Evidenzbasierte Gesundheitspolitik in Krisenzeiten



München/Magdeburg (pag) – Ein Forschungsteam der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und der Hochschule für Philosophie München hat ein Positionspapier vorgelegt: Es enthält sieben Thesen für evidenzbasierte Gesundheitspolitik in Krisenzeiten. Diese sollen eine Diskussion über konkrete Leitlinien anregen, um für kommende Gesundheitskrisen gewappnet zu sein.

© stock.adobe.com, jiris

Formuliert hat die Thesen ein interdisziplinäres Team aus Public-Health-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern, Medizinerinnen und politischen Philosophinnen und Philosophen. „Ausgangspunkt war die COVID-19-Pandemie“, erläutert Prof. Christian Apfelbacher von der Otto-von-Guericke-Universität. Diese habe die politischen Entscheidungsträger vor die Herausforderung gestellt, unter extremer Unsicherheit zu agieren. Umstritten war unter anderem, wie eine evidenzbasierte Politik konkret ausgestaltet sein sollte. Um dies zu klären, hat das Team eine qualitative Studie zur Rolle von Public-Health-Wissenschaftlern in der Politikberatung während der Pandemie erarbeitet. Das Ziel: eine Typologie, die verschiedene Selbstbilder von Forschenden an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik darstellt.

Die Auswertung dieser Interviews zeige, so Apfelbacher, dass das Selbstverständnis, die Selbstbilder sowie die Werte der einzelnen Forscher eine wesentliche Rolle dabei spielten, wie sie Politikberatung praktisch umsetzten. Der Prototyp des „scientific study suppliers“ verstehe sich beispielsweise als neutraler und unabhängiger Experte. Für sie oder ihn stünden die Spezialisierung und wissenschaftliche Integrität an oberster Stelle, es werde eine klare Grenze zur Sphäre
der Politik und der Öffentlichkeit gezogen. Dem „expert facing political issues“ dagegen sei es wichtig, mit der eigenen Forschung auf politische Anliegen zu antworten und mit Akteuren aus der Politik zu kooperieren.

Den Forschern zufolge nehmen Wissenschaftler im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit unterschiedliche Rollen ein. Mit diesen Rollen seien divergierende Vorstellungen darüber verbunden, was Politikberatung ist und wie eine wissenschaftsbasierte und demokratische Politik funktionieren soll. Dabei handele es sich auch um Wertekonflikte, die transparent gemacht werden sollten, empfehlen sie.

Weiterführender Link:
Hintergründe zum Forschungsprojekt „Politics in Search of Evidence“ sind auf der Website der Hochschule für Philosophie Münchenzu finden.

Neue Kooperationskultur im „Continuum of Care“

Berlin (pag) – Für eine effiziente und patientenorientierte Gesundheitsversorgung müssen künftig starre Berufsgrenzen und traditionelle Hierarchieordnungen überwunden werden. Das ist der Kern des Impulspapiers des Bundesverbands Managed Care (BMC). Der Titel: „Team Gesundheit: Gemeinsam Versorgen im Continuum of Care“.

„Nur wenn wir vorhandene Überlappungen in Wissen
und Kompetenzen nutzen, können wir personelle Engpässe bewältigen und die Patientenversorgung verbessern“, sagt der BMC-Vorstandsvorsitzende Prof. Lutz Hager bei der Vorstellung. Mit Blick auf die durch Kostendruck und Fachkräftemangel immer komplexer werdenden Versorgungsstrukturen sei ein neuer Arbeitsansatz notwendig. Dafür wird der aus der Patientenperspektive stammende Begriff des „Continuum of Care“ auf die Behandlerperspektive übertragen, um ein neues „Zielbild der Zusammenarbeit“ zu erhalten.

