Revolution bei klinischen Studien

Berlin (pag) – Das Spitzenforum Medizin am letzten Tag des Hauptstadtkongresses bietet spannende Einblicke: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), kündigt neue Schwerpunkte der Institutsarbeit an. Und Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen prognostiziert eine Revolution bei klinischen Studien.

Malek stellt in seinem Vortrag die These auf, dass man ​in den nächsten Jahren eine „Revolution bei der Durchführung klinischer Studien“ sehen werde. Seine Prognose: „Wir werden uns nicht mehr in dem Umfang auf randomisierte Phase-III-Studien stützen.“ Gerade in der Personalisierten Medizin mit ihren kleinen Patientengruppen würden Register eine größere Rolle spielen. Sie könnten genutzt werden, um die Innovationskraft eines neuen Medikamentes mit den gesammelten Daten zu vergleichen. Außerdem sieht der Ärztliche Direktor der Klinik Innere Medizin I am Uniklinikum Tübingen die Register als Möglichkeit, um eine „Reserve Translation“ zu machen. Das bedeutet: „Wir wissen zum Beispiel aus der Off-Label-Behandlung von Patienten mit bestimmten Tumorerkrankungen, dass hier ein Ansprechen, also ein Nutzen, erzeugt wird. Daraus können wir wiederum Rückschlüsse für die Initiierung neuer Studienkonzepte ziehen“, erläutert er.

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Register als Möglichkeit für eine „Reserve Translation“: Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen. © wikicommons, TnKpMl
Register als Möglichkeit für eine „Reserve Translation“: Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen. © wikicommons, TnKpMl
Will das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich lassen: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG.
© iqwig
Will das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich lassen: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. © iqwig

 

Selbst machen statt kritisieren

Eine Revolution beim IQWiG kündigt Dr. Thomas Kaiser zwar nicht an, eine spannende Neuausrichtung aber allemal. Es müsse sich ein wichtiger Bestandteil der Arbeit verändern: „nämlich Forschung bezüglich Evidenzgenerierung selbst zu unterstützen und zu verstärken“. Das habe die Community der evidenzbasierten Medizin bisher mehr oder weniger ausgeblendet, räumt Kaiser ein. Zur Evidenzgenerierung wolle man durch eigene wissenschaftliche Forschung und die Teilnahme an europäischen Verbundprojekten beitragen. „Das wird eine Veränderung in der wissenschaftlichen Arbeit des IQWiG sein“, kündigt Kaiser an.

Beim Spitzenforum macht er sich grundsätzlich für die Etablierung einer Forschungsinfrastruktur hierzulande stark. Dabei geht es um qualitativ hochwertige, stehende Dateninfrastrukturen – „das können universitäre Netzwerke sein, das können Verknüpfungen mit anderen Daten sein, das können Register sein und das können auch andere Datenstrukturen sein“. Für Kaiser gehört dazu auch, das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich zu lassen, sprich nicht für jede klinische Studie eine neue Datenstruktur aufzubauen, die dann wieder beendet wird, sobald die Studie abgeschlossen ist.

Was ist mit den Bewertungen?

Bleibt die Frage, ob auch bei den Bewertungen des Instituts die Zeichen auf Wandel stehen. Kaiser zufolge schaue man sich neue Entwicklungen wie synthetische Studienarme offen an. Noch wisse man nicht, ob diese ausreichend sichere Ergebnisse für einen Vergleich lieferten. „Wenn das so sein sollte, dann ist das eine gute Idee, weil das forschungsökomisch zu mehr Forschung mit gleichem Aufwand führen kann.“ Allerdings müsse dieser Nachweis noch geführt werden. Kaisers Argumentation: „Nur weil man es kann, ist es noch nicht gut. Weil man es kann, kann man es untersuchen und beforschen. Wenn es dann gut ist, dann sollte man es anwenden.“ Insgesamt schließt er nicht aus, dass sich auch die Arbeit des IQWiG in puncto Bewertungen verändern wird.

