Tiefe Gräben, gefühlte Notfälle und Verteilungskämpfe

Warum die Notfallversorgung in Deutschland reformiert werden muss

Berlin (pag) – Die Notfallversorgung gilt inzwischen selbst als dringend behandlungsbedürftig. Doch Sektorengrenzen und Verteilungskämpfe erschweren eine Reform, deren Notwendigkeit niemand mehr abstreitet. Eine Bestandsaufnahme. Die Notfallversorgung in Deutschland ist kompliziert – sowohl was die Anbieter betrifft als auch die Inanspruchnahme und Lenkung der Patienten. Rettungsdienst, Notaufnahmen der Krankenhäuser und ärztlicher Bereitschaftsdient agieren eher neben- als miteinander, wobei letzterer bei weiten Teilen der Bevölkerung noch immer weitgehend unbekannt ist. Die jüngste Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ergab etwa, dass der Bereitschaftsdienst nur knapp 30 Prozent der Befragten ein Begriff ist. Immer mehr Patienten suchen dagegen die Notaufnahmen der Kliniken auf, Experten beziffern die jährlichen Steigerungsraten der Fallzahlen auf bis zu acht Prozent. Überfüllte Notaufnahmen und lange Wartezeiten sind die Folge.

Gefühlte und echte Notfälle

Der Run auf die Notaufnahmen ist nicht allein durch den demografischen Wandel zu erklären. 50 Prozent der Patienten stuft sich selbst nicht als Notfall ein. Das hat eine aktuelle Befragung in Hamburg und Schleswig-Holstein, die PiNa-Nord-Studie, ergeben. Für die Inanspruchnahme der Notaufnahme gibt es der Erhebung zufolge vielfältige Gründe: „Da spielt die subjektive Dringlichkeit des Gesundheitsproblems eine Rolle, die wahrgenommene ambulante Versorgungssituation, individuelle Patientenpräferenzen, aber auch Gesundheitskompetenz und die psychische Belastung der Patienten“, fasst Prof. Martin Scherer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf die Ergebnisse zusammen.

Notaufnahme der Charité in Berlin © pag, Fiolka

Auch eine allgemein verbreitete On-Demand-Erwartungshaltung der Bevölkerung könnte zur „Beliebtheit“ der Notaufnahmen beitragen. Wer permanent erreichbar ist und rund um die Uhr online shoppen kann, beansprucht möglicherweise auch zu jeder Uhrzeit das Komplettpaket: Zugang zu umfangreicher Diagnostik und zu Experten verschiedener Fachdisziplinen. Unproblematisch ist das nicht, denn auch die nicht dringlichen Fälle binden in der Notaufnahme Kapazitäten, die an anderer Stelle – womöglich bei den echten Notfällen – fehlen.

„Umerziehungsprogramm“ für Patienten?

Scherer plädiert daher dafür, die Kompetenz der Patienten zu steigern. „Wir müssen die Fähigkeit der Menschen verbessern, sich vor der Notaufnahme im Gesundheitswesen zu orientieren.“ Den ärztlichen Bereitschaftsdienst bekannter zu machen, scheint die logische Schlussfolgerung. Doch müssen wirklich die Patienten den Strukturen oder nicht eher die Strukturen den Patienten angepasst werden? SPD-Gesundheitspolitiker Prof. Karl Lauterbach etwa hält nichts davon, die Menschen davon abzuhalten, in die Notaufnahmen zu gehen. „Wir brauchen kein Umerziehungsprogramm, sondern mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen“, sagt er in einem Interview.

KBV und Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) bemühten sich am 11. Oktober, die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes – 116117 – mit einem bundesweiten Aktionstag bekannter zu machen. Und in Hamburg beispielsweise geht die KV mit einem neuen umfangreichen Bereitschaftsdienst- und Service-Projekt, dem „Arztruf Hamburg“, in die Offensive.

Wie erfolgreich solche Aktionen sind, muss abgewartet werden. Fest steht: Die KVen sind in der Pflicht, weil sie den Sicherstellungsauftrag für die ambulante Notfallversorgung, sprich den Bereitschaftsdienst, haben. Nach Ansicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) nehmen sie diesen aber nur ungenügend wahr. Stattdessen seien die Kliniken die unterfinanzierten Lückenbüßer für die Bereitschaftsdienste, lautet deren Argumentation.

Die DKG kritisiert beispielsweise die in diesem Jahr in Kraft getretene Abklärungspauschale. Diese wird für Patienten in Notaufnahmen abgerechnet, die keinen Notfall darstellen und deshalb an die reguläre vertragsärztliche Versorgung verwiesen werden können. Als zeitlicher Aufwand werden zwei Minuten veranschlagt, die Höhe der Pauschale beträgt tagsüber 4,74 Euro. Für die DKG nur ein weiteres Beispiel für die finanzielle Benachteiligung der Kliniken. Mit Verweis auf ein Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus von der Management Consult Kestermann GmbH rechnet Hauptgeschäftsführer Georg Baum bereits im Februar 2015 vor: „Mehr als zehn Millionen ambulante Notfälle mit einem Fehlbetrag von 88 Euro pro Fall führen zu einer Milliarde Euro nicht gedeckter Kosten“.

Verteilungskämpfe an der Grenze zwischen ambulant und stationär

Bei der Notfallversorgung geht es somit nicht nur um optimierungsbedürftige Strukturen, sondern auch um knallharte Verteilungskämpfe an der Grenze zwischen ambulant und stationär. Die Schützengräben sind tief. Das zeigt sich auch am Beispiel Portalpraxen. Der Gesetzgeber schreibt sie als erste zentrale Anlaufstelle für Patienten ins 2016 in Kraft getretene Krankenhausstrukturgesetz, um die Organisation eines gemeinsamen Notdienstes zu ermöglichen. Viele KVen empfinden das aber als Affront. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet und an vielen Klinikstandorten gibt es solche Einrichtungen bereits. Bundesweite Zahlen liegen allerdings nicht vor.

Modernisierte Bereitschaftsdienste und Portalpraxen sind zweifelsohne sinnvolle Initiativen. Damit sie aber in der Versorgungsrealität nachhaltige Wirkung zeigen können, müssen sie weitergedacht und in ein Gesamt-konzept eingebettet werden. Eine umfassende Reform-strategie muss auch die „Kette finanzieller Fehlanreize“ in der Notfallversorgung beseitigen, die Prof. Marion Haubitz vom Klinikum Fulda anprangert: Da Rettungs-wagen in der Regel kein Geld für Leertransporte erhielten, brächten diese mehr Patienten in die Rettungsstellen. Dort stiegen zudem die stationären Aufnahmen, weil sie finanziell attraktiver seien als ambulante Behandlungen, erläutert die Medizinerin auf einer Veranstaltung des Sachverständigenrates (SVR) zur Begutachten der Entwicklung im Gesundheitswesen, dessen Mitglied sie ist. Mit Blick auf die Überlastung und Unzufriedenheit des Personals sowie die steigenden Kosten mahnt sie unverblümt: „Hier muss etwas geschehen, so kann es nicht weitergehen.“

Die Vorschläge des Sachverständigenrates

Das Ziel des Sachverständigenrates ist eine Notfallversorgung, die „bürgernäher, bedarfsgerechter, qualitativ besser und kosteneffektiver“ als bisher ist. Ein umfassendes Konzept hat er im September vorgestellt. Eine zentrale Rolle spielen darin voll integrierte regionale Leitstellen. Sie sollen über eine bundeseinheitliche Rufnummer erreichbar sein und je nach Patientenanliegen die beste Versorgungsoption wählen. Die telefonische Beratung übernehmen erfahrene Pflegekräfte, Ärzte können bei Bedarf zum Gespräch dazu geschaltet werden. Über die Leitstellen kann eine direkte Terminvergabe in Praxen niedergelassener Ärzte erfolgen, die spezielle Notfall-Slots vorhalten sollen, oder in den nach den Vorstellungen des Rates neu zu schaffenden integrierten Notfallzentren (INZ). Auch Hausbesuche des ärztlichen Bereitschaftsdienstes und Rettungseinsätze werden dort koordiniert.

Ebenfalls eine zentrale Rolle im Reformkonzept spielen die INZ, die Bereitschaftsdienstpraxis und Notaufnahme unter einem Dach vereinigen. Wichtig ist dem Rat dort das Ein-Tresen-Prinzip: Alle Patienten gehen durch den gleichen Eingang und werden an der identischen Stelle ersteingeschätzt. Obgleich in einer Klinik verortet, haben die INZ sektorenübergreifenden Charakter und sollen dort als eigenständige organisatorisch-wirtschaftliche Einheit angesiedelt werden. Als Träger können KVen und Kliniken gemeinsam agieren. Um unangemessene Anreize zur stationären Aufnahme zu vermeiden, sollten die INZ jedoch von den KVen allein betrieben werden. Nicht jedes Krankenhaus soll ein solches INZ beherbergen, der Rat schlägt eine Ausschreibung durch die Länder vor. Die Finanzierung habe durch einen extra-budgetären, aus ambulanten und stationären Budgets bereinigten, separaten Finanzierungstopf für sektorenübergreifende Notfallversorgung zu erfolgen.

Realistischer Optimismus?

Der SVR denkt die Notfallversorgung mit den INZ als sektorenübergreifende Versorgungsform zum Teil völlig neu, greift dabei aber auch auf Ideen aus anderen Gutachten (siehe Infokasten) beziehungsweise regionale Initiativen und Beispiele aus dem Ausland zurück. „Dass es mehr Koordination und Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten geben muss, mehr Steuerung, Triage und qualifizierte Ersteinschätzung, dazu gibt es kaum Widerspruch“, sagt der Ratsvorsitzender Prof. Ferdinand M. Gerlach im Interview. Seinen öffentlich verkündeten Optimismus, dass eine Reform der Notfallversorgung „gelingen kann und wird“, kann man teilen oder nicht. Doch dass es ein Thema in der neuen Legislatur sein muss, ist unbestritten – zu lange schon liegen die Dinge im Argen. Vielleicht ist die Zeit endlich reif dafür, nicht nur die eine oder andere Stellschraube vorsichtig neu zu justieren, sondern den Bereich umfassend neu zu gestalten.