Die Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, Dr. Bernadette Klapper, hat das Thema initiiert. Sie sieht aktuell ein System der „Blaulichtmedizin“, welches primär auf akute Heilung ausgelegt sei. Betrachtet man im Sinne des „Continuum of Care“ die Langzeitperspektive, seien aber plötzlich andere Bedarfe und Berufe gefragt: „Dieses große Bild des Versorgungskontinuums ist in den Köpfen der Gesundheitsberufe nicht vorhanden.“ Künftig müsse man fragen, in welcher Phase sich ein Patient befinde und welche gemeinsamen Gesundheitsziele es in dieser Phase gebe. Dem folgend müssten die Leistungserbringer dann zusammen handeln. „Bisher läuft interprofessionelle Kooperation aber so ab, dass man fragt, wie grenzt man sich ab und wer ist für was zuständig“, kritisiert Klapper. Das habe man mit dem Impulspapier auf den Kopf gestellt. Ergebnis sei ein sehr viel flexibleres Bild von Zuständigkeiten nach dem Motto: 
„Die Kompetenz, die da ist, möglichst einsetzen!“

Alle Grafiken © iStock.com, cnythzl

Ein komplett neues Berufsbild

Das Papier – das Ergebnis einer mehrteiligen Workshopreihe mit Beteiligten verschiedener Gesundheitsberufe – soll ein erster Anstoß zur Weiterentwicklung der Teamarbeit sein. Ziel müsse sein, Kooperation mehr im Studium und in der Ausbildung zu verankern. Vereinzelt gebe es bereits gemeinsame Ausbildungsstellen. Die Digitalisierung und vor allem die elektronische Patientenakte könnten wichtige Schritte nach vorn sein. „Man müsste aber auch die Vergütungssysteme auf kooperative Leistungserbringung ausrichten“, fordert Klapper. Für Hager beschränkt sich die Thematik nicht auf die Rahmenbedingungen: „Es geht darum, die Grundlagen für ein neues Verständnis zu legen.“ Das bedeute auch: „ein komplett neues intrinsisches Berufsbild“.

Weiterführender Link:
BMC-Impulspapier zur Flexibilisierung der interprofessionellen Zusammenarbeit: Gemeinsam Versorgen im Continuum of Care, PDF, 10 Seiten

Länder fordern sozioökonomischen RSA

Berlin (pag) – Die Bundesregierung muss den Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) erneut reformieren. Das verlangt kürzlich der Bundesrat in einer Entschließung.

Die Bundesländer wollen die Unterdeckung vulnerabler Versichertengruppen beseitigt wissen. © iStock.com, smartboy10

.

Die Länder wollen die von ihnen angeführte Unterdeckung vulnerabler Versichertengruppen beseitigt wissen. „Hierbei ist zu überprüfen, inwieweit die Risikogruppen für Bezieherinnen und Bezieher von Erwerbsminderungsrente wieder eingeführt und zusätzliche sozioökonomische Merkmale (Bezug von Bürgergeld, Pflegebedürftigkeit, Härtefälle) neu in den RSA-Datensatz aufgenommen werden sollten“, heißt es im Beschluss.

Ferner sieht die Länderkammer Prävention nicht adäquat berücksichtigt. Krankenkassen, die ihre Präventions- und Versorgungsangebote steigern, sollten belohnt werden. In diesem Zusammenhang seien Anreize zur Förderung von ambulanten Angeboten, Prävention und sektorenübergreifender Vernetzung bei der Weiterentwicklung der Regionalkomponente in den Fokus zu rücken. Ferner gelte es, den Morbi-RSA zu entbürokratisieren und auf die Kriterien zu begrenzen, die zur Vermeidung einer Risikoselektion und zur Sicherstellung eines chancengleichen Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen führen. „Die ständig weitergehende Ausdifferenzierung des Morbi-RSA hat einen unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand, eine hohe Kontrolldichte und eine Misstrauenskultur der Behörden untereinander nach sich gezogen.“ Das Misstrauen sei nicht berechtigt, so sei belegt, dass keine „systematische Manipulation“ des RSA durch die Kassen vorliege.

Zur Unzeit?

Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK-Dachverbandes © BKK-DV, Markus Altmann

Vor etwa einem Jahr mahnten bereits die AOKen einen stärkeren Fokus auf sozioökonomische Faktoren an. Den Vorschlag der Ortskrankenkassen und der Länder weist der Dachverband der Betriebskrankenkassen allerdings zurück. „Diese Forderung ist verfehlt und kommt zur Unzeit“, so seine Vorständin Anne-Kathrin Klemm. „Denn bereits bei der letzten Reform des Morbi-RSA wurden sozioökonomische Variablen aufgegriffen.“ 
Dabei bezieht sie sich auf das Krankheitsvollmodell. „Statt der bisher zugrunde gelegten 80 ausgewählten Diagnosen wird seitdem das volle Morbiditätsspektrum abgebildet – und damit auch sozioökonomische Merkmale.“ Sie spricht sich aber für weniger Komplexität und mehr Stabilisierung und Transparenz aus.

KI in Therapie und Praxisalltag


Berlin (pag) – In einem Thesenpapier fasst die Bundesärztekammer (BÄK) zusammen, mit welchen Entwicklungen und Herausforderungen für Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte in den kommenden drei bis fünf Jahren durch die Einführung von KI-Systemen zu rechnen ist. Es geht um maßgeschneiderte Behandlungspläne und passgenauere Therapien.

„Die Ärzteschaft muss dafür Sorge tragen, dass die Implementierung von KI in die Medizin zum Wohle der Menschen erfolgt“, betont PD Dr. Peter Bobbert, Co-Vorsitzender des BÄK-Ausschusses „Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung”. Auch müsste die Forschung zu medizinischen KI-Anwendungen, etwa durch den Auf- und Ausbau einer Forschungsinfrastruktur, gestärkt werden. Bobbert mahnt Strukturen dafür an, dass evidenzbasierte KI-Anwendungen zügig in der Gesundheitsversorgung zum Einsatz kommen können.

BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt ist überzeugt, dass KI-Systeme die auf genetischen und anderen individuellen Gesundheitsdaten basierenden, maßgeschneiderten Therapiepläne weiter präzisieren und noch passgenauere Therapien ermöglichen werden. „KI kann Ärztinnen und Ärzte zudem bei Routineaufgaben wie der Dokumentation, der Abrechnung und der Terminplanung unterstützen.“ Nach Auffassung der Kammer kann gut in den ärztlichen Alltag eingebundene KI mehr Zeit für die medizinische Behandlung der Patienten verschaffen.

 

© iStock.com, KTStock

KI unterstützt Pathologen

Unterdessen hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur die erste Qualifizierungsmeinung zu einer innovativen Entwicklungsmethodik auf KI-Basis herausgegeben. Das Tool namens AIM-NASH unterstützt Pathologen bei der Analyse von Leberbiopsien, um den Schweregrad von MASH (Metabolische Dysfunktion assoziierte Steatohepatitis; früher bekannt als nichtalkoholische Steatohepatitis NASH) in klinischen Studien zu bestimmen. MASH ist eine Erkrankung, bei der sich Fett in der Leber ansammelt und im Laufe der Zeit Entzündungen, Reizungen und Vernarbungen verursacht, ohne dass signifikanter Alkoholkonsum oder andere Gründe für eine Leberschädigung vorliegen.

Schneller wirksame Behandlungen

Das Tool soll die Zuverlässigkeit und Effizienz klinischer Studien für neue MASH-Therapien verbessern, indem es die Variabilität bei der Krankheitsmessung reduziert. Nach einer öffentlichen Konsultation hat der CHMP eine Stellungnahme zur Qualifizierung dieser Methode abgegeben. Dies bedeutet, dass der Ausschuss die mit dem Werkzeug generierten Erkenntnisse in zukünftigen Anwendungen als wissenschaftlich valide akzeptieren kann. CHMP zufolge kann AIM-NASH die Reproduzierbarkeit und Wiederholbarkeit bei der Bewertung neuer Behandlungen verbessern. 
Es unterstütze Forscher, in klinischen Studien mit weniger Patienten klarere Belege für den Nutzen neuer Behandlungen zu erhalten. Dies könne letztendlich dazu führen, dass Patienten schneller wirksame Behandlungen erhalten.

AIM-NASH ist ein KI-basiertes System, das ein maschinelles Lernmodell verwendet, das mit über 100.000 Annotationen von 59 Pathologen trainiert wurde, die in neun großen klinischen Studien über 5.000 Leberbiopsien ausgewertet haben.

