[post_title] => Ausgabe 66 | Februar 2024 [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => ausgabe-66-februar-2024 [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2024-02-13 14:13:40 [post_modified_gmt] => 2024-02-13 13:13:40 [post_content_filtered] => [post_parent] => 0 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=8011 [menu_order] => 8710 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [59] => WP_Post Object ( [ID] => 8015 [post_author] => 4 [post_date] => 2024-02-02 14:20:34 [post_date_gmt] => 2024-02-02 13:20:34 [post_content] => [post_title] => Inhaltsverzeichnis [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => inhaltsverzeichnis [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2024-05-08 09:57:53 [post_modified_gmt] => 2024-05-08 07:57:53 [post_content_filtered] => [post_parent] => 8011 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=8015 [menu_order] => 10 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [60] => WP_Post Object ( [ID] => 8018 [post_author] => 3 [post_date] => 2024-02-04 16:56:43 [post_date_gmt] => 2024-02-04 15:56:43 [post_content] =>
Die Patienten wollen wissen, welcher Dachverband die Betroffenen für das neue europäische Verfahren auswählen wird und welche Qualifikationen die Patienten dafür mitbringen sollten. „Es braucht keinen Profipatienten“, betont Prof. Matthias P. Schönermark, Geschäftsführer der SKC Beratungsgesellschaft. Das helfe nicht. „Was hilft, sind Narrative.“ Es müssten nicht nur Fakten auf der Basis von Studiendaten ausgetauscht und bewertet werden, sondern auch Geschichten erzählt werden. „Fünf Meter Gehstrecke machen bei neurodegenerativen Erkrankungen einen Unterschied, weil die betroffene Person damit allein ins Badezimmer kommt und auf Toilette gehen kann.“ Faktisch und methodisch heiße es jedoch oft, dass die Unterschiede nicht signifikant seien.
EU-HTA – worum geht es?
Die EU-HTA-Verordnung sieht erstmals gemeinsame klinische Bewertungen von Gesundheitstechnologien auf EU-Ebene vor. Das Verfahren umfasst schwerpunktmäßig gemeinsame klinische Bewertungen und gemeinsame wissenschaftlichen Beratungen. Die klinischen Bewertungen (Joint Clinical Assessments, JCA) umfassen die Beschreibung der Gesundheitstechnologie sowie die Prüfung ihrer technischen und klinischen Eigenschaften. Die Bewertung aller nichtklinischen Aspekte und die Schlussfolgerungen daraus, etwa hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit, blieben weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen. Am 12. Januar 2025 startet das Verfahren – und zwar zunächst mit Krebsmedikamenten und neuartigen Therapien (ATMP). Ab dem 13. Januar 2028 kommen Orphan Drugs hinzu, ab dem 13. Januar 2030 umfasst das Verfahren alle neu zugelassenen Arzneimittel.
Ausführlich wird das folgende Szenario diskutiert: Sollten verstärkt Arzneimittel nicht mehr in der EU zugelassen werden – weder über die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) noch über die Mitgliedsstaaten – besteht in diesem Fall für Betroffene dennoch die Möglichkeit, über das Nikolaus-Urteil an das, in Europa nicht zugelassene, Arzneimittel zu kommen? Mit Verweis auf Zolgensma antwortet Prof. Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom der Universität Duisberg Essen, dass die Hürden für die Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts „sehr, sehr hoch“ seien. Allerdings sieht er die Option, den Einzelanspruch einzuklagen, wenn es in der betreffenden Indikation noch keine zugelassene Therapie gebe und das Mittel in Großbritannien zugelassen sei. Das könnte in sehr seltenen Fällen, bei Orphan Diseases, der Fall sein. Gleichzeitig betont Schönermark, dass es für die Hersteller keinen Sinn ergebe, sein neues Medikament nicht in Europa zu launchen.
Eine weitere Frage lautet: Kann ich die Patientenmobilität im Rahmen der EU-Dienstleistungsfreiheit nutzen, um in einem Land ein Medikament zu beziehen, das es im Leistungskatalog meines Landes nicht gibt? Diese Frage verneint Wasem eindeutig. „Sie können durch die Patientenmobilität nicht den nationalen Leistungskatalog erweitern“, stellt er klar.
Wasem betont außerdem, dass er nicht glaubt, dass in Europa der Zugang zu neuen Therapien durch ein neues HTA beschleunigt werde. Es sei naiv davon auszugehen, dass das Wissen über den Zusatznutzen etwas an der Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit eines großen Teils der europäischen Länder ändere. „Wir haben das Problem, dass das Geld nicht da ist und daran wird sich nichts ändern.“
Bei der Tagung des Gemeinsamen Bundesausschusses appelliert der unparteiische Vorsitzende, Prof. Josef Hecken, das europäische Verfahren als Chance zu begreifen: Das Gute, sprich das AMNOG, zu retten und das Bessere nicht zu verhindern. „Wir können insgesamt für eine einheitliche Bewertungspraxis in Europa und damit für Versicherte in anderen europäischen Regionen sehr viel erreichen, wenn wir versuchen, uns zusammenzuruckeln und aus dem Guten für Gesamteuropa etwas Besseres zu entwickeln.“
[caption id="attachment_8065" align="alignleft" width="500"]Auf einige Knackpunkte des geplanten Verfahrens kommt Hecken dennoch zu sprechen, zum Beispiel die unterschiedlichen Versorgungskontexte in Europa. „Das, was bei uns als zweckmäßige Vergleichstherapie, als Versorgungsrealität definiert wird, davon sind andere weit entfernt.“ Folglich müssten bei der europäischen Bewertung unterschiedliche PICO*-Schemata bedient werden, bei denen etwa andere Komparatoren eingesetzt werden. „Wenn wir immer nur den absoluten Goldstandard hineinschrieben, dann machen wir Nutzenbewertungen, die für 80 Prozent der zu versorgenden Bevölkerung in Europa völlig irrelevant sind“, argumentiert er. Auf der anderen Seite: „Wenn wir uns auf Mittelmaß einigen, bekommen wir Nutzenbewertungen, die wir in den Kühlschrank packen können, bei sechs Grad möglichst lange erhalten und dann in den Schredder werfen.“
Nach der europäischen Bewertung können die nationalen HTA-Behörden für das landeseigene Verfahren noch ergänzende Nachforderungen stellen. Hecken zufolge haben sich die Geschäftsstelle des G-BA und die Bänke des Ausschusses darauf verständigt, das Ausmaß von Nachforderungen auf ein „unabdingbares Minimum“ zu beschränken, da ansonsten ein „munteres Tohuwabohu“ drohe. Der G-BA-Chef sorgt sich insbesondere um den zeitnahen Zugang zu neuen Medikamenten. Dies ist ein wichtiges Ziel der EU-Verordnung, allerdings hat Deutschland in dieser Hinsicht kein Problem, so Hecken. Er hofft daher, dass sich durch die Implementierung der neuen Prozesse nichts am Status quo verändert.
Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium (BMG), hebt in diesem Kontext hervor, dass die Zeitschienen auf nationaler und EU-Ebene so geschaffen werden, dass es nicht zu einer Verzögerung kommt. „Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“, sagt sie und klingt damit deutlich überzeugter als Hecken.
Die Ministeriumsvertreterin betont in ihrem Vortrag, dass die nationalen Institutionen nicht ersetzt werden – „ganz in Gegenteil, sie gestalten den europäischen Prozess mit“. Durch verpflichtende Zusammenarbeit und Informationsaustausch werde große Transparenz über die eingereichten Daten erzielt. Auch sorge der regelhafte Austausch über die nationalen HTA-Bewertungen dafür, dass das gegenseitige Verständnis wächst, ist Mattenklotz überzeugt. Allerdings stecke beim geplanten harmonisierten Bewertungsprozess der Teufel noch im Detail, die derzeit noch zu erledigenden Vorbereitungen seien sportlich.
Zwischen dem deutschen AMNOG-Verfahren und dem europäischen HTA-Prozess weist Mattenklotz im Wesentlichen auf drei wichtige Schnittstellen hin: das Ergebnis des Bewertungsprozesses, das Herstellerdossier sowie die Bestimmung eines Assessment Scopes, sprich der Bewertungsumfang. Letzteres sei eine große Herausforderung, da die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Anforderungen stellten und der Bewertungsumfang auf EU-Ebene idealerweise den Anforderungen aller Mitgliedstaaten genügen sollte. Wie die PICO-Konsolidierung konkret funktionieren soll, ist derzeit wohl noch offen, obgleich Mattenklotz von Beispielübungen der EUnetHTA-Initiative berichtet. „Es gibt noch Luft nach oben“, lautet ihr Fazit dazu.
In puncto Dossier hält Mattenklotz fest, dass als Ziel ein einheitlicher Evidenzkörper als Grundlage für nationale Entscheidungen angestrebt werde. Es gelte: Daten, die auf EU-Ebene eingereicht wurden, dürfen nicht erneut national angefordert beziehungsweise eingereicht werden. Und Daten, die national eingereicht werden, müssen auch der EU-Ebene zur Verfügung gestellt werden. Mattenklotz leitet daraus das Prinzip „EU first“ ab.
Insgesamt sieht die BMG-Vertreterin noch eine Reihe offener Fragen. Diese betreffen neben der PICO-Causa vor allem die Harmonisierung der Zeitschienen auf europäischer und nationaler Ebene – sei es in Bezug auf das Dossier als auch bei der Nutzenbewertung selbst. Offen ist Mattenklotz zufolge aber auch noch, wie mit kurzfristigen Änderungen des Zulassungstexts – das EU-HTA-Verfahren findet parallel zur Zulassung statt – umzugehen sei. „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“, resümiert sie und fordert für die EU-Ebene ein lernendes System und eine Stärkung der Beratung. Langfristig, lautet ihre Prognose, werde das EU-HTA-Verfahren die nationalen Prozesse verändern, es sei aber kein Ersatz für die nationale Bewertung.
Industrie ist mit 51 PICO nicht glücklich
Aus Sicht der Industrie sind eine frühzeitige Einbeziehung in den Prozess, eine echte PICO-Konsolidierung und eine Stärkung der Joint Scientific Consultation kritische Erfolgsfaktoren, betont Dr. Vanessa Elisabeth Schaub von Roche auf der G-BA-Tagung. Die Notwendigkeit einer PICO-Konsolidierung stellt sie anhand eines Beispiels dar: ein Brustkrebsmedikament, das wahrscheinlich den europäischen Prozess durchlaufen werde. Für dieses Produkt ermittelte Roche 51 PICO, was Schaub unter anderem auf die zahlreichen therapeutischen Optionen – verschiedene Kombinationen und Sequenzen – sowie Stratifizierungen zurückführt. „Wir waren damit nicht glücklich.“ Eine Anwendung der EUnetHTA-Guidelines führte im zweiten Schritt zu einer Eindampfung auf 26 PICO. Schaub mahnt daher klare Konsolidierungskriterien an.
* PICO bedeutet: P für Patient/Patientin, I für Intervention, C für Comparison (Kontrollintervention) und O für Outcome (Zielkriterium).
[post_title] => Mission Harmonie [post_excerpt] => EU-HTA und AMNOG – wie passt das zusammen? [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => mission-harmonie [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2024-04-09 10:07:36 [post_modified_gmt] => 2024-04-09 08:07:36 [post_content_filtered] => [post_parent] => 8011 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=8018 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [61] => WP_Post Object ( [ID] => 8022 [post_author] => 3 [post_date] => 2024-02-04 16:57:02 [post_date_gmt] => 2024-02-04 15:57:02 [post_content] =>Seit 20 Jahren haben die gesetzlichen Krankenkassen die Aufgabe, gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen vorzugehen. Die Bundesregierung hat mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz alle Kranken- und Pflegekassen verpflichtet, Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen einzurichten. Ende 2023 nimmt der GKV-Spitzenverband das Jubiläum zum Anlass, das Thema bei einer Veranstaltung grundsätzlich zu diskutieren. Feierstimmung herrscht nicht, von einer eindeutigen Erfolgsgeschichte mag niemand so recht sprechen. Verbandsvorstand Gernot Kiefer stellt klar: „Es ist eine mühsame Angelegenheit.“ Man sei bei Weitem nicht auf dem Gipfel angekommen, sondern sei lediglich ein Stück des Weges gegangen. Besonders brisant: Durch Abrechnungsbetrug entsteht nicht nur ein finanzieller Schaden, sondern die Patienten erhalten als Folge nicht die Leistungen, die sie eigentlich benötigen. Die gemeinschaftlich von Arbeitgebern und Versicherten finanzierten Beitragsmittel werden statt für Kuration, Prävention und Rehabilitation für andere Zwecke verwendet, führt Kiefer aus und warnt vor einem Vertrauensverlust.
Er appelliert an die Anwesenden, einzelkassenorientierte Strategien kritisch zu reflektieren. Gebraucht werde außerdem ein gesetzlicher Rahmen, um stärker vernetzt zu arbeiten. Zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen sollten Verbünde, Datenaustausch und ein gemeinsames Vorgehen organisiert werden. „Wenn sich diejenigen hochprofessionell organisieren, die das Gesundheitswesen systematisch schädigen wollen, dann kann die Antwort nicht sein, dass wir bei den Methoden bleiben, die sich traditionell ergeben haben.“ Kiefer wirbt dafür, neue Methoden und Techniken wie Datamining und Künstliche Intelligenz so einzusetzen, dass ein adäquates Gegengewicht und nachhaltiger Aufklärungsdruck erzeugt werden.