Quelle: Präsentationsfolien des SVR-Werkstattgesprächs, 7. September 2017, Vortrag Prof. Gerlach

 

DENKANSTÖSSE ZUR NOTFALLVERSORGUNG

  • September 2017: „Integrative Notfallversorgung aus ärztlicher Sicht“, Konzeptpapier von KBV und Marburger Bund
  • September 2017: „Zehn-Punkte-Programm für eine bessere Notfallversorgung“, Autorenpapier von Harald Terpe u.a., Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
  • September 2017: „Instrumente und Methoden zur Ersteinschätzung von Notfallpatienten – Bestandsaufnahme und Konzeptentwicklung für die kassenärztliche Notfallversorgung“, erstellt von aQua-Institut im Auftrag des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi)
  • September 2016: „Ambulante Notfallversorgung – Analyse und Handlungsempfehlungen“, erstellt vom aQua-Institut im Auftrag des Verbands der Ersatzkassen
  • Juli 2016: „Ambulantes Potential in der stationären Notfallversorgung“ Projektphase II, erstellt vom IGES Institut im Auftrag des Zi
  • Mai 2015: Mehrere Notfallmediziner veröffentlichen ein „Positionspapier für eine Reform der medizinischen Notfallversorgung in deutschen Notaufnahmen“.
  • März 2015: „Ambulantes Potential in der stationären Notfallversorgung“ Projektphase I,erstellt vom IGES Institut im Auftrag des Zi
  • Februar 2015: „Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus – Fallkostenkalkulation und Strukturanalyse“, erstellt von der Management Consult Kestermann GmbH (MCK) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA)

Wenn Interessen kollidieren

Über primäre und sekundäre Motive in der Medizin

Berlin (pag) – Lange Zeit waren Interessenkonflikte in der Medizin hierzulande unterbelichtet – kein Thema für die Fachöffentlichkeit, sondern eher für Exoten. Das scheint sich momentan zu ändern. Ein Überblick über grundsätzliche Debatten, wichtige Initiativen und weiße Flecken.

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Mit den verschiedenen Spielarten des Themas haben sich in den vergangenen Monaten mehrere Veranstaltungen auseinandergesetzt. Transparency International Deutschland informierte im Juli in der Berliner Ärztekammer über Interessenkonflikte und Leitlinien. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) diskutierte auf zwei Tagungen über ihre aktualisierten Empfehlungen zum Umgang mit Interessenkonflikten. Im Frühsommer publizierten darüber hinaus der Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa) und der Verein Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie (FSA) zum zweiten Mal die Zahlungen der Industrie an Ärzte und andere Gesundheitsberufe. Erwähnenswert sind außerdem die kürzlich online gegangene „Null-Euro-Ärzte“-Datenbank von Correctiv sowie die im Mai erschienene Schwerpunktausgabe des JAMA-Magazins, die sich ausführlich mit „Conflicts of Interests“ (COI) beschäftigt.

Gesinnungswandel oder alles beim Alten?

„Das Thema ist sehr aktuell geworden, die Leute beschäftigen sich damit“, beobachtet Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Er hat 2011 gemeinsam mit Kollegen ein Buch über Interessenkonflikte publiziert. Seitdem hat sich einiges verändert. Der Experte spricht im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit sogar von einem Gesinnungswandel.

WAS IST EIN INTERESSENKONFLIKT? „Interessenkonflikte bezeichnen Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird.“ 
Zitat aus den AWMF-Empfehlungen „zum Umgang mit Interessenkonflikten bei Aktivitäten medizinischer Fachgesellschaften“.
Eine umfangreiche Darstellung des Thema bietet „Interessenkonflikte in der Medizin – Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten“, herausgegeben von Klaus Lieb, David Klemperer, Wolf-Dieter Ludwig.

Auch Prof. Claudia Spies, Ärztin an der Charité, erkennt Fortschritte, „immer mehr Kollegen sind sich bewusst, Interessen zu haben“, sagt sie (das vollständige Interview mit Prof. Spies können Sie ebenfalls in dieser Ausgabe lesen). Aber es gibt auch andere Stimmen: Prof. Christoph Stein, ebenfalls Arzt an der Charité, kritisiert auf der Transparency-Veranstaltung, dass es in der Ärzteschaft und an den medizinischen Fakultäten „kein Problembewusstsein“ gebe.

Jeder Arzt macht individuelle Erfahrungen, eine grundsätzliche Einschätzung fällt daher schwer. Möglich, dass das Thema in der Wissenschaft einen anderen Stellenwert hat als im Versorgungsalltag. Unstrittig dürfte dagegen mittlerweile sein, dass niemand ohne Interessenkonflikte ist, sie sind in der Medizin allgegenwärtig, heißt es etwa in dem von Ludwig und Kollegen herausgegebenen Buch. Auch das JAMA-Magazin hebt hervor: „Recognition that each Physician has COIs and that COIs and dishonesty are at different ends of the spectrum is the first step in an thoughtful conversation about how to protect professional judgment and integrity.“

Interessenkonflikt als Risikosituation

Unter einem Interessenkonflikt wird der Konflikt zwischen dem primären ärztlichen Interesse und den persönlichen (sekundären) Interessen des Arztes verstanden. Im Mittelpunkt des primären Interesses steht das Patientenwohl. Dieses ist allerdings sekundären Interessen ausgesetzt; sie können materieller Natur sein (Honorare, Firmenanteile etc.), es gibt aber auch eine nicht-materielle Komponente (Reputation, Karriere). Ein Interessenkonflikt wird als eine Risikosituation für ein verzerrtes Urteil verstanden, sprich der Konflikt besteht unabhängig davon, wie sich der Behandler letzten Endes entscheidet.

Transparenz allein reicht nicht

Manifestieren kann sich das Nebeneinander verschiedener Interessen auf den unterschiedlichsten Ebenen, es geht nicht nur um den Besuch des Pharma-Außendienstes in der Arztpraxis. Vor allem bei Leitlinienerstellung und Fortbildungsveranstaltungen sieht Prof. Ludwig noch eindeutigen Handlungsbedarf. Die inzwischen immer weiter verbreitete Praxis, die eigenen Interessenkonflikte offenzulegen, ist für ihn „absolut unzureichend“. Essentiell sei, die Bewertung der Konflikte durch andere. Ludwig ist überzeugt: „Ein Arzt kann nie selbst erkennen, ob er voreingenommen ist; das muss er anderen überlassen.“
Diesen Ansatz will die AWMF bei der Leitlinienerstellung implementieren. In ihren neuen Empfehlungen ist vorgesehen, dass die Autoren bereits bevor sie mit der Arbeit an der Leitlinie beginnen, ihre Interessen offenlegen und von anderen bewerten lassen. Wird ein Interessenkonflikt erkannt und als moderat eingestuft, darf die Person zwar mitberaten, aber nicht mit abstimmen. Bei gravierenden Konflikten wird der Betreffende auch von den Beratungen ausgeschlossen. Momentan befinden sich die Empfehlungen noch im Praxistest. Sie beschränken sich übrigens nicht auf Leitlinien, sondern regeln auch den Umgang mit Interessenkonflikten im Kontext von Studien und Kongressen.

Streit um CME-Zertifizierungen

Interessenkonflikte spielen auch bei der seit langem geführten Diskussion um pharmagesponserte CME-Fortbildungen für Ärzte eine Rolle. Diese sind Initiativen wie MEZIS (Mein Essen zahl ich selbst) ein Dorn im Auge. Sie warnen, dass dort die Medikamente der Sponsoren verzerrt dargestellt und die fortgebildeten Ärzte in ihrem Verschreibungsverhalten beeinflusst werden. Für die CME-Zertifizierung sind die Ärztekammern zuständig. Ihnen gegenüber müssen alle Akteure einer Fortbildungsveranstaltung – Veranstalter, wissenschaftliche Leitung und Referenten – ihre Interessen in Form einer Selbstauskunft offen legen. Diese Pflicht haben sie auch gegenüber den Teilnehmern, um die Ärzte zu befähigen, die Inhalte kritisch zu reflektieren. Der Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer, Tobias Nowoczyn, stellt auf einer Veranstaltung der AWMF ausdrücklich klar: „Den zweiten Schritt, die Interessen zu bewerten – das machen wir im Kontext Fortbildung und Interessenkonflikte ausdrücklich nicht.“ Schließlich würden bei den Ärztekammern bis zu 400.000 Fortbildungen im Jahr zertifiziert „und ein Interessekonflikt gehört zur beruflichen Biografie fast aller möglichen Referenten“. Doch Nowoczyn räumt auch ein, dass es Fälle gebe, „wo wir durchaus mehr machen müssen“.

Who watches the Watcher?

Das Problembewusstsein scheint zuzunehmen, allerdings gibt es auch Bereiche, die bislang noch wenig im Fokus stehen. In der Schwerpunktausgabe von JAMA werden auch die wissenschaftlichen Journale selbst in den Blick genommen. In einem Artikel fragen die Autoren, ob beispielsweise ein Herausgeber, der ein Patent auf ein Gerät zur Bilderfassung hat, objektiv beurteilen könne, ob eine Studie über eine neue Technologie im Magazin veröffentlicht werden sollte, die direkt mit seiner Erfindung konkurriert. „Who watches the watchers?“, lautet die zutreffende Frage.
„Geht es denn immer nur ums Geld?“, könnte eine weitere berechtigte Frage lauten, denn bei der Diskussion um Interessenkonflikte stehen meist materielle Einflussfaktoren im Vordergrund. „Seid umschlungen, Millionen“, titelte etwa spiegel.de, als die Zahlungen der Industrie an Ärzte im vergangenen Jahr das erste Mal veröffentlicht wurden. Materielle Interessen sind eindeutig zu erfassen, mit immateriellen tut man sich deutlich schwerer. Dabei können sie – wie Reputation, Karriere und der Wunsch nach vielen, möglichst hochrangigen Publikationen oder die Zugehörigkeit zu einer Therapieschule – ebenso wirksam sein. Sie stellen für Ärzte eine wichtige Antriebsfeder dar, problematisch wird es allerdings, wenn sie dominant werden.

