„Wir müssen von vielen Seiten zugleich ansetzen“

Prof. Wolfgang Wick über Umsetzungsprobleme in der Prävention

Berlin (pag) – In Sachen Prävention gibt es weniger ein Erkenntnis- denn ein Umsetzungsproblem, konstatiert Prof. Wolfgang Wick, Vorsitzender des Wissenschaftsrates, und fordert: „Das müssen wir ändern.“ Der oft verlangte „Turn“ im Gesundheitswesen und in der Medizin hin der Gesunderhaltung müsse endlich verbindlich angegangen werden. Wie genau, verrät der Neurologe im Interview.

@ pag, Weger
@ pag, Weger

Auf einem Symposium hat der Wissenschaftsrat kürzlich gefordert, Prävention neu zu denken. Worin bestehen hierzulande die größten Denkfehler auf diesem Feld?

Wick: Ein Denkfehler wäre es, Prävention allein als medizinisches Thema zu begreifen. Prävention ist vielmehr eine gesellschaftliche  Querschnittsaufgabe. Deshalb müssen sich die beteiligten Akteure besser vernetzen. Dies meint sowohl Wissenschaft, Wirtschaft und auch allgemeine Öffentlichkeit wie auch die Politik – und dies ressortübergreifend im Sinne einer konsequenten „Health in all policies“. Weiterhin halte ich Verbotsdiskurse für nicht förderlich. Wir müssen uns stärker Gedanken zu Anreizen für ein gesundheitsbewusstes Verhalten und zielgruppengerechter Kommunikation machen und benötigen hierfür auch ein Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Professionen. Auch Gesundheits- und Datenkompetenzen müssen in der Breite gestärkt werden, nicht zuletzt auch um Möglichkeiten der Digitalisierung besser nutzen zu können.

Worauf kommt es besonders an?

Wick: Prävention in der Gesellschaft und dem alltäglichen Leben besser zu verankern und den bereits oft aufgerufenen „Turn“ im Gesundheitswesen und in der Medizin hin zu einem Ansatz der Gesunderhaltung verbindlich anzugehen. Dabei gilt es aus meiner Sicht auch, bestehende Initiativen und Strukturen gut einzubinden und auch dezentral-regionale Ansätze zu stimulieren sowie einen möglichst breiten, interdisziplinären und interprofessionellen Präventionsbegriff zu stärken. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe für die Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Prävention muss sowohl in Studium und Weiterbildung als auch in Forschung Translation/Transfer in den entsprechenden Fächern, Human- und Zahnmedizin und in den anderen Gesundheitswissenschaften, angemessen berücksichtigt werden.

Auf der Veranstaltung haben sich die unterschiedlichsten Expertinnen und Experten zur Prävention ausgetauscht. Gab es für Sie eine überraschende Erkenntnis?

Wick: Es war vielleicht nicht überraschend, aber doch sehr eindrucksvoll, so gebündelt zu sehen, wie viel Wissen wir einerseits haben in ganz unterschiedlichen Feldern. Dennoch gelingt es uns in Deutschland bislang nicht gut genug, Prävention auch umzusetzen. Es gibt weniger ein Erkenntnis- denn ein Umsetzungsproblem. Das müssen wir ändern. Dafür müssen wir von vielen Seiten zugleich ansetzen. Denn so wenig es die eine Ursache gibt, so wenig gibt es die eine Lösung. Wichtig zu verstehen scheint mir auch, dass wir neben gemeinsamen Zielen, die abstrakt formuliert sicher mehrheitsfähig sind, vor allem eine regionale Durchdringung in den Aktivitäten brauchen. Dies bedeutet vielfältige Ansätze, aber klare Standards und Rahmen, um zum Beispiel die viel beschworene Datennutzung zu ermöglichen. Wir brauchen einen interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz.

Was braucht es, um den sogenannten „Implementation Gap“ in der Prävention nachhaltig zu überwinden? Wie gehen dabei andere Länder vor?

Wick: Aus meiner Sicht müssen wir insbesondere die Anreizsysteme für das Wissenschafts- und Gesundheitssystem in den Blick nehmen und so verändern, dass Prävention einen höheren Stellenwert erhält. Andere Länder gehen bereits voran. Im Rahmen des Symposiums haben wir unter anderem das Beispiel der Niederlande gehört.

Wie wird dort Prävention gestaltet?

Wick: In den Niederlanden debattiert man auf politischer Ebene die verpflichtende Vereinbarung konkreter nationaler Gesundheitsziele, ähnlich wie für andere gesellschaftliche Bereiche zum Beispiel im Falle von Finanz- und Klimazielen. Jeder niederländischen Bürgerin und jedem Bürger sollen fünf zusätzliche gesunde Lebensjahre ermöglicht und die Unterschiede in der gesunden Lebenserwartung zwischen ärmsten und reichsten Bevölkerungsschichten signifikant verringert werden. Zur Erreichung solcher Ziele werden attraktive Vorsorgeangebote und Einbindung der Informationen in das hausärztliche Versorgungsumfeld angeboten, die als wertvoll wahrgenommen werden; es wird aber auch die Lebensmittelindustrie mit ins Boot geholt. Davon könnten wir uns vielleicht auch in Deutschland etwas abschauen.

 

Zur Person
Der Neurologe Prof. Wolfgang Wick ist seit vergangenem Jahr Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Am Universitätsklinikum Heidelberg ist er Ärztlicher Direktor Neurologie und Poliklinik sowie Zentrumssprecher der Kopfklinik. Wick beschäftigt sich mit grundlegenden, translationalen und klinischen Fragestellungen zu hirneigenen Tumoren und Krebsmetastasen im zentralen Nervensystem.

 

Weiterführender Link:
Der Wissenschaftsrat hat sich kürzlich ausführlich mit Prävention beschäftigt. Die Podcastfolge zu dem Symposium gibt es hier:
https://www.wissenschaftsrat.de/DE/Home/Buehne/_Inhalte/Inhalte_Online/Podcast_Symposium_Praevention

„Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial“

Prof. Henry Völzke über Datenschätze für die Prävention

Berlin (pag) – „Wir sehen als Gesellschaft zu, wie wir immer kränker werden und wir tun nichts dagegen“, kritisiert Prof. Henry Völzke kürzlich in Berlin. Der Vorstandsvorsitzende der NAKO bringt für die Prävention den Datenschatz der Gesundheitsstudie ins Gespräch. Welche Potenziale er sieht und ob die Politik interessiert ist, lesen Sie im Interview.

Welchen Beitrag kann die NAKO für die Prävention und die Früherkennung hierzulande leisten?

Völzke: Die NAKO Gesundheitsstudie ist eine Beobachtungsstudie. In 18 Studienregionen untersuchen wir die mehr als 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und wissen daher recht gut darüber Bescheid, welche Bevölkerungsgruppen, welche Regionen und welche sozialen Gruppen besonders von Risikofaktoren und Erkrankungen betroffen sind.

Hätten Sie ein konkretes Beispiel?

Völzke: Wir sehen eine zunehmende Häufigkeit von Adipositas in der Bevölkerung. Davon ist vor allem der Nordosten betroffen, also Vorpommern und die Mecklenburgische Seenplatte. Der Landespolitik in Mecklenburg-Vorpommern ist das bereits bekannt und sie tut, was sie kann – etwa Aufklärungskampagnen, gesunde Ernährung in Kitas et cetera. Aber die Möglichkeiten des Landes sind eben beschränkt. Es müsste viel mehr auf Bundes- und EU-Ebene passieren, ein Stichwort ist die Zuckersteuer. Mithilfe der NAKO-Daten könnten wir zukünftig beurteilen, was solche Maßnahmen gebracht haben – zum Beispiel, ob der durchschnittliche Body-Mass-Index gesenkt wurde.

Wie sieht es mit der Früherkennung von Erkrankungen aus?

Völzke: Da kann und wird die NAKO Gesundheitsstudie eine große Rolle spielen. Ein starker Punkt sind Biomarker aus verschiedenen Körperflüssigkeiten. Mit neuen Verfahren können innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl an Informationen aus Blut, Serum, Urin oder Stuhlproben gewonnen werden. Das ist natürlich ein Feld der Grundlagenforschung: diese Technologien anzuwenden und dann neue Marker, die eventuell zur Früherkennung von Erkrankung eingesetzt werden können, überhaupt erst einmal zu finden. Außerdem haben wir zahlreiche Untersuchungsverfahren, um subklinische Auffälligkeiten zu bestimmen.

Was sind das für Auffälligkeiten?