Stichwort KI: Der Digitalausschuss des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) hat sich bereits 2021 mit KI-Systemen zur Bekämpfung und Verhinderung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen beschäftigt – etwa mit statistischen Modellen und Machine-Learning-Algorithmen, die Unregelmäßigkeiten etwa in Abrechnungsdaten erkennen und verfolgen können. Das BAS ist überzeugt, dass diese zu einer „neuen Qualität und Quantität der Fehlverhaltensbekämpfung“ führen. Aber ist das unter den bestehenden gesetzlichen Grundlagen zulässig?
Die Bekämpfung und Verhinderung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen ist in § 197a SGB V geregelt. Diese Vorschrift enthält die leistungsrechtliche Grundlage wie auch die datenschutzrechtliche Verarbeitungsbefugnis, erläutert das BAS. Es vertritt die Auffassung, dass diese Befugnis relativ weit gefasst sei. Der Verarbeitungsansatz werde jedoch grundlegend verändert: „von einer Kontrolle im Einzelfall nach Anzeigen Dritter hin zu einer Analyse der eigenen Bestände aufgrund von kassenübergreifend erstellten Verdachtsmustern“. Dies eröffne bei der Rechtsauslegung weite Beurteilungsspielräume. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte jedoch mit einer expliziten klarstellenden Erweiterung die gesetzliche Verarbeitungsgrundlage neu gestaltet werden, empfiehlt das Amt. Neben dem BAS beschäftigen sich mittlerweile auch Wissenschaftler mit dem Thema (siehe Infokasten).
KI ist nicht der einzige Hebel für eine effektivere Bekämpfung von Fehlverhalten. Von Kassenseite wird der wirksame Schutz von Hinweisgebern, sogenannten Whistleblowern, als wichtiger Baustein angesehen. Auch der Aufbau einer Betrugspräventionsdatenbank sei dringend notwendig. Diese soll personenbezogenen Betrugsfälle speichern, hat etwa Frank Firsching bereits vor zwei Jahren verlangt. „Es sollte zum Beispiel endlich zentral erfasst werden, wenn Pflegedienstbetreibern wegen Abrechnungsbetrug die Zulassung entzogen wurde“, so der Verwaltungsratschef der AOK Bayern. Es sei nicht tragbar, dass Betrüger einfach ein Bundesland weiterziehen und dort eine neue Zulassung beantragen oder in einer verantwortlichen Tätigkeit eingesetzt werden können, ohne dass die Kranken- und Pflegekassen über die kriminellen Vorgänge informiert sind. Voraussetzung für eine solche Datenbank ist nach Auffassung des GKV-Verwaltungsrates, dass die Bundesregierung sozialgesetzlich klarstellt, dass der Austausch von personenbezogenen Daten zur Verhinderung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen auch unter Verwendung von Datenbanken zulässig ist, die von Dritten im Auftrag betrieben werden. So heißt es im Bericht des Vorstandes an den Verwaltungsrat über „Arbeit und Ergebnisse der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen“ für den Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2021.
Bei der Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes Ende 2023 nimmt vor allem die Diskussion zu einer möglichen Dunkelfeldstudie breiten Raum ein. Gegenüber der Presseagentur Gesundheit fasst der dort anwesende Rechtswissenschaftler Prof. Kai-D. Bussmann, der bereits mehrere Erhebungen dieser Art durchgeführt hat, deren Vorteile knapp zusammen: „Erstens Aufhellung des Dunkelfelds durch repräsentative Erhebung von Daten zu Verbreitung, Schadensvolumen und Begehungsmuster, zweitens Screening der eingesetzten Ressourcen zur Aufdeckung bei den Stellen für Fehlverhalten und der Ermittlungsbehörden, Analyse der Aufklärungserfahrungen und -quoten und drittens Schaffung einer breiten fachinternen und öffentlichen Awareness.“
Johanna Sell vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) klingt bei der Debatte nicht überzeugt. Sie will vor allem mehr Effizienz in der Fehlverhaltensbekämpfung durch verbesserte gesetzliche Regelungen. Eine Dunkelfeldstudie sieht sie erst als zweiten Schritt. Sell kündigt bereits im November an, dass im geplanten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz einige neue Regelungen untergebracht werden sollen. Details sind zwei Monate später im Referentenentwurf nachzulesen. Vorgesehen ist etwa, die Landesverbände der Krankenkassen ausnahmslos in der Fehlverhaltensbekämpfung einzubeziehen, um „insbesondere kleinere Krankenkassen bei dieser Aufgabe zu unterstützen“. Datenübermittlungsbefugnisse sollen zudem erweitert und die Voraussetzungen für eine KI-gestützte Datenverarbeitung gesetzlich klargestellt werden. Der Gesetzgeber will außerdem den GKV-Spitzenverband verpflichten, auf Grundlage eines externen Gutachtens ein Konzept für eine bundesweite Betrugsdatenbank vorzulegen.
Immerhin, es bewegt sich etwas.
[caption id="attachment_8093" align="alignleft" width="500"]
Kriminelle Netzwerke
Das Projekt KriminelleNetzwerke entwickelt ein IT-Werkzeug, mit dem die Ermittlungsarbeit der Polizei unterstützt wird. Liegt ein Anfangsverdacht für Betrug oder Korruption im Gesundheitswesen vor und wurden Daten als Beweismittel gesichert, sollen mit Hilfe von KI Beziehungsgeflechte und Netzwerkstrukturen sichtbar gemacht werden. Dazu zählen E-Mails, Telefonverbindungen, Chatverläufe und Abrechnungsdaten. Die vorliegenden Datensätze werden analysiert und als Basis für die Erarbeitung von Merkmalen, die kriminelle Netzwerke charakterisieren, genutzt. Die zu entwickelnde KI-Anwendung wird mit Hilfe dieser Merkmale auf die Erkennung verdächtiger Netzwerke trainiert. Die Ergebnisse werden graphisch dargestellt, um die Beziehungen innerhalb des Netzwerkes abzubilden. Projektpartner sind neben dem GKV-Spitzenverband unter anderem das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik und das Polizeipräsidium Oberbayern Süd. © istockphoto.com, wildpixel
Als im Februar vergangenen Jahres der Fortschrittsdialog „Gesunde Industriepolitik“ in Berlin startet, steht das Thema auf der politischen Agenda nicht besonders weit oben. Mehrere Pharmaunternehmen haben daher mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) eine deutschlandweite Veranstaltungsreihe initiiert, um die Zusammenhänge zwischen gesunden industriepolitischen Rahmenbedingungen und medizinischer Versorgung darzustellen. Schirmherrin und SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Katzmarek räumt bei der Auftaktveranstaltung ein, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft oft unter den Tisch falle. Bei einer Stärkung des Wirtschaftszweigs solle man sich nicht in Klein-Klein-Debatten verlieren. Es gelte die großen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Digitalisierung und Versorgungssicherheit anzugehen.
IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis sieht die Industriepolitik unter Druck: „Was uns 15, 20 Jahre erfolgreich gemacht hat, wackelt.“ Deutschland habe großes Potenzial für innovative Therapien und gute Versorgung bei Krankheiten, für Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze. Für den Gewerkschaftschef ist die Gesundheitswirtschaft nicht Kostenfaktor und Problem, sondern ein Lieferant für Lösungen. Konkrete Zahlen nennt bei dem Termin Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG: Die Bruttowertschöpfung der Branche in 2021 beziffert er auf 165 Milliarden Euro. Die Reinvestitionsrate der industriellen Gesundheitswirtschaft betrage 16 Prozent – ein Wert, den kaum ein anderer Industriezweig erreiche. Pfundner zufolge haben die Arzneimittelhersteller „null Interesse“ daran, das Sozialsystem zu überfordern. Auf der anderen Seite führe eine Billig-Mentalität zu Engpässen. Und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) mache es den Unternehmen schwer, Innovationen zu entwickeln.
Eben dieses Gesetz, das unter anderem die Regeln des AMNOG-Verfahrens verschärft, macht Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck dafür mitverantwortlich, den Dialog mit der Pharmaindustrie zu Beginn verstolpert zu haben. Dieser habe angesichts des GKV-FinStG unter negativen Vorzeichen begonnen, so der Grünen-Politiker im Mai bei einer Veranstaltung des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller. Dort präsentiert er sich als Gesundheitswirtschaftsminister und unterstreicht: „Ohne funktionierende Gesundheitswirtschaft wären wir nicht das Land, das wir sind.“
Der Minister spricht von einem strategischen Interesse an deutschen und europäischen Standorten, um nicht von Lieferketten und „wildgewordenen Diktatoren“ abhängig zu sein. Deutschland müsse daher dafür sorgen, dass ein großer Teil der strategischen Investitionen hierzulande passieren.
[caption id="attachment_8105" align="alignleft" width="800"]Umso mehr kränkt es Habeck nach eigener Aussage intellektuell, dass heimische Firmen auf einmal im Ausland investieren, „weil wir zu viele Datenschützerinnen und Datenschützer haben“. Der Datenschutz an sich sei nicht das Problem, aber der Umstand, dass es in jedem Bundesland eine eigene Regelung dazu gibt, betont Habeck. Er stellt schlankere und schnellere Verfahren in Aussicht, „denn jetzt wird die Ente fett“.
In den folgenden Wochen und Monaten kursieren in Fachkreisen verschiedene Entwürfe einer Pharmastrategie der Bundesregierung. Am 1. Dezember, schließlich stellt Lauterbach die 14-seitige Pharmastrategie 7.0 der Presse vor. Einen Tag zuvor hat im Kanzleramt ein Pharmagipfel stattgefunden. Darüber verliert der Gesundheitsminister zwar keine Worte, aber mit Blick auf den Pharmastandort Deutschland konstatiert er, dass man an Konkurrenzfähigkeit verloren habe. Wie schon bei den Digitalgesetzen bemüht er das Bild einer „Aufholjagd“ und kündigt an: „Die Hausaufgaben müssen gemacht werden.“
Eine zentrale Rolle in der Strategie, die wenige Wochen später vom Kabinett verabschiedet wird, spielt das geplante Medizinforschungsgesetz. Dabei geht es um zweierlei, so Lauterbach: „Dort, wo geforscht wird, findet nachher auch die Produktion statt.“ Das geplante Gesetz soll daher nicht nur die Voraussetzungen für die Forschung, sondern auch für die pharmazeutische Produktion verbessern. Letzteres sei ein energiearmer, aber auch innovationsreicher Bereich, führt der Minister aus, der eine „Reindustrialisierung“ vorantreiben will.
Das Gesetz adressiert als zentrales Problem die langwierigen und teuren Genehmigungsverfahren für klinische Studien/Prüfungen. Bei der Zahl der Studien pro Kopf ist Deutschland zurückgefallen. Hierzulande werde zwar viel Grundlagenforschung betrieben, daraus resultierten aber wenig Patente und noch weniger Produktion, betont Lauterbach. Mit Großbritannien sei man bei der Grundlagenforschung gleichauf, im Königreich gingen daraus jedoch zehnmal mehr Patente und zwanzigmal so viele Produktionsansiedlungen hervor. „Dieses Problem wollen wir ganz konkret angehen.“
Das geplante Medizinforschungsgesetz sieht unter anderem eine koordinierende Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für klinische Studien vor. Das BfArM soll künftig die Koordinierung und das Verfahrensmanagement für Zulassungsverfahren und Anträge zu klinischen Prüfungen für alle Arzneimittel, ausgenommen Impfstoffe und Blutprodukte, übernehmen. Das Institut wird zentraler Ansprechpartner für die pharmazeutischen Unternehmen, ist verantwortlich für administrative Prozesse und koordiniert die Verfahren Ethikvotum, Strahlenschutzprüfung, die Schnittstelle zum Forschungsdatenzentrum und weitere Prozesse. Lauterbach erwartet von dieser Reform eine „dramatische Beschleunigung“ der Verfahren. Der seit Ende Januar vorliegende Referentenentwurf sieht außerdem vertrauliche Erstattungsbeträge vor – die Kassen sind davon erwartbar nicht begeistert.
Im Rahmen der Strategie sollen noch weitere Gesetze auf den Weg gebracht werden. Spannend ist in dieser Hinsicht insbesondere das Kapitel sieben der Strategie „GKV-Finanzstabilität; hier: Arzneimittelversorgung“. Dort wird eine erneute Evaluation der AMNOG-Reform, dieses Mal von externer Seite, angekündigt. Auch soll die Finanzierung der GKV künftig ohne weitere Erhöhungen der Herstellerabschläge sichergestellt werden.