Institutionelle Interessenkonflikte contra 
Patientenwohl

Als zu dominant empfinden inzwischen viele Ärzte die ökonomischen Vorgaben bei der Versorgung ihrer Patienten. Mengenausweitung, Patientenselektion Patientenkarussel, Drehtüreffekt, lauten einige der Stichwörter, die meist unter dem Schlagwort Ökonomisierung subsumiert werden. Fest steht: Jedes Vergütungssystem schafft automatisch sekundäre Interessen, im Kontext von DRGs & Co. sprechen Experten von institutionellen Interessenkonflikten. Doch was, wenn die sekundären Interessen zu primären werden? Dr. Wolfgang Wodarg, Vorstand von Transparency International Deutschland, ist überzeugt, dass sich mit der Transformation des Gesundheitswesens zum Gesundheitsmarkt das primäre Interesse verändert hat. Davor warnt er auf der Veranstaltung in der Berliner Ärztekammer im Juli. Mit dieser Auffassung steht er nicht allein, die Ökonomisierung der Medizin wird inzwischen von vielen Ärztevertretern genau deshalb heftig kritisiert.

Fazit Unsere Recherche zeigt, wie vielschichtig das Thema Interessenkonflikte ist. Vor mehreren Jahren haben Ludwig und seine Kollegen die Hoffnung formuliert, mit ihrem Buch das Thema aus der „Schmuddelecke“ zu holen und einer sachlichen und kritischen Diskussion zuzuführen. Diese hat an einigen Stellen bereits begonnen, dennoch hat der Appel nichts an Aktualität eingebüßt.

Zoff um G-BA-Personalien

Es knirscht in der gemeinsamen Selbstverwaltung

Berlin (pag) – Einen radikalen Umbau des Plenums des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) empfiehlt ein Gutachten im Auftrag der Stiftung Münch. Als die Expertise kürzlich präsentiert wird, tobt hinter den Kulissen der Selbstverwaltung eine erbitterte Auseinandersetzung über die Neubesetzung der beiden unparteiischen Mitglieder.

Zwei Plätze werden neben ihm frei, wen wünscht sich wohl Prof. Josef Hecken herbei? Er ist unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses. © pag, Fiolka

Die Vorschläge des Gutachtens zielen der Stiftung Münch zufolge grundsätzlich darauf ab, die hauptamtlichen und unparteiischen Mitglieder des G-BA sowie Patienteninteressen zu stärken. „Outsider-Interessen“ und potenzielle Innovatoren sollen besser einbezogen und die in Erprobungsverfahren anzuwendenden Prüfmethoden evaluiert werden. Insgesamt hat die von der Stiftung im vergangenen Herbst eingesetzte Reformkommission 16 Vorschläge erarbeitet, „kein radikaler Bruch, sondern das Ausmerzen von Defiziten durch Weiterentwicklung“ sei das Ziel, hebt Prof. Justus Haucap auf der Pressekonferenz hervor. Er ist Direktor des Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Herzstück der Reformpläne ist ein Umbau des Plenums. Ihm sollen 15 ehrenamtliche Mitglieder aus dem Kreis der Leistungserbringer, Kassen und Patienten angehören – allerdings ohne Stimmrecht. Die Zahl der stimmberechtigten Unparteiischen wird von drei auf neun erhöht, sie werden nach den Vorstellungen der Kommission für die Dauer von neun Jahren gewählt: sechs von den Trägerorganisationen des G-BA und drei durch den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages.

Mächtiges Trio

Pikant ist, dass die Vorschläge just zu jenem Zeitpunkt der Öffentlichkeit präsentiert werden, als sich die Selbstverwaltung in einen heftigen Streit über die Nominierung von zwei Unparteiischen verstrickt hat. Zum Hintergrund: Im G-BA haben drei Unparteiische die machtvolle Position inne, wichtige Details in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) maßgeblich mitzubestimmen. Zu diesem Trio gehören der Vorsitzende, Prof. Josef Hecken, der als mächtigster Mann im Gesundheitswesen gilt, sowie Dr. Harald Deisler und Dr. Regina Klakow-Franck. Die Amtszeit der drei läuft zum 30. Juni nächsten Jahres aus, doch nach einer Gesetzesänderung ist eine zweite möglich. Deisler hört im kommenden Jahr aus Altersgründen auf. Es ist seit längerem bekannt, dass der GKV-Spitzenverband den ehemaligen AOK-Manager Uwe Deh dort platzieren will. Klakow-Franck steht eigentlich nicht zur Disposition. Umso überraschter sind viele, als die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) an ihrer Stelle Lars Lindemann setzen will. Der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete und Geschäftsführer eines Facharztverbandes soll Klakow-Franck nachfolgen. Viel wird in der Szene über die Motive der Nominierung Lindemanns spekuliert: War Klakow-Franck der DKG zu kritisch oder sollte über den Umweg Lindemanns gar Uwe Deh verhindert werden?

Gesundheitsausschuss zieht Notbremse

Abgelehnte Kandidaten: Lars Lindemann (links) und Uwe Deh © Lindemann und pag, Maybaum

Das Nominierungsprozedere funktioniert wie folgt: Für eine Berufung der Unparteiischen schlagen die Trägerorganisationen des G-BA dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) spätestens zwölf Monate vor Ablauf der Amtszeit geeignete Kandidaten vor. Das BMG wiederum übermittelt die Vorschläge an den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Bei Bedenken kann der einer Berufung mit einer Zweidrittel-Mehrheit widersprechen, sofern er die Unabhängigkeit oder die Unparteilichkeit der vorgeschlagenen Personen als nicht gewährleistet ansieht. So erläutert es der G-BA auf seiner Website.

Die Nominierungen sorgen offenbar nicht nur im Gesundheitswesen für viel Unmut, sondern auch in der Politik: Am 28. Juni zieht der Gesundheitsausschuss des Bundestages die Notbremse und lehnt in einer geheimen Abstimmung die beiden Kandidaten Deh und Lindemann einstimmig ab. Mit dieser Entscheidung habe der Ausschuss „Rechtsgeschichte“ geschrieben, teilt der Vorsitzende des Gremiums, Dr. Edgar Franke (SPD), mit. Zuvor hat bereits das BMG Bedenken gegen den als zweiten stellvertretenden Unparteiischen vorgeschlagenen Dr. Hans-Joachim Helming formuliert (siehe Infokasten). Die neuen Kandidaten stehen bis Redaktionsschluss noch nicht fest.

Zur Legitimität des kleinen Gesetzgebers

Spricht man mit Akteuren und Kennern der Szene, so stellt man fest, dass bei vielen ein ungutes Gefühl geblieben ist. Der ehemalige G-BA-Vorsitzende Dr. Rainer Hess sagt gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „Solche Schadensereignisse kann man nicht ausschließen, die hat es früher auch gegeben, wenn auch nicht in der Dramatik, aber damit muss man offen umgehen und Fehler einräumen.“ Insgesamt sei die Selbstverwaltung störanfälliger geworden, lautet sein Urteil. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, weist darauf hin, dass bei der Besetzung die Dinge eigentlich klar geregelt seien. „Aber die Art und Weise, wie darüber diskutiert wird, finde ich sehr bedenklich, weil nicht nur Personen diskreditiert werden, sondern auch der Mechanismus beschädigt wird.“ Und weiter: „Die Funktion des G-BA wird beschädigt und zwar unabhängig davon, was im weiteren Verfahren herauskommt. Auf jeden Fall verstärkt sich das Legitimationsproblem.“
Mit dem angesprochenen Legitimationsproblem legt Litsch den Finger in die Wunde: Die Frage, ob der G-BA, gelegentlich auch kleiner Gesetzgeber genannt, ausreichend legitimiert ist, treibt viele im Gesundheitswesen um – nicht zuletzt, weil der „große“ Gesetzgeber den Bundesausschuss bei nahezu jeder Reform mit neuen Aufgaben betraut. Das Bundesgesundheitsministerium hat daher bereits vor einiger Zeit drei Rechtsgutachten zur Legitimation des G-BA beauftragt, die vor der Bundestagswahl wohl nicht mehr offiziell vorgestellt werden. Doch niemand sollte überrascht sein, wenn in der ersten Hälfte der neuen Legislatur eine umfangreiche Reform ansteht.

BMG: Bedenken gegen Helming als zweiten Stellvertreter

Gegen Dr. Hans-Joachim Helming, von ärztlicher Seite als stellvertretender Unparteiischer vorgeschlagen, gibt es im Bundesgesundheitsministerium rechtliche Vorbehalte. Helming ist „Geschäftsführer und Gesamtprojektleiter der IGiB-StimMt“, ein vom Innovationsausschuss gefördertes Projekt. Als unparteiische Mitglieder oder deren Stellvertreter können „nur Personen benannt werden, die im vorangegangenen Jahr nicht bei den Trägerorganisationen des G-BA, bei deren Mitgliedern, bei Verbänden von deren Mitgliedern oder in einem Krankenhaus beschäftigt oder selbst Vertragsarzt, Vertragszahnarzt oder Vertragspsychotherapeut waren“, heißt es in einem Brief von BMG-Staatssekretär Lutz Stroppe an den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Alleingesellschafter der IGiB-StimMt ist die IGiB GbR, die aus der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg, der AOK Nordost und der Barmer GEK besteht. Vor diesem Hintergrund sei die IGiB-StimMT als ein Verband von Mitgliedern der Trägerorganisationen anzusehen, argumentiert das Ministerium.

 

Prof. Dr. Justus Haucap, Universität Düsseldorf, und Prof. Ferdinand Wollenschläger, Universität Augsburg © pag, Fiolka

WAS DIE GUTACHTER AUSSERDEM EMPFEHLEN Die Reformkommission schlägt verbesserte Antrags- und Stellungnahmerechte für Außenstehende vor, gemeint sind Firmen, „die sich als wichtige Innovatoren für das Gesundheitssystem erweisen könnten“. Gerade für kleinere und mittlere Unternehmen sowie für Start-ups, die für mögliche Innovationen besonders vielversprechend sind, könne das aufwändige Antragsverfahren eine „hohe Marktzutrittshürde darstellen“, so die Autoren. Weitere Ideen: Bei der Auswahl des Designs von Studien, mit denen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erprobt werden, sollen regelmäßig wissenschaftliche Evaluationen durch Externe vorgenommen werden. Für Streitfälle sei eine unabhängige Methodenschiedsstelle einzurichten. Die Kommission wurde im September 2016 von der Stiftung Münch eingesetzt. Ihr gehören neben Prof. Dr. Justus Haucap der Wissenschaftstheoretiker Prof. Dr. Stephan Hartmann, LMU München, sowie der Jurist Prof. Ferdinand Wollenschläger, Universität Augsburg, an.
Die gesamten Vorschläge können im Internet nachgelesen werden: www.stiftung-muench.org/wp-content/uploads/2017/05/16.pdf

Länger und besser leben

BDI-Studie analysiert Entwicklung des Gesundheitsnutzens

Berlin (pag) – Eine vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in Auftrag gegebene Studie analysiert die Entwicklung des Gesundheitsnutzens von 1993 bis 2013. Anhand von fünf Krankheitsbildern untersuchen Wissenschaftler die quantitative und qualitative Lebenszeitveränderung in diesem Zeitraum.