Völzke: Dabei handelt es sich um Auffälligkeiten, die auf einen Krankheitsprozess hindeuten, aber selbst noch keinen Krankheitswert haben. Im MRT sieht man zum Beispiel eine vergrößerte Leber, eine vergrößerte Milz, die Verfettung von Organen. Die Frage, mit der sich die Wissenschaftler dann die nächsten Jahre und Jahrzehnte beschäftigen, lautet, ob solche Auffälligkeiten wirklich als Vorhersagemarker für spätere Erkrankungen verwendbar sind.

© NAKO Gesundheitsstudie
© NAKO Gesundheitsstudie

Zur Person
Prof. Henry Völzke ist Vorstandsvorsitzender der NAKO. Der fünfköpfige Vorstand ist die Außenvertretung der Gesundheitsstudie gegenüber Wissenschaft, Politik, Medien, der Öffentlichkeit und Förderern. Völzke leitet außerdem die Abteilung SHIP/ Klinisch-Epidemiologische Forschung am Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald. SHIP steht für Study of Health in Pomerania, dabei handelt es sich um eine bevölkerungsbezogene, epidemiologische Studie in der Region Vorpommern im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.
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Das dürfte auch ein wichtiger Punkt für die Alzheimertherapie sein, die ja vor den ersten klinischen Auffälligkeiten einsetzen sollte.

Völzke: Gerade das MRT liefert möglicherweise Befunde, von denen wir noch gar nicht wissen, ob sie eine Bedeutung haben. Bei der sogenannten Radiomix-Untersuchung werden mit neuen Bildanalyseverfahren Auffälligkeiten wie bestimmte Muster, Unterschiede zwischen verschiedenen Gehirnanteilen, Größenunterschiede und auch Signalintensitätsunterschiede identifiziert. In Zukunft, wenn wir genügend Fälle mit Alzheimer oder Parkinson in der NAKO haben, werden wir sehen, ob diese bereits jetzt aufgespürten Auffälligkeiten wirklich einen Krankheits- oder zumindest einen Prognosewert haben.

Wo sehen Sie die größten Potenziale?

Völzke: Das größte Potenzial ergibt sich aus der einzigartigen Kombination aus dem Umfang der Untersuchungen und der Größe der Studienpopulation – und das in Verbindung mit dem langfristigen Ansatz: Wir beobachten die Teilnehmer über Jahrzehnte nach, um zu sehen, wer leider krank wird, wer gesund bleibt und welches die Faktoren sind, die über Krankheit und Gesundheit entscheiden. Außerdem ist die NAKO Gesundheitsstudie ein hoch interdisziplinäres Projekt, mit Neurologen, Kardiologen, Diabetologen und Orthopäden an Bord, auch Zahnärzte sind beispielsweise dabei. Irgendwann fügt sich das Ganze zu einem komplexen Bild zusammen, etwa Zahnauffälligkeiten wie Paradontitis, die mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert sind. Das Potenzial ergibt sich somit aus dem Umfang der verschiedenen Untersuchungen, und die Größe der Population macht es wiederum möglich, die verschiedenen Interaktionen zwischen Risikofaktoren, subklinischen Auffälligkeiten sowie genetische Faktoren in Bezug auf Krankheitsrisiken zu bestimmen.

Was muss die Politik tun, um diesen Datenschatz zu heben?

Völzke: Uns weiterhin unterstützen. Bund, Länder und die Helmholtz-Gemeinschaft, die die NAKO Gesundheitsstudie finanzieren, unterstützen uns sehr. NAKO ist ein langfristiges Projekt und damit etwas Besonderes in der deutschen Wissenschaftsszene, denn die Politik hat sich für 30 Jahre verpflichtet, die Gesundheitsstudie zu fördern. Wir möchten sie davon überzeugen, dass diese 30 Jahre nicht ausreichen. Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial, wenn wir zum Beispiel eine neue Stichprobe hinzufügen, um Prävalenztrends zu beobachten oder die Kinder der NAKO-Teilnehmer in die Untersuchung einbeziehen könnten. Dafür gibt es Verständnis bei unseren Förderern, aber wir erleben natürlich eine angespannte finanzielle Situation.

Hat der Bundesgesundheitsminister Sie bei seinen Bemühungen um die Vorbeugemedizin auf dem Schirm?

Völzke: Ich wünschte mir, er würde das Potenzial der Studie für die Gesundheit unserer Gesellschaft noch intensiver nutzen. Zum Beispiel könnten Erkenntnisse der NAKO auch in die Gesundheitsberichterstattung einfließen oder eigene Forschungsfragen des Ministeriums an die Gesundheitsstudie angedockt werden.

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© NAKO Gesundheitsstudie
© NAKO Gesundheitsstudie

Die NAKO
Die NAKO ist Deutschlands größte Langzeit-Bevölkerungsstudie, bei der fortlaufend in 18 Studienzentren über 205.000 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger umfassend medizinisch untersucht und nach ihren Lebensgewohnheiten befragt werden. Zu Beginn der Erhebung im Jahr 2014 waren die Teilnehmenden 20 bis 69 Jahre alt. In fünf ausgewählten Zentren wurden bislang bei 30.000 Studienteilnehmenden das bildgebende Verfahren der Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt. Im Laufe der Studie wurden rund 28 Millionen Bioproben gesammelt und stehen für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung. Den Verantwortlichen zufolge ist NAKO ein „einzigartiges Projekt, das die medizinische Forschung und die Gesundheitsprävention nachhaltig prägen wird“.
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„Uns war ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft wichtig“

Lena Kümmel über gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung im Ostalbkreis

Aalen (pag) – Im Sommer 2023 beschäftigen sich 51 zufällig ausgewählte Bürger damit, wie eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung aussehen könnte. In einem Bürgerforum tauschen sie sich über das Zukunftskonzept der Kliniken Ostalb aus. Das Ergebnis: 26 konkrete Empfehlungen an den Kreistag. Hintergründe, Ziele und Herausforderungen erläutert die Projektverantwortliche, Lena Kümmel, im Interview. Sie hat die Bürgerbeteiligung von Anfang an begleitet.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerforums im Ostalbkreis, die sich mit Klinikstrukturveränderungen auseinandergesetzt haben. © Kommunikationsbüro Ulmer GmbH

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Der Ostalbkreis initiierte im vergangenen Jahr eine Bürgerbeteiligung in der regionalen Gesundheitspolitik. Um welches Thema ging es dabei?

Kümmel: Ursprünglich um unsere Klinikstruktur, konkret um die Zusammenlegung von mehreren Standorten. Doch das Interesse der Bürger reichte weit darüber hinaus. Ein wichtiges Anliegen war ihnen auch die ambulante ärztliche Versorgung. Das spiegelt sich in den Empfehlungen der Bürger wider: Sie beziehen sich einerseits auf Klinikstrukturveränderungen, andererseits auf die gesamte Gesundheitsstruktur im Landkreis. Außerdem gibt es landes- und bundespolitische Empfehlungen.

Warum entschied sich der Landrat für diesen Schritt?

Kümmel: Unser Landrat Dr. Joachim Bläse nahm selbst an einem Zufallsbürgerforum teil. Der Prozess und die Ergebnisse beeindruckten ihn so stark, dass er dieses Format im Rahmen des Klinikstrukturierungsprozesses aufgriff. So kam unser erster Versuch, ein solches Zufallsbürgerforum im Gesundheitssektor auszuprobieren, ins Rollen.

Bekamen Sie dafür externe Unterstützung?

Kümmel: Ja, bei der zuständigen Stelle für Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg. Bei der Evaluation stand uns Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim zur Seite.

Wie fand die Beteiligung konkret statt?

Der Strukturwandel im Krankenhaussektor stellt viele Kommunen und Landkreise vor erhebliche Herausforderungen. Das trifft auch auf den Ostalbkreis zu. © stock.adobe.com, upixa

Kümmel: Wichtige Leitfragen waren für uns: Wo im Prozess holen wir die Bürger ab? Welche Entscheidungen gingen bereits voraus? In unserem Fall bestand der erste Schritt darin, die Bürger darüber aufzuklären, warum es notwendig ist, den Klinikbereich umzustrukturieren. Über die Gründe – etwa personelle, finanzielle und strukturelle Schwierigkeiten – informierten wir sie zuerst. Das geschah sowohl in Präsenz als auch im Rahmen von Videokonferenzen. In Bürgerdialogen sprachen Experten über die mannigfaltigen Problemfelder.

Wer war das zum Beispiel?

Kümmel: Neben dem Landrat vor allem Klinikmitarbeiter oder der Klinikvorstand. Wir investierten insbesondere deshalb in die Informationsbereitstellung, weil erst mit einem gewissen Problemverständnis Lösungsansätze erarbeitet werden können.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?