Mehr Geld ins System?

© stock.adobe.com, moon

Berlin (pag) – Von Rissen im Fundament des Sozialstaates spricht Dr. Doris Pfeiffer kürzlich auf einer Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes. Aktuell explodierten die Kosten – dieser Entwicklung stehen nicht einmal steigende Leistungen gegenüber, kritisiert die Vorstandsvorsitzende des Verbandes, während Ökonom Prof. Marcel Fratscher für einen Ausbau des Sozialstaates wirbt.

Nur so könne die Gesellschaft leistungsfähig sein, so der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Grundlage für Deutschlands wirtschaftlichen Wohlstand seien der Rechtsstaat, die gute Wirtschaftsstruktur mit vielen mittelständischen Unternehmen und der starke Sozialstaat: „Diese drei Stärken sollten wir bewahren und weiter ausbauen“, so Fratscher, und prophezeit: „Wir werden einen immer größeren Teil unserer Wirtschaftsleistung in die Sozialsysteme stecken müssen – das ist die Realität.“

Was will sich die Gesellschaft leisten?

Die massiv steigenden Kosten in der Pflege, in der GKV, aber auch der Rente ergeben sich zwangsläufig aus der demografischen Entwicklung. Teil dieses Prozesses sei abzuwägen, was die Gesellschaft leisten könne und wolle und wie man die Daseinsvorsorge verbessern könne, ohne dass die Kosten explodieren. Aktuell sei die Antwort der Politik oft die Lösung der Beitragssatzerhöhungen. Dies mache Fratzscher große Sorge, da es sich dabei de facto um eine Umverteilung von Jung zu Alt handle. Außerdem gebe es eine natürliche Bremse, ab der man die Beiträge nicht mehr erhöhen könne, ohne der Wirtschaft zu sehr zu schaden. Das Sondervermögen sieht der Ökonom dagegen als einen „wirklichen Paradigmenwechsel“, der zeige: „Die Politik hat verstanden, dass deutlich mehr investiert werden muss. Dazu gehört auch der Gesundheitsbereich.“

Für GKV-SV-Chefin Pfeiffer geht das an der gesundheitspolitischen Realität vorbei: „Ich halte es für einen Fehler, jetzt einfach nur zu gucken, wie wir mehr Geld ins System geben.“ Man müsse sich viel mehr darüber unterhalten, ob das viele Geld wirklich sinnvoll, vernünftig und bedarfsgerecht eingesetzt werde. Das sei seit Jahren der entscheidende Punkt: „Wir geben immer mehr Geld aus, ohne dass man das Gefühl hat, dass die Versorgung besser wird.“ Ihr Eindruck: Seit gut zehn Jahren spreche man überhaupt nicht mehr darüber, wie man die Gesundheitsversorgung besser gestalten könne.

.

Dr. Doris Pfeiffer, Chefin des GKV-Spitzenverbandes, sieht Risse im Fundament des Sozialstaates. © pag, Fiolka
Ökonom Prof. Marcel Fratscher wirbt für einen Ausbau des Sozialstaates. © DIW Berlin, Florian Schuh

„Machen die alle etwas Sinnvolles?“

Pfeiffer weist darauf hin, dass Deutschland im Vergleich der OECD-Länder bei der Anzahl der Pflegekräfte und Ärzte deutlich über dem Durchschnitt liegt. Gleichzeitig hätten alle eine hohe Arbeitsbelastung. „Da müsse man fragen: Machen die alle etwas Sinnvolles?“ So sei es auch bei der Krankenhausreform. Dort seien die Ergebnisse immer dann gut eingeschätzt worden, wenn sie für die Kliniken gut gewesen seien. „Die Reform sollte aber nicht für die Krankenhäuser gut sein, sondern für die Patienten, damit diese gut versorgt werden“, betont die Kassenvertreterin. Sie wirbt für grundlegende Struktur-
reformen, denn: „Wenn wir nicht jetzt mit mutigen Veränderungen beginnen, haben wir in zehn Jahren ein Riesenproblem.“

Jede Zelle hat ein Geschlecht


Berlin (pag) – Frauen mit einer chronischen Nierenkrankheit erhalten schlechtere medizinische Versorgung als Männer. Kein Einzelfall, wie kürzlich auf dem Diversity in Health Congress von Inno3 deutlich wird. Dort fordern Experten personalisierte und geschlechtersensible Ansätze in der Versorgung.