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Die Kernfragen der Studie lauten: „Leben wir länger und gesünder?“ und „Wie sehr hat sich die Dauer des Lebens und die Qualität des längeren Lebens verändert?“ Im Fokus stehen akute und chronische Erkrankungen mit unterschiedlich großen Fortschritten im Betrachtungszeitraum: Herzinfarkt, Schlaganfall, Brustkrebs, Prostatakrebs sowie Diabetes Mellitus Typ II. Um die Veränderung des Gesundheitsnutzens in Zahlen auszudrücken, verwenden die Studienautoren das Konzept der „Disability Adjusted Life Years“ (DALYs). Diese messen, wie viele Lebensjahre durch Krankheit vorzeitig verloren gehen oder mit gesundheitlichen Einschränkungen verbracht werden. Eine Verlängerung der Lebenszeit und eine Verringerung der gesundheitlichen Einschränkungen drücken sich in einem Rückgang der DALYs aus.
Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesamtbelastung durch DALYs in den fünf Krankheitsbildern von 8,54 Millionen (1993) auf 7,62 Millionen (2013) abnimmt. Anders ausgedrückt: Die Krankheitslast ist in 20 Jahren auf einen jährlichen Wert zurückgegangen, der 0,92 Millionen DALY‘s oder 10,8 Prozent unter dem Ausgangsjahr liegt. In allen Krankheitsbildern gebe es positive Tendenzen für den einzelnen, konstatiert Studienautor Karsten Neumann, ehemals IGES-Institut inzwischen bei Roland Berger. Ein besonders „plakativer Fortschritt“ sei bei Brustkrebs zu beobachten, wo sich der Verlust an Lebenszeit nahezu halbiert habe.

Der Wert medizinischer Innovationen

Der BDI hofft, mit der Studie eine breitere Diskussion über den Wert medizinischer Innovationen zu entfachen. Nach zahlreichen Analysen, die insbesondere die volkswirtschaftlichen Effekte der Gesundheitswirtschaft aufgezeigt haben, steht bei dieser Erhebung der Beitrag der Branche zu einem längeren und gesunden Leben im Mittelpunkt. Industrievertreterin Dr. Dagmar Braun, Braun Beteiligungs GmbH, spricht bei der Vorstellung der Studie von einer „Nutzenbewertung der gesamten Branche“. „Wir müssen deutlich machen, dass Gesundheit mehr als ein Kostenfaktor ist“, appelliert Oliver Schenk, Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium. Deutschland sei ein „Gesundheitsland“, diese großartige Leistung gelte es vernünftig zu verkaufen.

Komplexe Frage: Wann zahlen sich Investitionen in Gesundheit aus?

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Bei der folgenden Podiumsdiskussion erläutert Prof. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung des IGES Instituts, wie komplex es sei, den Impact von Investitionen in Gesundheit zu messen. „Manchmal muss man 20 Jahren warten, bis man Erfolg sieht.“ Prof. Tobias Kurth, Direktor des Instituts für Public Health an der Charité, weist darauf hin, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen vom medizinischen Fortschritt profitierten. Auch Dr. Bärbel-Maria Kurth vom Robert Koch-Institut, mahnt an, den Blick stärker auf benachteiligte Schichten zu lenken. Lebensstil und Prävention verdienten mehr Aufmerksamkeit. Sie betont außerdem, dass Deutschland viel Geld für medizinische Forschung ausgebe, die spitzenmedizinische Versorgung sei hierzulande super, Nachholbedarf sieht die Abteilungsleiterin Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring dagegen bei der „trivialen Versorgung“. Beispielhaft verweist sie auf den im Mai im Lancet veröffentlichten „Healthcare Access and Quality Index“, bei dem Deutschland auf dem 20. Platz landet (Link am Ende des Beitrages). Auch das Thema Forschung und Daten spielt bei der Diskussion eine wichtige Rolle. Die Autoren der Studie appellieren, dass die Datengrundlagen ausgebaut und verbreitert werden sollten. Für Erfassung, Verarbeitung und Aufbereitung müssten Standards entwickelt und die Interoperabilität der unterschiedlichen Systeme gewährleistet werden. Dieses Thema klingt auch im Schlussstatement von Prof. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG, an, der seinen Fokus vor allem auf die digitale Transformation legt. Diese sei nicht mehr aufzuhalten. Pfundner fordert daher einen „Bauplan für die Digitalisierung der Gesundheitsinfrastruktur“.

 

Weiterführende Links:

„Entwicklung des Gesundheitsnutzens – Veränderung der Krankheitslast von 1993 bis 2013 für ausgewählte Krankheitsbilder“; Studienbericht im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Autoren: Kasten Neumann, Holger Stibbe, Dennis Alexander Ostwald, Sebastian Himmler, Malina Müller, Oliver Damm, Stefan Scholz, Wolfgang Greiner
http://bdi.eu/media/themenfelder/gesundheitswirtschaft/publikationen/201704_Studie_BDI_IGES_Gesundheitsnutzen.pdf

Healthcare Access and Quality Index based on mortality from causes amenable to personal health care in 195 countries and territories, 1990–2015: a novel analysis from the Global Burden of Disease Study 2015
www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(17)30818-8/fulltext

 

DIE STUDIENERGEBNISSE IM EINZELNEN

Brustkrebs: Die gemessene Inzidenz, das heißt die Häufigkeit der Neuerkrankungen, ist – vermutlich durch Screeningmaßnahmen – im Betrachtungszeitraum angestiegen, gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf. Die Überlebenschancen jeder einzelnen Patientin haben sich deutlich erhöht. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität während der Zeit der Erkrankung ist leicht gesunken. Insgesamt ist daher ein deutlicher Rückgang der DALYs zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückgeht.

Herzinfarkt: Die durch vorzeitigen Tod verlorenen Lebensjahre (Years of Life Lost, kurz YLLs) sind bei Männern eindeutig zurückgegangen. Bei den Frauen ergibt sich durch eine Verschiebung der Altersverteilung ein konstanter Verlauf der YLLs, obwohl diese sich innerhalb der gleichen Alterskohorten ebenfalls reduzieren. Die Krankheitsfolgen bzw. die durch Krankheit beeinträchtigten Lebensjahre (Years Lived with Disability, kurz YLDs) sind beim Herzinfarkt wenig relevant und bleiben auf niedrigem 
Niveau nahezu konstant. Entsprechend nehmen auch die DALYs bei Männern ab, bei den Frauen dagegen nicht. Der stärkste Effekt ergibt sich auf der Bevölkerungsebene, da die Häufigkeit der Neuerkrankungen sehr deutlich zurückgeht.

Schlaganfall: Wie beim Herzinfarkt gehen auch beim Schlaganfall die YLLs bei Männern deutlicher zurück als bei Frauen. Die Krankheitsfolgen (YLD) bleiben auf niedrigem Niveau nahezu konstant. Die DALYs nehmen bei Männern deutlich, bei Frauen leicht ab.

Diabetes: Die DALYs bei Diabetes nehmen in beiden Geschlechtern konstant ab. Der Effekt wird vor allem durch die Reduzierung von Folgeerkrankungen (YLD) erzielt. Die YLLs spielen bei Diabetes eine vergleichsweise geringe Rolle, gehen aber ebenfalls leicht zurück.

Prostatakrebs: Auch bei Prostatakrebs ist die gemessene Inzidenz – vermutlich durch Screeningmaßnahmen – zunächst angestiegen, sie nimmt seit vier bis fünf Jahren aber wieder ab. Gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf. Wie beim Brustkrebs gilt: Die Überlebenschancen der Patienten haben sich deutlich erhöht, während die Beeinträchtigung der Lebensqualität bei der Erkrankung praktisch konstant ist. Insgesamt ist daher ein deutlicher Rückgang der DALYs zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückzuführen ist.

Innovationen versus 
Bezahlbarkeit

Debatte über Reformbedarf beim AMNOG-Verfahren

Berlin (pag) – „Durchbruch in der Forschung – auch in der Finanzierung?“ Diese Fragestellung diskutieren Industrie-, Kassen- und Patientenvertreter mit Wissenschaftlern auf einem Panel des Hauptstadtkongresses (HSK). Bei der Veranstaltung steht der Weiterentwicklungsbedarf beim AMNOG-Prozess im Mittelpunkt, denn „nach der Reform ist immer vor der Reform“, betont Moderator Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, mit Blick auf das jüngst in Kraft getretene GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG).

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Im Fokus stehen unter anderem Arzneimittel mit Zusatznutzen, die in dem Verfahren mit einer niedrig-preisigen zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) konfrontiert sind. Diesem Problem widmet sich Prof. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung des IGES-Instituts, in seinem Impulsvortrag zum Dilemma von Innovation versus Bezahlbarkeit. Basierend auf seinen Ausführungen zur Kalkulation von Arzneimittelpreisen stellt er mit Blick auf das AMNOG-Verfahren die Kernfrage: „Welchen Aufschlag benötigt man für einen ‚break even‘ bzw. ein nachhaltiges Geschäfts
modell?“ Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen und niedriger ZVT müsse man das 100-fache der Vergleichstherapie verlangen dürfen, sagt Häussler. Das aber führe im Alltagsverständnis zu ganz großen Problemen. IGES-Untersuchungen zufolge kommt es zu signifikanten Preisaufschlägen – bis hin zum 19-fachen – nur beim mittleren Preissegment, „aber das passiert im unteren Preissegment eben nicht“, konstatiert Häussler. Dort sei ein 5-facher Aufschlag das Maximum, insbesondere bei kleinen Patientenpopulationen könne das zu wenig sein, um den „break even“ zu erreichen. Gerade angesichts der Eilentscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg sieht der Experte eindeutigen Reformbedarf (Anm. d. Red.: eine Woche nach der Veranstaltung hat das LSG die dazugehörige Hauptsache entschieden, siehe Infokasten).

Nachrangiges Problem in der Praxis?

