Herausforderungen beim Übergang ins GKV-System

Dr. Johannes Bruns: Innovationen begleiten und unterstützen

Berlin (pag) – Herausforderungen und Fallstricke der komplexen Regulatorik von Innovationen erläutert Dr. Johannes Bruns im Interview. Er findet, dass offene Fragen kein Grund sein sollten, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Damit die Fragen verstärkt in der Versorgung geklärt werden können, mahnt er unter anderem eine grundlegende Perspektiverweiterung des Gemein-samen Bundesausschusses an.

Dr. Johannes Bruns © pag, Fiolka

Paragraf 2 SGB V verspricht Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Was bedeutet das grundsätzlich für die Regulatorik von Innovationen?

Bruns: Innovationen kommen überwiegend von außen in das Gesundheitssystem. Je nach Art der Innovationen existieren unterschiedliche Zugänge. Arzneimittel haben sicherlich den privilegiertesten Zugang, weil sie durch eine externe Bewertung, die Zulassung, direkt abgebildet sind. Allerdings bestehen im System selbst Unterschiede: Im niedergelassenen Bereich ist die Zulassung vorgreiflich für die Verschreibung nach Muster 16 – insofern besteht ein unmittelbarer Zugang.

Komplexer sieht es bei den Krankenhäusern aus.

Bruns: Dort gibt es den sogenannten Kalkulations- oder Abbildungsvorbehalt. Rechtlich darf das Krankenhaus Innovationen einsetzen. In der Regel ist die Finanzierung nicht so schnell geklärt. Dafür braucht es eine Abbildung in Einzelverträgen oder nach Kalkulation in den DRGs. Medikamente, die Marktzugang in Deutschland und einen Preis haben, müssen – unterjährig – an einem Stichtag in das System eingepflegt werden, dann bekommen sie eine Bewertung, zum Beispiel ein Zusatzentgelt. Für Innovationen, wie ATMPs, die zwar einen Preis mitbringen aber zusätzlich zum Arzneimittelpreis noch eine Versorgungsleistung benötigen, die ggf. nicht abgebildet ist, besteht kein unmittelbarer Zugang in der Versorgung. Vielmehr entsteht eine zeitliche Hürde. Der Arzt oder die Ärztin ist zwar berufsrechtlich abgesichert, der Einsatz und die Finanzierung des Produkts hängen aber von der Zusage zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen ab. Das verursacht Hemmnisse im Zugang von Innovationen im stationären Bereich.

Arzneimittelinnovationen sind hierzulande einzigartig schnell?

Bruns: Nirgendwo sonst in Europa ist durch die Zulassung und Markteinführung durch den Hersteller unmittelbar eine Finanzierung gesichert. Wir haben unwesentliche zeitliche Verzögerungen durch die Markteinführung, aber neue Arzneimittel sind hier trotzdem schneller als in den anderen europäischen Ländern verfügbar. Spannend ist vor diesem Hintergrund das Thema EU-HTA, das eine europaweite Bewertung vorsieht. Aber die Grundidee, so in den europäischen Ländern den Arzneimittelzugang wie in Deutschland zu erreichen, ist nicht zu erwarten. Denn ich glaube, dass weder die Franzosen noch die Italiener oder die Bulgaren ihre Medikamente aufgrund des europäischen HTA-Verfahrens schneller in den Markt bringen, weil es eben eine ökonomische, nationale Frage ist.

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Sind die klassischen Innovationszugänge noch zeitgemäß angesichts der Innovationssprünge, wie es sie zum Beispiel in der Onkologie aktuell gibt?

Bruns: Grundsätzlich stellen sich bei allen Innovationen beim Übergang in die Versorgung sehr häufig Fragen, die nicht alle abschließend in Phase-3-Studien geklärt wurden oder geklärt werden können. Zum Beispiel in der personalisierten Medizin: Handelt es sich um das richtige Medikament für eine bestimmte Patientengruppe? Offene Fragen sollten aber kein Grund sein, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Diese sollten daher verstärkt in der Versorgung geklärt werden – das fordern wir als Deutsche Krebsgesellschaft schon seit Langem.

Also ein längerer Beobachtungsprozess?

Bruns: Ein Übergangsprozess. Vor diesem Hintergrund wurde die Anwendungsbegleitende Datenerhebung eingeführt. Als Deutsche Krebsgesellschaft haben wir vor einigen Jahren auch das Thema Wissen generierende onkologische Versorgung forciert, bei dem Daten aus der Versorgung helfen sollen, offene Fragen zu klären. Ein solches Vorgehen spiegelt sich bereits – allerdings nicht für Arzneimittel – im Paragrafen 137 e SGB V wider. Und wenn man noch weiter in der Gesetzeshistorie zurückgeht, ist und war es der Paragraf 137 c SGB V, der Studien möglich machen sollte, die genau solche Fragestellungen, auch im Krankenhaus, auflösen könnten. Es ist sogar geregelt, wer innerhalb der Studie welche Leistungen bezahlt. Das wissenschaftliche Begleiten und das Unterstützen von Innovationen beim Übergang ins System sind für die Weiterentwicklung des GKV-Systems wichtig.

Aber?

„Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung passt nicht in die Denk- und Handlungswelt des G-BA. Er will über Innovationen abschließend und juristisch belastbar abschließend entscheiden.“ © stock.adobe.com, Gorodenkoff

Bruns: Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung passt nicht in die Denk- und Handlungswelt des G-BA. Er will über Innovationen abschließend und juristisch belastbar entscheiden. Dies ist auch das Interesse der Partner im G-BA. Offene Fragen aus der Beratung mit eigenen Instrumenten zu klären, um dann bessere Entscheidungen zu treffen, bedarf einer grundlegenden Perspektiverweiterung des G-BA.

Was für eine Innovationsbegleitung bräuchte es?

Bruns: Ein Modell, das immer wieder diskutiert wird, sieht eine Kofinanzierung der Industrie vor. Dafür gäbe es auch gute Gründe, denn durch einen veränderten oder gar beschleunigten Zulassungsprozess bei der Zulassungsbehörde werden Hersteller entlastet, eine aufwendige Phase-3-Studie zu machen. Mit diesen Ersparnissen könnte man einen „Topf“ füllen, aus dem Innovationen bezahlt werden könnten, um noch fehlende Informationen zu ermitteln.

Offenbar ziehen immer kompliziertere medizinische Innovationen immer komplexere Strukturen in der Regulatorik nach sich. Sehen Sie die Gefahr, dass der Bogen irgendwann überspannt sein könnte, oder ist er das bereits?

Bruns: Ich möchte daran erinnern, dass bei den ersten Überlegungen zu einem Innovationsfonds die Idee der Poolbildung aus GKV-Geldern und Industriegeldern diskutiert wurde, um klinische Fragestellungen des G-BA zu klären. Wir wissen heute, was aus dem Innovationsfonds geworden ist: Der ganze Bereich klinischer Innovation ist bei der Gestaltung des Fonds sukzessive herausgelassen worden. Es geht nicht mehr um medizinische Innovationen, sondern größtenteils um Versorgungsmodellvorhaben und Versorgungsforschung. Die klinischen Fragestellungen – sei es zu Medikamenten, sei es zu DiGA – bleiben dagegen außen vor.

Die Zulassungsbehörden sind mit ihren Entscheidungen flexibler geworden und akzeptieren auch andere Evidenzgrundlagen. Das setzt sich allerdings bei den HTA-Behörden nicht so fort, was zu Problemen bei der Nutzenbewertung führt.

Bruns: Genau, weil vom G-BA für die Arzneimittelbewertung – bei anderen Innovationen ist es ähnlich – regelhaft randomisiert kontrollierte Studien verlangt werden, ist bei deren Fehlen ein nicht belegter Zusatznutzen die Folge.

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Die Genomsequenzierung wird im Rahmen eines Modellprojekts nach Paragraph 64e SGB V erprobt, weil man ansonsten „lost in Regulation“ wäre, wie ein beteiligter Akteur sagt. Sind solche Modellvorhaben für die Einführung von komplexen Innovationen in einem geschützten Rahmen die richtige Antwort?

Bruns: Bei dem Modellprojekt handelt es sich sicherlich um die innovativste strukturelle Maßnahme in der Gesetzgebung der vergangenen Jahre. Hier ist es erstmalig möglich, leistungserbringerselektive, aber keine kassenselektiven Leistungen anzubieten. Das heißt, nicht die Zugehörigkeit zur Krankenkasse entscheidet, ob diese Leistung in Anspruch genommen werden kann. Ein weiterer Vorteil: Es wurde gesetzlich festgelegt, dass die Innovationen auch begleitet werden – nämlich durch Datenerhebung. Dreht man dieses Prinzip um, so könnte man Medikamente nur den Leistungserbringern zu Verfügung stellen, die an einer Datenerhebung teilnehmen.

Die Patienten sind alle betroffen…

Bruns: …aber Ärztinnen und Ärzte könnten das Medikament nur dann einsetzen, wenn sie auch die Daten liefern. Das ist das Entscheidende: Wir benötigen Daten, um Wissen in der Onkologie zu generieren. Das ist beim Paragrafen 64 e SGB V sehr gut gestaltet. Es gibt allerdings einen Nachteil.

Welchen?

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Bruns: Das Modell oder vor allem das Gesetz regelt nur die Diagnostik.

Können Sie das näher erläutern?

Bruns: Das Modellprojekt regelt nur die Kostenübernahme und Regularien für Diagnostik, nicht aber für die dann notwendige Therapie. Das Modellvorhaben ist nämlich so angedacht, dass sich die unterschiedlichen Teilnehmer als Konsortium oder als Studiengruppe verstehen müssen. Alle müssen sie die gleichen Qualitätsstandards erfüllen. Das ist Voraussetzung, um die Kosten der besonderen Diagnostik erstattet zu bekommen. Bei der dann vorgeschlagenen Therapie – bei der teilweise Medikamente eingesetzt werden, die gar nicht für diese Indikation zugelassen sind und die eine enge ärztliche Begleitung benötigen – gibt es keine Bezahlung. Das bedeutet: Selbst wenn sich alle Ärztinnen und Ärzte im Tumorboard einig sind, dass bei Marker X Medikament Y eingesetzt wird, müssen sie es dann selbst zahlen oder bei der Krankenkasse des jeweiligen Patienten beantragen. Zudem müsste sichergestellt werden, dass alle Patientinnen und Patienten, für die dann die Kostenübernahme geregelt ist, das gleiche Produkt eines Herstellers erhalten. Die Zentren müssen sich daher mit dem Hersteller darüber verständigen, dass dieser das Konsortium bedient und gegebenenfalls den Einsatz außerhalb der Zulassung gestattet. Das alles ist ein unglaublich komplizierter Prozess. An dieser Stelle würde ich dafür plädieren, die Off-Label-Kommission beim BfArM, die derzeit nur vom G-BA angerufen werden kann, in den Prozess zu integrieren.

Wie genau?

Bruns: Indem das Konsortium unmittelbar an die BfArM-Kommission einen Antrag für die Therapien stellt und dort gegebenenfalls eine bevorzugte Beratung stattfindet. Gibt die Kommission grünes Licht für den Off-Label-Einsatz, muss nicht jede einzelne Kasse wegen der Kostenübernahme angefragt werden. Der Einsatz der Therapie wäre dann sozialrechtlich finanziell abgesichert. Außerdem hätte man eine Systematik, wie die erfolgreichen Empfehlungen des Konsortiums – die mit dem Ergebnis einer möglichen Phase-1-Studie vergleichbar sind – wieder in einen Zulassungsprozess kommen könnten. Viele werden sagen, dass es sich im Modellvorhaben nur um Kolibris handelt.