Kümmel: Herausfordernd waren im Zufallsbürgerforum insbesondere emotionale Themen, dann wurde die Debatte merklich schwieriger. Das nahmen wir insbesondere bei zwei Bereichen wahr.

Bei welchen?

Kümmel: Bei der Notfallversorgung und der Geburtshilfe. Die Bürger trieb die Frage um, an wen sie sich im Notfall wenden können, wenn zum Beispiel die Notaufnahme nicht mehr vor Ort ist. Bei dieser Frage waren die Beteiligten teilweise sehr besorgt. Zwar versuchten sie, sich von den Fakten leiten zu lassen, aber an anderen Stellen gelang ihnen das besser. Viel Verständnis hatten die Bürger beispielsweise, wenn es um Qualitäts- oder Personalvorgaben ging. Für sie war es gut nachvollziehbar, dass Veränderungen für gute Strukturen und Arbeitsbedingungen notwendig sind.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Kümmel: Wir haben weiterhin versucht, die Fakten darzustellen und zu erklären, warum kein Weg an Strukturveränderungen vorbei geht. Wir achteten außerdem darauf, den Beteiligten verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Dazu ließen wir etwa Sprecher aus Bürgerinitiativen zu Wort kommen. Statt uns in Details zu verlieren, lenkten wir den Fokus auf das große Ganze. Das konnten die Bürger auch greifen und die Ergebnisse sprechen für sich: Letztlich lautet ihre Empfehlung, ein Zentralklinikum zu bauen. Das deckt sich mit der Entscheidung des Kreistages. Wichtig war für uns aber natürlich auch, die Emotionen und Bedenken der Menschen wahr- und mitzunehmen.

Wie sieht es mit der Berücksichtigung der Bürgerempfehlungen bei den politischen Entscheidungsfindung aus?

Kümmel: Bei uns ist der Kreistag das zuständige Entscheidungsgremium, weil sich die Kliniken in der Trägerschaft des Landkreises befinden. Die Herausforderung besteht darin, dass bei der Neuorganisation der Klinikstruktur viele unterschiedliche Interessen zusammenkommen: Jeder Bürgermeister, jede Stadt hat eigene Vorstellungen. Es ist schwierig, ihnen zu erklären, dass sich ihr Klinikum vor Ort verändern wird.

Im Osten Baden-Württembergs gelegen, grenzt der Ostalbkreis an den Freistaat Bayern.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kümmel: Zu Beginn des Prozesses erhielten wir zuhauf Leserbriefe und Bürgerinitiativen, die sich allesamt gegen Klinikstrukturveränderungen aussprachen. Uns war es daher wichtig, ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft zu bekommen, das sich die Situation neutral und unvoreingenommen ansieht. Mit unserer alters- und geschlechtsheterogenen Gruppe haben wir genau diese Möglichkeit bekommen. Durch die Empfehlungen der Bürger fiel dem Kreistag die Entscheidung für einen zentralen Klinikstandort leichter. In anderen Landkreisen sieht man immer wieder, dass es nur knappe Mehrheiten für Strukturänderungen im Klinikbereich gibt. In unserem Fall gab es nur eine Enthaltung und eine Gegenstimme bei insgesamt 73 Kreisräten. Ein eindeutiges Votum. Der Landrat ist davon überzeugt, dass die Bürgerbeteiligung einen relevanten Beitrag zu dieser Zustimmung geleistet hat.

Hat sich die Bürgerbeteiligung auf weitere Versorgungsbereiche ausgewirkt?

Kümmel: Im Landkreis haben wir eine angespannte hausärztliche Versorgungssituation, insbesondere durch eine teilweise Unterversorgung bedingt. Auch den Bürgern fällt auf, dass es an Personal und Nachwuchs fehlt. Lange Wartezeiten sind nur eine der Folgen. Auch im Bürgerforum war spürbar: Es muss sich etwas an den Strukturen ändern, wenn wir eine gute Versorgung im ländlichen Raum sichern wollen. Vielen ist mittlerweile bewusst, dass sich vielleicht nicht in jedem kleinen Dörfchen ein Hausarzt halten kann, sondern Verbünde in Städten zukunftstauglicher sind. Das ist in der Diskussion offensichtlich geworden.

Was sind die wichtigsten Lehren aus der Bürgerbeteiligung?

Kümmel: Gerade im Gesundheitssektor bietet diese Herangehensweise immenses Potenzial. Es handelt sich um einen Bereich, in dem zwar viele Meinungen kursieren, aber grundsätzlich zu wenig Fakten bekannt sind. Ich denke dabei etwa an die Zuständigkeitsbereiche. Ein Beispiel aus meinem Alltag: Häufig rufen Bürger im Landratsamt mit der Bitte an, dass wir ihnen einen Hausarzttermin vermitteln. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als sie an die Kassenärztliche Vereinigung zu überweisen.

Passiert das öfter?

Kümmel: Das ist kein Einzelphänomen. Dem Bürger fehlt es häufig an Orientierung. Offen bleiben Fragen wie: Wer trägt die Verantwortung, wo wird mir geholfen oder wo kann ich mich beschweren, wenn etwas nicht gut läuft? Da so viel Halbwissen und Gefühle kursieren, ist die Bürgerbeteiligung eine sehr hilfreiche Möglichkeit, um in den Dialog zu gehen und proaktiv zu kommunizieren. Selbst wenn der Zeit- und Arbeitsaufwand dafür hoch ist, lohnt es sich. Dafür ziehen Bürger und Experten an einem Strang und gewinnen über die Empfehlungen hinaus eine neue Rolle: Sie werden zu Multiplikatoren in ihrer Nachbarschaft, bei Freunden und im familiären Umfeld. Das hat einen hohen Mehrwert.

Ist diese Beteiligungsform auch für andere gesundheitspolitische Bereiche beziehungsweise Akteure denkbar? Gibt es bereits Anfragen?

Kümmel: Aus meiner Sicht ist die Beteiligung in vielen anderen Bereichen sinnvoll. Ich denke beispielsweise an den ambulanten ärztlichen Sektor. Die Eignung leitet sich immer über das Ziel ab: Warum würde man sich hier die Unterstützung für Entscheidungen oder Ideen von Bürgern wünschen? Bei uns ist zwar aktuell nichts weiter geplant, aber die Hebel sind in Bewegung. Wir wollen jetzt ein neues Gesundheitszentrum errichten. Wenn es an die konkrete Planung geht, kann ich mir gut vorstellen, dass wir wieder die Bürger vor Ort zu ihren Wünschen und Ideen befragen. Auch um die Akzeptanz für das neue Zentrum zu erhöhen.

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© pag, Fiolka

Zur Person
Lena Kümmel hat Politikwissenschaft und Soziologie studiert, arbeitete zwei Jahre im Europäischen Parlament und ist seit 2019 im Landratsamt Ostalbkreis als persönliche Referentin des Landrats tätig. Seit 2021 ist sie Referentin für die stationäre und ambulante Versorgung im Landkreis und unterstützt den Zukunftsprozess der Kliniken Ostalb. Begleitend studiert sie Gesundheitsmanagement im Master.
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„Blended Intelligence“ als Goldstandard

Prof. Alena Buyx über KI in der ärztlichen Versorgung

Berlin (pag) – Die Ethikratsvorsitzende Prof. Alena Buyx ist zuversichtlich, dass in der Medizin die Integration von KI gut gelingen wird. Dennoch sei strategisches Nachdenken darüber notwendig, was Ärztinnen und Ärzte wirklich an Künstlicher Intelligenz benötigen. Bedarf sieht sie vor allem bei administrativ entlastenden Algorithmen.

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Revolutioniert der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin den Beruf des Arztes und der Ärztin?

Buyx: Im Augenblick gibt es erste Anwendungen, die bereits ziemlich stark in genuin ärztliche Tätigkeiten eingreifen. Einige funktionieren gut, vieles davon ist aber noch gar nicht in der Praxis angekommen, sondern noch experimentell. Das Wichtigste wäre meiner Ansicht nach aber, dass KI die Ärztinnen und Ärzte – und das gilt für die anderen Medizinberufe auch – von administrativen Verpflichtungen entlasten könnte. Es ginge somit darum, Algorithmen in der Klinik einzuführen, die administrativ wirklich mithelfen und nicht so sehr ins Zentrum der ärztlichen Tätigkeit hineingehen.

Aber die bereits existierenden Beispiele kommen eher aus dem bildgebenden Bereich. Bürokratie scheint noch ein Nischenthema zu sein, oder?