Das von Dr. Matthias Suermondt, Sanofi-Vizepräsident Gesundheit und Marktzugang, vorgestellte neue Neurodermitis-Präparat Dupilumab dürfte in die von Häussler beschriebene Problemkonstellation fallen: 
Es trage den Status einer „breakthrough“ Innovation, da es in hohem Maße die schweren Symptome der chronischen Hautkrankheit verbessere. Suermondt betont, dass der quälende Juckreiz sehr schnell reduziert werde. Er weist außerdem darauf hin, dass es in dem Therapiefeld zwanzig Jahre keine Innovation gegeben habe, die Vergleichstherapie in der frühen Nutzenbewertung sei folglich generisch.
Allerdings sieht Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband, das von Häussler beschriebene Problem in der Praxis als „ganz nachrangig“ an. Schwierig gestalten sich nach ihrer Einschätzung eher die Preisverhandlungen, wenn es eine generische ZVT und keinen Zusatznutzen beim neuen Präparat gebe. Bei den chronischen Erkrankungen, zu denen Neurodermitis zählt, sieht sie das Hauptproblem nicht in den generischen zweckmäßigen Vergleichstherapien, sondern in dem Übergang von Surrogatparametern in symptomarme Manifestationsphasen hin zu patientenrelevanten Endpunkten. „Deutschland hat sich entschieden, über patientenrelevante Endpunkte zu gehen, das macht es bei chronischen Erkrankungen etwas schwieriger, die Dinge zu messen“, sagt Haas.
Aus Sicht der Industrie hebt Suermondt hervor, dass man gelernt habe, diese Endpunkte in den Studien zu berücksichtigen. Allerdings äußert er Zweifel daran, ob sie auch im Verfahren der Nutzenbewertung immer konsequent mitgedacht werden – er verweist auf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das beispielsweise in dem Wechsel von Spritze auf orale Darreichungsform für MS-Patienten keinen Zusatznutzen erkenne.

Die Patienten- und Gesellschaftsperspektive

Von den enormen Belastungen durch Neurodermitis für die Betroffenen im Alltag berichtet Dr. Silvia Pleschka auf der Veranstaltung. „Wenn Kinder erkrankt sind, leidet die ganze Familie“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Allergie- und Asthmabundes. Die Patienten müssten zudem die Basisversorgung selbst bezahlen; viele hätten das Gefühl, keine innovative Behandlung zu bekommen. Den gesellschaftlichen Blickwinkel bringt Dr. Dennis A. Ostwald in das Panel ein, der über Social Impact Studien referiert. Deren erkenntnisleitende Fragestellung laute: „Was macht Gesundheitswirtschaft für den einzelnen Patienten und für die Gesellschaft?“ Der Gründer und Geschäftsführer der WifOR GmbH zeigt sich davon überzeugt, dass solche Studien zukünftig den politischen Dialog bereichern könnten, AMNOG-fit seien die Modelle allerdings noch nicht.

Mehr über die Hintergründe unter www.gerechte-gesundheit.de/news/detail/news-detail/2341.html

 

LSG MAHNT GESETZLICHE REGELUNG ZUR MISCHPREISBILDUNG AN
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg verlangt vom Gesetzgeber eine Regelung zur Mischpreisbildung. Es sieht „erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der praktizierten Mischpreisbildung“, weil der Mischpreis keine nutzenadäquate Vergütung darstelle und er keine Grundlage im Gesetz finde. Dringend notwendig sei daher eine gesetzliche Regelung, die die Mischpreisbildung in einem Fall wie bei Albiglutid zulasse, zumindest aber eine Übereinkunft in der Rahmenvereinbarung, so das Gericht weiter. „Der Mischpreis ist nicht tot aber behandlungsbedürftig“, reagiert Prof. Jürgen Wasem, 
Vorsitzender der Schiedsstelle
nach § 130b SGB V, auf das LSG-Urteil. Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), verlangt: „Der Gesetzgeber sollte nicht warten, bis möglicherweise das Bundessozialgericht eine Entscheidung trifft, sondern in der neuen Legislaturperiode eine Lösung anstreben.“ Das Urteil verunsichere alle Beteiligten. Es bestehe die Gefahr, dass Ärzte
innovative Arzneimittel aus Angst vor Regressen nicht mehr verordnen.
Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, wertet dagegen das Urteil als „klares Zeichen an Pharmafirmen und Ärzte“. Es gebe keinen Freibrief für neue Arzneimittel. Auch wenn diese einen Zusatznutzen in Teilbereichen hätten, seien sie nicht generell wirtschaftlich. „Das entscheidet sich erst bei der konkreten Verordnung“, sagt Litsch. Anlass des Verfahrens ist das Mittel Albiglutid, gegen den von der Schiedsstelle festgesetzten Erstattungsbetrag hatte der GKV-Spitzenverband geklagt. Das LSG hat der Klage stattgegeben.

Onkologische Versorgung weiter gedacht

Fortschritt soll sicher und schneller Patienten erreichen

Berlin (pag) – „Die Krebsforschung steht an einem Wendepunkt“, heißt es in einem kürzlich vorgestellten Positionspapier. Darin werben Ärzte-, Patienten-, Wissenschafts- und Kassenvertreter sowie Bundestagsabgeordnete für eine „konzertierte Anstrengung“, um die Versorgung zu verbessern. Konkret machen sie sich für eine Prähabilitation von Patienten und eine „Wissen generierende Versorgung“ stark.

Die Ausgangssituation: Das wissenschaftliche Verständnis, wie die Krankheit entsteht und sich ausbreitet, hat sich deutlich verbessert und damit neue Therapiemöglichkeiten eröffnet. Dennoch versterben noch immer bis zu 50 Prozent aller neu diagnostizierten Patienten an Krebs. Die Zahl der Neuerkrankungen steigt und die Therapieinnovationen verursachen sehr schnell wachsende Kosten, die das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen stellen.
Das siebenseitige Positionspapier hat die breit aufgestellte Arbeitsgruppe „Zukunft der Onkologie“ unter Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft formuliert. Darin wird verlangt: „Die Wissenschaft muss gemeinsamen mit den Versorgern und Kostenträgern im Gesundheitswesen eine konzertierte Anstrengung unternehmen, um erfolgreich zu sein.“ Mit Verweis auf die amerikanische „Moonshot“-Initiative skizzieren die Autoren ein sieben Punkte umfassendes Programm, das dafür sorgen soll, die Forschung an Krebserkrankungen zu verbessern und diese Innovation in die klinische Anwendung zu tragen. Von der angestrebten Dynamisierung sollen die Gesundheit der Bevölkerung sowie die Volkswirtschaft Deutschlands gleichermaßen profitieren.

Vernetzung über translationale Tumorboards

Erreicht werden soll das über eine bessere Vernetzung – und zwar sowohl zwischen Forschung und Versorgung als auch zwischen den Ärzten selbst. Das Ziel ist eine „forschungsbasierte und Wissen generierende Versorgung“. Konkret angedacht ist, dass regionale translationale Tumorboards bei der Anwendung von Innovationen eng mit den betreuenden Ärzten kooperieren und sich gemeinsam verpflichten, die Behandlungsdaten in den klinischen Krebsregistern zu dokumentieren. Dr. Ursula Marschall, Abteilungsleiterin Medizin und Versorgungsforschung bei der Barmer, betont auf der Pressekonferenz, auf der das Konzept vorgestellt wird, dass doppelte Dokumentationen vermieden und keine Parallelstrukturen zu den Krebsregistern aufgebaut werden sollen.
Ausdrücklich hält das Positionspapier fest, es werde nicht angestrebt, „dass die sogenannten Zentren (zum Beispiel Comprehensive Cancer Centers) die anderen Leistungserbringer verdrängen, sondern diese bzw. deren Patienten sollen durch die Vernetzung mit den Zentren profitieren“. Auch Prof. Herbert Rebscher hebt hervor, dass es sich um einen offenen Prozess handele – „im Kern kann jeder mitmachen, der die Kompetenz hat und sich an die Regeln des Verfahrens hält“, so der ehemalige Vorstandsvorsitzende der DAK-Gesundheit. Da der Begriff Zentrum bei Leistungserbringen oft mit negativen Assoziationen verbunden ist, spricht der Onkologe Prof. Michael Hallek von der Uniklinik Köln lieber von Kompetenznetzwerken.
„Es werden keine Strukturen geschaffen, die dafür sorgen, dass morgen alle Patienten in einer Uniklinik behandelt werden“, verspricht er. Hallek erläutert, dass es bei dem im Papier skizzierten Ansatz darum gehe, mehr Wissen zu generieren, um Unsicherheiten zu reduzieren. Selbst für den gut informierten Arzt könne es bei sehr hoher Innovationsgeschwindigkeit eine „Kunst“ werden, die richtige Behandlung zu empfehlen.

Patientenlotsen und Prähabilitation

Aus Patientensicht ist eine rasche Verfügbarkeit neuer Medikamente essentiell – allerdings unter Vorbehalt. Ralf Rambach, Vorsitzender des Hauses der Krebs-Selbsthilfe, sagt: „Wir wollen – kurz zusammengefasst – einen schnellen Marktzugang, aber unter sicheren Bedingungen.“ Er spricht sich für die Abgabe neuer Arzneimittel, die bisweilen auf Grundlage von Phase-II-Studien zugelassen worden seien, unter „studienähnlichen Bedingungen“ aus. Noch unbekannte Nebenwirkungen könnten so erkannt werden und es sei möglich zu dokumentieren, wie gut die teuren neuen Medikamente tatsächlich in der Versorgungsrealität seien.
Das Konzept konzentriert sich nicht allein auf den raschen und sicheren Transfer medizinischer Innovationen in die Regelversorgung. Auch die Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen soll verbessert werden. In dem Papier wird unter anderem die Anerkennung der Psychoonkolgie als voll erstattungsfähige Leistung in der ambulanten sowie stationären Versorgung vorgeschlagen. Außerdem genannt werden ein Lotsensystem sowie ein Programm zur Patientenedukation, die sogenannte Prähabilitation. Diese Schulung soll sowohl physiotherapeutische, psychosoziale, sozialrechtliche als auch medizinische Inhalte umfassen. Die Lotsen wiederum sollen sicherstellen, dass Patienten nach der Behandlung im Krankenhaus nicht aus dem Blick verloren werden. „Ein wesentliches Ziel besteht in der longitudinalen Begleitung des Patenten über Sektorengrenzen hinweg“, heißt es in dem Positionspapier.

 

Wie funktioniert die Wissengenerierende onkologische Versorgung? – Quelle: Deutsche Krebsgesellschaft e.V.