Was entgegnen Sie denen?

Bruns: Es könnte auch sein, dass entscheidende und innovative Beobachtungen gemacht werden. Wie beispielsweise bei den ATMPs, bei denen anfangs auch viele sehr skeptisch waren.

Was schlussfolgern Sie daraus?

Das Interview mit Dr. Bruns führten opg-Herausgeberin Lisa Braun (im Foto links) und pag-Redakteurin Antje Hoppe. Die Fotos erstellte Anna Fiolka.

Bruns: Der Paragraph 64 e ist eine echte Innovation, da er die Möglichkeit bietet, passende Leistungserbringer – sprich spezialisierte Zentren – zu identifizieren, um die passenden Patientinnen und Patienten mit der passenden Diagnostik zu behandeln. Allerdings sind die Zentren mehr oder weniger barfuß unterwegs, wenn es anschließend um die Therapie geht. Hier haben wir dringenden Nachbesserungsbedarf.

Wenn wir den Nutzen und Wert von medizinischen Innovationen begutachten, denken wir ausschließlich in den Logiken des SGB V. Wir sehen nicht, welcher Nutzen insgesamt gestiftet wird, Stichwort Pflege, 
Erwerbsfähigkeit, Arbeitsplatz. Ist die isolierte GKV-Betrachtung überhaupt noch passend oder müssen 
wir größer denken?

Bruns: Den Versuch, größer zu denken, gibt es schon lange. Gesundheitsökonomische Betrachtungen sind sogar im AMNOG mit angelegt, allerdings haben wir aktuell keine Daten, mit denen wir solche Auswirkungen adäquat erfassen könnten. Bei Patientinnen und Patienten, die beispielsweise im Rahmen des Modellvorhabens behandelt werden, sind wir schon froh, medizinische Daten generieren zu können.

 

Zur Person
Dr. Johannes Bruns ist seit 2006 Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft. Zuvor leitete der Chirurg die Abteilung für medizinische Grundsatzfragen/Leistungen beim Verband der Angestellten Krankenkassen e. V. (VdAK, heute vdek). Weitere berufliche Stationen waren die Abteilung für Unfallchirurgie an der Universität Bonn und der Bundestag.

 

Hinweis:

Das Interview ist gekürzt. Der vollständige Text ist in der OPG-Spezial-Ausgabe „Wie Innovationen in die Versorgung kommen“, erschienen im April 2025, nachzulesen. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Bestellung finden Sie unter diesem Link.

 

„Es fehlt an strukturierter Langzeitnachsorge“

Prof. Volker Arndt zu Defiziten in der Betreuung von Krebsüberlebenden

Heidelberg (pag) – Bei der Betreuung von Langzeitüberlebenden fehlt es trotz vieler Angebote an ganzheitlichen Programmen, sagt Krebsforscher Prof. Volker Arndt. Im Interview spricht er über den Stand der Survivorship-Forschung, die deutsche Versorgungslandschaft und die „Lost in Transition“-Problematik.

In den letzten Jahrzehnten gab es enorme Fortschritte in der Krebsbehandlung. Was bedeutet diese medizinische Entwicklung?

Arndt: Langfristiges Überleben ist für viele Krebspatientinnen und Krebspatienten zu einer realistischen Perspektive geworden. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Tumorerkrankungen, bei denen mehr als die Hälfte der Betroffenen 20 Jahre und länger überlebt. Allerdings gilt das nicht für alle Tumorarten.

Prof. Arndt: „Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, (…) beginnt die Phase des ,dauerhaften Überlebens‘.“ © stock.adobe.com, Svitlana

Was folgt aus diesem Fortschritt?

Arndt: Es gibt in Deutschland derzeit etwa fünf Millionen Menschen mit akuter oder überstandener Krebserkrankung. Über 60 Prozent davon – drei Millionen – sind sogenannte Langzeitüberlebende: Personen, bei denen die Diagnose fünf und mehr Jahre zurückliegt. Für viele ist Krebs dabei eine chronische Erkrankung, die auch Jahre nach der Diagnose Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität hat.

Wie kann man dieses große Feld fassen?

Arndt: Wir unterscheiden verschiedene Phasen beim Leben mit beziehungsweise nach einer Krebserkrankung. Das erste Jahr nach der Diagnose wird von den diagnostischen und therapeutischen Bemühungen dominiert. Nach Abschluss der primären Therapie schließt sich – wenn eine Heilung oder zumindest eine Remission eingetreten ist – eine Phase des beobachtenden Abwartens mit regelmäßigen Nachuntersuchungen an. Psychologisch gesehen ist diese Zeit von der Angst vor einem Wiederauftreten der Krankheit geprägt.

Wie geht es dann weiter?

Arndt: Nach Abschluss der regulären Tumornachsorge, die meist nach fünf Jahren endet, sofern dann kein aktives Tumorgeschehen mehr nachweisbar ist, beginnt die Phase des „dauerhaften Überlebens“. Sie wird häufig mit „Heilung“ gleichgesetzt. Unsere Untersuchungen zeigen einerseits, dass sich gut zwei Drittel aller Langzeitüberlebenden nach Ende der regulären Tumornachsorge nicht mehr als „Krebspatientin“ oder „Krebspatient“ sehen. Dies gilt insbesondere, solange kein Rezidiv aufgetreten ist. Andererseits gibt ein Drittel der Langzeitüberlebenden an, dass sie die Krebserkrankung noch belastet.

Hier kommt das Konzept Survivorship ins Spiel?

Arndt: Ja, das Forschungsgebiet „Cancer Survivorship“ hat die Gesundheit und Lebenssituation über die akute Diagnose- und Behandlungsphase hinaus im Blick. Wir verfolgen das Ziel, Langzeit- und Spätfolgen besser zu behandeln und Negatives im Idealfall zu verhindern. Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Aspekten umfasst das auch solche der Nachsorge und Tertiärprävention. Das Konzept betrachtet die Betreuung von Langzeit-Krebsbetroffenen als integralen Bestandteil des Behandlungskontinuums. Deren Bedürfnisse werden hierzulande noch nicht ausreichend wahrgenommen. Ein „Cancer-Survivorship-Nachsorgeprogramm“ ist bislang nicht etabliert.

Was für Probleme gibt es dabei?

Nach Abschluss der regulären Nachsorgephase kann eine „Lost in Transition“-Problematik eintreten, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist. © iStock.com, mathisworks

Arndt: Die Behandler in der Akutphase verlieren oft bereits während oder spätestens nach Abschluss der regulären Nachsorgephase den Kontakt zu den Patientinnen und Patienten. Es kann dann eine „Lost in Transition“-Problematik, also Unklarheiten darüber, wer Ansprechpartner für die möglichen vielfältigen, nicht immer direkt tumorbezogenen Probleme ist, eintreten. Es fehlt immer noch eine strukturierte Langzeitnachsorge, die alle physischen, psychoonkologischen und sozialen Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Außerdem sind die Betroffenen und behandelnde Ärzte oft unzureichend informiert.

Wie ist die Nachsorge in Deutschland geregelt?

Arndt: Bisher gibt es dazu in zahlreichen klinischen Leitlinien der Fachgesellschaften Vorgaben. Diese fokussieren aber in erster Linie das Erkennen von Tumorrezidiven und adressieren nur einzelne ausgewählte Spät- und Langzeitfolgen. Psychosoziale Aspekte sind zwar in gesonderten Leitlinien enthalten, werden aber im Behandlungsalltag oftmals nicht angesprochen oder nicht erkannt. Kolleginnen und Kollegen der Universität Duisburg-Essen erstellen gerade im Rahmen der vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Optilater-Studie eine umfassende Ist-Soll-Analyse zur Langzeitbetreuung von Krebs-Betroffenen.

Seit 2016 leiten Sie die Arbeitsgruppe Cancer Survivorship beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Arndt: Neben den physischen, psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen interessieren uns Fragen im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung, dem Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und der Nachsorge. Wir arbeiten dabei primär „epidemiologisch“ im Rahmen von groß angelegten, meist bevölkerungsbezogenen Befragungsstudien und versuchen, uns ein Bild über die gesundheitliche Situation der Betroffenen zu machen. Wir versuchen, Bedarfe und damit Ansatzpunkte für eine verbesserte Betreuung in der Nachsorge zu identifizieren. Hier sind wir auch im Rahmen nationaler und internationaler Projekte bei der Instrumentenentwicklung zur Erfassung der gesundheitlichen Situation nach einer Krebsdiagnose aktiv beteiligt. Das Thema „Survivorship“ ist aber durch seine Multidisziplinarität noch bei weiteren Gruppen, etwa bei der Abteilung „Gesundheitsökonomie“ oder der Abteilung „Bewegung, Präventionsforschung und Krebs“ am DKFZ, verankert. Durch die Einrichtung zweier weiterer Abteilungen mit dem Fokus auf psychologische Resilienz sowie junge Personen mit Krebs wird die Expertise am DKFZ noch weiter ausgebaut. Hierfür sind wir der Dietmar-Hopp- und der Hector-Stiftung sehr dankbar.

Wie sieht die generelle Entwicklung in Deutschland aus?

Arndt: „Survivorship“ hat in den letzten Jahren zunehmend Niederschlag in der deutschen Forschungslandschaft gefunden. Es sind aber meist isolierte Aspekte oder Entitäten, die von den einzelnen Forschungsgruppen untersucht werden. Diese Gruppen sind zudem meist an deren größeren Abteilungen angegliedert. Eigenständige „Survivorship“-Abteilungen gibt es meines Wissens in Deutschland noch nicht. Allerdings gibt es zunehmend Aktivitäten. Ein wichtiger Impuls resultierte aus dem Nationalen Krebsplan, in dem 2018 eine Experten-Arbeitsgruppe „Langzeitüberleben nach Krebs“ eingerichtet wurde.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

Arndt: Bei der empirischen Datenlage sind die meisten Länder abgesehen von den skandinavischen auch nicht viel weiter. Um die Lücke zu schließen, haben wir gerade im Verbund der Deutschen Krebsregister dem Bundesgesundheitsministerium ein Konzept zur Integration detaillierter Daten auf Basis des kürzlich in Kraft getretenen Gesundheitsdatennutzungsgesetzes vorgeschlagen. Bei den umfassenden „ganzheitlich orientierten“ Nachsorgeprogrammen haben wir auch Aufholbedarf. Wir sind gerade im Rahmen eines europäischen Konsortiums dabei, uns einen Überblick über die „Survivorship“-Programme in allen europäischen Ländern zu verschaffen. Für Deutschland gibt es bisher nur eine Handvoll Modellprojekte.

Wie sieht die Versorgungslandschaft aus?