Buyx: Ja, davon gibt es zu wenig, wie ich finde. Bei der Befundung von Röntgenbildern bewegt man sich zum Beispiel in einer originär ärztlichen Tätigkeit. Gleichzeitig beklagen die Kolleginnen und Kollegen völlig zu Recht, dass die vielen, vielen administrativen Tätigkeiten sie davon abhalten, die Patienten und Patientinnen optimal zu versorgen. Noch dazu sind sie für die Administration ja eigentlich nicht ausgebildet. Es ist somit an der Zeit, strategischer darüber nachzudenken, was die Kolleginnen und Kollegen wirklich an Künstlicher Intelligenz benötigen.

Kennen Sie ein Beispiel, welches diese Bedürfnisse mitdenkt?

Buyx: Am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation werden Algorithmen für die Pflegedokumentation auf Palliativstationen entwickelt.

Aber auch im psychotherapeutischen Bereich gibt es mittlerweile KI-Anwendungen, was ja auf den ersten Blick etwas überraschend ist.

Buyx: Ich finde es durchaus erstaunlich, dass so etwas sogar halbwegs funktioniert. Einen therapeutischen Chatbot zu haben, ist immerhin besser als gar nichts. Die Wartezeiten für Psychotherapien sind relativ lang. Außerdem sind Personen, die einen therapeutischen Bedarf haben, oft zurückhaltend und kommen erst spät in die Praxis. Chatbots, mit denen auch morgens um drei Uhr interagiert werden kann, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt und ohne dass ein Antrag bei der Krankenkasse gestellt werden muss, können ein Einstiegsinstrument sein. In seiner Stellungnahme macht der Ethikrat aber sehr deutlich, dass solche Angebote nur Hilfsinstrumente sein können, um die Menschen überhaupt in die Nähe eines therapeutischen Geschehens zu bringen. In den USA gibt es Kliniken, die ihren Patientinnen und Patienten ausschließlich diese Art von Therapie anbieten, das ist problematisch.

Wenn wir über Hilfsinstrumente oder Dokumentationsassistenten sprechen, klingt das so, als ob die große KI-Revolution in der Medizin erst einmal ausbleibt.

Buyx: Die meisten Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass der Goldstandard auf sehr lange Zeit die sogenannte „Blended Intelligence“ sein wird. Das bedeutet: Menschen benutzen künstlich intelligente Instrumente und setzen sie klug ein.

Aber wie kann sichergestellt werden, dass Ärztinnen und Ärzte in der Letztverantwortung bleiben?

Buyx: Es muss eben immer einen Weg geben. Das wird je nach Anwendung unterschiedlich aussehen, aber allen muss gemein sein, den „human in the loop“ zu behalten: keine vollautomatisierten Entscheidungen, ohne dass die Möglichkeit besteht, dass Menschen diese überprüfen. Zwar können einzelne Aspekte einer Aufgabe an Algorithmen delegiert werden, aber das therapeutische Gesamtgeschehen ist nicht abzugeben. Es muss weiterhin in ärztlicher Hand bleiben, das sagen wir ganz klar.

Dafür dürfte sich der Standard in der Chirurgie grundlegend von dem in der Psychotherapie unterscheiden.

Buyx: Es ist ganz wichtig, sich das im Einzelnen wirklich anzugucken. Das ist einerseits ein ziemlich dickes Brett. Auf der anderen Seite werden bei den DIGAs auch die Anwendungen für sich überprüft. Das ist keine Hexerei. Und auch andere Medizintechnologien werden einzeln getestet. Ebenso wenig wie man diese alle über einen Kamm scheren würde, darf man es jetzt auch nicht mit den Anwendungen machen, die auf maschinellem Lernen beruhen.

Würden Sie vor allem die medizinischen Fachgesellschaften in der Pflicht sehen?

Buyx: Diese sollten unbedingt beteiligt sein, damit die ärztliche Expertise in die Entwicklung eingebracht wird. Und selbstverständlich müssen die Programmiererinnen und Programmierer dabei sein. Idealerweise sollten auch Personen an Bord sein, die darauf achten, dass die ethischen und regulatorischen Standards eingehalten werden. Viele Forschungsprojekte setzen das bereits um. Insofern fangen wir nicht bei null an, ganz im Gegenteil: Das läuft bereits seit Jahren. Deswegen bin ich auch zuversichtlich, dass uns in der Medizin die Integration von KI gut gelingen wird. Technologien, die auch mit Risiken behaftet sind, werden schließlich nicht zum ersten Mal aufgenommen. Die Medizin ist technikaffin. Wenn die Ärztinnen und Ärzte die Hand darauf halten, wird es nicht zu irgendeiner Revolution kommen.

Aber in der Ausbildung ist das Thema noch nicht abgebildet, oder?

Buyx: Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Aber mir erscheint die fachärztliche Weiterbildung noch wichtiger: Jedes Fach muss sich auf den Hosenboden setzen und prüfen, wie die Weiterbildungsordnung anzupassen ist. 

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Zur Person
Die Medizinerin Prof. Alena Buyx ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, der im vergangenen Jahr eine rund 400 Seiten lange Stellungnahme zu „Mensch und Maschine – Herausforderung durch Künstliche Intelligenz“ veröffentlicht hat. Seit 2018 ist sie Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München.
© pag, Fiolka

„Kurskorrektur war höchste Eisenbahn“

Wie Dr. Hagen Pfundner die Pharmastrategie der Bundesregierung bewertet

Berlin (pag) – Lange hat die Industrie auf die Pharmastrategie der Bundesregierung gewartet, Ende 2023 stellt sie der Bundesgesundheitsminister endlich vor. Wird damit eine Renaissance der Reindustrialisierung eingeleitet? Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender Roche Pharma, bezieht im Interview Stellung und verrät, welche Pläne er skeptisch sieht.

Wird das Ruder gerade noch rechtzeitig herumgerissen? Bei dieser historischen Zeichnung aus Großbritannien scheint die Lage noch unklar zu sein. Ähnlich sieht es momentan am Pharmastandort Deutschland aus. Den Referentenentwurf des Medizinforschungsgesetzes beurteilt die pharmazeutische Industrie verhalten.
© iStockphoto.com, ilbusca; Ilustration: Tempest

Mit der Pharmastrategie und dem geplanten Medizinforschungsgesetz will Prof. Karl Lauterbach eine Reindustrialisierung in Gang setzen. Höchste Eisenbahn oder ist der Zug schon abgefahren?

Pfundner: Die Pharmastrategie der Bundesregierung ist eine ressortübergreifende Strategie, bei der Bundeskanzleramt, Wirtschafts-, Forschungs- und Gesundheitsministerium intensiv zusammengearbeitet haben. Ja, eine Kurskorrektur und eine Rücknahme der innovationsfeindlichen Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz waren höchste Eisenbahn. Mit der Strategie und dem Bekenntnis, dass die pharmazeutische Industrie ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft ist, ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Wir wurden als Industrie gehört und unsere Sorgen in Bezug auf eine schleichende Deindustrialisierung wurden ernst genommen.

Aber?

Pfundner: Jetzt müssen Taten folgen. Unsere Branche ist bereit, bei entsprechenden Rahmenbedingungen in Forschung, Entwicklung und Produktion signifikant zu investieren, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zur Lieferkettensicherheit beizutragen.

Wie bewerten Sie die Pharmastrategie der Bundesregierung: Welche Pläne überzeugen Sie, was halten Sie eher für halbgar?

Pfundner: Die Pharmastrategie ist für mich ein Beispiel für aktive Industriepolitik der Bundesregierung. Ich begrüße diesen Schritt sehr. Hierfür hat der vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Jahr 2022 ins Leben gerufene Roundtable „Gesundheitswirtschaft” eine Schlüsselrolle gespielt und ein wichtiges Fundament gelegt. Die Maßnahmen zum Bürokratieabbau, zur Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie gezielte strukturelle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und die Verbesserung der Arzneimittelliefersicherheit sind wichtige Absichtserklärungen, die man in der Strategie wiederfindet. Es kommt nun auf die konkrete Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.

Was sehen Sie kritisch?

Pfundner: Die Pläne, die für mich aktuell noch die größten Fragezeichen aufwerfen, betreffen die Überprüfung der AMNOG-Reform in 2024, den Zeitplan dahinter und das Austausch- und Entscheidungsgremium, in dem die Industrie mitgestalten und mitwirken kann.

Was kann Deutschland von anderen Ländern in Sachen gesundheitsindustrieller Standortpolitik lernen?