Fast alle Abgeordnete, die im Bundestagsplenum vor das Mikrofon treten, sind sich einig: Eine umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens ist überfällig. Von Aufholjagden, Neu- und Durchstarten sowie einer neuen Ära ist die Rede, als kürzlich das Digital-Gesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz beraten werden. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Prof. Edgar Franke (SPD), unterstreicht, dass Forschung, Innovationen und medizinische Versorgung im 21. Jahrhundert ohne eine effektive Gesundheitsdatennutzung kaum mehr möglich seien. Um sich besser gegen Volkskrankheiten wie Krebs, Demenz oder Diabetes zu wappnen, seien Forschung und Gesundheitsdaten nötig. Mit Blick auf den Fachkräftemangel hebt der Politiker hervor, dass die Digitalisierung zwar keine Fachkräfte ersetzen, ihnen aber sehr wohl die Arbeit erleichtern könne. Mit beiden Gesetzen werde die nützliche Digitalisierung im Alltag und die gemeinwohlorientierte Wiederverwendung von Gesundheitsdaten kombiniert – das werde die Versorgung in Deutschland enorm steigern. Franke appelliert: „Es ist überfällig, dass wir in Bezug auf Datennutzung und in Bezug auf Digitalisierung mit diesen Gesetzen eine Aufholjagd beginnen.“
Wie weit Deutschland beim Digitalrennen zurückliegt, beziffert Dr. Janosch Dahmen (Grüne) ganz konkret: „Wir laufen den Entwicklungen im Schritt 15 Jahre in Europa hinterher.“ Er ist davon überzeugt, dass die Ampel Deutschland mit den beiden Digitalisierungsgesetzen zurück auf die Überholspur bringen werde. Deutschland starte zwar spät, aber dafür wiederhole man keine Fehler, die andere gemacht haben.
[caption id="attachment_8116" align="alignleft" width="800"]Seine Fraktionskollegin Linda Heitmann hebt – ebenso wie der Unionspolitiker Dr. Georg Kippels – das Vertrauen von Patienten und Versicherten als wesentlichen Erfolgsfaktor für eine erfolgreiche Implementierung der elektronischen Patientenakte (ePA) hervor. Dieses Thema wird in den Anhörungen des Gesundheitsausschusses aufgegriffen – zum Beispiel vom ehemaligen Sachverständigenratsvorsitzenden Prof. Ferdinand Gerlach. Er verbindet mit der ePA neuen Typs, die im Januar 2025 an den Start gehen soll, deutliche Fortschritte bei der Transparenz und der Zugriffskontrolle von Daten. Sie ermögliche, dass Missbrauch überhaupt erst erkannt und verfolgt werden kann. „In Verbindung mit härteren Strafen haben wir das, was international als ‚trust by design‘ bezeichnet wird.“
Außerdem setzt sich Gerlach für eine Aufklärungskampagne ein, die zum einen erklärt, wofür die ePA überhaupt benötigt werde – warum ist zum Beispiel ein Medikationsplan sinnvoll? Zum anderen sollte auch über die Risiken der Nicht-Nutzung aufgeklärt werden: Was bedeutet es, wenn ich die ePA ablehne, Inhalte verschatte oder sogar lösche? Von der Möglichkeit, Daten aus der ePA zu löschen, rät Gerlach dringend ab, das sei unverantwortlich und könnte für Patienten sehr gefährlich sein. Löschungen führten zu einer unvollständigen ePA, damit sei die Integrität und Zuverlässigkeit der Patientenakte zerstört.
Eine bessere Kommunikation zur ePA und dem Teilen von Gesundheitsdaten mahnt auch Patientenvertreterin Birgit Bauer bei einer Tagung der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) an, die Ende 2023 unter dem Motto „Neustart digitale Gesundheit“ steht. Bauer ist MS-Patientin und hat die Initiative „Data saves lifes“ gegründet. Sie findet, dass dem Informationsbedarf von Patienten und der Bevölkerung bisher nicht gerecht wurde. „Es gibt viele Black Boxes, die nicht geöffnet wurden.“
Bauer ist außerdem davon überzeugt, dass viele Bürger und Patienten offen dafür wären, ihre Gesundheitsdaten zu teilen, wenn man „sie mitnimmt“. Sie plädiert für durchaus kleinteilige Erklärungen, diese könnten einen Prozess des Umdenkens auslösen und weniger empfänglich für Totschlagargumente machen. In der Pflicht sieht die Patientin sowohl Krankenkassen, Ärzte als auch die Bundesregierung. Wichtig ist ihr ein gemeinschaftlicher Kommunikationsansatz, sie warnt dafür, nur innerhalb der „eigenen Silos“ zu agieren.
Der Bogen, den die TMF auf ihrer Tagung zur digitalen Gesundheit spannt, ist weit: von der ePA, dem e-Rezept und der Telematikinfrastruktur, über Medizinische Informationsobjekte, kurz MIO, bis hin zur Künstlichen Intelligenz. Über letzteres diskutiert die Vorsitzende des Ethikrats, Prof. Alena Buyx, mit weiteren Experten. Sie hebt unter anderem hervor, dass Ärztinnen und Ärzte beim KI-Einsatz stets in der Letztverantwortung bleiben müssten (lesen Sie hierzu das Interview „Das therapeutische Gesamtgeschehen ist nicht abzugeben“).
Die Brisanz des Themas KI hat auch die Bundesärztekammer (BÄK) erkannt. Sie hat diesem kürzlich eine eigene Veranstaltung gewidmet. Dass ärztliche Kunst und künstliche Intelligenz keine Gegensätze darstellen – „ganz im Gegenteil“ – ist BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt ein wichtiges Anliegen. Angesichts der zahlreichen Einsatzorte, an denen KI in Zukunft genutzt werden kann, ist er davon überzeugt, dass diese technologische Entwicklung das Potenzial habe, die Versorgungsablaufe in unserem Gesundheitswesen zu verändern. KI könnte zu einer neuen Arbeitsteilung zwischen den Professionen führen und sie werde möglicherweise etablierte Rollen der Beteiligten wie Kostenträger, Ärzteschaft und Patienten infrage stellen.
Reinhardt erwartet außerdem, dass mit der KI gänzlich neue Akteure wie globale IT-Unternehmen in das Versorgungsgeschehen eingreifen. Nicht zuletzt deshalb mahnt er, die ethischen Dimensionen dieser Entwicklung nicht aus dem Blick verlieren. „Die Nutzung von KI-Technologien erfordert eine sorgfältige Abwägung insbesondere von Datenschutz und Sicherheit und auch Verantwortlichkeit.“ Sichergestellt werden müsse, dass der Schutz der Privatsphäre und der Patientendaten stets gewährleistet ist. Nach Reinhardts Auffassung ist außerdem wesentlich, dass die den automatisierten KI-Systemen zugrundeliegenden Entscheidungsalgorithmen transparent und erkennbar sind und – auch ethisch – bewertet werden können. Abschließend appelliert er: „Die Anwendung von KI-Systemen darf nicht die individuelle menschliche ärztliche Zuwendung beeinträchtigen.“
Für die Bundesärztekammer bildet die Veranstaltung den Startpunkt für eine langfristige und tiefgreifende Auseinandersetzung mit Chancen und Risiken der Anwendung von KI in der Medizin. Das Ziel ist anspruchsvoll: klare Leitplanken für den verantwortungsvollen Umgang mit KI in der Patientenversorgung zu entwickeln.
Mit der Pharmastrategie und dem geplanten Medizinforschungsgesetz will Prof. Karl Lauterbach eine Reindustrialisierung in Gang setzen. Höchste Eisenbahn oder ist der Zug schon abgefahren?
Pfundner: Die Pharmastrategie der Bundesregierung ist eine ressortübergreifende Strategie, bei der Bundeskanzleramt, Wirtschafts-, Forschungs- und Gesundheitsministerium intensiv zusammengearbeitet haben. Ja, eine Kurskorrektur und eine Rücknahme der innovationsfeindlichen Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz waren höchste Eisenbahn. Mit der Strategie und dem Bekenntnis, dass die pharmazeutische Industrie ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft ist, ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Wir wurden als Industrie gehört und unsere Sorgen in Bezug auf eine schleichende Deindustrialisierung wurden ernst genommen.
Aber?
Pfundner: Jetzt müssen Taten folgen. Unsere Branche ist bereit, bei entsprechenden Rahmenbedingungen in Forschung, Entwicklung und Produktion signifikant zu investieren, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zur Lieferkettensicherheit beizutragen.
Wie bewerten Sie die Pharmastrategie der Bundesregierung: Welche Pläne überzeugen Sie, was halten Sie eher für halbgar?
Pfundner: Die Pharmastrategie ist für mich ein Beispiel für aktive Industriepolitik der Bundesregierung. Ich begrüße diesen Schritt sehr. Hierfür hat der vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Jahr 2022 ins Leben gerufene Roundtable „Gesundheitswirtschaft” eine Schlüsselrolle gespielt und ein wichtiges Fundament gelegt. Die Maßnahmen zum Bürokratieabbau, zur Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie gezielte strukturelle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und die Verbesserung der Arzneimittelliefersicherheit sind wichtige Absichtserklärungen, die man in der Strategie wiederfindet. Es kommt nun auf die konkrete Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.
Was sehen Sie kritisch?
Pfundner: Die Pläne, die für mich aktuell noch die größten Fragezeichen aufwerfen, betreffen die Überprüfung der AMNOG-Reform in 2024, den Zeitplan dahinter und das Austausch- und Entscheidungsgremium, in dem die Industrie mitgestalten und mitwirken kann.
Was kann Deutschland von anderen Ländern in Sachen gesundheitsindustrieller Standortpolitik lernen?
Pfundner: Weltweit beobachten wir eine Renaissance der „Reindustrialisierung”. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Bundesregierung im Sinne einer „modernen” – auch datenbasierten – Reindustrialisierung ein richtiger und notwendiger Weg. Hier können wir durchaus von anderen Ländern lernen, die verstanden haben, dass sich durch verlässliche Rahmenbedingungen und einen heimischen Markt für Innovationen privatwirtschaftlich finanzierte Forschungs- und Produktionskapazitäten in Zukunft weiter ausbauen lassen. Auf der anderen Seite ist die Pharmastrategie der Bundesregierung ein Aktionsplan, der eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland darstellt und bei dem andere Länder aktuell auf uns schauen. Ich freue mich besonders darüber, dass der Dreiklang aus Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Strategie verankert ist – denn Gesundheitspolitik ist auch Industrie- und Wirtschaftspolitik. Es kommt nun – wie bereits gesagt – auf die Umsetzung an. Nur wenn die Maßnahmen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vollständig zurückgeführt werden und wir die Zukunftsthemen gemeinsam angehen, können langfristige, privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunft in Deutschland – vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs – stattfinden.
[caption id="attachment_8132" align="alignleft" width="1150"]
Zur Person
Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender der Roche Pharma AG, hat einige Pflöcke für die industrielle Gesundheitswirtschaft eingeschlagen. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender des Pharmaverbandes vfa. Er hat daran mitgewirkt, die Branche auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sichtbar zu machen. Aus dem anfänglichen Ausschuss für Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile eine Abteilung. Der promovierte Pharmazeut ist zudem als Honorarprofessor an der Uni Freiburg tätig. © pag, Fiolka
Revolutioniert der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin den Beruf des Arztes und der Ärztin?
Buyx: Im Augenblick gibt es erste Anwendungen, die bereits ziemlich stark in genuin ärztliche Tätigkeiten eingreifen. Einige funktionieren gut, vieles davon ist aber noch gar nicht in der Praxis angekommen, sondern noch experimentell. Das Wichtigste wäre meiner Ansicht nach aber, dass KI die Ärztinnen und Ärzte – und das gilt für die anderen Medizinberufe auch – von administrativen Verpflichtungen entlasten könnte. Es ginge somit darum, Algorithmen in der Klinik einzuführen, die administrativ wirklich mithelfen und nicht so sehr ins Zentrum der ärztlichen Tätigkeit hineingehen.
Aber die bereits existierenden Beispiele kommen eher aus dem bildgebenden Bereich. Bürokratie scheint noch ein Nischenthema zu sein, oder?
Buyx: Ja, davon gibt es zu wenig, wie ich finde. Bei der Befundung von Röntgenbildern bewegt man sich zum Beispiel in einer originär ärztlichen Tätigkeit. Gleichzeitig beklagen die Kolleginnen und Kollegen völlig zu Recht, dass die vielen, vielen administrativen Tätigkeiten sie davon abhalten, die Patienten und Patientinnen optimal zu versorgen. Noch dazu sind sie für die Administration ja eigentlich nicht ausgebildet. Es ist somit an der Zeit, strategischer darüber nachzudenken, was die Kolleginnen und Kollegen wirklich an Künstlicher Intelligenz benötigen.
Kennen Sie ein Beispiel, welches diese Bedürfnisse mitdenkt?
Buyx: Am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation werden Algorithmen für die Pflegedokumentation auf Palliativstationen entwickelt.
Aber auch im psychotherapeutischen Bereich gibt es mittlerweile KI-Anwendungen, was ja auf den ersten Blick etwas überraschend ist.
Buyx: Ich finde es durchaus erstaunlich, dass so etwas sogar halbwegs funktioniert. Einen therapeutischen Chatbot zu haben, ist immerhin besser als gar nichts. Die Wartezeiten für Psychotherapien sind relativ lang. Außerdem sind Personen, die einen therapeutischen Bedarf haben, oft zurückhaltend und kommen erst spät in die Praxis. Chatbots, mit denen auch morgens um drei Uhr interagiert werden kann, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt und ohne dass ein Antrag bei der Krankenkasse gestellt werden muss, können ein Einstiegsinstrument sein. In seiner Stellungnahme macht der Ethikrat aber sehr deutlich, dass solche Angebote nur Hilfsinstrumente sein können, um die Menschen überhaupt in die Nähe eines therapeutischen Geschehens zu bringen. In den USA gibt es Kliniken, die ihren Patientinnen und Patienten ausschließlich diese Art von Therapie anbieten, das ist problematisch.
Wenn wir über Hilfsinstrumente oder Dokumentationsassistenten sprechen, klingt das so, als ob die große KI-Revolution in der Medizin erst einmal ausbleibt.