Aufbruchsstimmung bei Gen- und Zelltherapien

Berlin (pag) – Nicht nur ein Stück Papier, sondern ein ganzes Navigationssystem sieht die Bundesministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger in der Nationalen Strategie für gen- und zellbasierte Therapien (GCT). Dessen Ziele reichen von besserer Versorgung bis zur Stärkung des Forschungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland.

© istockphoto.com, DrAfter123
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Diesen nationalen „Meilenstein“, wie die Ministerin sagt, überreicht ihr kürzlich das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Noch länger als die 140 Seiten starke Strategie ist die Zahl an Experten, die im Erarbeitungsprozess involviert sind. Über 150 Stakeholder vernetzen ihre Expertise und ebnen den Weg „aus den Silos“, lobt Stark-Watzinger. Sie fährt fort: „Diese Zusammenarbeit von Wissenschaft, Wirtschaft, öffentlicher Hand und Gesellschaft ist ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg.“

Der Fahrplan der Strategie umgreift acht Handlungsfelder – von „Ausbildung und Kompetenzstärkung“ über „Technologietransfer“ zu „Forschung und Entwicklung“ und „Marktzulassung und Übergang in die Versorgung“. Die innovativen Gen- und Zelltherapien bieten für Patienten kausale Wirkungsprinzipien und potenziell langanhaltende Effekte. Sie können bei seltenen genetischen, aber auch bei häufig erworbenen Erkrankungen eingesetzt werden. Die Therapien eröffnen insbesondere Perspektiven für Patienten mit schweren oder seltenen Erkrankungen, für die es bisher keine Therapie gibt. Verfolgt wird auch das Ziel, den Standort Deutschland im internationalen Wettbewerb für die Entwicklung sicherer, effizienter und nachhaltig finanzierbarer GCT zu stärken.

Schon jetzt blicke Deutschland auf eine exzellente Grundlagenforschung, hebt Stark-Watzinger hervor. Doch Luft nach oben bleibe in der Translation.

Ein Biotech-Ökosystem

Nur eine Woche nach der Präsentation der Strategie stellen Charité und Bayer ihre Pläne zur Errichtung des Berlin Center for Gene and Cell Therapies vor. Das Translationszentrum für Gen- und Zelltherapien wird maßgeblich von der Bundesregierung sowie dem Land Berlin finanziell gefördert und unterstützt. Ziel ist es, die Behandlungsmöglichkeiten dieser Technologien schneller Patienten zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig in der Hauptstadt ein führendes Biotech-Ökosystem für neuartige Therapien aufzubauen. Bereits im Frühjahr hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller mitgeteilt, dass Deutschland bei der Entwicklung von Gen-, Zell- und Gewebetherapeutika („Advanced Therapy Medicinal Products“, kurz ATMP) aufhole. 2023 finden 78 klinische Studien mit jenen Medikamenten unter Mitwirkung deutscher Einrichtungen statt oder sind geplant. Das seien rund viereinhalbmal mehr als noch 2018. Zu 92 Prozent sind die Initiatoren dieser Studien Unternehmen. Forschungseinrichtungen geben in drei Prozent den Anstoß. Die verbleibenden fünf Prozent werden gemeinsam von Unternehmen und Forschungseinrichtungen auf den Weg gebracht. Die Angaben basieren auf Daten des Datenbankanbieters Citeline.

Weiterführender Link:
Nationale Strategie Gen- und zellbasierte Therapien – Eine Multi-Stakeholder-Strategie koordiniert vom Berlin Institut of Health at Charité im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Juni 2024, 136 Seiten

Für mehr Transparenz in der Gesundheitsforschung

Berlin (pag) – Das „Bündnis Transparenz in der Gesundheitsforschung“ fordert eine verbindliche Regelung für die vollständige und zeitnahe Veröffentlichung der Ergebnisse sämtlicher interventionellen klinischen Studien in Deutschland. Ein Positionspapier erklärt, warum unveröffentlichte Studienergebnisse die Gesundheit gefährden und was geschehen muss, um dieses Problem zu lösen.

© stock.adobe.com, Haas/peopleimages.com
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Das Papier wird von mehreren Organisationen aus dem Gesundheitswesen unterstützt. Dazu gehören unter anderem die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sowie die BAG Selbsthilfe.