Arndt: Es gibt zahlreiche Versorgungsangebote für Langzeitüberlebende, die jeweils separate Themen adressieren aber nicht vernetzt sind. Neben der medi-zinischen Routine-Nachsorge gibt es Angebote wie psychosoziale Krebsberatungsstellen, Rehabilitationsmaßnahmen oder Physio- und Ergotherapie. Auch die Krebs-Selbsthilfe und Patientenverbände spielen eine wichtige Rolle. Die Selbsthilfe ist für viele Langzeitüberlebende schon lange eine bewährte Instanz zur Begleitung und Beratung von Betroffenen durch Betroffene. Trotzdem ist die Entwicklung von spezifischen und zugleich ganzheitlich ausgerichteten Survivorship-Angeboten notwendig. Um das zu erreichen, braucht es mehr Koordinierung.

Wie kann das gelingen?

Arndt: Es sind verschiedene Modelle denkbar und in anderen Ländern auch bereits im Einsatz. Die Spannbreite erstreckt sich von „nicht-ärztlichen“ Lotsen über ein allgemeinmedizinisches Gemeinschaftsmodell unter Einbeziehung spezifischer Konsiliardienste bis hin zur multidisziplinären Survivorship-Klinik. Bei allen Ansätzen ist aber zu bedenken: Die Gruppe der von Krebsbetroffenen ist nicht homogen. Zwar eint alle die Erfahrung, mit einer Krebsdiagnose konfrontiert gewesen zu sein – aber die krankheitsbedingten Herausforderungen und Krankheitsverläufe sind unterschiedlich. Deswegen braucht es eine differenzierte Betrachtung und zielgruppenspezifische Betreuungskonzepte.

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privat

Zur Person Der Wissenschaftler Prof. Volker Arndt ist seit 2016 Leiter der Arbeitsgruppe „Cancer Survivorship“ am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Beim DKFZ ist er aber schon seit über 19 Jahren in der Krebsforschung aktiv. Außerdem ist er Leiter des Epidemiologischem Krebsregisters Baden-Württemberg.
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„Wenn ich dann noch da bin…“

Dr. Cindy Körner über ihr Leben nach der Krebsdiagnose

Berlin (pag) – Krebsforscherin Dr. Cindy Körner wechselt nach einer Brustkrebsdiagnose die Seite und spricht im Interview über Herausforderungen als Krebsüberlebende, Lücken in der Nachsorge und der Angst vor einem Rückfall. „Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit“, konstatiert Körner.

© Marius Stark, NCT Heidelberg

Zur Person Dr. Cindy Körner ist promovierte Molekularbiologin in der Krebsforschung. Nach ihrer eigenen Brustkrebsdiagnose steht sie plötzlich „auf der anderen Seite“. Als Sprecherin des Patientenforschungsrats Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg bringt sie Wissenschaft und das Patientensein in Einklang. Zudem beteiligt sich Körner an der im Rahmen der Nationalen Dekade gegen Krebs geförderten Studie SURVIVE zur Brustkrebsnachsorge.
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Wie hat sich Ihr Leben durch die Brustkrebsdiagnose und -therapie verändert?

Körner: Die größte Veränderung ist wohl der Verlust der gesundheitlichen Unbeschwertheit. Es schwingt seit der Diagnose in allen langfristigen Plänen der Gedanke mit: „Wenn ich dann noch da bin…“. Meine größte Herausforderung ist nach wie vor, das Vertrauen in meinen Körper und mein Körpergefühl wieder zurückzufinden. Abgesehen von den psychischen Themen habe ich insbesondere während der Akuttherapie auch körperliche Beeinträchtigungen erlebt – beispielsweise akute Entzündungen mit hohem Fieber, Bewegungseinschränkungen durch die OPs oder eine temporär gefährliche Schwächung des Immunsystems. Das alles hat meinen Körper ganz schön mitgenommen und macht mir nach wie vor zu schaffen.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Körner: Ich bin trotz einer gesünderen Lebensweise mit mehr Sport und einem gesünderen Gewicht als vor der Diagnose lange nicht so belastbar wie zuvor. Die Erschöpfung, auch Fatigue genannt, ist unter Langzeitüberlebenden weit verbreitet und beeinträchtigt den Weg zurück in ein normales Leben immens. Gleichzeitig hat meine Erkrankung mir neue Perspektiven eröffnet. Ich habe mich dazu entschieden, diese Perspektiven positiv zu nutzen und mich als Patientenvertreterin zu engagieren, um die künftige Versorgung von Patienten und Patientinnen zu verbessern. Dazu gehört auch, dass ich gemeinsam mit anderen Patientenforschungsräten am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) dazu beitrage, dass klinische Studien patientenzentrierter werden.

Wie gestaltet sich die medizinische Nachsorge? Werden alle wichtigen Aspekte Ihrer Gesundheit ausreichend überwacht?

Körner: Die medizinische Nachsorge bei Brustkrebs ist klassisch sehr stark auf ein mögliches Wiederauftreten des Tumors in der Brust oder der Achselhöhle ausgerichtet. Das wird engmaschig mit verschiedenen Bildgebungsmethoden überwacht – obwohl das nicht das ist, wovor ich persönlich am meisten Angst hätte.

Sondern?

Körner: Schlimmer wäre das Auftreten von Fernmetastasen in anderen Organen, wie den Knochen, dem Gehirn, der Lunge oder der Leber. Nach aktuellem Stand der Nachsorge werden diese häufig erst erkannt, wenn sie so groß sind, dass sie Symptome verursachen. Das verunsichert uns Patientinnen natürlich.

Wie äußert sich das?

Körner: Viele von uns hören deswegen sehr genau in uns hinein, um Symptome frühzeitig wahrzunehmen. Und wenn wir etwas wahrnehmen, sind das natürlich meistens keine Symptome, die durch Metastasen verursacht werden – Kurzatmigkeit ist beispielsweise meist Folge einer Erkältung. Diese ständige Alarmbereitschaft belastet psychisch immens. Das ist für Außenstehende manchmal schwer nachvollziehbar und wird in der Nachsorge in meinen Augen unzureichend berücksichtigt. Zudem haben Langzeitüberlebende oft Schwierigkeiten, Ansprechpartner für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Langzeitfolgen zu finden. Onkologen und Onkologinnen verweisen auf die jeweiligen Fachärzte und Fachärztinnen, die auf ihr Fachgebiet spezialisiert sind, aber etwa mit möglichen Wechselwirkungen zwischen Tumortherapien wenig Erfahrung haben. Da fühlt man sich oft hilflos und verloren.

Viele Betroffene berichten noch Jahre nach der Diagnose von Diskriminierungserfahrungen. Welchen Ungleichbehandlungen sind Patienten ausgesetzt?

© stock.adobe.com, InsideCreativeHouse

Körner: Persönlich habe ich keine sozialen und ökonomischen Ungleichbehandlungen erlebt. Glücklicherweise war mein Arbeitsvertrag als Wissenschaftlerin kurz vor der Diagnose entfristet worden. Dank einer Berufsunfähigkeitsversicherung war ich über die Dauer der Akut-therapie, welche mehr als ein Jahr dauerte, finanziell gut abgesichert. Außerdem habe ich in meinem sozialen und beruflichen Umfeld viel Unterstützung erfahren und die Erkrankung nie als Stigma empfunden. Möglicherweise lag das auch an meinem offenen Umgang mit der Diagnose, der Behandlung und den damit verbundenen Einschränkungen. Offene Kommunikation beugt unter den passenden Umständen vielen Missverständnissen und Spekulationen vor. Ich kenne allerdings auch andere Fälle.

Zum Beispiel?

Körner: Menschen mit einer Schwerbehinderung haben ein Anrecht auf zusätzliche Urlaubstage. Ich kenne Fälle, wo ihnen in der Folge vom Arbeitgeber der vertragliche Urlaub gekürzt wurde, damit sie keinen „Vorteil“ gegenüber den Kollegen und Kolleginnen haben. Manche Arbeitgeber verwehren ihnen, eine für ihre Situation angebrachte Tätigkeit zu übergeben – ohne Rücksicht auf die Auswirkungen zu nehmen, etwa die eingeschränkte Leistungsfähigkeit in bestimmten Bereichen. Ich kenne auch Menschen, denen aus diesen Gründen nahegelegt wurde, den Arbeitgeber zu verlassen. Zusätzlich haben gerade junge Langzeitüberlebende das Problem des Nicht-Vergessens. Ihre frühere Diagnose kann zu teils massiven Nachteilen führen, beispielsweise bei Versicherungen, Krediten, Berufswahl oder auch Adoptionswunsch.

An welchen gesetzlichen Stellschrauben sollte gedreht werden?

Körner: Gerade in Bezug auf die angesprochenen Schwierigkeiten von jungen Langzeitüberlebenden gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen nach einem „Recht auf Vergessenwerden“, wie es in anderen europäischen Ländern schon besteht. Vorangetrieben werden diese Initiativen von Patientenorganisationen, darunter die Stiftung „Junge Erwachsene mit Krebs“, und von onkologischen Fachverbänden wie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Dieses Recht würde beinhalten, dass es bei Langzeitüberlebenden nach einer Heilungsbewährung von beispielsweise zehn Jahren keine Benachteiligung mehr gegenüber Nicht-Erkrankten geben darf. Laut EU-Vorgabe muss auch hierzulande bis Ende 2025 eine entsprechende Regelung umgesetzt werden. Auch eine bessere finanzielle Absicherung wäre wünschenswert, wenn Menschen aufgrund einer Krebserkrankung langfristig nicht arbeiten können. Mit dem Verlust des Krankengeldes nach 78 Wochen fallen sie aktuell in die Arbeitslosigkeit oder in die Erwerbsminderungsrente. Beides führt zu finanziellen Einbußen und erschwert die Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Außerdem wünsche ich mir eine konsequentere Umsetzung der Nachteilsausgleiche im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung. Was nützt ein Kündigungsschutz, wenn es für Arbeitgeber Schlupflöcher gibt oder sie konsequenzlos schwerbehinderte Mitarbeitende aus ihren Beschäftigungsverhältnissen drängen können?

Stichwort psychische Unterstützung bei Langzeitüberlebenden: Welche Angebote gibt es? Sind sie ausreichend?

Körner: Die psychische Unterstützung kommt leider deutlich zu kurz. Aufgrund der steigenden Zahl von Langzeitüberlebenden ist davon auszugehen, dass sich der Mangel künftig eher verschärfen wird. In der Zeit um die Diagnose und die Akuttherapie besteht an den zertifizierten onkologischen Zentren die Möglichkeit einer hochqualifizierten psychoonkologischen Unterstützung. Wie viele andere Angebote der Zentren endet dieses allerdings mit der Akuttherapie. Doch gerade in dieser Phase stehen die Überlebenden vor den Herausforderungen der Rückkehr in einen neuen Alltag. Dabei treffen oft die Erwartungen des Umfeldes, dass alles wieder gut sei, auf die gefühlte Realität der Betroffenen, in der erstmal nichts gut ist.

Was kann helfen?

© Kateryna Onyshchuk, Alamy Stock Photo

Körner: In dieser Phase können Anschlussheilbehandlungen oder Rehabilitationsmaßnahmen hilfreich sein. In den Reha-Kliniken wird auch viel Aufmerksamkeit auf die psychische Rehabilitation gelegt. Eine weitere Option stellen Krebsberatungsstellen dar, in denen Betroffene und deren Angehörige auch zu späteren Zeitpunkten kostenfrei und unkompliziert psychoonkologische Beratung bekommen können. Diese kann sowohl in akuten Krisen als auch in der Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz sehr wertvoll sein. Neuere Ansätze nutzen zudem wissenschaftlich validierte Smartphone-Apps, sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen, um – vereinfacht ausgedrückt – die Langzeitüberlebenden dazu zu befähigen, sich selbst zu helfen und so selbstwirksam ihre Belastung zu reduzieren.