Buyx: Die meisten Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass der Goldstandard auf sehr lange Zeit die sogenannte „Blended Intelligence“ sein wird. Das bedeutet: Menschen benutzen künstlich intelligente Instrumente und setzen sie klug ein.
Aber wie kann sichergestellt werden, dass Ärztinnen und Ärzte in der Letztverantwortung bleiben?
Buyx: Es muss eben immer einen Weg geben. Das wird je nach Anwendung unterschiedlich aussehen, aber allen muss gemein sein, den „human in the loop“ zu behalten: keine vollautomatisierten Entscheidungen, ohne dass die Möglichkeit besteht, dass Menschen diese überprüfen. Zwar können einzelne Aspekte einer Aufgabe an Algorithmen delegiert werden, aber das therapeutische Gesamtgeschehen ist nicht abzugeben. Es muss weiterhin in ärztlicher Hand bleiben, das sagen wir ganz klar.
Dafür dürfte sich der Standard in der Chirurgie grundlegend von dem in der Psychotherapie unterscheiden.
Buyx: Es ist ganz wichtig, sich das im Einzelnen wirklich anzugucken. Das ist einerseits ein ziemlich dickes Brett. Auf der anderen Seite werden bei den DIGAs auch die Anwendungen für sich überprüft. Das ist keine Hexerei. Und auch andere Medizintechnologien werden einzeln getestet. Ebenso wenig wie man diese alle über einen Kamm scheren würde, darf man es jetzt auch nicht mit den Anwendungen machen, die auf maschinellem Lernen beruhen.
Würden Sie vor allem die medizinischen Fachgesellschaften in der Pflicht sehen?
Buyx: Diese sollten unbedingt beteiligt sein, damit die ärztliche Expertise in die Entwicklung eingebracht wird. Und selbstverständlich müssen die Programmiererinnen und Programmierer dabei sein. Idealerweise sollten auch Personen an Bord sein, die darauf achten, dass die ethischen und regulatorischen Standards eingehalten werden. Viele Forschungsprojekte setzen das bereits um. Insofern fangen wir nicht bei null an, ganz im Gegenteil: Das läuft bereits seit Jahren. Deswegen bin ich auch zuversichtlich, dass uns in der Medizin die Integration von KI gut gelingen wird. Technologien, die auch mit Risiken behaftet sind, werden schließlich nicht zum ersten Mal aufgenommen. Die Medizin ist technikaffin. Wenn die Ärztinnen und Ärzte die Hand darauf halten, wird es nicht zu irgendeiner Revolution kommen.
Aber in der Ausbildung ist das Thema noch nicht abgebildet, oder?
Buyx: Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Aber mir erscheint die fachärztliche Weiterbildung noch wichtiger: Jedes Fach muss sich auf den Hosenboden setzen und prüfen, wie die Weiterbildungsordnung anzupassen ist.
[caption id="attachment_8140" align="alignright" width="500"]Zur Person
Die Medizinerin Prof. Alena Buyx ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, der im vergangenen Jahr eine rund 400 Seiten lange Stellungnahme zu „Mensch und Maschine – Herausforderung durch Künstliche Intelligenz“ veröffentlicht hat. Seit 2018 ist sie Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität München.
© pag, Fiolka
Die Studie untersucht Chancen und Grenzen von Large Language Models wie ChatGPT bei der automatisierten Sichtung der wissenschaftlichen Literatur für die Auswahl einer personalisierten Therapie. Die Modelle haben personalisierte Therapieoptionen für fiktive Patienten erstellt, die dann mit den Empfehlungen von Experten verglichen wurden, erläutert Charité-Arzt Dr. Damian Rieke. Sein Fazit: „Künstliche Intelligenzen waren prinzipiell in der Lage personalisierte Therapieoptionen zu identifizieren – kamen aber an die Fähigkeit menschlicher Expertinnen und Experten nicht heran.“
Für das Experiment hat das Team zehn molekulare Tumorprofile fiktiver Patienten erstellt. Die Therapieempfehlungen eines spezialisierten Arztes und von vier Large Language Models wurden den Mitgliedern eines molekularen Tumorboards zur Bewertung präsentiert – ohne dass diese wussten, woher eine Empfehlung stammt. „Vereinzelt gab es überraschend gute Therapieoptionen, die durch die künstliche Intelligenz identifiziert wurden“, berichtet die Bioinformatikerin Dr. Manuela Benary. Die Performance von Large Language Models sei allerdings deutlich schlechter als die menschlicher Experten.
Dennoch sieht Rieke die Einsatzmöglichkeiten von KI in der Medizin grundsätzlich optimistisch. Man habe mit der Studie auch zeigen können, dass sich die Leistung der KI-Modelle mit neueren Modellen weiter verbessert. „Das könnte bedeuten, dass KI künftig auch bei komplexen Diagnose- und Therapieprozessen stärker unterstützen kann – so lange Menschen die Ergebnisse der KI kontrollieren und letztlich über Therapien entscheiden.“
Die Studie wurde hauptsächlich durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Deutsche Krebshilfe und den Innovationsfonds des gemeinsamen Bundesausschusses gefördert.
Am 2. Februar ist bundesweiter Tag der Frauenherzgesundheit gewesen. Ziel ist die Stärkung des politischen und öffentlichen Bewusstseins für Herzerkrankungen bei Frauen.
Zu den bekannten männlichen Infarktsymptomen zählen zum Beispiel stechende Schmerzen in der Brust. Dagegen macht sich ein Herzinfarkt bei Frauen eher durch Übelkeit, Kopfschmerzen oder Schmerzen im Oberbauch bemerkbar. Bei solchen Beschwerden wird das Herz nicht sofort in Betracht gezogen, die richtige Behandlung einer Patientin verzögert sich. Es fehlen zudem große klinische Studien zur Frauenherzgesundheit hinsichtlich Medikation, Dosierung und Behandlungsmethoden. Ob in der Forschung, in der Diagnostik oder Therapie – das Thema Gesundheit basiert in der Regel auf männlich geprägten Daten, von der Erhebung bis zur Ableitung von Erkenntnissen. In der Folge werden Patientinnen missverstanden, fehldiagnostiziert und falsch behandelt. Herz-Kreislauferkrankungen sind weltweit die häufigste Todesursache bei Frauen, jeder dritte Todesfall in Deutschland geht auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zurück. Jedes Jahr sterben hierzulande ca. 20.000 Frauen an einem Herzinfarkt.
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach hat im Herbst 2023 eine konzertierte Aktion angekündigt, um Früherkennung, Vorbeugung und Arzneimitteltherapien von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern. Die Healthcare Frauen halten mehr Aufmerksamkeit und Bewusstsein für die Risiken und Symptome einer Herz-Kreislauf-Erkrankung für dringend nötig, denn Männer und Frauen unterscheiden sich – auch beim Herzinfarkt, betont die Initiative. Gehandelt hat bereits die Herzchirurgin Dr. Viyan Sido. Sie hat eine Ambulanz mit spezieller Frauensprechstunde ins Leben gerufen. „Der Mangel an geschlechtsspezifischer Aufmerksamkeit kann zu suboptimalen Behandlungsergebnissen führen, da Medikamente und Therapien bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken können“, sagt sie. Es gelte, das Bewusstsein für die Relevanz der Gendermedizin zu schärfen. Es müsse sichergestellt werden, dass geschlechtsspezifische Unterschiede in der medizinischen Praxis angemessen berücksichtigt werden, um eine optimale Patientenversorgung zu gewährleisten, appelliert sie.
Inspiriert vom „National Wear Red Day“ in den USA rufen die Healthcare Frauen und andere Akteure dazu auf, am 2. Februar ein farbiges Zeichen zu setzen: Unterstützerinnen und Unterstützer tragen ein rotes Accessoire oder Kleidungsstück, um auf die Herzgesundheit bei Frauen aufmerksam zu machen.
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Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt die Zahl der Demenz-Neuerkrankungen pro Jahr auf über 430.000 Fälle, etwa bei drei Vierteln aller Fälle liegt eine Alzheimer-Erkrankung zugrunde. Eine wissenschaftliche Arbeit aus 2023 rechnet vor, dass für eine Therapie mit dem Antikörper Lecanemab in 27 europäischen Ländern insgesamt 5,4 Millionen Patientinnen und Patienten infrage kommen, was zu jährlichen Therapiekosten in Höhe von 133 Milliarden Euro führen würde. Die jährlichen Therapiekosten pro Patientin/Patient werden auf knapp 25.000 Euro beziffert. In Abhängigkeit von der Zahl behandelter Patientinnen und Patienten pro Jahr würden Alzheimer-Therapeutika rasch Rang eins der verordnungsstärksten Arzneimittelgruppe belegen und noch vor den Ausgaben für Krebsmedikamente liegen. Hinzu kämen die erforderlichen Investitionen in die Versorgungsstruktur. Die DGN und die Berufsverbände sind sich daher einig: „Das sind Ausgaben, die gesamtgesellschaftlich konsentiert sein müssen und es fehlt eine öffentliche Debatte zu diesem wichtigen Thema.“ Sie sehen die Gesundheitspolitik in der Pflicht, denn es müsse geklärt werden, wie die Versorgung in der Fläche und die Bezahlbarkeit sicher gestellt werden können.
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Die repräsentative Untersuchung, die das Marktforschungsinstitut YouGov im Auftrag der SBK unter 2.022 Teilnehmenden ab 18 Jahren durchgeführt hat, zeigt ein geteiltes Bild: Die meisten Menschen geben der Versorgung ein gutes Zeugnis. So bewerten 77 Prozent ihre letzten Erfahrungen mit einer Arztpraxis positiv. Doch: Jeder Vierte (24 Prozent) sieht die Notfallversorgung in der eigenen Region als nicht vollständig gesichert. 35 Prozent der Menschen, die schon einmal pflegebedürftig waren oder einen Menschen gepflegt haben, waren nicht zufrieden mit den Erfahrungen, die sie mit ambulanten oder stationären Pflegeeinrichtungen gemacht haben. 28 Prozent der Eltern mit Kindern bis 12 Jahren hatten Schwierigkeiten, eine Kinderarztpraxis zu finden.
Beim Zugang zur ärztlichen Versorgung schwankt die Zufriedenheit laut Umfrage: 80 Prozent können eine haus- oder allgemeinärztliche Praxis in angemessener Entfernung zu ihrem Wohnort besuchen. Allerdings haben 30 Prozent trotz dringendem Bedarf keinen Facharzttermin in angemessener Zeit erhalten. 37 Prozent der Menschen mit Erfahrungen mit ambulanter oder stationärer Pflege konnten in einer Pflegesituation nicht ausreichend schnell einen Platz im Heim oder einen Pflegedienst finden.
„Die Gesundheitsversorgung ist in einer angespannten Lage, das zeigen auch die Ergebnisse dieser Umfrage“, betont Gertrud Demmler. Auf absehbare Zeit werde die Überlastung aufgrund des demographischen Wandels eher größer. „Das heißt Arzttermine, Pflegeeinrichtungen oder Zeit für die Patientinnen und Patienten im Krankenaus werden eher knapper.“ Das sei nicht nur für die Patientinnen und Patienten eine schlechte Nachricht. Auch die Menschen, die sie versorgen, stehen zunehmend unter Druck. „Wir brauchen jetzt weitreichende Reformen, die die Ressourcen des Gesundheitswesens insgesamt entlasten. Und die wichtigste dieser Ressourcen sind die Menschen, die im System arbeiten.“
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[caption id="attachment_8167" align="alignleft" width="800"]Der Bundesrat bezieht sich unter anderem auf Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Ihr zufolge konnten von Januar bis Oktober 2023 2.480 Organe aus Deutschland und dem Eurotransplant-Verbund hierzulande transplantiert werden, immerhin rund 200 mehr als 2022. „Diese Zahlen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in Deutschland immer noch ein eklatanter Mangel an Spenderorganen herrscht“, sagt der Medizinische Vorstand der DSO, Dr. Axel Rahmel, im November auf dem Jahreskongress der Stiftung. Derzeit stünden rund 8.500 Menschen auf den Wartelisten.
Die Bundesärztekammer (BÄK) stellt sich hinter die Länderforderung. „Die Widerspruchslösung kann helfen, die große Lücke zwischen der hohen grundsätzlichen Spendebereitschaft in der Bevölkerung und den tatsächlichen niedrigen Spendezahlen zu verringern“, glaubt BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt.
Die Impfung ist wirksam gegen Gebärmutterhalskrebs, Krebs im Mund- und Rachenraum und im Genitalbereich. Zielgruppe der Impfung sind Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 14 Jahren, ebenso 15- bis 18-Jährige, die verpasste Impftermine nachholen können.
Die Studie des DKFZ zeigt, dass die Impfung von weiten Teilen der Bevölkerung befürwortet wird: 68 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, nur 23 Prozent lehnen sie ab und 9 Prozent sind unentschieden. Auffällig ist, dass die Zielgruppe der Impfung, Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren, diese auch in Form einer Schulimpfung begrüßen würden. 76 Prozent von ihnen sprechen sich bei der Umfrage dafür aus. „Erfahrungen aus Ländern wie Australien und England zeigen, dass HPV-Impfprogramme in Schulen die Impfquote erhöhen können“, sagt Nobila Ouédraogo, Public-Health-Experte vom DKFZ.
