Wie Krebsüberlebende nach der Akuttherapie durchs Raster fallen
Berlin (pag) – Viele Krebsbetroffene kämpfen auch Jahre nach der ersten Diagnose mit Spät- und Langzeitfolgen. Neben körperlichen und psychischen Einschränkungen berichten Betroffene zudem von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung. Ganzheitliche und strukturierte Versorgungsangebote sind noch rar. Allmählich kommt aber Bewegung in das Thema Survivorship.

Die Situation für Menschen mit einer Krebserkrankung hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm verbessert. Neue Therapien, Frühuntersuchungsprogramme und Fortschritte bei der Diagnostik sorgen dafür, dass die Krankheit heutzutage nicht mehr automatisch ein Todesurteil ist. Bei einer Reihe von Tumorerkrankungen in Deutschland überlebt mittlerweile mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre oder länger. Durch den medi-zinischen Fortschritt ergeben sich damit völlig neue Herausforderungen, auf die das Versorgungssystem allenfalls punktuell vorbereitet ist. Eine Gesamtstrategie fehlt. Die Bedürfnisse von Krebsüberlebenden werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen, kritisiert etwa Prof. Volker Arndt, der die Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet.
Andauernde Angst vor dem Rückfall
Zur Einordnung: Etwa 4,5 bis fünf Millionen Menschen mit aktiver oder überstandener Krebserkrankung sind in Deutschland mit vielzähligen Langzeit- und Spätfolgen konfrontiert, welche teilweise erst Jahre nach der Krebstherapie auftauchen können, so die 2018 eingerichtete Expertengruppe „Langzeitüberleben nach Krebs (AG LONKO)“ des Nationalen Krebsplans. Für drei Millionen von ihnen liegt die Krebserkrankung mindestens fünf Jahre zurück – damit fallen sie unter die Kategorie Langzeitüberlebende, häufig gelten sie als „geheilt“. Und dennoch: Der Krebs überschattet für viele von ihnen auch ein halbes Jahrzehnt später noch das alltägliche Leben. In Form chronischer Schmerzen und ‚Fatigue‘ zum Beispiel, in Gestalt von Herzerkrankungen, Lymphödemen oder als Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Psychisch steht für viele Langzeitüberlebende eine andauernde Angst vor einem Rezi-div auf der Tagesordnung. Zu den häufigen Langzeit- und Spätfolgen gehören daher Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen.
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Angebot endet mit Akutphase
Gerade die psychische Unterstützung kommt bei den Krebsüberlebenden häufig zu kurz. Das kritisiert etwa Brustkrebsüberlebende Dr. Cindy Körner (lesen Sie dazu das Interview auf Seite 14). In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie bestehe an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. „Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie“, so Körner. Sie geht davon aus, dass sich aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden dieser Mangel künftig eher noch verschärfen wird. Doch gerade in dieser Phase nach der Akuttherapie stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. „Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.“
Lost in Transition
Ein weiteres Problem besteht den Betroffenen zufolge darin, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologinnen und Onkologen verwiesen auf die jeweiligen Fachärztinnen und Fachärzte, die auf ihr Gebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. „Da fühlt man sich oft hilflos und verloren“, sagt Körner. Survivorship-Forscher Arndt vom DKFZ bestätigt das Problem. Die Behandler in der Akutphase verlieren dem Experten zufolge oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. (lesen Sie hierzu das Interview auf Seite 17). „Es kann dann eine ‚Lost in Transition‘-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten.“
Keine systematische Bedarfserfassung
Die fehlende Koordination beziehungsweise Ganzheitlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Thema Survivorship. Das zeigt sich auch an den Leitlinien der Fachgesellschaften, die zwar in zahlreichen Fällen Vorgaben zum Thema Nachsorge enthalten. Der Fokus liege aber in erster Linie auf dem Erkennen von Tumorrezidiven, nur vereinzelt würden ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen adressiert, so Arndt. Psychosoziale Aspekte seien zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, gingen aber im Behandlungsalltag oft unter.