Für viele Langzeitüberlebende ist die Angst vor einem Rückfall ein ständiger Begleiter. Wie gehen Sie damit um? Haben Sie Tipps für andere Betroffene?

Körner: Diese Gedanken kann ich gut nachvollziehen. Das Bewusstsein, dass es nach wie vor zu einem Rückfall kommen kann, schwingt auch bei mir immer mit. Wobei ich es nicht mehr als Angst bezeichnen würde. Es lähmt mich nicht mehr und ich hatte schon lange keine irrationale Paranoia als Reaktion auf unspezifische Symptome mehr. Das ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der Situation vor ein oder zwei Jahren. Ähnliches höre ich von anderen Betroffenen, deren Diagnose weiter zurückliegt. Es gibt also Hoffnung für alle, die sich momentan noch durch die Angst vor einem Rückfall gelähmt fühlen. Wie sich die Angst überwinden lässt, ist sicherlich sehr individuell. Mein erster Impuls war, sie beiseitezuschieben – zu vermeiden, darüber nachzudenken. Dieser Weg hat für mich überhaupt nicht funktioniert. Die Angst hat mich in unerwarteten Momenten plötzlich überrollt, bis hin zu Panikattacken. In sehr intensiven und schwierigen Gesprächen in der Krebsberatungsstelle habe ich meine Gefühle mit der Beraterin thematisiert und aufgearbeitet. Mir hilft der Gedanke, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um den Rückfall zu verhindern: Ich halte mich zuverlässig an meinen Medikations- und Nachsorgeplan und bemühe mich bewusst um eine gesunde Lebensweise. Zumindest im Rahmen dessen, was in meinen Alltag passt. Jede und jeder Betroffene muss den individuell passenden Weg für den Umgang finden. Ich kenne Menschen, für die der richtige Weg darin liegt, nicht über die Angst nachzudenken und sich auf das Positive und die Gegenwart zu fokussieren.

Sie nehmen an der klinischen Studie „SURVIVE“ teil. Worum geht es dabei?

Körner: SURVIVE hat das Ziel, die bereits angesprochene unzureichende Nachsorge in Bezug auf Fernmetastasen bei Brustkrebs zu verbessern. Im Rahmen der Studie soll der Nutzen von Liquid Biopsies, also der Untersuchung von Blutproben, geprüft werden.

Wie genau?

Körner: In den Blutproben von Patientinnen mit einem erhöhten Rückfallrisiko wird nach sehr spezifischen Markern für Tumorzellen, der sogenannten zirkulierenden Tumor-DNA, gesucht. Wenn diese im Blut einer Patientin entdeckt wird, ist es nahezu sicher, dass in der Folge Metastasen entstehen. Die Studie stellt die Frage, ob das frühzeitige Entdecken von Metastasen und die damit verbundene frühere Behandlung die Prognosen der Patientinnen weiter verbessern können. Dafür werden Blutproben von mehr als 3.000 Patientinnen gesammelt. Die Hälfte davon wurde zufällig dem Kontrollarm der Studie zugeteilt und die Proben werden nur gelagert. Die Proben der anderen Hälfte werden untersucht. Falls Tumormarker entdeckt werden, wird eine gezielte Suche nach den möglichen Metastasen ausgelöst. Als Studienteilnehmerin weiß ich nicht, welcher Gruppe ich angehöre. Ich weiß also nicht, ob ich selbst überhaupt von der Teilnahme profitieren könnte, falls ich einen Rückfall bekomme. Trotzdem war mir sofort klar, dass ich teilnehmen möchte – um einen winzigen Teil beizutragen, dass die Nachsorge für Patientinnen mit hohem Rückfallrisiko treffsicherer gestaltet werden kann, um ihnen die Angst vor großen, schwer behandelbaren Metastasen zu nehmen und die Prognose weiter zu verbessern.

„Das reine Wollen reicht nicht“

Dr. Jens Ulrich Rüffer über typische Denkfehler bei Shared Decision Making

Für Dr. Jens Ulrich Rüffer ist die bisher fehlende Prozessanleitung der „Misssing Link“ der vergangenen Jahrzehnte, der eine breite Implementierung in der Praxis verhinderte. Im Interview erläutert der Experte für Medizinkommunikation, warum es noch immer vielen Ärzten an einem wirklichen Verständnis für die partizipative Entscheidungsfindung mangelt.

© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag
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Welchen Weg hat Shared Decision Making in Deutschland hinter sich?

Jens Ulrich Rüffer: Wir blicken hierzulande auf eine patriarchalische Geschichte. Lange Zeit war es üblich, dass Ärzte Befunde erhoben und hinter verschlossenen Türen über Diagnosen und Behandlungsmethoden brüteten. Erst seit den 70er-Jahren sind Ärzte verpflichtet, Diagnosen mitzuteilen. Meilensteine sind die Patientenrechtegesetze, die zwischen den 90er bis in die Nullerjahre eingeführt wurden. Seitdem haben Patienten den gesetzlichen Anspruch, Diagnosen zu erfahren und zwischen Behandlungsmethoden zu wählen. Berechtigt sind Patienten außerdem, über deren Vor- und Nachteile informiert zu werden. Als Garant hierfür dient Shared Decision Making. Von einem theoretischen Konzept entwickelte sich SDM in den letzten Jahren hin zu konkreten Verfahrensweisen.

Wieso? Trifft der Arzt nicht grundsätzlich Entscheidungen im Sinne seines Patienten?

Rüffer: Es geht um die Frage der Präferenzen. Abgesehen vom medizinischen Wissen des Arztes bringt der Patient individuelle Bedürfnisse mit ins Behandlungszimmer. Bleiben sie vom Arzt unbeachtet, wirkt sich das direkt auf die Behandlung aus: ihre Erfolgschancen sinken. Somit ist SDM mehr als Idealismus – eine Partizipative Entscheidung erhöht auch die Adhärenz.

Welche Vorteile hat SDM außerdem?

Rüffer: Aus ethischer Sicht ist bereits die Schaffung von SDM ein Wert. In unserem groß angelegten Projekt am Kieler Standort des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein konnten wir weitere Vorteile nachweisen: Patienten kommen besser informiert durch Therapien und sind seltener Entscheidungskonflikten ausgesetzt. Ferner fallen die Arztgespräche tendenziell kürzer aus. Es gibt sogar Kosteneinsparungen.

Sie sprechen das Projekt SHARE TO CARE in Kiel an, bei dem sie gezeigt haben, dass man SDM in einer gesamten Klinik einsetzen kann. Wie sind Sie vorgegangen?

Rüffer: Das SHARE TO CARE-Programm setzt sich aus vier Modulen zusammen. Zwei davon richten sich an das Gesundheitssystem. Die anderen beiden zielen auf Patienten ab. Zunächst beinhaltet das Programm ein Training für Ärztinnen und Ärzte.

Wie sieht das Training konkret aus?

Rüffer: Das Training ist per se sehr simpel. Insgesamt bemisst es sich auf vier Stunden. In der ersten wird den Ärzten in einem Online-Training Grundlagenwissen zu SDM anhand von Lehrbeispielen vermittelt. Anschließend werden zwei reale Entscheidungsgespräche auf Video aufgezeichnet. Dazu gibt es ein individuelles Videofeedback von speziell ausgebildeten Trainern mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Nach dem Konzept sollte sich pro Station beziehungsweise Ambulanz ein bis zwei Personen zu einem Decision Coach weiterbilden. Diese können aus diversen Berufen kommen, stammen in der Regel aber aus dem Pflegebereich.

Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche
Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov
Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov

Und wie sieht es auf der Patientenseite aus?

Rüffer: Für sie gibt es Entscheidungshilfen – zumindest für die wichtigsten Indikationen. Weiterhin nutzen wir die „Drei Fragen“-Methode. Das können Sie sich wie einen Leitfaden für ein Arzt-Patienten-Gespräch vorstellen. Sie lauten: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? Ein Stück weit spiegeln die Fragen auch das Patientenrechtegesetz wider.

Welche weiteren Aspekte beinhaltet SDM?

Rüffer: SDM ist in Gänze als ein Werkzeugkasten vorstellbar. Im Einzelfall muss entschieden werden, welche Tools in ein System implementierbar sind. Wir haben uns für die vier beschriebenen entschieden – und ziehen eine positive Bilanz. In anderen Projekten konnten mit anderer Auswahl nicht dieselben Effekte erzielt werden. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist auch die Intensität der Maßnahmen. Es ist ein lernendes System – aber SHARE TO CARE setzt heute einen Standard.

Ist es nicht auch ein Stück weit eine individuelle Einstellung, wie offen und gleichberechtigt ich als Arzt beziehungsweise Patient ein Behandlungsgespräch führe?

Rüffer: Wir wissen, dass SDM-Elemente in Behandlungsgesprächen nur in geringem Ausmaß stattfinden. Gleichzeitig behaupten neun von zehn Ärzten, sie praktizierten Partizipative Entscheidungsfindung.

© stock.adobe.com, Rido
© stock.adobe.com, Rido

Wird da gelogen?

Rüffer: Nein. Als Vorwurf ist es nicht zu verstehen. Vielmehr erkenne ich darin einen ärztlichen Willen zum SDM. Nur fehlt an vielen Stellen heute noch ein tieferes Verständnis. Dazu gehört die Einsicht des Arztes, dass er hauptverantwortlich dafür ist, dass der Patient ein Thema erfasst und seine Präferenzen mit den Behandlungsoptionen abgleicht. Ärzte scheinen schnell bereit zu sagen, sie hätten das getan. In der Praxis bestätigt sich das nicht. Das reine Wollen reicht nicht. Es fehlte bisher die Prozessanleitung.

Das müssen Sie genauer erklären.

Rüffer: Ein Vergleich: Fährt man Auto, tut man das bisweilen mit der inneren Haltung, dass man vorsichtig fahren möchte. Dann möchte ich in einer 30er-Zone auch nur 30 fahren. Fehlt es allerdings an einem Tachometer, an Bremsen oder einem richtigen Gaspedal, wird es schwierig, mein Ziel zu erreichen. Deutlich leichter ist es, wenn ich adäquat ausgerüstet bin und einen Tempomat habe, den ich auf 30 einstellen kann. Der SDM-Prozess ist wie dieses Hilfsmittel. Ich schätze, das ist der Missing Link der letzten Jahrzehnte, welcher für eine breitflächige Implementierung fehlte. In theoretische Diskussionen ist die Thematik schon längst eingezogen. Die Umsetzung in der Praxis stand dagegen auf der Stelle. Nun haben wir einen Prozess erarbeitet, der Ärzten mit unseren kombinierten Optionen SDM ermöglicht.

Das ist ein wohlwollender Blick. Was ist mit Widerständen von Ärzten, die ihr althergebrachtes Selbstbild gefährdet sehen?

Rüffer: Widerstände gibt es definitiv. Interessanterweise finden sich jene traditionellen Haltungen vermehrt bei Kollegen, die in Lobbygruppen aktiv sind und seltener direkt mit Patienten arbeiten. Sicherlich ist damit auch eine Generationenfrage verbunden. Dennoch: Ich bin der Meinung, es stieße keine große Veränderung an, tauschten wir alle Ü40-Ärzte durch jüngere Kollegen aus. Denn: SDM ist kein Automatismus, keine reine Willensfrage. Es bedarf aktiven Trainings und einer bewussten Implementierung.