Besondere Aktualität hat die Studie vor dem Hintergrund eines deutlichen Impfrückgangs hierzulande. 25 Prozent weniger Impfdosen sind 2022 an Kinder und Jugendliche verteilt worden, zeigen Untersuchungen des Kinder- und Jugendreports der DAK. Besonders stark ist der Rückgang bei den 15 bis 17-jährigen Jungen: Bei ihnen sanken die HPV-Impfungen um 42 Prozent.
Dusel verlangt von der Regierung, den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag endlich umzusetzen. Damit ist der angekündigte Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen gemeint. Außerdem sollten bestehende Problemlagen nicht auf die „lange Bank“ geschoben werden. Konkret nennt er die Barrierefreiheit von Arztpraxen, die durch eine Änderung im Behindertengleichstellungsgesetz forciert werden soll, und die außerklinische Intensivpflege.
Der Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen erinnert daran, dass Deutschland vor knapp 15 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Diese beschreibe „eigentlich eine Selbstverständlichkeit“ – nämlich, dass Menschen mit Behinderungen im gleichen Maße Zugang zum Gesundheitssystem haben sollen wie Menschen ohne Behinderungen. Dass die Realität hierzulande anders aussieht, zeigt die Begutachtung des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Gerade das Gesundheitssystem musste Dusel zufolge harsche Kritik vom Ausschuss einstecken. Angeprangert wurde die Diskrepanz zwischen guter finanzieller Ausstattung und mangelnder gleichberechtigter Teilhabe.
Dusel geht davon aus, dass drei Viertel der Praxen nicht barrierefrei sind. Beispiel Gynäkologie: Dem Regierungsbeauftragten zufolge gibt es in Deutschland lediglich zehn Praxen, deren Behandlungssetting barrierefrei ausgestattet ist. Die Folge: Frauen im Rollstuhl nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil. Eine WHO-Studie hat ermittelt, dass Menschen mit Behinderungen weltweit eine 20 Jahre geringe Lebenserwartung haben – und zwar nicht aufgrund ihrer Behinderung, sondern aufgrund von Zugangsbarrieren zum Gesundheitswesen. „Diesen Zustand können wir nicht akzeptieren und nicht tolerieren“, appelliert Dusel. Es gehe bei Teilhabe nicht um ein „nice to have, sondern um die Umsetzung von Menschenrechten“. Aufgabe des Staates sei es nicht nur, das Recht zu setzen, sondern auch dafür zu sorgen, dass es bei den Menschen ankommt.
Kritisch fällt auf der Veranstaltung auch die Bilanz von Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt aus. „Passabel“ sei die Inklusion von Menschen mit sensorischer Behinderung wie Blind- oder Taubheit. Etwas besser findet er die Lage bei der Barrierefreiheit, wo Reinhardt eine gewisse Sensibilisierung beobachtet hat. Am allerwenigsten gelinge jedoch die Inklusion im Sinne von selbstständiger Partizipation am Gesundheitswesen von Menschen mit einer Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung. „Da haben wir wirklich noch viel Potenzial und sollten uns mehr Mühe geben“, findet der Mediziner.
In den vergangenen Jahren hat die Behandlung durch medizinische Innovationen deutliche Fortschritte erzielt und die Überlebensraten der Betroffenen zum Teil erheblich verbessert. Lungenkrebs bleibt aber weiterhin eine heimtückische Krankheit: Ein Lungenkarzinom ist lange nicht spürbar und wird in den meisten Fällen erst dann entdeckt, wenn der Krebs weit fortgeschritten ist. Die späte Diagnose bleibt die größte Hürde, um die Krankheit effektiv zu bekämpfen. Mit der Einführung des Lungenkrebs-Screenings soll sich das grundlegend ändern. Es besteht berechtigte Hoffnung, dass durch frühere Diagnosen viele Menschenleben gerettet werden können. Es gibt nicht nur immer differenziertere und passgenauere Therapiekonzepte, sondern frühe Diagnosen ermöglichen auch andere Behandlungsmaßnahmen und machen sogar Heilungen möglich. Es wird künftig auch mehr Menschen geben, die mit Lungenkrebs als chronische Erkrankung leben.
Technisch ist Deutschland gut auf ein Screening-Programm mittels Niedrig-Dosis-CT vorbereitet. Bis zu einer halbe Million Untersuchungen pro Jahr wären nach Schätzungen von Experten möglich. Die KI-Auswertung von CT-Bildern, kombiniert mit der fachlichen Expertise von Radiologen, Pneumologen und Thoraxchirurgen werden die Fälle falsch-positiver Befunde weiter verringern, wie bereits eine aktuelle Studie in Deutschland zeigen konnte (siehe Infokasten). Die moderne Diagnostik verspricht also vieles, und doch muss vorab gründlich geprüft werden, für wen die Untersuchung wirklich infrage kommen soll. Internationale Studien haben belegt, dass das Lungenkrebs-Screening starken Rauchern oder ehemaligen Rauchern in der zweiten Lebenshälfte als Vorsorgeuntersuchung am meisten nutzt. Genau für diese Risikogruppe ist die Lungenkrebsvorsorge derzeit in Deutschland auch vorgesehen: Denn nur bei ihr überwiegt statistisch gesehen der Nutzen gegenüber dem möglichen Schaden durch Fehldiagnosen und ionisierte Strahlung.
Zugleich wirft die Eingrenzung der Personengruppe Gerechtigkeitsfragen auf: Denn viele der Lungenkrebsfälle bei Nichtrauchern werden ausgerechnet von dem Screening-Programm nicht erfasst, weil sie weder vom Alter noch vom Gesundheitsverhalten her zur Risikogruppe zählen. Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) fordert deshalb sogar ein systematisches Lungenkrebs-Screening für alle Erwachsenen. Das Lungenkarzinom sei die Krebserkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate, begründet die Fachgesellschaft ihr Drängen auf systematische Früherkennung für alle: Die Früherkennung eines Lungenkarzinoms durch die Computertomografie senkt die Sterberate erheblich – ersten Studien zufolge um bis zu 20 Prozent.
Der G-BA muss nun also darum ringen, welche Personen zum Screening eingeladen werden sollen, und er muss im deutschen Gesundheitssystem erstmals ein risikobasiertes Früherkennungsprogramm auf den Weg bringen.
Lungenkrebs in Zahlen
In Deutschland erkranken jedes Jahr etwa 57.000 Menschen an Lungenkrebs. Er ist bei Männern nach Prostatakrebs die zweithäufigste Krebserkrankung mit rund 35.000 Erkrankten. Bei Frauen ist das Bronchialkarzinom nach Brustkrebs und Darmkrebs der dritthäufigste Krebs, mit rund 22.000 Erkrankten. Frauen sind im Mittel 69 Jahre und Männer 70 Jahre alt, wenn Ärzte bei ihnen die Krankheit feststellen.
Quelle: DKFZ-Krebsinformationsdienst
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Die DGP fordert, der G-BA solle nun schnellstmöglich den Leistungsanspruch der Versicherten definieren. Die Politik habe das Thema schon viel zu lange vernachlässigt. Stattdessen sind die Fachgesellschaften tätig geworden. In einem im Oktober vorgestellten Positionspapier stellen die im Lungenkrebs-Screening beteiligten Fachgesellschaften erstmals konkrete Eckpunkte für ein einheitliches, strukturiertes und qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm vor, um zu diesem Prozess konstruktiv beizutragen. „Wir geben behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie der Gesundheitspolitik klar definierte Empfehlungen an die Hand, die ein einheitliches, strukturiertes, qualitätsgesichertes Früherkennungsprogramm ermöglichen, das effektiv, sicher und zudem kosteneffizient ist“, sagt Prof. Torsten Blum, einer von drei federführenden Autoren des Positionspapiers. An diesem haben Expertinnen und Experten der DGP, der Deutschen Röntgengesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Thoraxchirurgie ein Jahr lang gemeinsam gearbeitet. Darin halten sie fest, dass nur in einem strukturierten Ansatz der Nutzen, die ausreichende Begrenzung der Risiken sowie die Kosteneffektivität hinlänglich mit Evidenz belegt seien. Unstrukturierte Ansätze bergen hingegen substanzielle Risiken für die Teilnehmer und sollten nicht unterstützt werden. Der abschließende Appell lautet: In Deutschland sollten die Voraussetzungen für ein strukturiertes Programm zeitnah geschaffen werden.
HANSE-Studie für Deutschland
Mit der HANSE-Studie ist die Einführung des Lungenkrebs-Screenings in Deutschland wissenschaftlich vorbereitet worden. Dementsprechend breit waren die Fragestellungen: Sie reichten von der Definition der Hochrisikogruppe, über sämtliche Fragen der Implementierung bis zur Festlegung des Screening-Intervalls. Die Studie, die im Sommer 2023 abgeschlossen wurde, dient als Grundlage zur Erarbeitung der Screening-Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA).
Im Rahmen der HANSE-Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover, dem Universitätsklinikum UKSH in Lübeck sowie an der LungenClinic Großhansdorf haben sich 5.000 Raucherinnen und Raucher zwischen 55 und 79 Jahren einem Lungen-Check mittels Niedrigdosis-CTs unterzogen. Ziel war es, die Möglichkeiten des CT-Screenings zur Früherkennung von Lungenkarzinomen zu überprüfen und Standards für das Programm zu entwickeln.
Weiterführender Link:
Positionspapier zur „Implementierung eines nationalen organisierten Programms in Deutschland zur Früherkennung von Lungenkrebs in Risikopopulationen mittels Low-dose-CT-Screening inklusive Management von abklärungsbedürftigen Screeningbefunden“
https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/html/10.1055/a-2178-2846
Thomas Stranzl, Spezialist für Zell- und Gentherapien bei Gilead Sciences und Mitglied der Geschäftsführung in Deutschland, weist in seiner Begrüßung auf die stetig steigenden Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP) hin. Diese hätten zu bahnbrechenden Erkenntnissen geführt. „Sie haben nicht nur das Potenzial, die medizinische Praxis zu revolutionieren, sondern können auch erhebliche wissenschaftliche und wirtschaftliche Impulse für den Standort Deutschland geben.“ Dafür, stellt Stranzl klar, bedürfe es angemessener politischer und regulatorischer Rahmenbedingungen. Das AMNOG-Verfahren sei jedoch mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) grundlegend verändert worden.
Dass einige dieser Änderungen nach der Evaluation noch zurückgenommen werden, will Gabriele Katzmarek zumindest nicht ganz ausschließen. In ihrem Grußwort unterstreicht die SPD-Bundestagsabgeordnete nachdrücklich die Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft und deren starkes Potenzial an Forschung und Entwicklung. Für Katzmarek handelt es sich um eine der Leitindustrien Deutschlands, die jedoch mehr Aufmerksamkeit und Förderung benötige. „Das ist wichtig für die Menschen, die Arbeitsplätze, für Fortschritt und Zukunft und für den Wirtschaftsstandort Deutschland“, sagt sie.
Nach Einschätzung der Politikerin sind Gen- und Zelltherapien hierzulande noch zu wenig bekannt. Wichtig sei daher mehr Aufklärung, um Vorbehalte abzubauen und Akzeptanz zu gewinnen. Aufklärungsarbeit aus klinischer Perspektive leistet direkt im Anschluss Prof. Marion Subklewe, Oberärztin am LMU Klinikum München, mit ihrem Vortrag zur CAR-T-Zelltherapie. Diese neue Therapieform sei in Europa seit 2018 zugelassen und werde mittlerweile hauptsächlich beim Lymphdrüsenkrebs eingesetzt. Einer Studie zufolge konnten damit fünf von zehn Patienten geheilt werden, berichtet die Leiterin der Arbeitsgruppe für „Translational Cancer Immunology“. Dagegen hätten mit einer herkömmlichen Chemotherapie nur sieben Prozent der Patienten eine langfristige Remission erreicht. Eine weitere wichtige Indikation für die CAR-T-Zelltherapie ist laut Subklewe das Multiple Myelom. Dort sehe man zwar aktuell noch keine Heilung, die neuartige Therapie werde daher erst in der vierten Therapielinie eingesetzt. Für Patienten sei die Behandlung dennoch mit deutlichen Vorteilen verbunden: Anstelle einer dauerhaften Chemobehandlung bekommen sie eine einmalige Therapie. Zwei Wochen später könnten sie das Krankenhaus verlassen. „Das bedeutet für die Betroffenen einen unglaublichen Mehrwert in der Lebensqualität“, sagt die Ärztin.
Mittlerweile, berichtet Subklewe weiter, werde die CAR-T-Zellbehandlung auch außerhalb der Onkologie eingesetzt. Eine weltweite Premiere fand in Erlangen statt, wo 20 Patienten mit schweren Autoimmunerkrankungen damit behandelt wurden. Von Heilung mag sie noch nicht sprechen, aber die Betroffenen sind bereits seit zwei Jahren ohne Krankheitssymptome – für die Medizinerin sind das „unglaublich vielversprechende Ergebnisse“.