Ergebnisse aus klinischen Studien, die verspätet, unvollständig oder gar nicht veröffentlicht werden, verzerren laut Cochrane Deutschland die Datenbasis für evidenzbasierte Gesundheitsentscheidungen. Die möglichen Folgen: Im schlimmsten Fall werden Patienten suboptimal behandelt und gesundheitspolitische Entscheidungen auf Grundlage falscher Annahmen getroffen. Zudem bedeute die Nicht-Veröffentlichung eine Verschwendung von Forschungsgeldern – oft von solchen aus öffentlicher Hand, heißt es.

Gesetzeslücke schließen

Im Positionspapier ist unter anderem nachzulesen, dass die Ergebnisse von rund einem Drittel aller von deutschen Universitätskliniken geleiteten klinischen Studien unveröffentlicht bleiben. Das Bündnis verlangt, Gesetzeslücken zur Registrierung und Berichterstattung von klinischen Studien zu schließen. Die Registrierung in einem von der WHO-akkreditierten Studienregister und die zeitnahe Ergebnisveröffentlichung innerhalb von zwölf Monaten nach Studienende müsse für sämtliche prospektiven, interventionellen klinischen Studien gesetzliche Pflicht werden. Auch sollten Ethikkommissionen stärker auf eine frühzeitige und vollständige Registrierung aller klinischen Studien in einem geeigneten Studienregister hinwirken und darüber hinaus Daten für eine zentrale Zusammenführung zur Verfügung stellen. Die Autoren regen folgendes an: Forschungsförderer, Universitäten und Ethikkommissionen sollten spezifische Anreize und Druckmittel in Erwägung ziehen, etwa durch die Berücksichtigung des bisherigen Veröffentlichungsverhaltens bei der Begutachtung von Förder- oder Ethikanträgen sowie der leistungsorientieren Mittelvergabe oder Auszahlung einer Restsumme der Förderung erst bei Veröffentlichung von Zusammenfassungen von Studienergebnissen.

Das Ziel der Initiative sind klare Rahmenbedingungen und Regelungen, die dafür sorgen, dass sich die Gesundheitsversorgung „wirklich auf die ‚bestmögliche‘ Evidenz aus klinischer Forschung stützen kann“.

Weiterführender Link:
Positionspapier des „Bündnis Transparenz in der Gesundheitsforschung“: Unveröffentlichte Studienergebnisse gefährden die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung

Check-Up: Zielgruppe verfehlt?

Köln (pag) – Die allgemeine Gesundheitsuntersuchung „Check-Up“ wird seltener von Personen genutzt, die am stärksten von ihr profitieren könnten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einem Rapid Report, den das Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellt hat.

© stock.adobe.com, Siphosethu F/peopleimages.com
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Gesetzlich Krankenversicherte haben seit 1989 Anspruch auf eine regelmäßige Gesundheitsuntersuchung, die von ihrer Kranken-
kasse bezahlt wird. Im Rahmen der Untersuchung sollen gesundheitliche Risiken und Belastungen frühzeitig erfasst werden. Sie dient außerdem der Früherkennung von häufig auftretenden Krank-heiten, insbesondere von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie von Diabetes. Versicherte zwischen 18 und 34 Jahren haben einmalig Anspruch auf den Check-Up, Versicherte ab 35 Jahren alle drei Jahre.
Das IQWiG kommt zu dem Ergebnis, dass das Angebot in Deutschland eher von Personen genutzt wird, die ohnehin häufiger Kontakt mit Arztpraxen haben. Gruppen, die höhere Gesundheitsrisiken aufweisen und die das ambulante Versorgungssystem weniger in Anspruch nehmen, nutzen das Angebot seltener.