Die Einstellung der Ärzte muss sich nicht ändern?

Rüffer: Doch. Dazu gehört, dass Ärzte seit Langem die Effektivität von Interventionen überschätzen. Watchfull Waiting wiederum wird unterschätzt. Solche Phänomene lassen sich mit Partizipativer Entscheidungsfindung ausgleichen. Denn im Prozess werden sich Ärzte bewusst, dass zuweilen Therapieoptionen vorgezogen werden, die aus ärztlicher Sicht weniger erfolgsversprechend oder weniger invasiv sind. Das zu verstehen, ist vielmehr Inhalt als Macht und Deutungshoheit.

Wie gelingt die flächendeckende Implementierung?

Rüffer: Daran arbeiten wir mit SHARE TO CARE. Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, unser Programm in die Regelversorgung zu überführen. Doch darauf wollen wir nicht warten. Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Gegenwärtig entwickeln sich verschiedene Pilotprojekte, die hoffentlich genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten: Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung. Mitbedacht werden muss auch, dass man damit gleichzeitig Anreize für Personen mit anderem SDM-Verständnis schafft, sich in den Markt zu drängen. Möglicherweise entsteht dabei Pseudo-SDM.

Was verstehen Sie unter Pseudo-SDM? Drückt man Patienten eine Entscheidungshilfe in die Hand, und das war es dann?

Rüffer: Entscheidungshilfen allein erzeugen durchaus positive Effekte. Diese sind allerdings um Längen von den Kieler Ergebnissen entfernt. Denn an erster Stelle ist es eine Frage der Haltung: zu respektieren, dass Patienten eigene Präferenzen und Therapievorstellungen haben. Diese Haltung ist komplementär zu Werkzeugen wie Entscheidungshilfen, Decision Coaches oder den „Drei Fragen“. Erst wenn alle Rädchen ineinandergreifen, gedeiht Partizipative Entscheidungsfindung.

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© atp Verlag
© atp Verlag

Zur Person Dr. Jens Ulrich Rüffer treibt seit Jahrzehnten europaweit SDM-Projekte voran. Als Geschäftsführer von SHARE TO CARE hat der Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie zuletzt SDM in einer ganzen Klinik in Kiel implementiert. Außerdem hat er das Buch „Wenn eine Begegnung alles verändert: Ärztinnen und Ärzte erzählen“, in dem Mediziner von augenöffnenden Patientenbegegnungen berichten, mit herausgegeben.
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„Wir müssen von vielen Seiten zugleich ansetzen“

Prof. Wolfgang Wick über Umsetzungsprobleme in der Prävention

Berlin (pag) – In Sachen Prävention gibt es weniger ein Erkenntnis- denn ein Umsetzungsproblem, konstatiert Prof. Wolfgang Wick, Vorsitzender des Wissenschaftsrates, und fordert: „Das müssen wir ändern.“ Der oft verlangte „Turn“ im Gesundheitswesen und in der Medizin hin der Gesunderhaltung müsse endlich verbindlich angegangen werden. Wie genau, verrät der Neurologe im Interview.

@ pag, Weger
@ pag, Weger

Auf einem Symposium hat der Wissenschaftsrat kürzlich gefordert, Prävention neu zu denken. Worin bestehen hierzulande die größten Denkfehler auf diesem Feld?

Wick: Ein Denkfehler wäre es, Prävention allein als medizinisches Thema zu begreifen. Prävention ist vielmehr eine gesellschaftliche  Querschnittsaufgabe. Deshalb müssen sich die beteiligten Akteure besser vernetzen. Dies meint sowohl Wissenschaft, Wirtschaft und auch allgemeine Öffentlichkeit wie auch die Politik – und dies ressortübergreifend im Sinne einer konsequenten „Health in all policies“. Weiterhin halte ich Verbotsdiskurse für nicht förderlich. Wir müssen uns stärker Gedanken zu Anreizen für ein gesundheitsbewusstes Verhalten und zielgruppengerechter Kommunikation machen und benötigen hierfür auch ein Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Professionen. Auch Gesundheits- und Datenkompetenzen müssen in der Breite gestärkt werden, nicht zuletzt auch um Möglichkeiten der Digitalisierung besser nutzen zu können.

Worauf kommt es besonders an?

Wick: Prävention in der Gesellschaft und dem alltäglichen Leben besser zu verankern und den bereits oft aufgerufenen „Turn“ im Gesundheitswesen und in der Medizin hin zu einem Ansatz der Gesunderhaltung verbindlich anzugehen. Dabei gilt es aus meiner Sicht auch, bestehende Initiativen und Strukturen gut einzubinden und auch dezentral-regionale Ansätze zu stimulieren sowie einen möglichst breiten, interdisziplinären und interprofessionellen Präventionsbegriff zu stärken. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe für die Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Prävention muss sowohl in Studium und Weiterbildung als auch in Forschung Translation/Transfer in den entsprechenden Fächern, Human- und Zahnmedizin und in den anderen Gesundheitswissenschaften, angemessen berücksichtigt werden.

Auf der Veranstaltung haben sich die unterschiedlichsten Expertinnen und Experten zur Prävention ausgetauscht. Gab es für Sie eine überraschende Erkenntnis?

Wick: Es war vielleicht nicht überraschend, aber doch sehr eindrucksvoll, so gebündelt zu sehen, wie viel Wissen wir einerseits haben in ganz unterschiedlichen Feldern. Dennoch gelingt es uns in Deutschland bislang nicht gut genug, Prävention auch umzusetzen. Es gibt weniger ein Erkenntnis- denn ein Umsetzungsproblem. Das müssen wir ändern. Dafür müssen wir von vielen Seiten zugleich ansetzen. Denn so wenig es die eine Ursache gibt, so wenig gibt es die eine Lösung. Wichtig zu verstehen scheint mir auch, dass wir neben gemeinsamen Zielen, die abstrakt formuliert sicher mehrheitsfähig sind, vor allem eine regionale Durchdringung in den Aktivitäten brauchen. Dies bedeutet vielfältige Ansätze, aber klare Standards und Rahmen, um zum Beispiel die viel beschworene Datennutzung zu ermöglichen. Wir brauchen einen interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz.

Was braucht es, um den sogenannten „Implementation Gap“ in der Prävention nachhaltig zu überwinden? Wie gehen dabei andere Länder vor?

Wick: Aus meiner Sicht müssen wir insbesondere die Anreizsysteme für das Wissenschafts- und Gesundheitssystem in den Blick nehmen und so verändern, dass Prävention einen höheren Stellenwert erhält. Andere Länder gehen bereits voran. Im Rahmen des Symposiums haben wir unter anderem das Beispiel der Niederlande gehört.

Wie wird dort Prävention gestaltet?

Wick: In den Niederlanden debattiert man auf politischer Ebene die verpflichtende Vereinbarung konkreter nationaler Gesundheitsziele, ähnlich wie für andere gesellschaftliche Bereiche zum Beispiel im Falle von Finanz- und Klimazielen. Jeder niederländischen Bürgerin und jedem Bürger sollen fünf zusätzliche gesunde Lebensjahre ermöglicht und die Unterschiede in der gesunden Lebenserwartung zwischen ärmsten und reichsten Bevölkerungsschichten signifikant verringert werden. Zur Erreichung solcher Ziele werden attraktive Vorsorgeangebote und Einbindung der Informationen in das hausärztliche Versorgungsumfeld angeboten, die als wertvoll wahrgenommen werden; es wird aber auch die Lebensmittelindustrie mit ins Boot geholt. Davon könnten wir uns vielleicht auch in Deutschland etwas abschauen.

 

Zur Person
Der Neurologe Prof. Wolfgang Wick ist seit vergangenem Jahr Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Am Universitätsklinikum Heidelberg ist er Ärztlicher Direktor Neurologie und Poliklinik sowie Zentrumssprecher der Kopfklinik. Wick beschäftigt sich mit grundlegenden, translationalen und klinischen Fragestellungen zu hirneigenen Tumoren und Krebsmetastasen im zentralen Nervensystem.

 

Weiterführender Link:
Der Wissenschaftsrat hat sich kürzlich ausführlich mit Prävention beschäftigt. Die Podcastfolge zu dem Symposium gibt es hier:
https://www.wissenschaftsrat.de/DE/Home/Buehne/_Inhalte/Inhalte_Online/Podcast_Symposium_Praevention

„Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial“

Prof. Henry Völzke über Datenschätze für die Prävention

Berlin (pag) – „Wir sehen als Gesellschaft zu, wie wir immer kränker werden und wir tun nichts dagegen“, kritisiert Prof. Henry Völzke kürzlich in Berlin. Der Vorstandsvorsitzende der NAKO bringt für die Prävention den Datenschatz der Gesundheitsstudie ins Gespräch. Welche Potenziale er sieht und ob die Politik interessiert ist, lesen Sie im Interview.

Welchen Beitrag kann die NAKO für die Prävention und die Früherkennung hierzulande leisten?

Völzke: Die NAKO Gesundheitsstudie ist eine Beobachtungsstudie. In 18 Studienregionen untersuchen wir die mehr als 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und wissen daher recht gut darüber Bescheid, welche Bevölkerungsgruppen, welche Regionen und welche sozialen Gruppen besonders von Risikofaktoren und Erkrankungen betroffen sind.

Hätten Sie ein konkretes Beispiel?

Völzke: Wir sehen eine zunehmende Häufigkeit von Adipositas in der Bevölkerung. Davon ist vor allem der Nordosten betroffen, also Vorpommern und die Mecklenburgische Seenplatte. Der Landespolitik in Mecklenburg-Vorpommern ist das bereits bekannt und sie tut, was sie kann – etwa Aufklärungskampagnen, gesunde Ernährung in Kitas et cetera. Aber die Möglichkeiten des Landes sind eben beschränkt. Es müsste viel mehr auf Bundes- und EU-Ebene passieren, ein Stichwort ist die Zuckersteuer. Mithilfe der NAKO-Daten könnten wir zukünftig beurteilen, was solche Maßnahmen gebracht haben – zum Beispiel, ob der durchschnittliche Body-Mass-Index gesenkt wurde.

Wie sieht es mit der Früherkennung von Erkrankungen aus?

Völzke: Da kann und wird die NAKO Gesundheitsstudie eine große Rolle spielen. Ein starker Punkt sind Biomarker aus verschiedenen Körperflüssigkeiten. Mit neuen Verfahren können innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl an Informationen aus Blut, Serum, Urin oder Stuhlproben gewonnen werden. Das ist natürlich ein Feld der Grundlagenforschung: diese Technologien anzuwenden und dann neue Marker, die eventuell zur Früherkennung von Erkrankung eingesetzt werden können, überhaupt erst einmal zu finden. Außerdem haben wir zahlreiche Untersuchungsverfahren, um subklinische Auffälligkeiten zu bestimmen.

Was sind das für Auffälligkeiten?