Für die Zukunft sagt sie eine immer stärker individualisierte Therapieauswahl für Krebspatienten voraus. „Ich glaube, dass die Zelltherapie die absolute Zukunft ist.“ Von konventionellen Chemotherapien werde man sich zunehmend entfernen, weil die Immuntherapie das Potenzial habe, den Krebs nicht nur wegzudrängen, sondern zu heilen. Neben der Onkologie hält sie den Einsatz bei verschiedenen Krankheiten für möglich und nennt neben Autoimmunerkrankungen auch Infektionen und kardiovaskuläre Erkrankungen. „Wir stehen erst am Anfang.“
Diesen hoffnungsvollen Perspektiven stehen enorme Schwierigkeiten in der Forschung hierzulande gegenüber. Subklewe zufolge sind bei CAR-T-Zellstudien die USA und Kanada führend. Auch China sei sehr aktiv, Europa hinke etwas hinterher. In Deutschland liefen aktuell 19 derartige Studien. Als problematisch nimmt die Klinikerin hierzulande insbesondere die überbordende Regulatorik wahr, mit der man bei Investigator Initiated Trials (IIT) konfrontiert sei. Sie berichtet von Sicherheitsanforderungen, die sich weit jenseits vom Common Sense bewegten und in anderen Ländern absolut unüblich seien. Unüblich seien auch die langen Wartezeiten, die man für eine Antwort der deutschen Behörden einplanen müsse. „Wir sind anders als die anderen Länder“, bringt es die Forscherin etwas resigniert auf den Punkt.
Auch in der Versorgung knirscht es Subklewe zufolge noch. Die Zentren seien immer noch darauf angewiesen, dass die Niedergelassenen die Indikation zur CAR-T-Zelltherapie stellen und ihre Patienten überweisen. Im Raum München klappt das offenbar mit recht unterschiedlichem Erfolg. „Wir haben Praxen, die viel überweisen, und es gibt Praxen, die in den vergangenen vier Jahren keinen einzigen Patienten überwiesen haben.“ Subklewe verlangt daher eine verbindliche Indikations-stellung sowie geordnete Strukturen, damit jeder Patient die bestmögliche Therapie erhält.
Die Patientenperspektive stellt auf der Veranstaltung Ulla Ohlms dar, die sich begeistert von den Fortschritten der Krebsforschung und -therapie der letzten Jahre zeigt. Positiv erwähnt sie auch Initiativen wie die Dekade gegen Krebs und das Memorandum zur Errichtung eines Zentrums für Gen- und Zelltherapie in Berlin. Anpassungsbedarf sieht die Vorstandsvorsitzende der Patients‘ Tumorbank of Hope (PATH) dagegen beim AMNOG-Verfahren. Es könne nicht sein, dass ein staatliches Regulatorium den Einsatz von neuen Medikamenten „ausbremst“, kritisiert sie mit Blick auf die kürzlich erfolgte Marktrücknahme des Lungenkrebsmedikamentes Capmatinib. „Mich hat der Aufschrei der Lungenkrebspatienten erreicht“, berichtet die ehemalige Brustkrebspatientin. Das Verfahren müsse so modernisiert werden, dass es auch für neuartige Therapien und einarmige Studien passe. Neue Arzneimittel benötigten möglicherweise auch Sprunginnovationen bei den Regularien, gibt die Patientenvertreterin zu bedenken.
„Eher dogmatisch als pragmatisch zu agieren, ist nicht der richtige Weg“, findet auch Stranzl von Gilead. Beim AMNOG hätten sich Flexibilität und Offenheit bewährt, das sollte bei den Gen- und Zelltherapien weitergeführt werden.
Die aktuellen AMNOG-Reformen des GKV-FinStG sieht der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, kritisch. Ausdrücklich nennt er die Absenkung der Umsatzschwelle bei den Orphan Drugs von 50 Millionen Euro Jahresumsatz auf 30 Millionen. Auch mit den sogenannten Leitplanken für die Preisverhandlungen hat er Probleme und bringt dafür eine Soll-Regelung ist Spiel.
Breiten Raum nimmt bei der Diskussion die Frage ein, wie mit einarmigen Studien in der Nutzenbewertung umgegangen werden soll. Wasem spricht sich dagegen aus, Gen- und Zelltherapien einen Freischein auszustellen und bei ihnen grundsätzlich Randomisierte kontrollierte Studien (Randomized controlled Trials, RCT) auszuschließen – das sei nicht sinnvoll, zumal diese Therapien inzwischen auch bei größeren Indikationen auf dem Vormarsch seien. „Dort, wo es ethisch vertretbar und technisch möglich ist, sollte randomisiert werden“, stellt er klar. Die Nicht-Randomisierung könne jedoch in spezifischen Konstellationen sinnvoll sein. Das müsse von G-BA und IQWiG akzeptiert werden.
Dass die beiden Institutionen von allein „die Kurve bekommen“, glaubt der ehemalige Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle jedoch nicht. Er verweist darauf, dass es in der Verfahrensordnung des G-BA bereits angelegt sei, eine niedrigere Evidenzstufe zu akzeptieren, wenn keine RCT vorliegt. Faktisch werde das jedoch nicht gelebt. Der Gesundheitsminister ist nach Wasems Einschätzung für dieses Problem nicht die richtige Anlaufstelle. Er bringt stattdessen eine politische Positionierung des Parlaments in Bezug auf die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung ins Spiel. Dem widerspricht allerdings Michael Hennrich, ehemaliger Bundestagsabgeordnete und mittlerweile Geschäftsführer Politik beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller. Die Verordnung sei Sache des Ministers, das könnte schwierig werden, urteilt er.
Nach Auffassung des Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe kann die Politik nur die Rahmenbedingungen festlegen. Das konstatiert der CDU-Politiker sowohl mit Blick auf Nutzenbewertung als auch auf die behördlichen Genehmigungsverfahren von klinischen Studien. „Wir können nicht den letzten Beamten überzeugen.“ Andernfalls werde zu viel Bürokratie erzeugt, argumentiert Hüppe. Ein Anliegen ist es ihm auch – angesichts der in den USA üppiger fließenden Forschungsgeldern – festzuhalten, dass dort nur ein kleiner Teil der Patienten Zugang zu den neu entwickelten Therapien erhalte. Anders in Deutschland. Dieses System gilt es zu halten, appelliert er.
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ATMP – Zulassungen und Jahrestherapiekosten
In seinem Vortrag stellt Dr. Norbert Gerbsch von IGES Institut die Zulassungsdynamik der ATMP in Europa dar. Ab 2016 sei eine deutliche Zunahme der Gentherapeutika zu verzeichnen. Derzeit gebe es 25 ATMP-Zulassungen, wovon sieben zurückgenommen worden seien. Unter den verbliebenen 18 befänden sich 15 Orphan Drugs. Gerbsch hebt hervor, dass es sich um Therapien handele, die häufig nur einmal verabreicht werden. Sie hätten das Potenzial, eine Dauermedikation zu ersetzen. Bei Arzneimitteln sei man bislang daran gewöhnt, auf die Jahrestherapiekosten zu schauen. Bei den ATMPs gelte es jedoch, genau die Einzelfallkonstellation zu berücksichtigen, appelliert Gerbsch. Wasem zufolge wird das Problem der Bepreisung von Einmaltherapien konzeptionell derzeit dadurch gelöst, dass die Jahrestherapiekosten der Vergleichstherapie über mehrere Jahre zugrunde gelegt werden. „Das bewirkt aber eine ganz starke Abhängigkeit von den erzielbaren Preisen des Komperators“, führt der Gesundheitsökonom aus. Werde die neue Therapie in einer Indikation mit einem billigen Versorgungsstandard gelauncht, komme man mit diesem Konzept nicht zurecht.
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Das BIPAM soll am 1. Januar 2025 ans Netz gehen und zwar an zwei Standorten, in Berlin und Köln. Fokussieren wird es sich in seiner Arbeit auf Krebs, Demenz und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie verursachen zusammen mehr als 75 Prozent der Todesfälle pro Jahr in Deutschland. Lauterbach zufolge soll das BIPAM zu diesen Erkrankungen Gesundheitsdaten erheben, um daraus Vorbeugemaßnahmen abzuleiten oder zu entwickeln und der Regierung zu empfehlen. Ferner wird es den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) unterstützen und die Gesundheitskommunikation ausbauen, das Ziel: Vorbeugemedizin wird in der Bevölkerung evidenzbasiert umgesetzt, wie es der Minister ausdrückt.
Das BIPAM „professionalisiert“, so führt er fort, „ergänzt und modernisiert die Aufgaben der BZgA“. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht vollständig im neuen Institut auf, auch aus dem Robert Koch-Institut (RKI) werden ganze Abteilungen in die neue Behörde transferiert, so der Plan. Darüber hinaus soll es am BIPAM auch gänzliche neue Einheiten – etwa zum Thema Modellierung – geben.
Errichtungsbeauftragter der neuen Behörde ist Dr. Johannes Nießen, der sich als Leiter des Kölner Gesundheitsamtes in der Pandemie einen Namen gemacht hat, und auch im Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung saß. Lauterbach stellt ihn als „Pionier des Abwassermonitorings“ vor.
Nießen weiß nach eigener Aussage ganz genau, „wo der Präventionsschuh in der Fläche drückt“. Für ihn besteht eine zentrale Lehre aus Corona darin, dass die Individualmedizin, sprich die kurative Medizin in Praxis und Klinik, Hand in Hand mit Bevölkerungsmedizin einhergehen müsse. Um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern und auch in Krisen zu bewahren will er vor allem auf eine verbesserte Koordination von Public-Health-Aktivitäten setzen, den ÖGD insbesondere mit der Wissenschaft besser vernetzen und die Bevölkerung evidenzbasiert über Gesundheitsrisiken aufklären.
Das Betätigungsfeld des RKI wird im Zuge der BIPAM-Gründung auf Infektionskrankheiten eingeschränkt. Vor der Presse kündigt der neue Präsident und bisherige kommissarische Leiter, Prof. Lars Schaade, an, sich auf „neue Aufgaben und Zukunftsprojekte“ konzentrieren zu wollen. Er nennt unter anderem die Zusammenarbeit im internationalen Gesundheitsschutz, die Nutzung von KI in Public-Health-Forschung, eine vollständige Digitalisierung der Meldewege, genomische Surveillance, Antibiotikaresistenzen sowie die weitere Verbesserung der Krisenreaktionsfähigkeit des RKI bei Ausbrüchen und biologischen Gefahren. Während Lauterbach die klare Aufgabenteilung zwischen BIPAM und RKI betont, kündigt Schaade an, die Querverbindungen zwischen übertragbaren und nichtübertragen Krankheiten weiter im Blick zu haben. Dies betrifft unter anderem die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels.
Auf der Pressekonferenz kündigt der Minister außerdem ein „offensives“ Gesetz zur besseren Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen an. Dort bestehe im internationalen Vergleich die größte Lücke. Wenige Tage später kursiert bereits ein vierseitiges Impulspapier aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG). Darin heißt es: „Ziel der Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist es, durch ein Bündel an Maßnahmen die Früherkennung und die Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern.“ Das BIPAM solle die Initiative fachlich begleiten. Konkret werden vier Handlungsfelder genannt:
Für Kinder und Jugendliche ist unter anderem die Einführung eines Lipid-Screenings mit Fokus auf familiäre Hypercholesterinämie bei der Früherkennungsuntersuchung U9 – mit anschließendem Kaskadenscreening von Familienangehörigen – vorgesehen. Die Untersuchungsinhalte sollen von den medizinischen Fachgesellschaften festgelegt werden, der Gemeinsame Bundesausschuss wird nicht erwähnt.
Bei den Erwachsenen plant das BMG ein nach Alter und Risiko gestuftes Screening für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Den Krankenkassen soll das „niedrigschwellige und einheitliche“ Einladungsmanagement für die Check-ups 25, 35 und 50 mit Voucher – etwa Telefonservice zur Terminvermittlung, QR-Code, Angebot zur Vorfeld-Untersuchung in Apotheken – obliegen. Ebenfalls festgehalten ist die von Lauterbach auf dem Apothekertag erwähnte engere Einbindung der Apotheken im Rahmen von Vorfeld-Untersuchungen zu den Check-ups. Aufgelistet werden: niedrigschwellige Beratung zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zu Früherkennungsangeboten, Cholesterinwert-Bestimmung, Blutdruckmessung, Blutzucker-Messung, Body-Mass-Index-Berechnung sowie Beratung zur Nikotinentwöhnung.
Ein weiterer Punkt ohne weitere Erläuterungen lautet „Stärkung der ärztlichen Präventionsempfehlung“. Ebenfalls gestärkt werden soll die Überleitung in die weiterführende Versorgung durch Weiterentwicklung der Gesundheitsuntersuchung (GU). Personen mit hohem Risiko erhalten eine umfassende Diagnostik und insbesondere Angebote für eine weiterführende Behandlung – sowohl nichtmedikamentös unter anderem mit Beratung zur Ernährung, Bewegung und Lebensstiländerung als auch medikamentös.
Die Datenlage zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zur Nutzung von GU soll unter anderem durch den Ausbau der Surveillance zu nicht-übertragbaren Krankheiten und die Stärkung der epidemiologischen Register zu Herzinfarkt und Schlaganfall verbessert werden.
Einige interessante Punkte enthält das Papier außerdem zu den mittlerweile 20 Jahre alten DMP, für die der Bundesverband Managed Care (BMC) unlängst eine Rundumerneuerung verlangt hat (lesen Sie hierzu „Update erforderlich“ auf Seite 16). Zur Reduzierung des Nikotinkonsum ist unter anderem geplant, die bestehende gesetzliche Regelung zur medikamentösen Therapie (§34 Abs. 2 SGB V) auszuweiten: Die Beschränkung auf „schwere Tabakabhängigkeit“ soll fallen und eine Finanzierung häufiger als alle drei Jahre ermöglicht werden.