 

Botschaft an die Politik

Neben dem grundsätzlichen Konzept liefert das Papier erste Vorschläge für gesetzgeberische und politische Maßnahmen. Bei den Beteiligten ist die Hoffnung groß, dass diese in der kommenden Legislatur aufgegriffen werden. Dafür einsetzen wollen sich dezidiert die beiden Bundestagsabgeordneten Karin Maag (CDU) und Sabine Dittmar (SPD), die neben dem CDU-Abgeordneten Michael Hennrich als Vertreter der Politik das Papier mit erarbeitet haben. Sabine Dittmar bekennt auf der Pressekonferenz, dass sie sich manchmal „mehr Tempo im System“ wünschen würde. Diplomatischer drückt es Maag aus, die davon spricht, das System müsse sich der Forschung anpassen und sich auf neue Bedarfe einrichten. Eine sehr konkrete Vorlage dafür liefert das Eckpunktepapier; abzuwarten bleibt allerdings, ob und welche Ideen es tatsächlich in den nächsten Koalitionsvertrag schaffen.

Die Arbeitsgruppe „Zukunft in der Onkologie“ wurde Ende 2015 gegründet und besteht aus Abgeordneten verschiedener Bundestagsfraktionen sowie Vertretern von Krankenkassen, der ambulant und stationär tätigen Ärzteschaft, der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, Wissenschaft und Patientenorganisationen.

 

WIRTSCHAFTLICHE SEKUNDÄREFFEKTE

„Stellen Sie sich vor, es werden jährlich 400.000 Patienten in Deutschland dokumentiert behandelt“, sagt Hallek. Das sei eine weltweit einzigartige klinische Forschungsplattform und damit äußerst attraktiv für Konzerne, deren Anliegen es sei, Patienten schnell in Studien zu rekrutieren und über zügig dokumentierte Behandlungsqualität zu verfügen. „Das ist ein riesiger Wirtschaftsfaktor“, sagt der Kliniker. Er geht von herausragenden Sekundäreffekten für die Gesundheitswirtschaft aus, wenn jede neue Innovation zuerst in dem System getestet werde.

„Information ist in der modernen Medizin alles“

Akteure diskutieren Anforderungen an ein Arztinformationssystem

Berlin (pag) – Innovationen sollen beim Patienten ankommen – und zwar so gezielt, dass das System finanziell nicht überfordert wird. Mit diesen Worten beschreibt der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Lutz Stroppe, die Intention des neu zu schaffenden Arztinformationssystems (AIS) kürzlich auf einer Veranstaltung von Boehringer Ingelheim.

Zulassung, Fachinformation, Studien, Nutzenbewertung, Leitlinien, Leitsubstanzen, Regress, Adhärenz, Compliance, …. – Welche Informationen sind für die Verordnung des Arztes relevant? © JEGAS_RA – depositphotos.com

 

Man wolle die Therapieentscheidungen der Ärzte unter-stützen und „letztlich zur Therapiefreiheit beitragen“, meint der Ministeriumsvertreter. Er sagt auch, was ausdrücklich nicht gewünscht ist: eine Steuerung aus Kostengesichtspunkten. Allerdings, fügt Stroppe hinzu: „Aber ein Arzt muss auch über Wirtschaftlichkeit und Preise Bescheid wissen.“

Beschlusstexte für Insider

Das AIS soll „letztlich zur Therapiefreiheit beitragen“, sagt Staatssekretär Lutz Stroppe. © pag, Fiolka

Stroppe macht deutlich, dass insbesondere Arzneimittel, bei denen kein Zusatznutzen festgestellt wurde, in dem AIS eine große Rolle spielen sollten. Schließlich könnten diese eine wichtige Therapiealternative darstellen. In diesem Fall müsse der Arzt in der Lage sein, sie ohne drohenden Regress zu verschreiben – auch wenn der Preis über dem der Vergleichstherapie liege.
Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), kündigt ebenfalls an, dass sich der Bundesausschuss intensiver damit befassen werde, was genau der Beschluss „kein Zusatznutzen“ bedeute. Das betreffe insbesondere die Frage, ob das Mittel eine relevante Therapieoption darstelle. Bisher werde über die Frage zwar in den Anhörungen intensiv diskutiert, allerdings werde dies in den Beschlüssen bzw. tragenden Gründen noch nicht regelhaft abgebildet. Müller räumt in seinem Vortrag außerdem ein, dass die AMNOG-Beschlüsse weitgehend für Insider geschrieben seien und kaum Einfluss in der Versorgung hätten. Dabei sei der Bedarf an rationalen Informationen groß – „Information ist in der modernen Medizin alles“. Um aus dem Inner Circle heraus zu kommen, will der G-BA neue Formate entwickeln und sich dabei sogar von Medienwissenschaftlern beraten lassen.

Nicht erfüllbare Sehnsüchte des Mischpreises

Auf der Veranstaltung wird deutlich, dass die verschiedenen Akteure zwar das AIS grundsätzlich begrüßen, aber sobald es konkreter werden soll, wird es kompliziert. „Es kommt darauf an, welche Botschaft damit vermittelt werden soll“, sagt etwa Dr. Markus Frick vom Verband forschender Pharmaunternehmen (vfa). Besonders spannend ist dabei der Aspekt der Wirtschaftlichkeit, was durch die jüngste Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, den Mischpreis für rechtswidrig zu erklären, noch an Dynamik gewonnen hat. Ausführlich Stellung dazu nimmt G-BA-Vertreter Thomas Müller in seinem Vortrag. „Aus meiner Sicht hat das LSG nichts anderes festgestellt als was ohnehin in der GKV gilt, nämlich dass die einzelne Verordnung wirtschaftlich sein muss“, sagt er. Das könne auch ein Mischpreis nicht außer Kraft setzen. Einen Erstattungsbetrag zu finden, der in der gesamten Breite Wirtschaftlichkeit herstelle, so dass der Arzt sich nicht um wirtschaftliche Alternativen kümmern muss, sei eine „nicht zu erfüllende Sehnsucht“.

Ärzte nicht aus der Verantwortung für Wirtschaftlichkeit entlassen

Explizit warnt Müller die Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), die Ärzte aus dieser Verantwortung zu entlassen. Ansonsten gebe es irgendwann eine Positivliste. Das „Erfolgsrezept der deutschen Selbstverwaltung“ sei eben, dass Ärzte – „und auch Versicherte“ – in die Wirtschaftlichkeit mit eingebunden seien. Jeder Arzt entscheide mit jeder Rezeptverordnung über die Wirtschaftlichkeit und trage dazu bei, dass das System wirtschaftlich ist – „das ist letztlich Selbstverwaltung“.
Die zu erwartende Gegenposition vertritt Dr. Wolfgang-Axel Dryden, erster Vorsitzender der KV West-falen-Lippe. Er argumentiert: „Der G-BA-Beschluss gibt mir nur Informationen über die Zweckmäßigkeit einer Therapie.“ Die Wirtschaftlichkeit werde dagegen bei der Verhandlung des Erstattungsbetrags zwischen pharmazeutischem Unternehmer und GKV-Spitzenverband hergestellt. „Der Arzt haftet für die Qualität seiner Behandlung – und nicht für die Preise“, argumentiert Dryden.

Abgekoppelt von der innovativen Versorgung

Vfa-Geschäftsführer für Markt und Erstattung, Dr. Markus Frick, hebt hervor, dass insbesondere Medikamente für chronisch kranke Patienten sehr häufig keine Zusatznutzen zeigen könnten. „Übersetzt bedeutet, ‚Zusatznutzen nicht nachgewiesen’ – unwirtschaftlich. Und das heißt, dass ich diese Patienten perspektivisch von der innovativen Versorgung abkoppele.“ Nach seiner Einschätzung verändert die LSG-Entscheidung das AMNOG in seinen Grundfesten – „das ist nichts, das man abwarten kann, bis es in drei Jahren vom Bundessozialgericht überprüft wird“.
Diesem „Katastrophen-Eindruck“ widerspricht Dr. Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung beim AOK Bundesverband. Sie sieht in der LSG-Entscheidung eine Chance und sagt: „Die Abkehr vom Mischpreis kann auch dem Arzt helfen.“ Die Kassenvertreterin lastet es auch dieser Konstruktion an, dass die mit viel Aufwand erzeugten Ergebnisse des AMNOG beim Arzt nicht ankommen, denn schließlich sei es bislang aufgrund des Mischpreises egal, ob das neue Medikament Patientengruppen mit oder ohne Zusatznutzen verordnet werde.

Arzt- und kein Arzneimittelinformationssystem

Insgesamt überlagert die Diskussion zur Wirtschaftlichkeit auf der Veranstaltung weitgehend die Debatte zum AIS als solches. Dennoch formulieren die Ärztevertreter einige konkrete Voraussetzungen an das System. Dryden nennt: gut in den Workflow einbettbar, leicht und intuitiv zu bedienen, es dürfe nicht vom Patienten ablenken. „Der Aufwand ist so gering wie irgend möglich und keine zusätzliche Bürokratie“, steht außerdem auf der Wunschliste des Westfalen. Prof. Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), unterstreicht vor allem, dass das AIS in erster Linie ein Arzt- und kein Arzneimittelinformationssystem zu sein habe, sprich der komplexe Entscheidungsprozess des Behandlers solle abgebildet werden, inklusive aller Therapieoptionen und Diagnostik.
Indes betont der Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich, ähnlich wie eingangs Stroppe, dass man mit dem System keine Verordnungssteuerung schaffen wolle, sondern die bestehenden Beschlüsse des G-BA abbilden. Insgesamt hofft er auf ein „dynamisches Modell“, woran allerdings die Aussagen Müllers ein wenig zweifeln lassen. Es sei ein dickes Brett, das zu bohren sei, Geduld und Kooperationswillen seien erforderlich, insbesondere wenn in der ersten Zeit nicht alles perfekt laufe.

 

LSG: MISCHPREIS RECHTSWIDRIG

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat die Mischpreisbildung für Arzneimittel für rechtswidrig erklärt – und zwar für jene Mittel, bei denen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinem Nutzenbewertungsbeschluss zugleich Patientengruppen mit und ohne Zusatznutzen bildet. So lautet im Kern der Beschluss des LSG im Einstweiligen Rechtsschutz (ER)-Verfahren zu Albiglutid vom 1. März 2017 (Az. L 9 KR 437/16 KL ER). Damit hat das Gericht eine Entscheidung der Schiedsstelle vom 6. April 2016 außer Vollzug gesetzt. Der von der Schiedsstelle festgesetzte Betrag lag nur knapp unter den Preisvorstellungen des Herstellers. Dagegen hat der GKV-Spitzenverband geklagt (L 9 KR 213/16 KL). Das Verfahren ist noch offen.