Völzke: Dabei handelt es sich um Auffälligkeiten, die auf einen Krankheitsprozess hindeuten, aber selbst noch keinen Krankheitswert haben. Im MRT sieht man zum Beispiel eine vergrößerte Leber, eine vergrößerte Milz, die Verfettung von Organen. Die Frage, mit der sich die Wissenschaftler dann die nächsten Jahre und Jahrzehnte beschäftigen, lautet, ob solche Auffälligkeiten wirklich als Vorhersagemarker für spätere Erkrankungen verwendbar sind.

© NAKO Gesundheitsstudie
© NAKO Gesundheitsstudie

Zur Person
Prof. Henry Völzke ist Vorstandsvorsitzender der NAKO. Der fünfköpfige Vorstand ist die Außenvertretung der Gesundheitsstudie gegenüber Wissenschaft, Politik, Medien, der Öffentlichkeit und Förderern. Völzke leitet außerdem die Abteilung SHIP/ Klinisch-Epidemiologische Forschung am Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald. SHIP steht für Study of Health in Pomerania, dabei handelt es sich um eine bevölkerungsbezogene, epidemiologische Studie in der Region Vorpommern im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.
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Das dürfte auch ein wichtiger Punkt für die Alzheimertherapie sein, die ja vor den ersten klinischen Auffälligkeiten einsetzen sollte.

Völzke: Gerade das MRT liefert möglicherweise Befunde, von denen wir noch gar nicht wissen, ob sie eine Bedeutung haben. Bei der sogenannten Radiomix-Untersuchung werden mit neuen Bildanalyseverfahren Auffälligkeiten wie bestimmte Muster, Unterschiede zwischen verschiedenen Gehirnanteilen, Größenunterschiede und auch Signalintensitätsunterschiede identifiziert. In Zukunft, wenn wir genügend Fälle mit Alzheimer oder Parkinson in der NAKO haben, werden wir sehen, ob diese bereits jetzt aufgespürten Auffälligkeiten wirklich einen Krankheits- oder zumindest einen Prognosewert haben.

Wo sehen Sie die größten Potenziale?

Völzke: Das größte Potenzial ergibt sich aus der einzigartigen Kombination aus dem Umfang der Untersuchungen und der Größe der Studienpopulation – und das in Verbindung mit dem langfristigen Ansatz: Wir beobachten die Teilnehmer über Jahrzehnte nach, um zu sehen, wer leider krank wird, wer gesund bleibt und welches die Faktoren sind, die über Krankheit und Gesundheit entscheiden. Außerdem ist die NAKO Gesundheitsstudie ein hoch interdisziplinäres Projekt, mit Neurologen, Kardiologen, Diabetologen und Orthopäden an Bord, auch Zahnärzte sind beispielsweise dabei. Irgendwann fügt sich das Ganze zu einem komplexen Bild zusammen, etwa Zahnauffälligkeiten wie Paradontitis, die mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert sind. Das Potenzial ergibt sich somit aus dem Umfang der verschiedenen Untersuchungen, und die Größe der Population macht es wiederum möglich, die verschiedenen Interaktionen zwischen Risikofaktoren, subklinischen Auffälligkeiten sowie genetische Faktoren in Bezug auf Krankheitsrisiken zu bestimmen.

Was muss die Politik tun, um diesen Datenschatz zu heben?

Völzke: Uns weiterhin unterstützen. Bund, Länder und die Helmholtz-Gemeinschaft, die die NAKO Gesundheitsstudie finanzieren, unterstützen uns sehr. NAKO ist ein langfristiges Projekt und damit etwas Besonderes in der deutschen Wissenschaftsszene, denn die Politik hat sich für 30 Jahre verpflichtet, die Gesundheitsstudie zu fördern. Wir möchten sie davon überzeugen, dass diese 30 Jahre nicht ausreichen. Die NAKO hat deutlich mehr Potenzial, wenn wir zum Beispiel eine neue Stichprobe hinzufügen, um Prävalenztrends zu beobachten oder die Kinder der NAKO-Teilnehmer in die Untersuchung einbeziehen könnten. Dafür gibt es Verständnis bei unseren Förderern, aber wir erleben natürlich eine angespannte finanzielle Situation.

Hat der Bundesgesundheitsminister Sie bei seinen Bemühungen um die Vorbeugemedizin auf dem Schirm?

Völzke: Ich wünschte mir, er würde das Potenzial der Studie für die Gesundheit unserer Gesellschaft noch intensiver nutzen. Zum Beispiel könnten Erkenntnisse der NAKO auch in die Gesundheitsberichterstattung einfließen oder eigene Forschungsfragen des Ministeriums an die Gesundheitsstudie angedockt werden.

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© NAKO Gesundheitsstudie
© NAKO Gesundheitsstudie

Die NAKO
Die NAKO ist Deutschlands größte Langzeit-Bevölkerungsstudie, bei der fortlaufend in 18 Studienzentren über 205.000 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger umfassend medizinisch untersucht und nach ihren Lebensgewohnheiten befragt werden. Zu Beginn der Erhebung im Jahr 2014 waren die Teilnehmenden 20 bis 69 Jahre alt. In fünf ausgewählten Zentren wurden bislang bei 30.000 Studienteilnehmenden das bildgebende Verfahren der Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt. Im Laufe der Studie wurden rund 28 Millionen Bioproben gesammelt und stehen für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung. Den Verantwortlichen zufolge ist NAKO ein „einzigartiges Projekt, das die medizinische Forschung und die Gesundheitsprävention nachhaltig prägen wird“.
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„Uns war ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft wichtig“

Lena Kümmel über gesundheitspolitische Bürgerbeteiligung im Ostalbkreis

Aalen (pag) – Im Sommer 2023 beschäftigen sich 51 zufällig ausgewählte Bürger damit, wie eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung aussehen könnte. In einem Bürgerforum tauschen sie sich über das Zukunftskonzept der Kliniken Ostalb aus. Das Ergebnis: 26 konkrete Empfehlungen an den Kreistag. Hintergründe, Ziele und Herausforderungen erläutert die Projektverantwortliche, Lena Kümmel, im Interview. Sie hat die Bürgerbeteiligung von Anfang an begleitet.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bürgerforums im Ostalbkreis, die sich mit Klinikstrukturveränderungen auseinandergesetzt haben. © Kommunikationsbüro Ulmer GmbH

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Der Ostalbkreis initiierte im vergangenen Jahr eine Bürgerbeteiligung in der regionalen Gesundheitspolitik. Um welches Thema ging es dabei?

Kümmel: Ursprünglich um unsere Klinikstruktur, konkret um die Zusammenlegung von mehreren Standorten. Doch das Interesse der Bürger reichte weit darüber hinaus. Ein wichtiges Anliegen war ihnen auch die ambulante ärztliche Versorgung. Das spiegelt sich in den Empfehlungen der Bürger wider: Sie beziehen sich einerseits auf Klinikstrukturveränderungen, andererseits auf die gesamte Gesundheitsstruktur im Landkreis. Außerdem gibt es landes- und bundespolitische Empfehlungen.

Warum entschied sich der Landrat für diesen Schritt?

Kümmel: Unser Landrat Dr. Joachim Bläse nahm selbst an einem Zufallsbürgerforum teil. Der Prozess und die Ergebnisse beeindruckten ihn so stark, dass er dieses Format im Rahmen des Klinikstrukturierungsprozesses aufgriff. So kam unser erster Versuch, ein solches Zufallsbürgerforum im Gesundheitssektor auszuprobieren, ins Rollen.

Bekamen Sie dafür externe Unterstützung?

Kümmel: Ja, bei der zuständigen Stelle für Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg. Bei der Evaluation stand uns Prof. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim zur Seite.

Wie fand die Beteiligung konkret statt?

Der Strukturwandel im Krankenhaussektor stellt viele Kommunen und Landkreise vor erhebliche Herausforderungen. Das trifft auch auf den Ostalbkreis zu. © stock.adobe.com, upixa

Kümmel: Wichtige Leitfragen waren für uns: Wo im Prozess holen wir die Bürger ab? Welche Entscheidungen gingen bereits voraus? In unserem Fall bestand der erste Schritt darin, die Bürger darüber aufzuklären, warum es notwendig ist, den Klinikbereich umzustrukturieren. Über die Gründe – etwa personelle, finanzielle und strukturelle Schwierigkeiten – informierten wir sie zuerst. Das geschah sowohl in Präsenz als auch im Rahmen von Videokonferenzen. In Bürgerdialogen sprachen Experten über die mannigfaltigen Problemfelder.

Wer war das zum Beispiel?

Kümmel: Neben dem Landrat vor allem Klinikmitarbeiter oder der Klinikvorstand. Wir investierten insbesondere deshalb in die Informationsbereitstellung, weil erst mit einem gewissen Problemverständnis Lösungsansätze erarbeitet werden können.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?

Kümmel: Herausfordernd waren im Zufallsbürgerforum insbesondere emotionale Themen, dann wurde die Debatte merklich schwieriger. Das nahmen wir insbesondere bei zwei Bereichen wahr.

Bei welchen?

Kümmel: Bei der Notfallversorgung und der Geburtshilfe. Die Bürger trieb die Frage um, an wen sie sich im Notfall wenden können, wenn zum Beispiel die Notaufnahme nicht mehr vor Ort ist. Bei dieser Frage waren die Beteiligten teilweise sehr besorgt. Zwar versuchten sie, sich von den Fakten leiten zu lassen, aber an anderen Stellen gelang ihnen das besser. Viel Verständnis hatten die Bürger beispielsweise, wenn es um Qualitäts- oder Personalvorgaben ging. Für sie war es gut nachvollziehbar, dass Veränderungen für gute Strukturen und Arbeitsbedingungen notwendig sind.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Kümmel: Wir haben weiterhin versucht, die Fakten darzustellen und zu erklären, warum kein Weg an Strukturveränderungen vorbei geht. Wir achteten außerdem darauf, den Beteiligten verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Dazu ließen wir etwa Sprecher aus Bürgerinitiativen zu Wort kommen. Statt uns in Details zu verlieren, lenkten wir den Fokus auf das große Ganze. Das konnten die Bürger auch greifen und die Ergebnisse sprechen für sich: Letztlich lautet ihre Empfehlung, ein Zentralklinikum zu bauen. Das deckt sich mit der Entscheidung des Kreistages. Wichtig war für uns aber natürlich auch, die Emotionen und Bedenken der Menschen wahr- und mitzunehmen.

Wie sieht es mit der Berücksichtigung der Bürgerempfehlungen bei den politischen Entscheidungsfindung aus?

Kümmel: Bei uns ist der Kreistag das zuständige Entscheidungsgremium, weil sich die Kliniken in der Trägerschaft des Landkreises befinden. Die Herausforderung besteht darin, dass bei der Neuorganisation der Klinikstruktur viele unterschiedliche Interessen zusammenkommen: Jeder Bürgermeister, jede Stadt hat eigene Vorstellungen. Es ist schwierig, ihnen zu erklären, dass sich ihr Klinikum vor Ort verändern wird.