Nach Redaktionsschluss kündigt Lauterbach eine konzertierte Aktion mit Ärzteschaft, Apothekern, Krankenkassen und Patientenorganisationen an. Der Minister will zeitnah einen Gesetzentwurf vorlegen. Derweil regt sich bereits Kritik am BIPAM. Der BMC spricht etwa von schweren Konstruktionsfehlern bei der Organisation des Instituts. Die Politik verpasse eine Chance, Public Health in Deutschland auf ein solides Fundament zu stellen, so Verbandspräsident Prof. Lutz Hager. „Um die Aufgaben zu erfüllen, brauchen wir ein agiles Institut, das Informationen bündelt und als Teamplayer mit den vorhandenen Strukturen Netzwerke baut.“ Die Deutsche Gesellschaft für Public Health (DGPH) und die Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention merken in einer gemeinsamen Erklärung an, dass bereits der Name des Instituts eine Beschränkung auf den Bereich der Medizin mit einer engen Fokussierung auf Aufklärung vermittle. Die Experten vermissen einen umfassenden Blick auf Gesundheit – die Thematik der Gesundheitsförderung und die Stärkung von Schutzfaktoren fänden keine nennenswerte Beachtung. „Der Koalitionsvertrag hat einen großen Sprung nach vorne versprochen. Mit dem jetzigen Konzept besteht dagegen die Gefahr eines Rückschritts“, sagt der DGPH-Vorsitzende Prof. Ansgar Gerhardus. Um die öffentliche Gesundheit wirksam zu stärken, brauche das neue Bundesinstitut einen starken, ressortübergreifenden Fokus auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.
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„Vollends von der Rolle“ – Rosenbrock und Götz zum geplanten BIPAM
Die Public-Health-Experten Prof. Rolf Rosenbrock, Paritätischer, und Dr. Thomas Götz, KLUG, gehen mit dem vom BMG angekündigten Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin hart ins Gericht: Es habe offenbar nicht die Aufgaben einer modernen Gesundheitspolitik im Blick, sondern richtet den Blick nach hinten. Rosenbrock und Götz gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „‚Prävention und Aufklärung in der Medizin‘ bedeutet vor allem Früherkennung, Impfen und ärztliche Gespräche. Dafür brauchen wir kein neues Institut. Aufklärung über Risiken und die Möglichkeiten ihrer Minderung ist integraler Teil der Prävention, auch der Prävention in Lebenswelten. Wenn ‚Aufklärung‘ gleichberechtigt neben ‚Prävention‘ steht, ist ein Rückfall in die wenig nützliche Gesundheitserziehung vergangener Jahrzehnte zu befürchten.
Vollends von der fachlichen Rolle ist die angekündigte Fokussierung auf Zielkrankheiten: Gesundheitsförderung als Entwicklung von persönlichen Ressourcen zur Vermeidung und Bewältigung von Gesundheitsrisiken wirkt grundsätzlich krankheitsunspezifisch, der Bezug auf einzelne Krankheiten mindert in der Praxis die Wirksamkeit. Sinnvoll wären hingegen Schwerpunkte auf besonders belastete und belastende Lebenswelten und vulnerable Gruppen.
Fachlich rätselhaft bleibt auch der Sinn der institutionellen Trennung in übertragbare (RKI) und nicht-übertragbare (BIPAM) Erkrankungen: Für die Sozialepidemiologie ist diese Trennlinie nutzlos bis schädlich, wie die großen Studien des RKI zur Kinder- und Erwachsenen-Gesundheit (KiGGS und DEGS) und erst recht das Großprojekt NAKO-Kohorte zeigen, die selbstverständlich beide Krankheitswelten im Blick haben. Das Beispiel Corona zeigt auch, dass für die Prävention sowohl übertragbarer als auch nicht-übertragbarer Krankheiten weitgehend die gleichen Instrumente der Risikokommunikation/Verhaltensprävention und Gesundheitsförderung einzusetzen sind. Es gibt weder einen vernünftigen Grund noch funktionierende internationale Vorbilder dafür, die wesentlich näherliegende und in Deutschland in Wissenschaft und Praxis bewährte Arbeitsteilung zwischen Epidemiologie/Sozialepidemiologie sowie Ursachenforschung (RKI) einerseits und Interventions- und Anwendungsforschung andererseits aufzugeben, wenn Doppelstrukturen und mühsam-künstliche Abgrenzungen vermieden werden sollen.“
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Die DMP sind stehengeblieben, findet Hager. Daher müsse einerseits „mutig und disruptiv“ in die Zukunft gedacht werden, auf der anderen Seite seien sowohl die Teilnehmer der etablierten Programme als auch die beteiligten Akteure mit in die neue Welt zu nehmen. So beschreibt der Professor für Management im Gesundheitswesen den anspruchsvollen Spagat, den es zu meistern gilt, wenn die Programme wirklich nachhaltig reformiert werden sollen.
In dem Impulspapier des Verbandes wird daher auch keine Fundamentalkritik geäußert. Die DMP seien wertvoll, heißt es dort. „In der derzeitigen Ausgestaltung helfen sie, durch einen koordinierten arzt- und sektorenübergreifenden Betreuungsprozess, die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu verbessern.“ Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bestehe eine hohe Zufriedenheit. Beispielhaft verweist der BMC auf das DMP Diabetes mellitus Typ 2: Dort sind 93,1 Prozent der Patienten mit ihrer Versorgung zufrieden bis vollkommen zufrieden. Auch bei den Ärzten ist das Feedback wohlwollend, auch wenn die Zustimmung nicht ganz so deutlich ausfällt: 59 Prozent der befragten Hausärztinnen und Hausärzte bewerten das DMP als positiv, lautet das Fazit einer Studie der Universitätsmedizin Mainz.
Zur Wirkung der Behandlungsprogramme wird auf das geringere Sterberisiko verweisen. Der Elsid-Studie des Universitätsklinikums Heidelberg zufolge sind im Vergleich zu 15 Prozent der Nicht-Teilnehmenden 8,8 Prozent der Teilnehmenden im DMP Diabetes mellitus Typ 2 verstorben. Beim DMP Koronare Herzkrankheit (KHK) hat eine 2020 im European Journal of Health Economics veröffentliche Studie eine verbesserte leitliniengerechte Medikation sowie ein reduziertes Sterberisiko nachgewiesen.
Ein wichtiges Argument für die strukturierten Programme sind nicht zuletzt auch die niedrigeren Behandlungskosten. Diese lagen für Teilnehmende im DMP Diabetes mellitus Typ 2 von 2005 bis 2007 im Durchschnitt 1.000 Euro unter den Behandlungskosten der Kontrollgruppe.
Trotz dieser an sich erfreulichen Bilanz sieht der BMC die DMP seit einigen Jahren stagnieren, „das Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft“. Das lässt sich unter anderem an den Teilnehmerzahlen ablesen. Beispiel COPD: Von geschätzten 2,6 Millionen Patienten hierzulande sind nur rund 715.000 in das Programm eingeschrieben. Gerade einmal rund 1,9 Millionen KHK-Patienten nehmen das DMP in Anspruch, obwohl in Deutschland rund 4.9 Millionen Personen an der Koronaren Herzkrankheit leiden. Hinzu kommt, dass dem BMC zufolge die Einschreibezahlen in den letzten Jahren im Durchschnitt nur im einstelligen Prozentbereich gestiegen sind. Eine weitere Baustelle ist die stockende Implementierung neuer Programme (siehe Infokasten „Neue DMP haben es schwer“).
Der BMC macht sich deshalb für ein digitales Update der Programme stark und sieht darin ein großes Potenzial für konkrete Verbesserungen in der Versorgung. Die Integration digitaler Lösungen könnte zum Beispiel Prozessabläufe unterstützen, gleiches gelte für die praxis-, berufsgruppen- und sektorenübergreifende Kommunikation. Auch zusätzliche Möglichkeiten der strukturierten Datenerhebung – Stichwort Patient-Reported Outcome Measures (PROMs) – sieht der Verband.
Die Politik hat offenbar ebenfalls die Chancen erkannt. Der vom Bundeskabinett beschlossene Entwurf für das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz) sieht die Einführung eines digitalen DMP für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 vor.
[caption id="attachment_7754" align="aligncenter" width="3872"]
Ein erster Modernisierungsschritt, doch der BMC hat eine wesentlich umfassendere DMP-Reform im Blick. Idealerweise würde diese auf drei Ebenen ansetzen:
Handlungsfeld 1: Patienteneinbindung stärken
Kompetenzen zum Selbstmanagement aufbauen, Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung setzen, Einbindung von Digitalen Gesundheitsanwendungen, Videoschulungen, lauten einige der Vorschläge des BMC. Dieser plädiert auch dafür, Patient-Reported Outcome Measures (PROMs) und Patient-Reported Experience Measures (PREMs) in den Versorgungsprozess zu integrieren.
Handlungsfeld 2: Prozesse verbessern
Digital unterstütztes Monitoring, Unterstützung durch Praxisverwaltungssysteme und Krankenhausinformationssysteme, individuelle Therapiepläne mittels KI, DMP-Daten in der elektronischen Patientenakte zusammenführen, DMP-Register, integrierte Versorgung stärken, Multimorbidität einbeziehen sowie das Ein- und Ausschreibemanagement überarbeiten – diese Stichwörter zeigen die vielschichtigen Reformoptionen auf.
Handlungsfeld 3: Verträge, Finanzierung und Steuerungsinstrumente überarbeiten
Dieses Handlungsfeld wartet mit dicken Brettern auf, die der BMC bohren will: DMP-Rahmenverträge auf Bundesebene schließen, Mehrfacheinschreibungen vergüten, Evaluation und Qualitätssicherung vereinheitlichen, Outcome-orientierte Vergütungselemente integrieren.
Die skizzierten Handlungsfelder zeigen, dass es um einen vielschichtigen Reformprozess geht, dessen vollständige Umsetzung in der aktuellen Legislaturperiode illusorisch sein dürfte. Allerdings werden die DMP bereits beim Digital-Gesetz mitgedacht und auch in einem Impulspapier aus dem Bundesgesundheitsministerium zu Herz-Kreislauf-Krankheiten werden einige aufschlussreiche Änderungen zu den Programmen angekündigt (siehe Infokasten „BMG will DMP stärken“). Insofern bewegt sich durchaus etwas.
[caption id="attachment_7956" align="alignright" width="500"]
Neue DMP haben es schwer
Dem BMC zufolge kommen die DMP, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) neu beschlossenen hat, nicht in der Versorgung an. So habe der Ausschuss beispielsweise die Anforderungen für die DMP zu Herzinsuffizienz (2018), Depression (2019), chronischer Rückenschmerz (2019), Osteoporose (2020) und rheumatoide Arthritis (2021) bereits festgelegt. Aber: Regionale Vertragsabschlüsse zu diesen Indikationen stehen bis auf wenige Ausnahmen derzeit aber noch aus, kritisiert der Verband. Darüber hinaus gestalte sich die Weiterentwicklung bestehender DMP als „komplex und schwierig“, denn Verfahrensprozesse im G-BA nehmen viel Zeit in Anspruch und erfordern die Beteiligung einer großen Anzahl von Akteuren, heißt es im Impulspapier des Bundesverbandes Managed Care. Der Verband weist außerdem darauf hin, dass als zulassungspflichtige Behandlungsprogramme die DMP unter der Aufsicht des Bundesamts für Soziale Sicherung stehen. Das ziehe aufwändige Genehmigungsverfahren nach sich.
[caption id="attachment_7958" align="alignleft" width="500"]
BMG will DMP stärken
Derzeit kursiert ein vierseitiges Impulspapier aus dem Bundesgesundheitsministerium. Darin heißt es: „Ziel der Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist es, durch ein Bündel an Maßnahmen die Früherkennung und die Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verbessern.“ Eines der Handlungsfelder lautet: Stärkung von Disease-Management-Programmen. Demnach soll die sogenannte Programmkostenpauschale gestrichen werden, dafür erfolgt eine Berücksichtigung der programmbedingten Leistungsausgaben im Risikostrukturausgleich. Auch das Zulassungsverfahren durch das Bundesamt für Soziale Sicherung steht auf der Streichliste. Die Krankenkassen werden verpflichtet, innerhalb einer festgelegten Frist mit den Leistungserbringern Verträge zur Umsetzung der DMP zu schließen. „Hierfür wird ein Konfliktlösungsmechanismus eingerichtet“, heißt es. Außerdem werden die Vertragspartner für die DMP Diabetes Typ 1 und Typ 2 sowie für Koronare Herzkrankheit in die Pflicht genommen, Elemente einer qualitätsorientierten, erfolgsabhängigen Vergütung in den Verträgen zu regeln.
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Sie kritisieren die DMPs als festgefahren. Wer oder was ist der größte Bremsklotz?
Hager: Zunächst von der positiven Seite: Disease-Management-Programme sind zu einem wichtigen Baustein in der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen geworden und erreichten 2022 über 7,2 Millionen Menschen mit chronischen Erkrankungen.
Aber?
Hager: Die Einschreibezahlen sind aufgrund fehlender Anreize in den letzten Jahren im Durchschnitt nur geringfügig gestiegen – bei steigender Prävalenz der Erkrankungen. Viele neuere Erkenntnisse zu den Chancen von Selbstmanagement sind nicht eingeschlossen und die Prozesse sind für alle Beteiligten umständlich. Zudem kommen die neu beschlossenen DMP nicht in der Versorgung an, da – bis auf wenige Ausnahmen – regionale Vertragsabschlüsse dazu fehlen. Die DMP sind Teil der Trägheit des Systems – dabei ist die Vermeidung und Versorgung von chronischen Erkrankungen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems.