Frauen mit chronischer Nierenkrankheit erhielten weniger Früherkennung als Männer, erklärt mkk-Chefin Andrea Galle. © iStock.com, manassanant pamai

Geschlechtsspezifische Medizin ist unverzichtbar, da biologisch weibliche und männliche Körper Krankheiten unterschiedlich wahrnehmen und Therapien verschieden verarbeiten“, betont die Vorständin der Krankenkasse mkk, Andrea Galle. Noch bleibe bei der Gendersensibilität viel Luft nach oben. Frauen mit chronischer Nierenkrankheit erhielten beispielsweise weniger Früherkennung als Männer, erklärt Galle. 
Und Männer mit chronischer Nierenkrankheit erhielten häufiger eine leitliniengerechte Therapie. Zu den Lösungsansätzen gehört für die mkk-Vorständin, biologische Geschlechtsunterschiede in Forschung und Leitlinien zu berücksichtigen. Interprofessionelle Zusammenarbeit sollte in ihren Augen gestärkt und spezialisierte Forschungszentren etabliert werden.

„Jede Zelle, jedes Organ hat ein Geschlecht“, konstatiert Prof. Anke Hinney, die kommissarische Direktorin am Institut für Geschlechtersensible Medizin, Universität Duisburg-Essen. Diese Verschiedenheit der Geschlechter bis auf die zelluläre Ebene müsse sich in geschlechtersensibler Versorgung sowohl in der Prävention, der Diagnostik als auch in der Therapie und Rehabilitation bemerkbar machen.

Unsere Bedarfe

Individuelle Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung blieben in standardisierten Behandlungsplänen unberücksichtigt, sagt Hanna Kindlein vom Verein „Akse – Aktiv und selbstbestimmt“. © iStock, Bill_Vorasate

Unter dem Radar blieben in der Versorgung auch oft Menschen mit Behinderungen, weiß Hanna Kindlein, Mitgründerin des Vereins „Akse – Aktiv und selbstbestimmt“. Aus Betroffenenperspektive berichtet sie auf dem Kongress von Ableismus in Gestalt fehlender barrierefreier Zugänge zu Gebäuden des Gesundheitswesens. Das wiederum verwehre Menschen mit Behinderungen das Recht auf freie Arztwahl. Die individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung blieben in standardisierten Behandlungsplänen unberücksichtigt. Kindlein fordert, Menschen mit Behinderungen einzubeziehen, denn: „Wir wissen am besten, was unsere Bedarfe sind.

Im Dezember 2024 hat der ehemalige Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach einen Aktionsplan „für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“ vorgelegt. Darin finden sich konkrete Maßnahmen, die etwa Arztpraxen beim Abbau von Barrieren unterstützen. Damit der Zugang zu Gesundheitsleistungen für alle einfach und möglich ist, müsse man „Hindernisse erkennen und abbauen – von der Stufe in die Arztpraxis bis zur komplizierten Erklärung einer Therapie“, appelliert Lauterbach.

Weiterführender Link:
Bundesministerium für Gesundheit, Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies 
Gesundheitswesen PDF, 77 Seiten

Wie ehrliche Bürgerbeteiligung funktioniert

Hannover (pag) – Die Beteiligung von Bürgern in kommunalen Gesundheitsfragen steht kürzlich im Mittelpunkt einer Veranstaltung der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen. Dort nennt Sarah Riedel von der Stiftung Mitarbeit entscheidende Erfolgsfaktoren für diese Partizipationsform. Am wichtigsten: Dialoge auf Augenhöhe und „sich ehrlich machen“.

© iStock.com, juanljones

„In der Regel merken Bürger, wenn sie aufs Korn genommen werden“, betont Riedel. Dazu gehörten Beteiligungs-Inszenierungen, bei denen Bürger nach einer bereits getroffenen Entscheidung „alibi-mäßig“ hinzuzugezogen werden. Die Expertin empfiehlt, Bürgern von Anfang an transparent zu machen, welchen Einfluss die Beteiligung hat und wo Grenzen liegen.