 

 

Ungewöhnlicher Veranstaltungsort: Im Tieranatomischen Theater der Charité fand die Veranstaltung von Boehringer Ingelheim zum Thema „AIS-Arztinformationssystem – Anforderungen für ein Versorgungsmanagement“ statt. © pag, Fiolka

Begehrlichkeiten beim Morbi-RSA

Faire Wettbewerbsbedingungen für Krankenkassen gestalten

Berlin (pag) – Der Name ist sperrig, das Thema komplex: der Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA. Damit bezeichnet wird ein 200 Milliarden schwerer Zuteilungsmechanismus an die 137 Krankenkassen in Deutschland. Um die Reform dieser Geldzuweisung wird momentan erbittert gerungen. Eine Einführung in das Thema.

Glück und Steuerungskompetenz gehören zum Flippern und zum RSA. © DutchScenery – iStockphoto

Krankenkassen haben – vor allem historisch bedingt – eine ungleiche Versichertenstruktur: Einige haben viele gut verdienende und gesunde Versicherte, andere mehr kranke Menschen und Beitragszahler mit niedrigem Einkommen. Seit 1994 gibt es einen Mechanismus, der diese Risikounterschiede zwischen den Krankenkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgleichen soll: der Risikostrukturausgleich (RSA). Er soll den Rahmen für faire Wettbewerbsbedingungen für die Krankenkassen gewährleisten. Der anfängliche Mini-RSA, der vor allem die Aufgreifkriterien Alter und Geschlecht berücksichtigte, wurde immer weiter ausdifferenziert und orientiert sich seit 2009 am Krankheitszustand, also der Morbidität, der Versicherten: der Morbi-RSA. Wichtig: Damit einher geht auch ein neues Finanzierungsverfahren, reiche Krankenkassen finanzieren nicht mehr bedürftige Wettbewerber, sondern alle werden aus einem Topf bezahlt, bekommen das Geld nach Krankheitslast ihrer Versichertengemeinschaft zugeteilt. Es gibt also keine Nehmer- und Geberkassen mehr. Die Geldquelle heißt Gesundheitsfonds und dieser steht in Bonn beim Bundesversicherungsamt.

Wie funktioniert der Morbi-RSA?

Die Mittel des Gesundheitsfonds – rund 200 Milliarden Euro jährlich – sollen so an die Krankenkassen verteilt werden, dass sie möglichst zielgenau dort ankommen, wo sie zur Versorgung der Versicherten benötigt werden. Zunächst erhält jede Krankenkasse für jeden Versicherten eine Grundpauschale in Höhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in der GKV. Diese Grundpauschale wird durch ein System von Zu- und Abschlägen angepasst. Neben den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bezug einer Erwerbsminderungsrente gibt es Zuschläge für 80 ausgewählte Krankheiten. Sie sollen die zusätzlichen Ausgaben ausgleichen, die im Durchschnitt von dieser Krankheit verursacht werden. Grundlage dafür, ob die Kasse einen Morbiditätszuschlag erhält, sind die von Vertragsärzten erstellten Diagnosen, verschlüsselt nach dem ICD-10-Code.

Gesetzgeber nimmt weitere Anpassungen vor

Zwar hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt 2011 festgestellt, dass der Morbi-RSA zielgenauer wirkt als der Alt-RSA und die durchschnitt-lichen Leistungsausgaben der Krankenkassen deutlich besser deckt.
Er hat aber auch Handlungsbedarf zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA gesehen: bei den Zuweisungen für Krankengeld, den Zuweisungen für Auslandsversicherte und bei der Berücksichtigung der Ausgaben für Ver-sicherte, die im Ausgleichsjahr verstorben sind. Dem hat der Gesetzgeber 2014 mit dem GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) Rechnung getragen. Bei der Berechnung der Zuweisungen für Krankengeld und Auslandsversicherte hat er Ist-Kosten-Elemente als Übergangslösung eingeführt. Darüber hinaus werden im Einklang mit der Rechtsprechung die Ausgaben für Versicherte, die im Ausgleichsjahr verstorben sind, seit dem Jahresausgleich 2013 in gleicher Weise bei der Ermittlung der standardisierten Zuweisungen zur Deckung der Leistungsausgaben berücksichtigt wie die Ausgaben von Versicherten, die aus anderen Gründen kein vollständiges Jahr in der Krankenkasse versichert sind.
Seit Januar 2015 gibt es außerdem einen zusätzlichen Einkommensausgleich, der die Erhebung der einkommensbezogenen, kassenindividuellen Zusatzbeiträge flankiert.

Die Diskussion um den Morbi-RSA spitzt sich zu

Rosinenpickerei, die: laut Duden egoistisches Bemühen, sich von etwas Bestimmtem nur die attraktivsten Teile zu sichern, um die eher unattraktiven anderen zu überlasssen. © pag, Fiolka

In den letzten Monaten mehren sich kritische Stimmen, die weitere Reformen fordern – wenig überraschend melden sich jene Kassen zu Wort, die sich durch die aktuelle Ausgestaltung des Morbi-RSA benachteiligt sehen. Sie bemängeln Wettbewerbsverzerrungen, die dazu führten, dass ihre Kosten nicht gedeckt seien und sie einen höheren Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben müssten. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben sich zwölf Krankenkassen aus den Verbänden der Innungs-, Ersatz- und Betriebskrankenkassen 2016 zu einer „RSA-Allianz“ zusammengeschlossen. Zu ihnen gehören unter anderem Barmer, BIG direkt und Schwenninger Krankenkasse.

 

 

 

 

Die Kritiker des gegenwärtigen Ausgleichsystems fordern insbesondere:

  • Streichung der Erwerbsminderungsrente als Surrogatparameter für eine Erkrankung
  • Berücksichtigung unterschiedlicher regionalen Kosten bei der gesundheitlichen Versorgung
  • Hinterfragung der 80 ausgewählten Krankheiten, weg von einer Prävalenzgewichtung hin zu einer Kostenbetrachtung
  • Schaffung eines Hochrisikopools für extrem teure Krankheitsfälle
  • Berücksichtigung von Sprunginnovationen im Arzneimittelbereich
  • Berücksichtigung des Grundlohns bei der Krankengeldzuweisung
  • Abbau der Über- und Unterdeckungen bei Auslandsversicherten
  • Abkehr von der pauschalen Erstattung von Präventionsausgaben und Schaffung von Anreizen für die Kassen, in Prävention zu investieren
  • Gleiche Aufsicht durch Bundes- und Landesbehörde
  • Beendigung von „Schummeleien“ bei der Kodierung von Krankheiten

Deutlich zufriedener mit dem gegenwärtigen System sind die AOKen. Sie fordern eine grundlegende Gesamt-evaluation des Systems und machen darauf aufmerksam, dass auch die Wirtschaftlichkeit der Kassen eine Rolle spiele: Bei Rabattverträgen mit Pharmaherstellern agierten sie beispielsweise wesentlich erfolgreicher als andere Kassenarten.

Wie geht es weiter?

Das Bundesgesundheitsministerium hat im Dezember 2016 den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesversicherungsamt beauftragt, bis zum 30. September 2017 ein Sondergutachten zum Morbi-RSA zu erstellen. Darin sollen die Experten den bisherigen Mechanismus überprüfen sowie die Folgen relevanter Reformvorschläge abschätzen – eine Entscheidungsgrundlage für eine neue Regierungskoalition von höchster Instanz.

 

WAS JOURNALISTEN VOM RSA-STREIT HALTEN
Im „Presse-Club Gerechte Gesundheit“ debattieren Fachjournalisten über den Morbi-RSA. Auszüge dieser Diskussion lesen Sie in „Den Lobby-Nebel beiseite blasen“.

Wenn Arzneimittel knapp werden

Zu Ursachen und Lösungsmöglichkeiten bei Engpässen

 

Berlin (pag) – Patienten bleibt das Problem meist noch verborgen, dabei warnen Experten längst vor nicht hinnehmbaren Zuständen und einer Eskalation: Die Rede ist von Arzneimittelengpässen. Der Gesetzgeber hat mit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) jetzt reagiert, doch vielen geht diese Initiative nicht weit genug.

Bei der Plenardebatte im Bundestag anlässlich der AMVSG-Abstimmung spricht der SPD-Gesundheits-politiker Prof. Karl Lauterbach von „nicht hinnehmbaren Zuständen“. Damit meint er: In Krankenhausapotheken seien zwischen 30 bis 50 Arzneimittel, die für Patienten unbedingt notwendig seien, nicht erhältlich – entweder zeitweilig oder sogar ständig (siehe Infokasten: Wie viele versorgungskritische Arzneimittel fehlen?). Für den Politiker auch deshalb ein Armutszeugnis, weil der Patient davon nichts erfahre. „Ein krebskrankes Kind zum Beispiel wird dann mit einer Kombinationstherapie behandelt, die nicht optimal ist, weil das entsprechende Medikament (…) nicht vorrätig ist, und die Eltern und auch das Kind erfahren nie, dass eine andere Behandlung eigentlich sinnvoll gewesen wäre.“ Gleichzeitig, fährt Lauterbach fort, würden die dringend benötigten Medikamente bisweilen im Ausland – zu teilweise höheren Preisen – verkauft oder sie würden beim Großhandel gelagert, um dort für die niedergelassenen Onkologen über die Lieferkette bezahlt zu werden.

Krankenhausapotheker stoßen an ihre Grenzen

Das vom Bundestag verabschiedete AMVSG sieht nun eine Verpflichtung der pharmazeutischen Unternehmer vor, die Krankenhäuser zu informieren, sobald ihnen Kenntnisse über Lieferengpässe bei bestimmten Arzneimitteln vorliegen. Die Krankenhausapotheke hat dann die Möglichkeit, über die 14-Tage-Regelung hinaus das Arzneimittel im Ausland einzukaufen und zu bevorraten.
Grundsätzlich begrüßen die Krankenhausapotheker die neue Regelung. „Wir sind mittlerweile an unsere Grenzen gestoßen, das Thema eskaliert“, hat erst kürzlich Dr. Torsten Hoppe-Tichy auf einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) festgestellt. Hoppe-Tichy ist Leiter der Krankenhausapotheke am Universitätsklinikum Heidelberg. Er berichtet, dass dort inzwischen eine Vollzeitkraft jeden Tag damit beschäftigt sei, die Folgen der Lieferunfähigkeiten für die Klinik und die Patienten abzumildern.
Der Pharmaverband Pro Generika hält dagegen die Informationspflicht für wenig nachhaltig. Er twittert: „Manche rufen bei Arzneimittelengpässen v.a. nach mehr Informationen – Rauchmelder löschen aber kein Feuer“.