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Rufe nach dem „Recht auf Vergessen“ Zum Thema Survivorship gehören auch die sozialen und ökonomischen Folgen der Erkrankung – etwa die eingeschränkte berufliche Perspektive für Cancer Survivors. Besonders gravierend können sich die beruflichen Langzeitfolgen für junge Menschen, die an Krebs erkranken, darstellen. Häufig diagnostizieren Ärzte ihnen die Erkrankung mitten in der Berufsausbildung oder in einer Phase, in welcher die beruflichen Aufstiegschancen definiert werden.
Die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“ fordert unter anderem ein „Recht auf Vergessenwerden“. Obwohl die jungen Betroffenen nach wissenschaftlichen Standards längst als geheilt gelten, erfahren viele von ihnen Benachteiligungen gegenüber Gleichaltrigen. So werden jungen Betroffenen beispielsweise Versicherungsabschlüsse, Kreditaufnahmen oder Verbeamtungen verwehrt. Auch beim Thema Adoption werden ehemals erkrankte junge Menschen benachteiligt.
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Die Arbeitsgruppe LONKO vom Nationalen Krebsplan fasst die Situation wie folgt zusammen: Unter Expertinnen und Experten bestehe ein hoher Konsens darüber, „dass das deutsche Versorgungssystem für Langzeitüberlebende bislang keine adäquat strukturierten und ganzheitlichen Versorgungsangebote systematisch vorhält“. Zwar gebe es viele unterschiedliche Versorgungsangebote, aber keine ganzheitlichen Survivorship-Programme. Ein Grund dafür: Über die verschiedenen Angebote hinweg finde keine systematische Bedarfserfassung der Situation und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden statt. „Es fehlt dementsprechend eine Instanz, die einen systematischen Überblick über die Situation und die Bedarfe und Bedürfnisse der Langzeitüberlebenden hat und die eine bedarfsgerechte Versorgung steuern und eine gezielte Inanspruchnahme spezifischer Angebote initiieren könnte.“
Inzwischen haben einige Akteure reagiert. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und die Deutsche Krebshilfe haben beispielsweise Forschungsprogramme ausgeschrieben. Das Programm der Krebshilfe umfasst ein Budget von drei Millionen Euro. Ende August 2024 veröffentlicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung Förderrichtlinien für „Cancer Survivor-ship“-Projekte, die sich auf molekulare Ursachen und Risikofaktoren sowie molekulare Prädikations- und Präventionsmaßnahmen konzentrieren. Survivorship ist außerdem ein Schwerpunktthema in der zweiten Hälfte der Dekade gegen Krebs.
Auf der Forschungsebene tut sich somit einiges. Bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse der Wissenschaftler möglichst rasch ihren Weg in die Versorgung finden, denn der Druck dürfte mit einer kontinuierlich steigenden Zahl von Krebsüberlebenden wachsen. Rasche Lösungen sind allerdings nicht zu erwarten, dazu ist die Gruppe der Betroffenen zu heterogen. Zwar eint sie alle die Erfahrung einer Krebsdiagnose, aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind höchst unterschiedlich. Schnellschüsse nach dem Motto „One fits all“ dürften daher zum Scheitern verurteilt sein.
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Chancen durch digitale Gesundheitsdaten DKFZ-Forscher Arndt verknüpft auch mit dem Gesundheitsdatennutzungs-
gesetz Hoffnungen. Die Deutschen Krebsregister haben dem BMG im Verbund ein Konzept zur Integration detaillierter Daten zu den Langzeit- und Spätfolgen vorgeschlagen. Hintergrund ist das „Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten“ vom August 2021, welches die systematische Erfassung von Langzeit- und Spätfolgen von Krebserkrankungen anstrebt. Damit soll der Rückstand bei den empirischen Daten im Vergleich zu etwa den skandinavischen Ländern geschlossen werden.
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