Im Osten Baden-Württembergs gelegen, grenzt der Ostalbkreis an den Freistaat Bayern.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kümmel: Zu Beginn des Prozesses erhielten wir zuhauf Leserbriefe und Bürgerinitiativen, die sich allesamt gegen Klinikstrukturveränderungen aussprachen. Uns war es daher wichtig, ein Stimmungsbild aus der Gesellschaft zu bekommen, das sich die Situation neutral und unvoreingenommen ansieht. Mit unserer alters- und geschlechtsheterogenen Gruppe haben wir genau diese Möglichkeit bekommen. Durch die Empfehlungen der Bürger fiel dem Kreistag die Entscheidung für einen zentralen Klinikstandort leichter. In anderen Landkreisen sieht man immer wieder, dass es nur knappe Mehrheiten für Strukturänderungen im Klinikbereich gibt. In unserem Fall gab es nur eine Enthaltung und eine Gegenstimme bei insgesamt 73 Kreisräten. Ein eindeutiges Votum. Der Landrat ist davon überzeugt, dass die Bürgerbeteiligung einen relevanten Beitrag zu dieser Zustimmung geleistet hat.

Hat sich die Bürgerbeteiligung auf weitere Versorgungsbereiche ausgewirkt?

Kümmel: Im Landkreis haben wir eine angespannte hausärztliche Versorgungssituation, insbesondere durch eine teilweise Unterversorgung bedingt. Auch den Bürgern fällt auf, dass es an Personal und Nachwuchs fehlt. Lange Wartezeiten sind nur eine der Folgen. Auch im Bürgerforum war spürbar: Es muss sich etwas an den Strukturen ändern, wenn wir eine gute Versorgung im ländlichen Raum sichern wollen. Vielen ist mittlerweile bewusst, dass sich vielleicht nicht in jedem kleinen Dörfchen ein Hausarzt halten kann, sondern Verbünde in Städten zukunftstauglicher sind. Das ist in der Diskussion offensichtlich geworden.

Was sind die wichtigsten Lehren aus der Bürgerbeteiligung?

Kümmel: Gerade im Gesundheitssektor bietet diese Herangehensweise immenses Potenzial. Es handelt sich um einen Bereich, in dem zwar viele Meinungen kursieren, aber grundsätzlich zu wenig Fakten bekannt sind. Ich denke dabei etwa an die Zuständigkeitsbereiche. Ein Beispiel aus meinem Alltag: Häufig rufen Bürger im Landratsamt mit der Bitte an, dass wir ihnen einen Hausarzttermin vermitteln. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als sie an die Kassenärztliche Vereinigung zu überweisen.

Passiert das öfter?

Kümmel: Das ist kein Einzelphänomen. Dem Bürger fehlt es häufig an Orientierung. Offen bleiben Fragen wie: Wer trägt die Verantwortung, wo wird mir geholfen oder wo kann ich mich beschweren, wenn etwas nicht gut läuft? Da so viel Halbwissen und Gefühle kursieren, ist die Bürgerbeteiligung eine sehr hilfreiche Möglichkeit, um in den Dialog zu gehen und proaktiv zu kommunizieren. Selbst wenn der Zeit- und Arbeitsaufwand dafür hoch ist, lohnt es sich. Dafür ziehen Bürger und Experten an einem Strang und gewinnen über die Empfehlungen hinaus eine neue Rolle: Sie werden zu Multiplikatoren in ihrer Nachbarschaft, bei Freunden und im familiären Umfeld. Das hat einen hohen Mehrwert.

Ist diese Beteiligungsform auch für andere gesundheitspolitische Bereiche beziehungsweise Akteure denkbar? Gibt es bereits Anfragen?

Kümmel: Aus meiner Sicht ist die Beteiligung in vielen anderen Bereichen sinnvoll. Ich denke beispielsweise an den ambulanten ärztlichen Sektor. Die Eignung leitet sich immer über das Ziel ab: Warum würde man sich hier die Unterstützung für Entscheidungen oder Ideen von Bürgern wünschen? Bei uns ist zwar aktuell nichts weiter geplant, aber die Hebel sind in Bewegung. Wir wollen jetzt ein neues Gesundheitszentrum errichten. Wenn es an die konkrete Planung geht, kann ich mir gut vorstellen, dass wir wieder die Bürger vor Ort zu ihren Wünschen und Ideen befragen. Auch um die Akzeptanz für das neue Zentrum zu erhöhen.

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Zur Person
Lena Kümmel hat Politikwissenschaft und Soziologie studiert, arbeitete zwei Jahre im Europäischen Parlament und ist seit 2019 im Landratsamt Ostalbkreis als persönliche Referentin des Landrats tätig. Seit 2021 ist sie Referentin für die stationäre und ambulante Versorgung im Landkreis und unterstützt den Zukunftsprozess der Kliniken Ostalb. Begleitend studiert sie Gesundheitsmanagement im Master.
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„Blended Intelligence“ als Goldstandard

Prof. Alena Buyx über KI in der ärztlichen Versorgung

Berlin (pag) – Die Ethikratsvorsitzende Prof. Alena Buyx ist zuversichtlich, dass in der Medizin die Integration von KI gut gelingen wird. Dennoch sei strategisches Nachdenken darüber notwendig, was Ärztinnen und Ärzte wirklich an Künstlicher Intelligenz benötigen. Bedarf sieht sie vor allem bei administrativ entlastenden Algorithmen.

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Revolutioniert der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin den Beruf des Arztes und der Ärztin?

Buyx: Im Augenblick gibt es erste Anwendungen, die bereits ziemlich stark in genuin ärztliche Tätigkeiten eingreifen. Einige funktionieren gut, vieles davon ist aber noch gar nicht in der Praxis angekommen, sondern noch experimentell. Das Wichtigste wäre meiner Ansicht nach aber, dass KI die Ärztinnen und Ärzte – und das gilt für die anderen Medizinberufe auch – von administrativen Verpflichtungen entlasten könnte. Es ginge somit darum, Algorithmen in der Klinik einzuführen, die administrativ wirklich mithelfen und nicht so sehr ins Zentrum der ärztlichen Tätigkeit hineingehen.

Aber die bereits existierenden Beispiele kommen eher aus dem bildgebenden Bereich. Bürokratie scheint noch ein Nischenthema zu sein, oder?

Buyx: Ja, davon gibt es zu wenig, wie ich finde. Bei der Befundung von Röntgenbildern bewegt man sich zum Beispiel in einer originär ärztlichen Tätigkeit. Gleichzeitig beklagen die Kolleginnen und Kollegen völlig zu Recht, dass die vielen, vielen administrativen Tätigkeiten sie davon abhalten, die Patienten und Patientinnen optimal zu versorgen. Noch dazu sind sie für die Administration ja eigentlich nicht ausgebildet. Es ist somit an der Zeit, strategischer darüber nachzudenken, was die Kolleginnen und Kollegen wirklich an Künstlicher Intelligenz benötigen.

Kennen Sie ein Beispiel, welches diese Bedürfnisse mitdenkt?

Buyx: Am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation werden Algorithmen für die Pflegedokumentation auf Palliativstationen entwickelt.

Aber auch im psychotherapeutischen Bereich gibt es mittlerweile KI-Anwendungen, was ja auf den ersten Blick etwas überraschend ist.

Buyx: Ich finde es durchaus erstaunlich, dass so etwas sogar halbwegs funktioniert. Einen therapeutischen Chatbot zu haben, ist immerhin besser als gar nichts. Die Wartezeiten für Psychotherapien sind relativ lang. Außerdem sind Personen, die einen therapeutischen Bedarf haben, oft zurückhaltend und kommen erst spät in die Praxis. Chatbots, mit denen auch morgens um drei Uhr interagiert werden kann, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt und ohne dass ein Antrag bei der Krankenkasse gestellt werden muss, können ein Einstiegsinstrument sein. In seiner Stellungnahme macht der Ethikrat aber sehr deutlich, dass solche Angebote nur Hilfsinstrumente sein können, um die Menschen überhaupt in die Nähe eines therapeutischen Geschehens zu bringen. In den USA gibt es Kliniken, die ihren Patientinnen und Patienten ausschließlich diese Art von Therapie anbieten, das ist problematisch.

Wenn wir über Hilfsinstrumente oder Dokumentationsassistenten sprechen, klingt das so, als ob die große KI-Revolution in der Medizin erst einmal ausbleibt.

Buyx: Die meisten Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass der Goldstandard auf sehr lange Zeit die sogenannte „Blended Intelligence“ sein wird. Das bedeutet: Menschen benutzen künstlich intelligente Instrumente und setzen sie klug ein.

Aber wie kann sichergestellt werden, dass Ärztinnen und Ärzte in der Letztverantwortung bleiben?

Buyx: Es muss eben immer einen Weg geben. Das wird je nach Anwendung unterschiedlich aussehen, aber allen muss gemein sein, den „human in the loop“ zu behalten: keine vollautomatisierten Entscheidungen, ohne dass die Möglichkeit besteht, dass Menschen diese überprüfen. Zwar können einzelne Aspekte einer Aufgabe an Algorithmen delegiert werden, aber das therapeutische Gesamtgeschehen ist nicht abzugeben. Es muss weiterhin in ärztlicher Hand bleiben, das sagen wir ganz klar.

Dafür dürfte sich der Standard in der Chirurgie grundlegend von dem in der Psychotherapie unterscheiden.

Buyx: Es ist ganz wichtig, sich das im Einzelnen wirklich anzugucken. Das ist einerseits ein ziemlich dickes Brett. Auf der anderen Seite werden bei den DIGAs auch die Anwendungen für sich überprüft. Das ist keine Hexerei. Und auch andere Medizintechnologien werden einzeln getestet. Ebenso wenig wie man diese alle über einen Kamm scheren würde, darf man es jetzt auch nicht mit den Anwendungen machen, die auf maschinellem Lernen beruhen.

Würden Sie vor allem die medizinischen Fachgesellschaften in der Pflicht sehen?

Buyx: Diese sollten unbedingt beteiligt sein, damit die ärztliche Expertise in die Entwicklung eingebracht wird. Und selbstverständlich müssen die Programmiererinnen und Programmierer dabei sein. Idealerweise sollten auch Personen an Bord sein, die darauf achten, dass die ethischen und regulatorischen Standards eingehalten werden. Viele Forschungsprojekte setzen das bereits um. Insofern fangen wir nicht bei null an, ganz im Gegenteil: Das läuft bereits seit Jahren. Deswegen bin ich auch zuversichtlich, dass uns in der Medizin die Integration von KI gut gelingen wird. Technologien, die auch mit Risiken behaftet sind, werden schließlich nicht zum ersten Mal aufgenommen. Die Medizin ist technikaffin. Wenn die Ärztinnen und Ärzte die Hand darauf halten, wird es nicht zu irgendeiner Revolution kommen.

Aber in der Ausbildung ist das Thema noch nicht abgebildet, oder?

Buyx: Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Aber mir erscheint die fachärztliche Weiterbildung noch wichtiger: Jedes Fach muss sich auf den Hosenboden setzen und prüfen, wie die Weiterbildungsordnung anzupassen ist. 

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Zur Person
Die Medizinerin Prof. Alena Buyx ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, der im vergangenen Jahr eine rund 400 Seiten lange Stellungnahme zu „Mensch und Maschine – Herausforderung durch Künstliche Intelligenz“ veröffentlicht hat. Seit 2018 ist sie Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München.
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„Kurskorrektur war höchste Eisenbahn“

Wie Dr. Hagen Pfundner die Pharmastrategie der Bundesregierung bewertet

Berlin (pag) – Lange hat die Industrie auf die Pharmastrategie der Bundesregierung gewartet, Ende 2023 stellt sie der Bundesgesundheitsminister endlich vor. Wird damit eine Renaissance der Reindustrialisierung eingeleitet? Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender Roche Pharma, bezieht im Interview Stellung und verrät, welche Pläne er skeptisch sieht.