Gezielte Ansprache

„Zu den Menschen, die seltener zum Check-Up gehen, gehören Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, Frauen und insbesondere Männer mit Hinweisen auf gesundheitliche Risiken bzw. die ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht einschätzen sowie Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind“, berichtet IQWiG-Mitarbeiterin Beate Zschorlich. Diese Gruppen müssen gezielt angesprochen werden, auch in anderen Sprachen. Die Projektleiterin weist aber auch darauf hin, „dass auf Basis veröffentlichter Studien ein gesundheitlicher Nutzen des sogenannten Check-Ups selbst unklar ist“. Zschorlich: „Die Maßnahmen und Kommunikationsstrategien sollten diese Diskrepanz berücksichtigen.“ Einige Länder wie Österreich und Großbritannien hätten ihre Angebote zu Gesundheitsuntersuchungen in den letzten Jahren deshalb wissenschaftlich neu bewertet und – insbesondere in Großbritannien – grundlegend reformiert. Dabei habe ein Schwerpunkt auf Bevölkerungsgruppen mit besonderen gesundheitlichen Risiken gelegen.

Angeborene Herzfehler: Fataler Versorgungsmangel

Frankfurt a. M. (pag) – Das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) warnt vor einem Engpass in der Reha-Versorgung von Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler (EMAH): Nur eine Handvoll Nachsorge-Kliniken würden den Ansprüchen von EMAH entsprechen. Auch Deutsche-Herzstiftung-Vorstand Prof. Stefan Hofer sieht die Lage kritisch: „Erwachsene mit angeborenem Herzfehler dürfen jetzt nicht in ein Versorgungsloch fallen.“

© istockphoto.com, bojanstory
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Schließlich gehe es um das Wohl von über 350.000 EMAH in Deutschland, die von Geburt an auf eine lebenslange spezifische Nachsorge ihres Herzfehlers angewiesen seien. Hofer sieht einen fatalen Mangel an Reha-Angeboten. Laut ABAHF warten die Betroffenen regelmäßig mehrere Monate bis zu einem Jahr, um einen geeigneten stationären Rehaplatz zu bekommen.

Die Wahrnehmung der ABAHF wird von der Datenlage gedeckt. Im März hat das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geförderte Projekt Versorgungsoptimierung bei Kindern und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern (OptAHF) erste belastbare Zahlen vorgelegt: Eine Auswertung von Daten des Statistischen Bundesamtes und der Barmer zeigt, dass entgegen der geltenden Leitlinie über 40 Prozent der EMAH nur hausärztlich versorgt werden. Darunter fallen selbst über 35 Prozent der Patienten mit komplexen Herzfehlern. Für die betroffenen Patienten ist dem Projekt zufolge damit ein „signifikant höheres Sterberisiko und das Risiko von schweren unerwünschten Ereignissen assoziiert“.

Eine neue Patientengruppe

Ein Grund für die Versorgungsprobleme ist eigentlich ein positiver: Seit den 90er-Jahren ist die Zahl der Todesfälle durch Fortschritte in der Behandlung drastischer gesunken als bei allen anderen Herzerkrankungen. Wie die Herzstiftung informiert, können heute über 90 Prozent der betroffenen Kinder das Erwachsenenalter erreichen. Damit ist mit den EMAH in Deutschland im Grunde eine völlig neue Patientengruppe entstanden, die weiterhin wächst.

Eine erfolgreiche Behandlung als Kind entspricht aber nicht zwangsläufig einer Heilung. Noch viele Jahre später kann es zu teils lebensbedrohlichen Verschlechterungen kommen, die für Betroffenen selbst nicht immer wahrnehmbar sind, da sie sich oft schleichend entwickeln. Nur durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen bei EMAH-Spezialisten können solche Komplikationen rechtzeitig ausgemacht werden.

 

© stock.adobe.com, Dedraw Studio
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Mangel an Experten
Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) zählt in Deutschland circa 180 EMAH-zertifizierte Kardiologen. Mehr als 150 davon sind Kinderkardiologen, hauptsächlich arbeiten diese in überregionalen EMAH-Zentren, Schwerpunktpraxen oder -Kliniken. In Reha-Kliniken fehle ihre Expertise dadurch zurzeit.
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Startschuss Genomforschung

Berlin (pag) – Patienten mit einer seltenen Erkrankung oder einer fortgeschrittenen Krebserkrankung soll mit einer schnelleren Diagnosestellung oder einer zielgerichteteren Therapieempfehlung geholfen werden. Das ist das Ziel eines Modellvorhaben, das die Genomsequenzierung an Universitätskliniken ermöglicht. Auf dem Symposium der Initiative genomDE spricht Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach von einem „Startschuss für die Genomforschung, die wir in Deutschland lange gebraucht haben“.

