbegriff und bezeichnet chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren. Auch verlange die NATO die Aufnahme von Geflüchteten, in einer Größenordnung bis zu zwei Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung.

Wie viele Ehrenamtliche?

Auf der Agenda seiner Behörde stehen eine Menge Aufgaben. Tiesler nennt unter anderem: Sanitätsmittelbevorratung, strategischer Patiententransport sowie medizinischer CBRN-Schutz. Auch der gesundheitliche Bevölkerungsschutz, der in besonderen Langen – Krisen, Katastrophen und Krieg – eine Ergänzung der medizinischen Grund- und Alltagsversorgung darstellen soll, ist im Fokus des Bundesamtes. Dieses Hilfesystem wird nämlich im Wesentlichen von Ehrenamtlichen getragen. Von wie vielen genau, ist derzeit unklar. Zwar kursiert eine Zahl von 1,7 Millionen, allerdings sind dabei Mehrfachverpflichtungen von Personen nicht berücksichtigt. Tieslers Behörde versucht daher, eine realistische Größenordnung zu ermitteln.

Zwar existieren bereits unzählige Leitfäden, Konzepte und Handbücher, dennoch muss aktuell vieles neu gedacht werden. Für Vorhaltungsstrategien, die noch aus Zeiten des Kalten Krieges stammen, braucht es zeitgemäße Nachfolgemodelle, so der BBK-Chef. Dabei gehe es insbesondere um „Lösungen in Bezug auf Personal, Material, Koordination und Steuerung“. Dahinter sieht er die Grundsatzfrage, ob andere Regeln in dieser Zeit, in der vieles geplant und vorbereitet werden muss, benötigt werden. Eine Zeit, die Tiesler weder Frieden noch Krieg nennen möchte.

„Effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit“

Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr © BÄK, Marten Ronnebur
Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann, Befehlshaber des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr © BÄK, Marten Ronnebur

„Aufgrund der zentralen geopolitischen Lage in Europa ist Deutschland bereits in frühen Phasen eines Konfliktes in besonderer Weise als Drehscheibe gefordert, dies gilt insbesondere auch für die Gesundheitsversorgung. Um für unsere Soldatinnen und Soldaten sowie unsere multinationalen Partner eine adäquate medizinische Versorgung sicherstellen zu können, ist der Sanitätsdienst der Bundeswehr auf eine effektive und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitssystem angewiesen. In der Vergangenheit hat der Sanitätsdienst der Bundeswehr regelmäßig in Deutschland das zivile Gesundheitssystem unterstützt, beispielsweise im Rahmen der Fluthilfe oder der COVID-19-Pandemie. Zukünftig werden sich die Akteure des zivilen Gesundheitssystems im Rahmen der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Gesundheitsversorgung verstärkt auch auf die Unterstützung der Bundeswehr vorbereiten müssen. Die hierfür notwendige enge Verzahnung von zivilen und militärischen Strukturen sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten gilt es nun, aktiv zu planen und so konkret wie möglich vorzubereiten.“