Pfundner: Weltweit beobachten wir eine Renaissance der „Reindustrialisierung”. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Bundesregierung im Sinne einer „modernen” – auch datenbasierten – Reindustrialisierung ein richtiger und notwendiger Weg. Hier können wir durchaus von anderen Ländern lernen, die verstanden haben, dass sich durch verlässliche Rahmenbedingungen und einen heimischen Markt für Innovationen privatwirtschaftlich finanzierte Forschungs- und Produktionskapazitäten in Zukunft weiter ausbauen lassen. Auf der anderen Seite ist die Pharmastrategie der Bundesregierung ein Aktionsplan, der eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland darstellt und bei dem andere Länder aktuell auf uns schauen. Ich freue mich besonders darüber, dass der Dreiklang aus Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Strategie verankert ist – denn Gesundheitspolitik ist auch Industrie- und Wirtschaftspolitik. Es kommt nun – wie bereits gesagt – auf die Umsetzung an. Nur wenn die Maßnahmen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vollständig zurückgeführt werden und wir die Zukunftsthemen gemeinsam angehen, können langfristige, privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunft in Deutschland – vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs – stattfinden.

 

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Zur Person
Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender der Roche Pharma AG, hat einige Pflöcke für die industrielle Gesundheitswirtschaft eingeschlagen. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender des Pharmaverbandes vfa. Er hat daran mitgewirkt, die Branche auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sichtbar zu machen. Aus dem anfänglichen Ausschuss für Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile eine Abteilung. Der promovierte Pharmazeut ist zudem als Honorarprofessor an der Uni Freiburg tätig.    © pag, Fiolka

„DMP sind Teil der Trägheit des Systems“

Prof. Lutz Hager zur umfassenden Reformbedürftigkeit der Programme

Berlin (pag) – Man habe zugelassen, dass die DMP Staub ansetzen, sagt Prof. Lutz
Hager, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care (BMC), kürzlich.
Als der Verband das Impulspapier DMP 2.0 vorstellt, lässt Hager keinen Zweifel daran, dass er für frischen Wind bei den strukturierten Behandlungsprogrammen sorgen will. Wie das funktionieren soll, erzählt der Politologe im Interview.

Sie kritisieren die DMPs als festgefahren. Wer oder was ist der größte Bremsklotz?

Hager: Zunächst von der positiven Seite: Disease-Management-Programme sind zu einem wichtigen Baustein in der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen geworden und erreichten 2022 über 7,2 Millionen Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Aber?

Hager: Die Einschreibezahlen sind aufgrund fehlender Anreize in den letzten Jahren im Durchschnitt nur geringfügig gestiegen – bei steigender Prävalenz der Erkrankungen. Viele neuere Erkenntnisse zu den Chancen von Selbstmanagement sind nicht eingeschlossen und die Prozesse sind für alle Beteiligten umständlich. Zudem kommen die neu beschlossenen DMP nicht in der Versorgung an, da – bis auf wenige Ausnahmen – regionale Vertragsabschlüsse dazu fehlen. Die DMP sind Teil der Trägheit des Systems – dabei ist die Vermeidung und Versorgung von chronischen Erkrankungen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems.

Prof. Lutz Hager wurde im April 2022 zum Vorstandsvorsitzenden des Bundesverbands Managed Care (BMC) gewählt. Der Politologe ist seit 2021 Professor für Management im Gesundheitswesen an der SRH Fernhochschule – The Mobile University, Riedlingen. Zuvor war er unter anderem Geschäftsführer der IKK Südwest und arbeitete als Unternehmensberater bei McKinsey & Company. © pag, Fiolka

Der BMC hat eine Reihe von Reformvorschlägen präsentiert. Wo ist der Innovationsbedarf besonders groß?  

Hager: Bei den Vorschlägen, die wir formuliert haben, konzentrieren wir uns auf drei Bereiche: Zum einen ist es für den Erfolg der Programme unabdingbar, dass Patientinnen und Patienten aktiver in die Behandlung einbezogen und in ihrem Selbstmanagement unterstützt werden. Dafür braucht es Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung. Digitale Tools wie DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen, Anm. d. Red.), die Integration von PROMs und PREMs in den Versorgungsprozess sowie daran gekoppelte Feedbackschleifen können hierfür einen wichtigen Beitrag leisten. Darüber hinaus müssen die Prozesse rund um die Behandlung, Beratung und Betreuung optimiert werden. Die Einbindung digitaler Möglichkeiten wie beispielsweise ein kontinuierliches Symptommonitoring, eine Anbindung an die elektronische Patientenakte sowie Einrichtung eines nationalen DMP-Registers zu Forschungszwecken sind hierbei wichtige Schritte. Und nicht zuletzt müssen die Rahmenbedingungen vereinfacht und um zusätzliche Anreize für eine qualitätsorientierte Versorgung erweitert werden. Insbesondere sollten DMP-Verträge auf Bundesebene geschlossen und Maßnahmen zur Evaluation und Qualitätssicherung kassenartübergreifend und bundesweit vereinheitlicht werden.  

Lohnt sich eine Modernisierung der DMP überhaupt noch oder ist der Ansatz mittlerweile nicht mehr zeitgemäß?

Hager: Im Gegenteil: Wir haben einen enormen Erkenntnisfortschritt darüber gewonnen, wie Lebensstilinterventionen und ein strukturiertes Selbstmanagement Menschen dazu befähigt, mit ihrer chronischen Krankheit umzugehen und ihre Alltagsroutinen an ihre spezifische Krankheitssituation anzupassen. Im telemedizinischen Lebensstil-Interventions-Programm TeLIPro konnte beispielsweise nachgewiesen werden, wie Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 durch telemedizinische Betreuung und Coaching eine signifikante Reduktion des HbA1c, Gewichtsreduktion sowie eine Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren erreichten. Bei einem Teil der Patientinnen und Patienten führte die Teilnahme an dem Programm sogar zu einer Diabetesremission.

Dennoch nimmt der Anteil von Menschen mit chronischen Erkrankungen weiter zu.

Hager: Das stimmt. Schätzungsweise 40 Prozent der Bevölkerung haben zwischenzeitlich eine oder mehrere chronische Erkrankungen. Und die Krankheitslast steigt, sogar in früheren Lebensjahren. Laut einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover hat sich der Anteil adipöser Menschen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren im Zeitraum von 2004 bis 2020 fast verdoppelt. Das ist besorgniserregend, da Adipositas weitere Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck begünstigt und uns daher vor zukünftige Versorgungsherausforderungen stellt. Dabei ist das soziale Gefälle besonders erschreckend: Besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind betroffen und diese Gruppen werden auch in der Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Gerade diese Menschen profitieren daher am meisten von einer strukturieren Behandlung, die zudem „niedrigschwellig“, also attraktiv und erreichbar sein muss.

Was muss konkret passieren?  

Hager: Hier müssen wir im Gesundheitswesen eine „Extra-Meile“ gehen und eine Neuausrichtung der DMP ebnet diesen Weg dorthin. Dazu gehören im Übrigen auch klarere und stärkere Anreize oder sogar Verpflichtungen zur Teilnahme für alle Beteiligten. In dieser Ausrichtung sind DMP ein Kernelement eines solidarischen Gesundheitssystems.

Wie muss das Versorgungsystem aufgestellt sein, damit eine gute Versorgung chronisch kranker Patienten zukünftig sichergestellt ist?

Hager: Unsere Gesundheitsversorgung ist noch immer nicht ausreichend auf die Anforderungen einer Gesellschaft des längeren Lebens eingestellt. Chronische Erkrankungen sind eng mit Lebensstil und Alter verbunden und begleiten Menschen Jahre und Jahrzehnte. Unser Gesundheitssystem ist aber ereignisbezogen und reaktiv – dann, wenn eine Erkrankung eskaliert. Wir brauchen daher neue Versorgungskonzepte, die proaktiv auf Patientinnen und Patienten zugehen und ihr soziales Umfeld einbeziehen. Gesunderhaltung rückt in die Mitte der Gesellschaft – und verbindet Menschen; Gesundheit betrifft uns alle. Wir sollten viel mehr pädagogisch denken – gerade dort, wo wir Menschen heute nicht erreichen. Zudem muss die Versorgung multiprofessionell und einrichtungsübergreifend ineinandergreifen. Solche Netzwerke sollten nicht nur klassische Akteure der Gesundheitsversorgung und Pflege einbeziehen, sondern auch den Bereich der Sozialversorgung und des Quartiersmanagements. Und zu guter Letzt müssen wir frühe Risikofaktoren ernst nehmen und von dort systematisch in passende Angebote überleiten.