Wird das Ruder gerade noch rechtzeitig herumgerissen? Bei dieser historischen Zeichnung aus Großbritannien scheint die Lage noch unklar zu sein. Ähnlich sieht es momentan am Pharmastandort Deutschland aus. Den Referentenentwurf des Medizinforschungsgesetzes beurteilt die pharmazeutische Industrie verhalten.
© iStockphoto.com, ilbusca; Ilustration: Tempest

Mit der Pharmastrategie und dem geplanten Medizinforschungsgesetz will Prof. Karl Lauterbach eine Reindustrialisierung in Gang setzen. Höchste Eisenbahn oder ist der Zug schon abgefahren?

Pfundner: Die Pharmastrategie der Bundesregierung ist eine ressortübergreifende Strategie, bei der Bundeskanzleramt, Wirtschafts-, Forschungs- und Gesundheitsministerium intensiv zusammengearbeitet haben. Ja, eine Kurskorrektur und eine Rücknahme der innovationsfeindlichen Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz waren höchste Eisenbahn. Mit der Strategie und dem Bekenntnis, dass die pharmazeutische Industrie ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft ist, ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Wir wurden als Industrie gehört und unsere Sorgen in Bezug auf eine schleichende Deindustrialisierung wurden ernst genommen.

Aber?

Pfundner: Jetzt müssen Taten folgen. Unsere Branche ist bereit, bei entsprechenden Rahmenbedingungen in Forschung, Entwicklung und Produktion signifikant zu investieren, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zur Lieferkettensicherheit beizutragen.

Wie bewerten Sie die Pharmastrategie der Bundesregierung: Welche Pläne überzeugen Sie, was halten Sie eher für halbgar?

Pfundner: Die Pharmastrategie ist für mich ein Beispiel für aktive Industriepolitik der Bundesregierung. Ich begrüße diesen Schritt sehr. Hierfür hat der vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Jahr 2022 ins Leben gerufene Roundtable „Gesundheitswirtschaft” eine Schlüsselrolle gespielt und ein wichtiges Fundament gelegt. Die Maßnahmen zum Bürokratieabbau, zur Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie gezielte strukturelle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und die Verbesserung der Arzneimittelliefersicherheit sind wichtige Absichtserklärungen, die man in der Strategie wiederfindet. Es kommt nun auf die konkrete Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.

Was sehen Sie kritisch?

Pfundner: Die Pläne, die für mich aktuell noch die größten Fragezeichen aufwerfen, betreffen die Überprüfung der AMNOG-Reform in 2024, den Zeitplan dahinter und das Austausch- und Entscheidungsgremium, in dem die Industrie mitgestalten und mitwirken kann.

Was kann Deutschland von anderen Ländern in Sachen gesundheitsindustrieller Standortpolitik lernen?

Pfundner: Weltweit beobachten wir eine Renaissance der „Reindustrialisierung”. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Bundesregierung im Sinne einer „modernen” – auch datenbasierten – Reindustrialisierung ein richtiger und notwendiger Weg. Hier können wir durchaus von anderen Ländern lernen, die verstanden haben, dass sich durch verlässliche Rahmenbedingungen und einen heimischen Markt für Innovationen privatwirtschaftlich finanzierte Forschungs- und Produktionskapazitäten in Zukunft weiter ausbauen lassen. Auf der anderen Seite ist die Pharmastrategie der Bundesregierung ein Aktionsplan, der eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland darstellt und bei dem andere Länder aktuell auf uns schauen. Ich freue mich besonders darüber, dass der Dreiklang aus Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Strategie verankert ist – denn Gesundheitspolitik ist auch Industrie- und Wirtschaftspolitik. Es kommt nun – wie bereits gesagt – auf die Umsetzung an. Nur wenn die Maßnahmen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vollständig zurückgeführt werden und wir die Zukunftsthemen gemeinsam angehen, können langfristige, privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunft in Deutschland – vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs – stattfinden.

 

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Zur Person
Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender der Roche Pharma AG, hat einige Pflöcke für die industrielle Gesundheitswirtschaft eingeschlagen. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender des Pharmaverbandes vfa. Er hat daran mitgewirkt, die Branche auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sichtbar zu machen. Aus dem anfänglichen Ausschuss für Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile eine Abteilung. Der promovierte Pharmazeut ist zudem als Honorarprofessor an der Uni Freiburg tätig.    © pag, Fiolka

„DMP sind Teil der Trägheit des Systems“

Prof. Lutz Hager zur umfassenden Reformbedürftigkeit der Programme

Berlin (pag) – Man habe zugelassen, dass die DMP Staub ansetzen, sagt Prof. Lutz
Hager, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care (BMC), kürzlich.
Als der Verband das Impulspapier DMP 2.0 vorstellt, lässt Hager keinen Zweifel daran, dass er für frischen Wind bei den strukturierten Behandlungsprogrammen sorgen will. Wie das funktionieren soll, erzählt der Politologe im Interview.

Sie kritisieren die DMPs als festgefahren. Wer oder was ist der größte Bremsklotz?

Hager: Zunächst von der positiven Seite: Disease-Management-Programme sind zu einem wichtigen Baustein in der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen geworden und erreichten 2022 über 7,2 Millionen Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Aber?

Hager: Die Einschreibezahlen sind aufgrund fehlender Anreize in den letzten Jahren im Durchschnitt nur geringfügig gestiegen – bei steigender Prävalenz der Erkrankungen. Viele neuere Erkenntnisse zu den Chancen von Selbstmanagement sind nicht eingeschlossen und die Prozesse sind für alle Beteiligten umständlich. Zudem kommen die neu beschlossenen DMP nicht in der Versorgung an, da – bis auf wenige Ausnahmen – regionale Vertragsabschlüsse dazu fehlen. Die DMP sind Teil der Trägheit des Systems – dabei ist die Vermeidung und Versorgung von chronischen Erkrankungen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems.

Prof. Lutz Hager wurde im April 2022 zum Vorstandsvorsitzenden des Bundesverbands Managed Care (BMC) gewählt. Der Politologe ist seit 2021 Professor für Management im Gesundheitswesen an der SRH Fernhochschule – The Mobile University, Riedlingen. Zuvor war er unter anderem Geschäftsführer der IKK Südwest und arbeitete als Unternehmensberater bei McKinsey & Company. © pag, Fiolka

Der BMC hat eine Reihe von Reformvorschlägen präsentiert. Wo ist der Innovationsbedarf besonders groß?  

Hager: Bei den Vorschlägen, die wir formuliert haben, konzentrieren wir uns auf drei Bereiche: Zum einen ist es für den Erfolg der Programme unabdingbar, dass Patientinnen und Patienten aktiver in die Behandlung einbezogen und in ihrem Selbstmanagement unterstützt werden. Dafür braucht es Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung. Digitale Tools wie DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen, Anm. d. Red.), die Integration von PROMs und PREMs in den Versorgungsprozess sowie daran gekoppelte Feedbackschleifen können hierfür einen wichtigen Beitrag leisten. Darüber hinaus müssen die Prozesse rund um die Behandlung, Beratung und Betreuung optimiert werden. Die Einbindung digitaler Möglichkeiten wie beispielsweise ein kontinuierliches Symptommonitoring, eine Anbindung an die elektronische Patientenakte sowie Einrichtung eines nationalen DMP-Registers zu Forschungszwecken sind hierbei wichtige Schritte. Und nicht zuletzt müssen die Rahmenbedingungen vereinfacht und um zusätzliche Anreize für eine qualitätsorientierte Versorgung erweitert werden. Insbesondere sollten DMP-Verträge auf Bundesebene geschlossen und Maßnahmen zur Evaluation und Qualitätssicherung kassenartübergreifend und bundesweit vereinheitlicht werden.  

Lohnt sich eine Modernisierung der DMP überhaupt noch oder ist der Ansatz mittlerweile nicht mehr zeitgemäß?

Hager: Im Gegenteil: Wir haben einen enormen Erkenntnisfortschritt darüber gewonnen, wie Lebensstilinterventionen und ein strukturiertes Selbstmanagement Menschen dazu befähigt, mit ihrer chronischen Krankheit umzugehen und ihre Alltagsroutinen an ihre spezifische Krankheitssituation anzupassen. Im telemedizinischen Lebensstil-Interventions-Programm TeLIPro konnte beispielsweise nachgewiesen werden, wie Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 durch telemedizinische Betreuung und Coaching eine signifikante Reduktion des HbA1c, Gewichtsreduktion sowie eine Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren erreichten. Bei einem Teil der Patientinnen und Patienten führte die Teilnahme an dem Programm sogar zu einer Diabetesremission.

Dennoch nimmt der Anteil von Menschen mit chronischen Erkrankungen weiter zu.

Hager: Das stimmt. Schätzungsweise 40 Prozent der Bevölkerung haben zwischenzeitlich eine oder mehrere chronische Erkrankungen. Und die Krankheitslast steigt, sogar in früheren Lebensjahren. Laut einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover hat sich der Anteil adipöser Menschen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren im Zeitraum von 2004 bis 2020 fast verdoppelt. Das ist besorgniserregend, da Adipositas weitere Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck begünstigt und uns daher vor zukünftige Versorgungsherausforderungen stellt. Dabei ist das soziale Gefälle besonders erschreckend: Besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind betroffen und diese Gruppen werden auch in der Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Gerade diese Menschen profitieren daher am meisten von einer strukturieren Behandlung, die zudem „niedrigschwellig“, also attraktiv und erreichbar sein muss.

Was muss konkret passieren?  

Hager: Hier müssen wir im Gesundheitswesen eine „Extra-Meile“ gehen und eine Neuausrichtung der DMP ebnet diesen Weg dorthin. Dazu gehören im Übrigen auch klarere und stärkere Anreize oder sogar Verpflichtungen zur Teilnahme für alle Beteiligten. In dieser Ausrichtung sind DMP ein Kernelement eines solidarischen Gesundheitssystems.

Wie muss das Versorgungsystem aufgestellt sein, damit eine gute Versorgung chronisch kranker Patienten zukünftig sichergestellt ist?

Hager: Unsere Gesundheitsversorgung ist noch immer nicht ausreichend auf die Anforderungen einer Gesellschaft des längeren Lebens eingestellt. Chronische Erkrankungen sind eng mit Lebensstil und Alter verbunden und begleiten Menschen Jahre und Jahrzehnte. Unser Gesundheitssystem ist aber ereignisbezogen und reaktiv – dann, wenn eine Erkrankung eskaliert. Wir brauchen daher neue Versorgungskonzepte, die proaktiv auf Patientinnen und Patienten zugehen und ihr soziales Umfeld einbeziehen. Gesunderhaltung rückt in die Mitte der Gesellschaft – und verbindet Menschen; Gesundheit betrifft uns alle. Wir sollten viel mehr pädagogisch denken – gerade dort, wo wir Menschen heute nicht erreichen. Zudem muss die Versorgung multiprofessionell und einrichtungsübergreifend ineinandergreifen. Solche Netzwerke sollten nicht nur klassische Akteure der Gesundheitsversorgung und Pflege einbeziehen, sondern auch den Bereich der Sozialversorgung und des Quartiersmanagements. Und zu guter Letzt müssen wir frühe Risikofaktoren ernst nehmen und von dort systematisch in passende Angebote überleiten.