Vom „Bürgerbeirat Gesundheit“ im Landkreis Dachau berichtet Christina Hackl, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), auf der Tagung. Der nach dem Modell der „Citizens’ Assembly“ konzipierte Beirat tagte von 2021 bis 2022. Zufällig ausgewählte Bürger erarbeiten in diesem Zeitraum Empfehlungen zu den Themen „Hausärztliche Versorgung“, „Bewegung und Ernährung“ sowie „Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“. Nachteilig sei an einer zufälligen Auswahl der Teilnehmer die geringe Rücklaufquote, konstatiert Hackl. „Durch Steigerung der intrinsischen oder extrinsischen Motivation, wie eine Aufwandsentschädigung, könnte die Quote erhöht werden.“

Aus den Erfahrungen des Projekts hat das Landesamt einen Leitfaden zur Bürgerbeteiligung erarbeitet. Erster Schritt ist demnach, die Eignung von Themen zu prüfen. Verschiedene Fragen bieten dafür Orientierung, etwa: „Ist die Kommune zuständig für das Thema oder Themenfeld?“ Der zehnte und letzte Schritt „Abschluss und Auswertung“ sieht vor, das Ergebnis möglichst öffentlichkeitswirksam sichtbar zu machen. Diese Empfehlung hat man in Dachau umgesetzt: Das Modellprojekt Gesundheit wird im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung beendet. Insgesamt 18 Empfehlungen übergeben die Bürger an die Politik.

Kreative Lösungen

Nach einer repräsentativen Befragung von policy matters, Gesellschaft für Politikforschung und Politikberatung, glauben 86 Prozent der Befragten, Bürger sollten künftig stärker in wichtige Entscheidungen einbezogen werden, berichtet Riedel von der Stiftung Mitarbeit. Bei „Fragen der persönlichen Daseinsvorsorge“ befürworten rund drei Viertel der Befragten Bürgerbeteiligung. Riedel benennt einige Vorteile: Bürgerbeteiligung bildet die Meinungsvielfalt einer Gesellschaft ab. Verschiedene Lösungsalternativen können von Bürgern kreativ erdacht werden, neue Ansätze entstehen fernab festgefahrener Muster. Konflikte lassen sich befrieden.

Weiterführender Link:
LGL-Leitfaden für Kommunen: „Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern im Gesundheitsbereich“

Föderale Krisentauglichkeit?

Berlin (pag) – Dass es um die Katastrophen- und Kriegstauglichkeit des deutschen Gesundheitssystems – vorsichtig ausgedrückt – nicht zum Besten steht, wird bei der Fachtagung KRITIS der Gesundheitsstadt Berlin und dem BG Klinikum Unfallkrankenhaus deutlich. Ein Schwerpunkt der Veranstaltung: Ist der Föderalismus ein Hemmschuh?

Die Tagung steht unter der Überschrift „Das deutsche Gesundheitswesen in Krieg und Katastrophe“. Bereits im Oktober vergangenen Jahres hat sich die Bundesärztekammer mit der Krisenresilienz des Gesundheitswesens beschäftigt (Link zum Bericht am Ende des Beitrags). Die Versorgung von Verwundeten und Verletzten in Kriegs- und Krisenzeiten ist außerdem Thema mehrerer Sitzungen des 142. Deutschen Chirurgie Kongresses Ende März. Und gleich die erste Stellungnahme des ExpertInnenrates der Bundesregierung Gesundheit und Resilienz hat im Mai 2024 „Health Security als wesentliches Element eines resilienten Gesundheitssystems“ in den Mittelpunkt gestellt.

© 2019 Bundeswehr, Markus Dittrich

Szenario Krieg ganz nah

Die Problemanalyse klingt überall ähnlich: Das deutsche Gesundheitssystem ist ein Schönwettersystem. „Das Szenario Krieg war jahrzehntelang unvorstellbar, jetzt ist es ganz nah und wir müssen sehr schnell sein“, betont Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Er und andere weitere Experten fordern unter anderem ein anderes Mindset. Auch das vom ehemaligen Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach bereits angekündigte und dann wieder auf Eis gelegte Gesundheitssicherstellungsgesetz wird dringend herbeigesehnt. Schwierig ist ferner, dass die Zusammenarbeit zwischen zivilen und militärischen Gesundheitsexperten derzeit vor allem noch an persönlichen Kontakten hängt.