STUDIE: WIE VIELE VERSORGUNGSKRITISCHE ARZNEIMITTEL FEHLEN?
Aus einer vom Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (AKDA) durchgeführten Umfrage bei Krankenhausapotheken geht hervor, dass eine bedenkliche Anzahl versorgungskritischer Arzneimittel in Kliniken fehlen. Betroffen seien im wesentlichen Arzneimittel, die nur für den Klinikmarkt hergestellt werden, darunter viele Lösungen zur Injektion wie Antibiotika, Krebsmedikamente und Anästhetika. „Insgesamt sind Arzneimittel mit 280 verschiedenen Wirkstoffen nicht verfügbar gewesen, darunter 30, die die jeweilige Klinikapotheke als versorgungskritisch einstuft“, so der ADKA-Präsident Rudolf Bernard. Von den betroffenen Arzneimitteln dieser 30 Wirkstoffe meldeten die verantwortlichen Hersteller lediglich acht an das BfArM. Befragt wurden Krankenhausapotheken mit einer Versorgungsrelevanz von über 30.000 Betten und damit über sechs Prozent der nationalen Krankenhauskapazitäten.

Aus einer vom Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (AKDA) durchgeführten Umfrage bei Krankenhausapotheken geht hervor, dass eine bedenkliche Anzahl versorgungskritischer Arzneimittel in Kliniken fehlen. Betroffen seien im wesentlichen Arzneimittel, die nur für den Klinikmarkt hergestellt werden, darunter viele Lösungen zur Injektion wie Antibiotika, Krebsmedikamente und Anästhetika. „Insgesamt sind Arzneimittel mit 280 verschiedenen Wirkstoffen nicht verfügbar gewesen, darunter 30, die die jeweilige Klinikapotheke als versorgungskritisch einstuft“, so der ADKA-Präsident Rudolf Bernard. Von den betroffenen Arzneimitteln dieser 30 Wirkstoffe meldeten die verantwortlichen Hersteller lediglich acht an das BfArM. Befragt wurden Krankenhausapotheken mit einer Versorgungsrelevanz von über 30.000 Betten und damit über sechs Prozent der nationalen Krankenhauskapazitäten.

„Unser Erste-Hilfe-Koffer steht in China“

Einig dürften sich alle Beteiligten zumindest darüber sein, dass Arzneimittelengpässe ein sehr komplexes Problem sind. Einem Engpass können verschiedene Ursachen zu Grunde liegen; die DGHO nennt: Bedarfssteigerung, Preisgestaltung und Marktrücknahmen (siehe Infokasten: der Fall Osimertinib) sowie Herstellungsprobleme. Den Zulassungsbehörden zufolge sind 90 Prozent der Lieferengpässe durch Qualitätsmängel bei der Herstellung bedingt. Weltweit führend in der Produktion sind Indien, China und die USA.
Stichwort globale Arzneimittelproduktion: Um deren Folgen ging es vor einiger Zeit bei einer Veranstaltung von Pro Generika. „Unser Erste-Hilfe-Koffer steht in China“, hat dort Dr. Markus Leyck Dieken, Vorstandsvorsitzender des Verbandes und Geschäftsführer Teva/ratiopharm, festgestellt. Einer Roland-Berger-Studie zufolge stammen 80 Prozent der in Deutschland verbreiteten Intermediates und Antibiotika-Wirkstoffe aus dem Ausland. China und Indien seien Hauptherkunftsländer. Anders ausgedrückt: Deutschland hängt am Tropf von China und Co. Im Falle eines Krankheitsausbruchs drohten Liefer- bis hin zu Versorgungsengpässe, heißt es in der Studie, da Export-Länder zunächst die lokale Versorgung mit Medikamenten sicherstellten. Das Beispiel der Wirkstoffkombination Piperacillin/Tazobactam hat zudem eindrücklich gezeigt, dass auch andere Ergebnisse die Versorgung in Deutschland einschränken können, wenn etwa in China eine Produktionsstätte explodiert. Die Autoren der Studie schlagen daher vor, die Antibiotika-Produktion wieder partiell nach Deutschland zurückzuverlagern. Für Pro Generika ist das Problem der Engpässe zudem eine Steilvorlage, um sich für eine verpflichtende Mehrfachvergabe bei Antibiotika-Rabattverträgen stark zu machen.

DER FALL OSIMERTINIB – DAS PROBLEM DER MARKTRÜCKNAHMEN
Zu einem versorgungsrelevanten Arzneimittelengpass kam es Ende des vergangenen Jahres beim Lungenkrebsmedikament Osimertinib. Vorausgegangen war ein Streit des Herstellers mit dem GKV-Spitzenverband über den angemessenen Preis.
Im Vorfeld hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Rahmen des AMNOG-Verfahrens den Zusatznutzen von Osimertinib auf Basis der vorgelegten Daten als „nicht belegt“ festgelegt. Dies hatte den Hersteller zur Marktrücknahme bewogen. Zwar hätten alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht, „den Schaden aber haben die Patientinnen und Patienten getragen“, kritisiert Prof. Diana Lüftner aus dem DGHO-Vorstand. Mittlerweile könne das Medikament – wenn auch mit administrativem Mehraufwand – über internationale Apotheken bezogen werden.

Vom Liefer- zum Versorgungsengpass

Lieferengpässe betreffen vor allem Hersteller und Apotheker, aus ärztlicher Perspektive wird es kritisch in Situationen, in denen der Lieferengpass eines bestimmten Präparates Auswirkungen auf die Versorgung der Patienten hat. Besonders problematisch kann das in der Onkologie werden. „Dass ein nicht lösbarer Lieferengpass über einen nicht vermeidbaren Versorgungsengpass zu einer Verschlechterung der Prognose eines Patienten führt, muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert werden“, schreibt die DGHO in ihrer neuen Publikation „Arzneimittelengpässe am Beispiel der Hämatologie und Onkologie“. Die Fachgesellschaft plädiert unter anderem für die Implementierung eines Registers mit Meldepflicht – nach dem Vorbild der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA. Der pharmazeutische Unternehmer sei zu verpflichten, drohende und existierende Engpässe sowie deren Beendigung zu melden. Das 2013 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingerichtete, auf freiwilligen Meldungen der Industrie beruhende Lieferengpass-Register funktioniert nach Einschätzung der Fachgesellschaft nur teilweise.

Noch drastischer drückt es Dr. Christopher Hermann, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg, aus: „Das Prinzip der Freiwilligkeit von Defektmeldungen durch die Pharmaindustrie hat versagt“, sagt er auf einer Pressekonferenz in Berlin. Die Regelungen im AMVSG hält der Kassenchef zwar für einen Schritt in die richtige Richtung, „es muss aber darüber hinaus um gesetzlich sanktionierbare Pflichten und Nachhaltung gehen“. Die Rolle des BfArM sei dringend dadurch zu stärken, dass Pharmaunternehmen Lieferprobleme und alle Akteure der Handelskette ebenso verpflichtend dem Bundesinstitut als Trustcenter regelmäßig ihre Lagerbestände übermitteln.

 

von links – Dr. Christopher Hermann – Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg – und Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach – SPD-Gesundheitsexperte und stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestags-Fraktion © pag, Fiolka

BfArM: Liste engpassgefährdeter Arzneimittel

Beim Bundesinstitut findet der im Rahmen des Pharmadialogs vereinbarte Jour Fixe zum Thema „Liefer- und Versorgungsengpässe“ statt. Bereits drei Mal haben sich dort Fachkreise ausgetauscht, zuletzt am 31. März 2017. Anfang Mai hat das BfArM eine Empfehlung des Jour Fixe umgesetzt und erstmals eine Liste von Wirkstoffen veröffentlicht, die für die Versorgung der Gesamtbevölkerung als besonders relevant angesehen werden. Diese Liste ist für die Bundesoberbehörden wichtig, um zwischen gemeldeten Lieferengpässen von Arzneimitteln mit und ohne Versorgungsrelevanz zu unterscheiden. Die Übersicht enthält Wirkstoffe für verschreibungspflichtige Arzneimittel und beruht maßgeblich auf den Vorschlägen der medizinischen Fachgesellschaften unter Berücksichtigung der WHO-Liste der essentiellen Wirkstoffe. Sie werde regelmäßig aktualisiert und weiterentwickelt, kündigt das BfArM an. Arzneimittel aus dieser Liste, die mit einem besonderen Versorgungsrisiko verbunden sind, werden künftig engmaschig behördlich überwacht. Ein erhöhtes Versorgungsrisiko liegt beispielsweise vor, wenn es für das Arzneimittel nur noch einen Zulassungsinhaber oder einen Wirkstoffhersteller gibt und keine therapeutischen Alternativen bestehen, erläutert das Bundesinstitut. Es hofft, relevante Problemlagen schnell zu identifizieren und im Dialog mit den Herstellern Lösungswege anzustoßen.
Last but not least: Das BfArM hat angekündigt, dass seine Übersicht zu aktuellen Lieferengpässen künftig auch jene Meldungen beinhalten soll, die von den Zulassungsinhabern an die Krankenhäuser zu melden sind (§52b Abs. 3a Arzneimittelgesetz). Das Ziel: mehr Transparenz zur Versorgungslage für verschreibungspflichtige Arzneimittel in der stationären Versorgung.

Literaturtipp: Arzneimittelengpässe am Beispiel der Hämatologie und Onkologie.
Mit Übersicht zur Situation in anderen Fachgebieten. Gesundheitspolitische Schriftenreihe der DGHO , Band 9. Hrsg:C. Brokemeyer, M. Hallek, D. Lüftner und F. Weißinger. www.dgho.de/informationen/gesundheitspolitische-schriftenreihe/band-9-arzneimittelengpaesse/dgho_gpsr_IX_DE_web_und%20einleger_170309.pdf