„Am Vorabend einer medizinischen Revolution“: Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach beim Symposium von GenomDE © TMF e. V., Volkmar Otto
„Am Vorabend einer medizinischen Revolution“: Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach beim Symposium von GenomDE © TMF e. V., Volkmar Otto

Die Initiative genomDe hat zentrale Elemente für das Modellvorhaben Genomsequenzierung nach Paragraf 64 e SGB V entwickelt. Vertragspartner sind der GKV-Spitzenverband und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD). Teilnehmen werden über 20 Universitätsstandorte, der Kassenverband zahlt für die fünfeinhalbjährige Laufzeit 700 Millionen Euro. Die Verantwortlichen rechnen mit etwa 50.000 teilnehmenden Patienten.

Medizinische Lücken

Lauterbach warnt bei genomDE vor einem großen medizinischen Bedarf, der derzeit nicht gedeckt werden könne. „Ohne mehr Genomforschung, ohne mehr Genomnutzung in der Versorgung, ohne mehr Medizinforschung, ohne die bessere Nutzung der künstlichen Intelligenz wird es uns einfach nicht gelingen, diese großen Lücken zu schließen.“ Beispielhaft nennt er Versorgungslücken bei Patien-ten mit Krebs, Demenz, Parkinson, Multipler Sklerose und seltenen Erkrankungen.

Dennoch ist der Minister optimistisch. Man befinde sich am „Vorabend einer medizinischen Revolution“. Diese werden durch zwei wesentliche Achsen getragen: die bessere Nutzung genetischer Daten sowie die Nutzung der künstlichen Intelligenz. Dort, wo sich die Achsen kreuzen, finde der  medizinische Fortschritt statt. Mit dem vom 2021 verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wurde die rechtliche Grundlage für das Modellvorhaben gelegt. Es soll diese hochmoderne und komplexe Diagnostik in der Versorgung erproben und mögliche zukünftige Anwendungsfälle identifizieren. Lauterbach zufolge ist die Genomsequenzierung in den letzten Jahren viel besser und günstiger geworden.

Für VUD-Generalsekretär Jens Bussmann ist das Modellvorhaben Neuland. Aber ohne die Initiative wäre die Genomsequenzierung „lost in regulation“. Er sieht das Modellvorgaben daher als positives Beispiel für die Einführung von Innovationen im Gesundheitswesen.

Daten, Daten, Daten

Viele Experten betonen auf dem Symposium, dass der Erfolg des Vorhabens von den gesammelten medizinischen Daten und deren Qualität abhinge. Eine wichtige Rolle beim Datenaustausch und -sammeln spielt die Dateninfrastruktur des Projekts. Diese besteht unter anderem aus sieben klinischen Datenknoten, sechs Genomrechenzentren und Datendiensten. Plattformträger ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, die Vertrauensstelle ist beim Robert Koch-Institut eingerichtet.

Der blinde Fleck des AMNOG

Hamburg (pag) – Der zwölfte AMNOG-Report der DAK adressiert blinde Flecken der Arzneimittelpolitik. Die Autoren um Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, machen diese vor allem bei den Ausgaben für hochpreisige Arzneimittel im Krankenhaus sowie dem geplanten Abschlag auf Kombinationstherapien aus. Der Unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, will der schwerfälligen Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) durch eine zeitigere Evidenzgenerierung Beine machen.

© pag, Ruth Jung-Reining
© pag, Ruth Jung-Reining

Als „blinden Fleck des AMNOG“ identifiziert Hecken bei der Präsentation des Reports Gen- und Zelltherapien sowie die personalisierte Medizin. In diesen besonders kostenintensiven therapeutischen Situationen gebe es keine randomisierten kontrollierten Studien, sondern bestenfalls einarmige Studien. „Das bedeutet ganz konkret, dass wir immer häufiger in Situationen kommen, in denen wir eine Nutzenbewertung vornehmen müssen, ohne in irgendeiner Form über belastbare Evidenz zu verfügen – mit den entsprechenden Auswirkungen.“ Mit Letzterem meint Hecken, dass selbst bei keinem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen hohe Kosten für die GKV entstehen.