„Eine einzigartige Sicht“

Für Hedy Kerek-Bodden sind Patienten wichtige Forschungspartner

Berlin (pag) – Einen Kulturwandel hin zu Patienten als Forschungspartnern verlangt Hedy Kerek-Bodden. Die Vorstandsvorsitzende des Hauses der Krebs-Selbsthilfe Bundesverband mahnt insbesondere die Patientenbeteiligung in der Entwicklung klinischer Studien an. Diese werden dadurch relevanter und patientenzentrierter.

Wie kann medizinische Forschung durch die Beteiligung von Patientinnen und Patienten verbessert werden?

Kerek-Bodden: Patienten müssen auf Forschung, die sie betrifft, Einfluss haben, gemäß dem Leitbild „Nichts über uns ohne uns!“. Egal, wie kompliziert Wissenschaft auch sein mag: Betroffene bieten immer eine einzigartige Sicht auf das jeweilige Thema. Durch die Erfahrung mit ihrer Erkrankung wissen Krebspatienten am besten, was für sie wirklich wichtig ist und wie ihre Hauptziele, die qualitätsgesicherte Versorgung und die Lebensqualität zu verbessern, erreicht werden können.

„Patienten müssen auf Forschung, die sie betrifft, Einfluss haben“, sagt Hedy Kerek-Bodden. Das Leitbild lautet: Nichts über uns ohne uns! © stock.adobe.com, blacksalmon

 

Auf welchen Ebenen der Forschungsbeteiligung von Betroffenen sehen Sie hierzulande den größten Nachholbedarf?

Kerek-Bodden: Wir brauchen in Deutschland dringend einen Kulturwandel hin zu „Patienten als Forschungspartner“. Und dies zunächst bei der Patientenbeteiligung in der Entwicklung klinischer Studien. Die frühe Einbeziehung Betroffener mit ihrer einzigartigen Expertise ermöglicht die bessere Berücksichtigung von Patientenprioritäten und -erfahrungen, was zu relevanteren und patientenzentrierten Studien führt. Dies wiederrum wird bessere Studienergebnisse und Behandlungsmöglichkeiten für unsere Patienten bringen.

Wie bewerten Sie die momentane Situation?

Kerek-Bodden: Obwohl mittlerweile immer mehr Patienten in klinischen Studien beteiligt sind, gibt es noch viel Luft nach oben. In der Onkologie liegt die Quote bei circa acht Prozent. Daher ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben für und mit der Krebs-Selbsthilfe die Aus- und Weiterbildung von Patientenvertretern, um eine flächendeckende Patientenbeteiligung in der Forschung konsequent zu verwirklichen. Das Haus der Krebs-Selbsthilfe Bundesverband arbeitet seit 2021 gemeinsam mit dem Zentrum für Kompetenzentwicklung in der Krebs-Selbsthilfe der Uni Freiburg an der Entwicklung und Erprobung von digitalen Schulungs- und Fortbildungsangeboten. Des weiteren unterstützen wir die nationale Patienten-Experten-Akademie für Tumorerkrankungen (PEAK), die Patientenvertretende mit ihrem Kursangebot darauf vorbereitet, ihre gelebten Erfahrungen und ihre Expertise in das deutsche Gesundheitssystem einzubringen.

Welche konkreten Forschungsprojekte mit Patientenbeteiligung haben für Sie hierzulande Vorbildcharakter?

Kerek-Bodden: Im isPO-Projekt, einem Modellprojekt für die sektorenübergreifende Psychoonkologie in Deutschland, waren über das Haus der Krebs-Selbsthilfe – Bundesverband Patientenvertretende in allen Projektphasen integriert und in den Forschungsprozess eingebunden, um neue Untersuchungs- und Betreuungsformen für an Krebs erkrankte Menschen zu entwickeln.

Gibt es weitere?

Kerek-Bodden: Aktuell ist die Initiative zum Aufbau einer bundesweiten Plattform zur „Medizinischen Genomsequenzierung“ (genomDE) ein Leuchtturmprojekt, eine bundesweite Exzellenz-Initiative mit führenden Forschungsinfrastrukturen der Genommedizin. In genomDE arbeiten einschlägige medizinische Netzwerke, Fachgesellschaften mit Patientenvertretungen von Anfang an zusammen mit dem Ziel, die Nutzung genomischer Information zum innovativen Bestandteil der Regelversorgung in Deutschland zu machen.

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Zur Person
Hedy Kerek-Bodden ist Vorsitzende des Hauses der Krebs-Selbsthilfe – Bundesverband. Zu den zehn bundesweit organisierten Selbsthilfeverbänden, die im Haus der Krebs-Selbsthilfe vereint sind, gehört auch die Frauenselbsthilfe Krebs. In diesem Verein engagiert sich Hedy Kerek-Bodden bereits seit 2013 und ist aktuell dessen Vorstandsvorsitzende. Im Strategiekreis der Nationalen Dekade gegen Krebs beleuchtet sie den Blickwinkel der Betroffenen und setzt sich für die Interessen der Patientinnen und Patienten ein.
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Weiterführender Link:

Weitere Informationen zum isPO-Projekt der Uniklinik Köln
https://webstatic.uk-koeln.de/im/dwn/pboxx-pixelboxx-235998/patientenbeteiligung-ispo-cio.pdf

 

Patienten an Forschung beteiligen

Dr. Sarah Weschke sagt, wie das geht und wo es hakt

Dr. Sarah Weschke bildet Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu fort, wie sie Patienten an ihrer Forschung beteiligen können. Im Interview berichtet sie von Hürden und Vorbehalten. Ein Problem: Sowohl Forschende als auch Patientenorganisationen seien noch ungenügend über das Thema informiert.

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Welche Hürden erschweren derzeit eine stärkere Beteiligung von Patientinnen und Patienten an der Forschung?

Weschke: Auch wenn es in den letzten Jahren wichtige Entwicklungen in Richtung mehr Beteiligung gab, ist dieser Ansatz in Deutschland noch nicht selbstverständlich und in den meisten Einrichtungen der Gesundheitsforschung fehlt es an ausreichenden Strukturen und Ressourcen für die Unterstützung von Beteiligungsaktivitäten. Auch sind Forschende – aber auch Patientenorganisationen – häufig noch nicht genügend über das Thema informiert: Viele wissen nicht, was unter aktiver Beteiligung verstanden wird und wie man diese so umsetzen kann, dass sie einen Mehrwert bestenfalls für alle Beteiligten und die Forschung bietet. Teilweise wird sogar noch angenommen, die bloße Teilnahme an einer Studie oder Befragung sei schon „aktive“ Beteiligung, oder wenn eine Patientenorganisation bei der Rekrutierung für eine Studie hilft, ohne darüber hinaus eine aktive Rolle oder ein Mitspracherecht im Forschungsprozess zu haben.

Welche Vorbehalte bestehen seitens der Wissenschaftler aber auch seitens Patienten, wenn es um eine Einbeziehung von Betroffenen in die Forschung geht?

Weschke: Weil Beteiligungsprozesse insbesondere zu Beginn mehr Zeit und Ressourcen kosten, kann es Vorbehalte von Forschenden geben: Sie werden gewöhnlich aufgrund ihrer Publikationen und Mitteleinwerbungen bewertet. Somit kann sich Beteiligung sogar negativ auswirken, selbst wenn sie das Potenzial hat, die Forschung zu verbessern, die Relevanz für Betroffene zu erhöhen und damit die Translation in die Praxis zu fördern. Auch aufgrund fehlender Informationen zum Thema kommt es vor, dass Forschende eine Patientenorganisation kurz vor einer Einreichungsfrist kontaktieren und um ein Unterstützungsschreiben für einen Antrag bitten. Wenn dann keine weitergehende Einbindung erfolgt, führt das zu Enttäuschung bei den Organisationen, die vielleicht bei der nächsten Anfrage weniger motiviert sind, sich einzubringen. Weiterbildungsangebote für Forschende, aber auch für interessierte Patientinnen und Patienten können dabei helfen, Vorbehalte abzubauen und die jeweiligen Perspektiven, Wünsche und Erwartungen kennenzulernen und zu verstehen.

Wie kann mehr Patientenbeteiligung an der Forschung hierzulande realisiert werden? Und was können wir in dieser Hinsicht von anderen Ländern lernen?