Holetschek: „Relativ blank“

Ralph Tiesler, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe © BBK

Die KRITIS-Tagung im Unfallkrankenhaus bringt darüber hinaus das Thema Föderalismus in die Gemengelage ein. „Die Zusammenarbeit aller Akteure und das in einer föderalen Struktur ist nicht ganz trivial und kostet viel Zeit“, sagt Tiesler dazu. Eine Keynote zu „Hemmschuh Föderalismus?“ hält der CSU-Fraktionsvorsitzende Klaus Holetschek. Seine Situationsbeschreibung: „Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung und sind im Moment relativ blank.“ Der ehemalige bayerische Gesundheitsminister fordert, in den Modus der schnellen Umsetzung umzuschalten. Unmittelbar müsse man sich auf Krise einstellen, denn: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir ein Desaster ohne Ende erleben.“

Aus der Pandemie habe man möglicherweise zu wenig gelernt, merkt er außerdem mit Blick auf den schnellen Abschied von Dingen, die gut funktioniert hätten, an. 
Es gehe jetzt darum, Strukturen zu schaffen und Lücken zu schließen – und um ein unbürokratisches Vorgehen. „Der Föderalismus kann aus meiner Sicht schon helfen“, meint der CSU-Politiker. Er sieht diesen als Chance, „wenn wir die Strukturen verzahnen und zusammenführen und klare Kommunikation dahinter legen“. In der Pandemie habe man „im Kern“, so Holetschek weiter, auch vom Föderalismus profitiert. Man habe aber auch gewusst, dass vom Bund eine klare Ausrichtung kommt, die für das gesamte Land gilt.

Weiterführender Link:
Bericht über die BÄK-Tagung „Bedingt abwehrbereit? – Die Patientenversorgung auf den Ernstfall vorbereiten“

„Personalisierte Prävention“ in der Neurologie

Berlin (pag) – „Prävention innovativer denken“, lautet der Appell von Prof. Daniela Berg, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Anstelle allgemeiner Gesund-
heitsappelle denkt die Parkinson-Expertin an eine „personalisierte Prävention“ – dank mole-
kularer Diagnostik und KI seien in der Neurologie individuelle Risikoprognosen und „Frühest-diagnosen“ möglich, die Handlungsräume für konkrete Präventionsmaßnahmen öffneten.

„Die Medizin in Deutschland ist hochwertig, aber offensichtlich gehen wir nicht nachhaltig genug mit dieser Ressource um“, konstatiert Berg. Es werde eine „kostenintensive Reparaturmedizin“ betrieben, aber nicht in ein besseres Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung investiert, um behandlungsintensive Krankheiten von vornherein zu vermeiden. Die derzeitige gesundheitsökonomische Misere ist Berg zufolge auch Konsequenz einer seit Jahren fehlgeleiteten Incentivierung.

Die DGN-Präsidentin will, dass die Neurologie eine Vorreiterrolle einnimmt, präventive Neurologie soll zu einer Säule des Fachs ausgebaut werden. „Wenn wir wissen, dass bis zu 90 Prozent aller Schlaganfälle auf vermeidbare Risikofaktoren zurückzuführen sind, die Fallzahlen steigen und gleichzeitig die medizinische Versorgung personell wie budgetär an ihre Grenzen stößt, ist Prävention eine effektive Stellschraube.“ Diese nicht zu nutzen, dürfe und könne man sich nicht länger leisten.

.