Diese Evidenzlücke soll eigentlich die AbD schließen. Hecken sieht dabei jedoch folgendes Problem: Man könne die Hersteller nicht zwingen, sich bereits vor der Zulassung an den G-BA zu wenden, „damit schon dann potenzielle Endpunkte für eine AbD definiert und Studienprotokolle geschrieben werden können“. Der Kooperationszwang bestehe erst mit dem Beginn der Nutzenbewertung. Folglich vergehen bis zu ein-einhalb Jahre, in denen Patienten bereits behandelt werden und nicht in der AbD sind. „Die Evidenz bei diesen ohnehin wenigen Patienten geht in der Zeit verloren, in der wir Zirkusveranstaltungen machen, um uns mit dem pharmazeutischen Unternehmen und den Fachgesellschaften auf Endpunkte zu verständigen“, kritisiert der G-BA-Chef. Er schlägt vor, einen Kooperations- und Meldezwang für die Hersteller in der Präzulassungsphase zu installieren, damit bereits zu diesem Zeitpunkt wichtige Vorarbeiten geleistet werden können.

Black Box Krankenhaus

Bei der Präsentation des Reports werden weitere blinde Flecken diskutiert. Gesundheitsökonom Greiner nennt die stationären Umsätze hochpreisiger Arzneimittel. Diese finden faktisch in keiner Debatte Berücksichtigung, heißt es im Report, vor allem, weil belastbare Daten fehlten.

Der aktuelle Report legt hierzu zum zweiten Mal Auswertungen vor: Hochgerechnet auf alle GKV-Fälle mit NUB- bzw. ZE-Abrechnung eines nutzenbewerteten Arzneimittels fallen im Jahr 2023 Kosten in Höhe von mehr als 1,2 Milliarden Euro an – ein neuer Höchststand. NUB steht für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, ZE für Zusatzentgelt.

Auch der geplante Kombiabschlag wird als blinder Fleck gesehen. Im Mai hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Regelung dafür festgelegt. Allerdings wären damit lediglich 65 Prozent aller Personen mit einer Kombinationstherapie identifiziert worden, was zu Einsparungen von 99 Millionen Euro jährlich führte, heißt es. Das Fazit der Reportautoren: Der Vorschlag des BMG könnte zu einer pragmatischen Identifikation der Kombinationstherapien führen und wäre grundsätzlich geeignet, zu höheren Einsparungen beizutragen. Dennoch würden auch diese nicht ausreichen, um die im Gesetz formulierten Einsparziele von jährlich 185 Millionen Euro zu erreichen.

Ein „seltenes“ Weißbuch


Berlin (pag) – Ein neuer Aktionsplan, ein Weißbuch, mehr Sichtbarkeit: Mit handfesten Vorschlägen und Zielen tauschen sich betroffene Eltern sowie Bundes- und Europapolitiker auf einem Fachgespräch des Pharmaunternehmens Takeda anlässlich des Tags der Seltenen Erkrankungen aus. Im Blick haben sie dabei die Europawahl am 9. Juni.

Erich Irlstorfer weiß Manfred Weber, Chef der stärksten Fraktion im Europa-Parlament – der EVP – an seiner Seite. Irlstorfer, CSU-Bundestagsabgeordneter und Schirmherr des Tags der Seltenen Erkrankungen, kündigt an: „Wir werden ein Weißbuch erstellen“. Ein Weißbuch zu Seltenen Erkrankungen. Darin berichteten Selbsthilfeorganisationen, was in der Versorgung gut läuft und wo Verbesserungsbedarf besteht, so Irlstorfer. Nach derzeitigem Stand soll das Buch im Juni veröffentlicht werden. Doch wer ist wir? Da kommt Irlstorfers Parteifreund Weber ins Spiel. Denn dieser habe zu dem Bundestagsabgeordneten gesagt: „Wir müssen das europäisch machen.“ Das Buch soll sich an politische Entscheidungsträger in der EU und ihren Mitgliedsstaaten richten.