Weschke: Neben der Integration in Förderausschreibungen ist es wichtig, dass sich Forschungsinstitutionen zu mehr Beteiligung bekennen, entsprechende Unterstützungsstrukturen schaffen und hierfür Ressourcen und Personal bereitstellen. Erfreulicherweise hat das Forum Gesundheitsforschung vor einigen Monaten eine Erklärung zur Patientenbeteiligung veröffentlicht, in der die Mitglieder konkrete Schritte zur Institutionalisierung von Beteiligung benennen. Außerdem sollte sich die Patientenbeteiligung positiv auf die Bewertung von Forschenden-Karrieren auswirken. Sonst könnte sie als zusätzliche Bürde empfunden werden, die nur umgesetzt wird, weil Mittelgeber das plötzlich verlangen. Hier hilft ein Blick nach Großbritannien, wo mitunter diskutiert wird, inwiefern aktive Beteiligung eher als „tick box exercise“ umgesetzt oder so gestaltet wird, dass sie sich leicht quantifizieren lässt. Bedauerlicherweise kann das dazu führen, dass die Anzahl von Workshops wichtiger wird als deren Themen oder der Einfluss von Patientinnen und Patienten auf den Forschungsprozess. Von diesen Erfahrungen können wir tatsächlich lernen und bereits zu Beginn Begleitforschung zu dem Thema etablieren, zum Beispiel zur Entwicklung von Qualitätskriterien und zur Messung von Wirkungen, die auch qualitative Aspekte berücksichtigen.

 

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Zur Person
Dr. Sarah Weschke leitet bei QUEST das Projektteam Patient & Stakeholder Engagement (PSE). Das QUEST Center for Responsible Research ist am Berlin Institute of Health in der Charité angesiedelt. Die Diplom-Psychologin arbeitete vorher als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin an der Universität Rostock am interdisziplinären Department „Altern des Individuums und der Gesellschaft“; Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Zusammen mit Antje Schütt und Eva Müller Fries hat sie folgende Publikation verfasst: „Aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsforschung – eine Heranführung für (klinisch) Forschende“.
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„Ambulantisierung als Einbahnstraße kann nur scheitern“

Ulrich Langenberg über erste Schritte, Hindernisse und Sturzgeburten

Berlin (pag) – Die ambulante Medizin ist bei der Krankenhausreform noch weitgehend eine Leerstelle, kritisiert Ulrich Langenberg. Der Geschäftsführer Politik der Bundesärztekammer stellt im Interview dar, was passieren muss, damit die oft angemahnte Ambulantisierung der Versorgung wirklich nach vorn kommt. Für Langenberg müssen nicht nur Vergütungsregeln geändert werden: „Es geht darum, das gesamte System zu stärken.“

Welche Erfolgschancen räumen Sie der Krankenhausstrukturreform ein – hinsichtlich einer Verstärkung der ambulanten Medizin?

Langenberg: Das kommt darauf an, ob es Bund und Ländern gelingt, ein in der Praxis umsetzungsfähiges Konzept zu entwickeln. Bisher sehe ich das noch nicht. Die Absicht, erst einmal mit dem NRW-Modell zu starten, ist aber ein richtiger Schritt. Für den Erfolg kommt es außerdem auf die Einbeziehung derjenigen an, die die Versorgung tatsächlich leisten. Immerhin kündigt der zirkulierende Entwurf des „Orientierungspapiers“ aus dem Bundesgesundheitsministerium ein „Konzept zur weiteren Einbindung wesentlicher, betroffener Akteure“ an. Wir sind gespannt, was daraus werden wird. Zum zweiten Teil der Frage: Die ambulante Medizin ist im Konzept der Regierungskommission noch weitgehend eine Leerstelle. Lediglich im Bereich der geplanten Level-I-Krankenhäuser gibt es einige Impulse. Die Kommission selbst räumt ein, dass dies nicht mehr als ein „erster Schritt“ sein kann – und vertröstet uns im Übrigen auf eine weitere Stellungnahme. Für die Ambulantisierung werden deswegen zunächst einmal der AOP-Katalog und die „sektorengleiche Vergütung“ nach § 115f SGB V viel relevanter sein.

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Welche Wirkung werden die angekündigten Hybrid-DRGs im besten Fall entfalten?

Langenberg: Im besten Fall ist das der Einstieg in eine echte sektorenübergreifende Versorgung mit einem besseren Einsatz des überall knappen Personals. Das kann gelingen, wenn man mit einem überschaubaren Katalog von Leistungen anfängt, die sich wirklich gut für eine verstärkte Ambulantisierung eignen und so auskömmlich finanziert werden, dass Kliniken wie Niedergelassene die notwendigen Umstellungsprozesse auch tatsächlich bewältigen können. Dann kann es schrittweise weitergehen. Eine „Sturzgeburt“ hilft hingegen niemandem. Schon die in § 115f SGB V vorgesehene Frist für die Erarbeitung einer speziellen sektorengleichen Vergütung durch die Selbstverwaltung war mit drei Monaten von vorneherein zu knapp bemessen.

War das Absicht?

Langenberg: Es drängt sich ein wenig der Eindruck auf, dass das von Seiten des Bundesgesundheitsministeriums so intendiert war, um auch in diesem Bereich letztlich selbst zu entscheiden. Ohne eine sorgfältige Entwicklung mit Analyse der Auswirkungen und ohne Einbeziehung des praktischen Versorgungswissens wird es aber keinen Erfolg geben können.

Ambulantisierung ist bislang immer noch eine Wunschvorstellung. Wie kommt diese zum Fliegen?

Langenberg: Auf die Einbeziehung der Versorgungspraxis und die Finanzierung der Übergangskosten habe ich schon hingewiesen. In aller Kürze drei weitere Punkte: Erstens: Stationärer wie ambulanter Bereich müssen fair beteiligt werden. Ambulantisierung als Einbahnstraße kann nur scheitern. Hier kann der Bundesgesundheitsminister aus meiner Sicht noch dazulernen. Zweitens muss die Misstrauens- und Kontrollphilosophie überwunden werden.

Inwiefern?

Langenberg: In der Vergangenheit sind viele vom Ansatz her gute Ideen, sei es die spezialfachärztliche Versorgung oder das Entlassmanagement, letztlich in Bürokratie erstickt worden. Das darf jetzt nicht wieder passieren. Drittens und ganz, ganz wichtig: Bei der verstärkten Ambulantisierung muss die ärztliche Weiterbildung mitgedacht werden. Wir dürfen den ärztlichen Nachwuchs nicht abhängen, sonst verschärfen wir die ohnehin großen Versorgungsprobleme. Mit klugen Konzepten lässt sich das aber lösen. Die Ärztekammern stehen bereit, ihre Kompetenz an dieser Stelle einzubringen.

Wenn Sie persönlich die Wahl haben: Welchen Eingriff würden Sie nur im Krankenhaus vornehmen lassen und welchen auf jeden Fall ambulant?

Langenberg: Das möchte ich, wenn etwas ansteht, mit der Ärztin, dem Arzt meines Vertrauens besprechen können. Dann wünsche ich mir, dass es nicht darum geht, was in einem Katalog steht oder was die Kostenseite diktiert, sondern einzig und allein darum, was für meine Gesundheit die beste Entscheidung ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Primat des Patientenwohls und die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidungen verteidigen. Bei den Regelungen für das ambulante Operieren und die sektorengleiche Vergütung müssen die Begleiterkrankungen der Patientinnen und Patienten, aber auch soziale Kontextfaktoren ausreichend berücksichtigt werden. Wenn Ambulantisierung gelingen soll, müssen die Menschen sich darauf verlassen können, dass nach einem ambulanten Eingriff die erforderliche ärztliche, pflegerische und soziale Unterstützung gegeben ist. Deshalb ist Ambulantisierung mehr als die Änderung von einigen Vergütungsregeln: Es geht darum, das gesamte System zu stärken.

 

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Zur Person
Ulrich Langenberg ist seit Jahresbeginn Geschäftsführer Politik der Bundesärztekammer. Der Facharzt für Neurologie hat zuvor als Leiter der Gruppe Krankenhaus im nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium die dortige Krankenhausreform entscheidend mitgestaltet. Als weitere berufliche Station war Langenberg Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein. Schwerpunkte dieser Tätigkeit waren: die Gebührenordnung für Ärzte, die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler, Krankenhausplanung, sektorenübergreifende Versorgung sowie ethische Fragen.
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Demografie trifft auf GKV-Finanzkrise

Prof. Jürgen Wasem über verschleppte und zukünftige Reformen

Berlin (pag) – Der demografische Wandel gibt der Politik die Aufgabe, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen. Für die GKV hat es vor 20 Jahren eine Kommission gegeben, die den Namen ihres Vorsitzenden trägt: Rürup. Sein Konterpart war damals Karl Lauterbach. Die Herzog-Kommission, auf Geheiß der damaligen Oppositionsführerin Angela Merkel entstanden, hat ebenfalls Vorschläge unterbreitet. Um es kurz zu machen: Kein Ergebnis fand Eingang in die Gesetzgebung. Prof. Jürgen Wasem spricht im Interview über Reformdruck bei der GKV, der aktueller denn je ist.