© stock.adobe.com, DC Studio

Präzise persönliche Risikoeinschätzung

Berg möchte im Schulterschluss mit Politik und Gesellschaft ein Umdenken anstoßen und wirbt für eine innovative Prävention von neurologischen Krankheiten. Dabei setzt die Expertin auf eine personalisierte Prävention mithilfe neuester Frühdiagnostik und KI-basierter Technologien. Sie erläutert: „Wir haben in der Neurologie viele Krankheiten mit Vorlaufphasen von vielen Jahren und sind zunehmend in der Lage, diese, lange bevor sie klinisch manifest werden, zu diagnostizieren.“ Darüber hinaus ermögliche KI die Generierung von Tools zur präzisen persönlichen Risikoeinschätzung. Wenn ein Mensch wisse, dass er in zehn Jahren an einer Demenz erkranken wird oder sein Schlaganfallrisiko 83 Prozent beträgt, ist die Bereitschaft, eine gesunde Lebensweise anzunehmen und gezielte Präventionsmaßnahmen konsequent umzusetzen, sehr viel höher, so Berg. Erkrankungen könnten dadurch effektiv hinausgezögert, einige auch ganz verhindert werden.

Nach Jahren der Entwicklung von personalisierten Therapien ist es nach Ansicht der Expertin an der Zeit, auch die Prävention zu personalisieren, die Tools dafür gebe es. Wichtig sei dabei auch, die Menschen zu erreichen, die von gezielten Präventionsmaßnahmen besonders profitieren, was heutzutage über soziale Medien möglich sei. „Prävention braucht auch ein besseres Image – weg von Verboten hin zu einer positiven Vermittlung von Chancen und der Freude daran, diesen Mehrwert zu nutzen“, argumentiert die Ärztin. Ein gesunder Lebensstil sollte nicht als Verzicht, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden.

Digitale Gesundheit für alle

Hemmoor (pag) – Digitale Gesundheitsangebote wie Telemedizin oder Gesundheits-Apps bieten enorme Möglichkeiten. Sie können die Versorgung effizienter machen und Zugänge erleichtern. Doch in einem Positionspapier warnt die Deutsche Gesellschaft für Public Health: Wenn vulnerable Gruppen – wie ältere Menschen oder sozial Benachteiligte – bei der Entwicklung solcher Lösungen nicht mitgedacht werden, droht die digitale Kluft zu wachsen.

© iStock.com, vorDa

Das im Bundesgesundheitsblatt erschienene Papier des Fachbereichs Digital Public Health zeigt auf, wie digitale Gesundheitslösungen flächendeckend und sozial gerecht umgesetzt werden können. Die Autorinnen und Autoren fordern Strategien, die alle Bürgerinnen und Bürger erreichen – unabhängig von Alter, Einkommen oder technischer Affinität. „Wir müssen Gesundheitskompetenz fördern und die digitale Spaltung überwinden, sonst verlieren wir das Potenzial der Digitalisierung für Prävention und Versorgung“, sagt Dr. Laura Maaß, Sprecherin des Fachbereichs und Postdoc am Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health Bremen.

Als eines der Kernprobleme adressieren die Autorinnen und Autoren die digitale Gesundheitskompetenz: Viele Menschen könnten Apps oder andere digitale Tools nicht richtig nutzen. Dabei sei gerade die Fähigkeit, solche Anwendungen zu verstehen und anzuwenden, entscheidend, um Gesundheitsangebote wirklich zugänglich zu machen. Interaktive und partizipative Ansätze könnten helfen, Patienten besser einzubinden und so die gesundheitliche Eigenverantwortung zu stärken.

Nachhaltige Digitalisierung

Das Positionspapier kritisiert außerdem, dass Digital Public Health in Deutschland noch in den Kinderschuhen stecke. Studiengänge griffen das Thema nur selten auf, und in der Forschung liege der Fokus zu stark auf klinischen Anwendungen. Prävention und Gesundheitsförderung blieben oft außen vor – sowohl in der Forschung und Lehre als auch in der Gesundheitspolitik, die sich fast ausschließlich auf die Digitalisierung der medizinischen Gesundheitsversorgung konzentriere. Die Experten fordern daher, Digitalisierung breiter und nachhaltiger zu denken. Es gehe darum, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern, Prävention zu stärken und die Versorgung effizienter zu machen – ohne dabei jemanden auszuschließen. „Dafür braucht es den Schulterschluss von Politik, Wissenschaft und Praxis“, lautet ihr Appell.