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Für einen europäischen Aktionsplan zu Seltenen Erkrankungen rührt Geske Wehr die Werbetrommel. Sie ist Generalsekretärin von Eurordis, eine Allianz, die über 1.000 Patientenorganisationen vertritt und die Kampagne „#30millionreasons for Europe to take action on rare diseases“ gestartet hat, um eine neue Strategie anzustoßen. „In Europa haben wir das Problem, das nicht alle Medikamente, die zugelassen sind, verfügbar sind“, konstatiert sie.

Sie hofft, dass im Juni Politiker gewählt werden, die dem Thema Seltene Erkrankungen offen gegenüberstehen. Drei von ihnen sind beim Fachgespräch zu Gast. „Wir müssen in Ausbildung und Wissenstransfer investieren, um sicherzustellen, dass Orphan-Datenbanken effektiv genutzt werden“, fordert der zugeschaltete Spitzenkandidat der Familien-Partei Helmut Geuking. Live vor Ort ist Dr. Philipp Mathmann, Kandidat der Grünen für die Europawahl. „Es ist wichtig, die Gesetzgebung an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten anzupassen und das Bewusstsein für Seltene Erkrankungen zu erhöhen”, wünscht sich der stellvertretende Direktor der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Münster. Seine zugeschaltete Parteifreundin und Europaabgeordnete Katrin Langensiepen glaubt, dass Orphan Diseases in den Fokus der EU rücken könnten. „Wir haben hier die Gelegenheit, gemeinsam eine Vision für die Zukunft zu entwickeln und die Versorgung nachhaltig zu verbessern.”

Pharmapaket ist Chefsache

Einige Hoffnungen werden in das EU-Pharmapaket gesetzt. So soll die Marktexklusivität für Orphan Drugs bei hohem ungedeckten Therapiebedarf um bis zu elf Jahre verlängert werden. In Deutschland genieße das Pharmapaket hohe Priorität und werde im Bundeskanzleramt „vorrangig“ behandelt, betont die SPD-Bundestagsabgeordnete und Kinderärztin Nezahat Baradari.
Doch nicht nur die EU-Ebene wird auf der Veranstaltung beleuchtet. Astrid Diederichs, deren Tochter mit dem Smith-Magenis-Syndrom lebt, will nicht, dass sich Angehörige oder Betroffene nach Diagnosestellung mit Krankenkassen, Schulämtern oder Therapeuten herumschlagen müssen. Ferner sollte die Lebensqualität erhöht werden, verlangt die Vertreterin des Selbsthilfevereins Sirius. „Das erwarte ich von der Politik.“

Sozioökonomische Krebsfolgen besser erforschen


Heidelberg (pag) – Viele Krebspatientinnen und -patienten leiden nicht nur unter gesundheitlichen Belastungen, sondern auch unter Einkommensverlusten und Zuzahlungen für medizinische Leistungen. Das gilt selbst in europäischen Ländern mit hohem Einkommen und umfassenden Krankenversicherungssystemen. Dieses Problem soll nun systematischer erforscht werden.

Die finanzielle Belastung vieler Krebspatienten führt zu psychischen Problemen und verminderter Lebensqualität. © iStock.com, Tempura

Bisher ist die europäische Forschung zu dem Thema begrenzt und wird durch heterogene Methoden und das Fehlen einer einheitlichen Terminologie behindert. Um diesen Mangel zu beheben, hat eine von der Organisation der Europäischen Krebsinstitute (OECI) initiierte Task Force 25 Empfehlungen vorgelegt. Diese enthalten eine umfassende Definition der sozioökonomischen Auswirkungen aus der Perspektive der Patienten und ihrer Angehörigen und schlagen eine einheitliche Taxonomie vor. Die Konsenserklärung der Task Force zeigt darüber hinaus Richtungen für die künftige Forschung auf, die auch für politische Entscheidungen von Bedeutung sein können.