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Trotz der zahlreichen Kommissionen stehen wir heute da wie zuvor. Ist die Beschreibung korrekt?

Wasem: Der Auftrag der beiden Kommissionen bezog sich nicht nur auf die Krankenversicherung. In der Rentenversicherung etwa hatte die Rürup-Kommission die Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahren und die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors vorgeschlagen. Beides ist ja dann auch in den Folgejahren eingeführt worden.

Aber bei der Krankenversicherung…

Wasem: … standen sich Rürup mit seinem Vorschlag einer Kopfpauschale und Lauterbach mit dem Konzept der Bürgerversicherung gegenüber. Von der Herzog-Kommission war der Übergang zu einem kapitalgedeckten System mit Kopfpauschalen vorgeschlagen worden. Keines der Konzepte ist umgesetzt worden. Und ich denke, es ist auch richtig zu sagen, dass die GKV in den 20 Jahren, die seitdem vergangen sind, nicht demografiefester geworden ist. Das ist insbesondere deswegen unbefriedigend, weil sich das Thema demografischer Wandel nicht erledigt hat. Im Gegenteil: In den jetzt vor uns liegenden 15 Jahren steigt der Altenquotient deutlich an – das hat die jüngste amtliche Bevölkerungsvorausschätzung noch einmal deutlich gemacht.

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Vor uns liegt ein größerer Versorgungsbedarf – weil mehr Alte – bei weniger Arbeitskräften und weniger Beitragszahlern. Haben wir für einen strukturellen Wandel überhaupt noch genügend Zeit?

Wasem: Die von der Rürup-Kommission diskutierten Lösungsvorschläge lassen sich natürlich noch umsetzen – wobei kontrovers diskutiert wird, inwieweit Bürgerversicherung und Kopfpauschale Antworten auf den demografischen Wandel geben. Soweit man eine Kapitaldeckung, also den Vorschlag der Herzog-Kommission, als ein Lösungsinstrument ansieht, ist es dafür in der Krankenversicherung schon zu spät. Dafür müssten jetzt so große Summen zusätzlich zur Finanzierung der laufenden Gesundheitsausgaben angespart werden, das ist völlig illusorisch. Das kann man gegebenenfalls für die Pflegeversicherung noch diskutieren: Da dort die Leistungen in nennenswertem Umfang erst nach dem 80. Lebensjahr anfallen, hätte man mehr Zeit.

Die Anpassung des Gesundheitswesens an den demografischen Wandel hat aber nicht nur etwas mit der Finanzierung, sondern auch mit den Versorgungsstrukturen zu tun. Politischen Willen vorausgesetzt kann man diese durchaus in den kommenden zehn Jahren an eine stark alternde Bevölkerung weiter anpassen. Ich hoffe sehr, dass die vom BMG im nächsten Jahr vorzulegenden Eckpunkte einer Strukturreform dies im Blick haben.

 

Die GKV hat goldene Jahre gerade erst hinter sich. Die Chance für eine Strukturreform der Krankenhäuser, die ja zunächst Investitionen kostet, wurde verpasst. Welche Konsequenzen wird das haben?

Wasem: Die Beobachtung trifft zu: Solange trotz ausgabenträchtiger Gesundheitsreformen die Beitragssätze stabil bleiben konnten, hat die Politik die Strukturreform der Krankenhäuser nicht angepackt. Ich erinnere mich, dass ich 2019 eine Gesundheitspolitikerin aus der Regierung gefragt habe, wie lange das gut geht. Die Antwort lautete: „Hoffentlich bis zur nächsten Bundestagswahl“. Jetzt ist wohl die Einsicht, dass Handlungsbedarf besteht, gestiegen, aber natürlich lassen sich Reformen in der Rezession sehr viel schwieriger realisieren. Gerade weil die Krankenhausreform erst auf mittlere Sicht zu geringeren Ausgabenzuwächsen führt, zunächst aber Geld auf den Tisch gelegt werden muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das aus Beitragsmitteln allein hinbekommen, sondern gehe davon aus, dass wir dafür die Haushalte von Bund und Ländern brauchen.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Politik nicht über die Legislatur hinaus sachgerechte Lösungen für Herausforderungen der Zukunft angeht?

Wasem: Für die Krankenversicherung ist – wie eben dargestellt – bereits die Analyse, was man eigentlich bei der Finanzierung tun müsste, alles andere als klar: Bürgerversicherung, Kopfpauschale, Kapitaldeckung? Bei der Rentenversicherung war die Situation einfacher, weil es rasch Konsens gab, im bestehenden System zu bleiben und man sich „nur“ darauf verständigen musste, wie stark die Wirkungen des demografischen Wandels den Beitragszahlern aufgebürdet werden sollen und in welchem Maß die Rentner den Wandel über geringere Rentenanpassungen selbst finanzieren. Hinzu kommt, dass wir in der Krankenversicherung Versorgungsleistungen absichern.

Das bedeutet?

Wasem: Die Festlegung eines Niveaus ist deutlich komplexer als in der Rentenversicherung – und wird zudem dadurch geprägt, dass die Ausgaben der Krankenkassen die Einnahmen und Einkommen der Leistungserbringer sind. Gleichwohl finde ich, wir müssen die Niveau-Diskussion auch für die Krankenversicherung führen. Sie kumuliert meines Erachtens insbesondere in der Frage nach der Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt in einer alternden Gesellschaft.

Nun kommt zur demografischen Herausforderung noch eine akute Not, verursacht durch Pandemie, Krieg, Inflation – bald Rezession. Das GKV-Löcher-Stopf-Gesetz für 2023 mag ja noch hinhauen, aber dann?

Wasem: Das Löcher-Stopfen ist deswegen notwendig, weil wir seit vier Jahren wieder ein stärkeres Wachstum der Ausgaben als der beitragspflichtigen Einnahmen haben. Bis einschließlich dieses Jahr haben wir das insbesondere über einen jeweils diskretionären Sonder-Bundeszuschuss finanziert. Wenn der plötzlich weitestgehend wegfällt, weil er politisch nicht mehr durchsetzbar ist, entsteht akuter Handlungsbedarf. Und da es vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eher unwahrscheinlich ist, dass Einnahmen- und Ausgabenwachstum von selbst im Gleichklang ist, müssen entweder dauerhaft zusätzliche Einnahmequellen erschlossen werden oder die Ausgabenzuwächse gebremst werden.

Kommen wir um Rationierung herum? Ulla Schmidt hat zu dem Instrument gegriffen, obwohl sie 2003 nur vier Milliarden Euro zum Löcher-Stopfen einsammeln musste.

Wasem: Na ja, ob das GKV-Modernisierungsgesetz schon Rationierung war, würde ich mit einem Fragezeichen versehen. Das Sterbegeld wurde abgeschafft und die Leistungspflicht für nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel ist weitestgehend entfallen. Richtig aber ist: Wir müssen die Frage nach dem Leistungsumfang im Solidarsystem stellen – auch wenn sie deutlich schwieriger als in der Rentenversicherung ist. Wobei man die Augen davor nicht verschließen darf, dass jede Leistungsbegrenzung natürlich eine Umverteilung von oben nach unten bewirkt, weil einkommensabhängig finanzierte Leistungen in die Finanzierung durch den Markt oder die PKV verlagert werden. In einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung haben wir das beim GKV-Modernisierungsgesetz schön zeigen können.

Wie kann eine Finanzierungsreform aussehen, die dem Problem angemessen ist?

Wasem: Wichtig ist sicherlich, dass die Maßnahmen – anders als der jeweils einmalig beschlossene Sonder-Bundeszuschuss oder der Griff in die Rücklagen von Gesundheitsfonds und Krankenkassen – „basiswirksam“ sind. Sonst wiederholt sich das Löcher-Stopfen alljährlich. Wir brauchen aus meiner Sicht einen Mix: einen dauerhaft höheren und dynamisierten Bundeszuschuss, mit Augenmaß weiter steigende Beitragssätze und auf der Ausgabenseite ein Konzept für einen kritischeren Blick auf den Leistungskatalog und die Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt.

 

Zur Person
Der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem befasst sich seit mehreren Jahrzehnten mit der sozialen Selbstverwaltung. Er hat verschiedene Bundesregierungen beraten. Die Liste seiner Funktionen ist lang. Der Lehrstuhlinhaber für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen ist unter anderem Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses und der Schiedsstelle für Preisvereinbarungen zwischen GKV-Spitzenverband und Herstellern digitaler Anwendungen.
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