Solide Daten fehlen

Den Verantwortlichen comprare viagra online zufolge schließt der Konsens eine wichtige Lücke, denn die finanzielle Belastung vieler Krebspatienten führt zu psychischen Problemen und verminderter Lebensqualität. Sogar der Behandlungserfolg kann beeinträchtigt sein, was mit einer höheren Sterblichkeit einhergehen kann. Das Problem betrifft Patienten in allen Stadien der Erkrankung, von der Diagnose über die Behandlung bis hin zum langfristigen Überleben, und erstreckt sich auch auf Partner und Angehörige. Die Faktoren, die die Anfälligkeit bestimmter Patientengruppen für finanziellen Stress und finanzielle Belastung vorhersagen, sind jedoch nur teilweise bekannt. Es mangelt an soliden Daten über das Ausmaß des Problems und an Wissen über wirksame Interventionsmaßnahmen.

Claudio Lombardo, Generaldirektor der OECI, erhofft sich von den Empfehlungen ein besseres Verständnis der Probleme, mit denen Patienten konfrontiert sind. Sie lieferten „Anhaltspunkte für Verbesserungen und politische Maßnahmen zur Verringerung der sozioökonomischen Belastungen, denen Patienten ausgesetzt sind“. Die Wissenschaftler planen, in Folgeprojekten die weitere Forschung zu strukturieren, Messinstrumente zu entwickeln und zu validieren. Außerdem wollen sie Instrumente entwickeln, die Onkologen dabei helfen, Patienten besser zu unterstützen.

Zum Hintergrund

Die Organisation der Europäischen Krebsinstitute (OECI) wurde 1979 gegründet und zählt derzeit 141 Mitgliedsorganisationen aus Europa und zunehmend auch aus anderen Kontinenten. Die Task Force zu den sozioökonomischen Folgen von Krebs wurde von Dr. Michael Schlander, Deutsches Krebsforschungszentrum, im Rahmen der OECI-Arbeitsgruppe für Gesundheitsökonomie eingerichtet.

Gesundheitsdaten spenden: ein Stimmungsbild


München (pag) – Die elektronische Patientenakte (ePA) ist etwa drei Vierteln (76 Prozent) der hiesigen Bevölkerung bekannt. Die Bereitschaft zum Teilen von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken ist hoch. Allerdings bevorzugen die Bürger eine aktive Zustimmung. Das sind Ergebnisse einer Studie der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

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Die Befragung untersucht die Einstellungen und Präferenzen der Bevölkerung zur ePA sowie die Bereitschaft, Gesundheitsdaten für medizinische Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen. Zwar erfreue sich die ePA einer hohen Bekanntheit, genutzt wird sie derzeit allerdings lediglich von neun Prozent. Auffällig ist ein heterogenes Interesse in den verschiedenen Altersgruppen. Mit zunehmendem Alter steigt zwar der Bekanntheitsgrad, genutzt wird die Patientenakte allerdings vorrangig von jüngeren Personen unter 40. Grund dafür sei eine höhere Digitalkompetenz in der Altersklasse, folgern die Studienautoren.

Ein großer Teil der Befragten ist dafür, die Gesundheitsdaten aus der ePA zu Forschungszwecken weiterzugeben. Etwa 47 Prozent signalisieren ihre Zustimmung. 28 Prozent sind noch unentschlossen, ein Viertel der befragten Bürger lehnt die Datenspende tendenziell ab. Ein Einwilligungsverfahren wird offensichtlich präferiert: So befürworten knapp vier von fünf Befragten (88 Prozent) eine aktive Datenweitergabe. Einer passiven Einwilligung stimmt hingegen nur knapp die Hälfte zu (48 Prozent).

Ein weiterer Studienaspekt: die Einstellung zur Datenspende von Personen mit chronischer Erkrankung. In dieser Gruppe liege eine etwa zehn Prozentpunkte höhere Akzeptanz für eine Datenspende über das Opt-Out-Verfahren (Widerspruchslösung) als bei Befragten ohne chronische körperliche Erkrankungen vor.

Die telefonische Umfrage fand deutschlandweit statt. Befragt wurden insgesamt 1.004 Personen ab einem Alter von 18 Jahren.