Der BMC hat eine Reihe von Reformvorschlägen präsentiert. Wo ist der Innovationsbedarf besonders groß?
Hager: Bei den Vorschlägen, die wir formuliert haben, konzentrieren wir uns auf drei Bereiche: Zum einen ist es für den Erfolg der Programme unabdingbar, dass Patientinnen und Patienten aktiver in die Behandlung einbezogen und in ihrem Selbstmanagement unterstützt werden. Dafür braucht es Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung. Digitale Tools wie DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen, Anm. d. Red.), die Integration von PROMs und PREMs in den Versorgungsprozess sowie daran gekoppelte Feedbackschleifen können hierfür einen wichtigen Beitrag leisten. Darüber hinaus müssen die Prozesse rund um die Behandlung, Beratung und Betreuung optimiert werden. Die Einbindung digitaler Möglichkeiten wie beispielsweise ein kontinuierliches Symptommonitoring, eine Anbindung an die elektronische Patientenakte sowie Einrichtung eines nationalen DMP-Registers zu Forschungszwecken sind hierbei wichtige Schritte. Und nicht zuletzt müssen die Rahmenbedingungen vereinfacht und um zusätzliche Anreize für eine qualitätsorientierte Versorgung erweitert werden. Insbesondere sollten DMP-Verträge auf Bundesebene geschlossen und Maßnahmen zur Evaluation und Qualitätssicherung kassenartübergreifend und bundesweit vereinheitlicht werden.
Lohnt sich eine Modernisierung der DMP überhaupt noch oder ist der Ansatz mittlerweile nicht mehr zeitgemäß?
Hager: Im Gegenteil: Wir haben einen enormen Erkenntnisfortschritt darüber gewonnen, wie Lebensstilinterventionen und ein strukturiertes Selbstmanagement Menschen dazu befähigt, mit ihrer chronischen Krankheit umzugehen und ihre Alltagsroutinen an ihre spezifische Krankheitssituation anzupassen. Im telemedizinischen Lebensstil-Interventions-Programm TeLIPro konnte beispielsweise nachgewiesen werden, wie Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 durch telemedizinische Betreuung und Coaching eine signifikante Reduktion des HbA1c, Gewichtsreduktion sowie eine Verbesserung der kardiovaskulären Risikofaktoren erreichten. Bei einem Teil der Patientinnen und Patienten führte die Teilnahme an dem Programm sogar zu einer Diabetesremission.
Dennoch nimmt der Anteil von Menschen mit chronischen Erkrankungen weiter zu.
Hager: Das stimmt. Schätzungsweise 40 Prozent der Bevölkerung haben zwischenzeitlich eine oder mehrere chronische Erkrankungen. Und die Krankheitslast steigt, sogar in früheren Lebensjahren. Laut einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover hat sich der Anteil adipöser Menschen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren im Zeitraum von 2004 bis 2020 fast verdoppelt. Das ist besorgniserregend, da Adipositas weitere Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck begünstigt und uns daher vor zukünftige Versorgungsherausforderungen stellt. Dabei ist das soziale Gefälle besonders erschreckend: Besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind betroffen und diese Gruppen werden auch in der Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Gerade diese Menschen profitieren daher am meisten von einer strukturieren Behandlung, die zudem „niedrigschwellig“, also attraktiv und erreichbar sein muss.
Was muss konkret passieren?
Hager: Hier müssen wir im Gesundheitswesen eine „Extra-Meile“ gehen und eine Neuausrichtung der DMP ebnet diesen Weg dorthin. Dazu gehören im Übrigen auch klarere und stärkere Anreize oder sogar Verpflichtungen zur Teilnahme für alle Beteiligten. In dieser Ausrichtung sind DMP ein Kernelement eines solidarischen Gesundheitssystems.
Wie muss das Versorgungsystem aufgestellt sein, damit eine gute Versorgung chronisch kranker Patienten zukünftig sichergestellt ist?
Hager: Unsere Gesundheitsversorgung ist noch immer nicht ausreichend auf die Anforderungen einer Gesellschaft des längeren Lebens eingestellt. Chronische Erkrankungen sind eng mit Lebensstil und Alter verbunden und begleiten Menschen Jahre und Jahrzehnte. Unser Gesundheitssystem ist aber ereignisbezogen und reaktiv – dann, wenn eine Erkrankung eskaliert. Wir brauchen daher neue Versorgungskonzepte, die proaktiv auf Patientinnen und Patienten zugehen und ihr soziales Umfeld einbeziehen. Gesunderhaltung rückt in die Mitte der Gesellschaft – und verbindet Menschen; Gesundheit betrifft uns alle. Wir sollten viel mehr pädagogisch denken – gerade dort, wo wir Menschen heute nicht erreichen. Zudem muss die Versorgung multiprofessionell und einrichtungsübergreifend ineinandergreifen. Solche Netzwerke sollten nicht nur klassische Akteure der Gesundheitsversorgung und Pflege einbeziehen, sondern auch den Bereich der Sozialversorgung und des Quartiersmanagements. Und zu guter Letzt müssen wir frühe Risikofaktoren ernst nehmen und von dort systematisch in passende Angebote überleiten.
Dem Institut zufolge stellt die EMA in ihrem Papier richtig fest, dass Studien ohne Vergleichsarm mit Verzerrungen einhergehen und kausale Effekte auf dieser Basis im Allgemeinen kaum abgeschätzt werden können. Allerdings vermissen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klare Kriterien, welche die Zulassung auf Basis solcher Studien auf äußerst seltene Ausnahmesituationen begrenzen.
Als positives Beispiel nennt das IQWiG einen im Februar veröffentlichten Leitfaden der Food and Drug Administration (FDA) in den USA. „Die FDA sagt klipp und klar, dass die Chancen, nur mit einer externen Kontrolle die Wirksamkeit eines Arzneimittels nachzuweisen, nicht gut stehen, und rät nachdrücklich zu einem Studiendesign mit interner Kontrolle – auch für seltene Erkrankungen“, betont Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. Die US-Behörde benenne auch konkrete Situationen, in denen extern kontrollierte Studien generell ungeeignet sind – zum Beispiel, wenn der natürliche Verlauf der Krankheit nicht hinreichend bekannt ist oder stark variieren kann. Wieseler fordert, dass die EMA diese Punkte in ihr Reflexionspapier aufnehmen sollte.
Laut IQWiG können einarmige Studien in seltenen Fällen die Sicherheit und Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffs gut genug belegen, um von Regulierungsbehörden eine Marktzulassung zu erhalten. Aber wenn es um den tatsächlichen Einsatz in einem Gesundheitssystem gehe, muss der Wirkstoff mit bereits verfügbaren Behandlungsoptionen verglichen werden – und zwar möglichst bald. Wieseler: „Dazu sollte man von Anfang an auf Studien setzen, die sowohl für die Zulassung als auch für die Einordnung in die Versorgungslandschaft mittels eines Health Technology Assessments (HTA) geeignet sind.“ Es könne nicht um einen beschleunigten Marktzugang an sich gehen, sondern um einen zügigen evidenzbasierten Zugang in die Versorgung zum Nutzen der Patientinnen und Patienten.
Weiterführender Link:
Reflexionspapier der EMA: „Single-arm trials as pivotal evidence for the authorisation of medicines in the EU“
https://www.ema.europa.eu/en/news/single-arm-trials-pivotal-evidence-authorisation-medicines-eu
Der Mediziner kritisiert: „Wir arbeiten in alten Strukturen, die sich nie wirklich an eine veränderte Versorgungsrealität angepasst haben und bewegen uns auf eine Versorgungskrise zu, die mittlerweile mehr braucht als kleine Weichenstellungen.“
In dem siebenseitigen Whitepaper definiert der ärztliche Nachwuchs Leitplanken für eine gute Gesundheitsversorgung. Überschrieben ist die Publikation mit dem Motto „Vieles muss sich verändern – auch wir“. Die Autoren verlangen eine strategische Zukunftsgestaltung, kein bloßes Taktieren oder Feinjustierungen. Wichtig sei auch eine klare Kommunikation, die alle Beteiligten einbezieht, heißt es in dem Papier.
Zu den Leitplanken der Versorgung von morgen gehören unter anderem interprofessionelle Teams. Zum Stichwort zeitgemäßes Arbeiten fallen die Stichwörter Digitalisierung, KI, Klimaresilienz und Ökologie. Dem zunehmenden Arbeitsdruck solle mit Innovation und Veränderungsbereitschaft begegnet werden. Dazu heißt es unter anderem: „Wir fordern eine klar strukturierte, funktionsfähige Entlastung, die Raum für Weiterbildung und gute Versorgung schafft.“ Das könne unter anderem durch Umverteilung, Umstrukturierungen und klügere Einsetzung des vorhandenen Personals ermöglicht werden. Die Arbeitgeber im Gesundheitswesen müssten noch vielmehr als bisher neue Arbeitsmodelle und moderne Arbeitsmöglichkeiten etablieren, um zukünftig konkurrenzfähig zu sein. Zusätzlich müsse der technische Fortschritt auch in der Versorgung ankommen und die Tätigkeit der dort Arbeitenden entlasten. Das komme am Ende allen qualitativ zugute.
Das Whitepaper adressiert darüber hinaus sehr grundsätzliche Themen. Die Ärzte unterstreichen beispielsweise, dass Medizin und Gesundheitsversorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Daseinsvorsorge verstanden werden müssen. Kritisch merken die Autoren an, dass die solidarische Versorgung in einer „immer mehr egozentrisch orientierten Gesellschaft“ in den Hintergrund gerate. Sie appellieren, dass Gesundheit nicht separat behandelt werden dürfe, sondern in allen Aspekten mitzudenken sei.
Weiter heißt es, dass eine gute Medizin auch ohne ökonomische Zwänge funktioniere. Zurzeit habe die Ökonomie das Gesundheitswesen in „zu vielen Bereichen“ fest im Griff. Zwar widerspreche gewinnorientiertes Denken nicht per se dem medizinisch Notwendigen. „Es lenkt dieses aber zu oft, bestimmt die reale Versorgung und schränkt die Möglichkeiten ein, dem Berufsethos entsprechend Medizin machen zu können.“ Eine junge Generation lerne bereits, Indikationen anhand ihrer Abrechnungsfähigkeit zu stellen. Zwingend erforderlich sei, die Rahmenbedingungen wieder in Einklang mit den Wert- und Lebensvorstellungen der Mediziner zu bringen.
Weiterführender Link:
Whitepaper „Die Grundsätze der medizinischen Versorgung von morgen aus Sicht der jungen Ärztinnen und Ärzte“
https://www.hartmannbund.de/wp-content/uploads/2023/10/2023-10-04_Whitepaper.pdf
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Der Wissenschaftler von der Universität zu Köln adressiert auf der Veranstaltung mehrere Herausforderungen, die der Fonds zu künftig zu meistern hat. Pfaff fragt beispielsweise: „Wird die Umsetzung und damit die machtpolitische und gesellschaftliche Akzeptanz von neuen Versorgungsformen bei der Planung und Antragstellung genügend mitbedacht?“ Eine weitere Frage vom ehemaligen Vorsitzenden des Fonds-Expertenbeirats lautet: „Leistet die evidenzbasierte Medizin (EbM) einem Strukturkonservatismus Vorschub und erschwert damit die Einführung von Versorgungsinnovationen?“
Pfaff mahnt eine bessere theoretische Fundierung der geplanten neuen Versorgungsformen im Innovationsfonds an. Derzeit basierten viele Projekte auf Ideen oder einer „gefühlten Plausibilität“ und seien damit bereits durchsetzungsfähig. Damit werde die Macht des Narrativs missachtet. Pfaff: „Wir brauchen Theorien als Landkarten, die uns zeigen, wo es ungefähr sinnvoll ist, etwas zu planen“. Randomisierte klinische Studien verführten dazu, einfach zu machen.
Der Versorgungsforscher empfiehlt daher einen Dreiklang aus erstens Theoriearbeit (Identifizierung nützlicher Theorien und Ableitung möglicher Kausalmechanismen zur Erklärung eines Phänomens oder von Interventionswirkungen), zweitens EbM+ (Überprüfung von Thesen über Kausalmechanismen durch mechanistische Studien) sowie drittens EbM (Durchführung von künstlichen und natürlichen Experimenten, um die Wirksamkeit einer Maßnahme/Implementierungsstrategie zu ermitteln). Außerdem plädiert er dafür, dass bei Innovationsfondsprojekten in Zukunft die in dem gegebenen Gesundheitssystem bestmögliche Evidenz angestrebt werden solle. Die höchste Evidenz solle dabei als Richtschnur dienen.
Im Folgenden stellt Dr. Ursula Marschall, Forschungsbereichsleiterin Medizin und Versorgungsforschung des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung, klar, dass die teils bestehenden Selektivverträge zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen nur eine temporäre Lösung darstellten. „Ziel muss es aber sein, die Regelversorgung zu verbessern“. Dr. Johannes Bruns (DKG) mahnt eine höhere Verbindlichkeit für die jeweils adressierten Institutionen an, den Empfehlungen des Innovationsausschusses zu folgen. Zudem sollten längere Förderzeiträume ermöglicht werden.
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„Wenn gesundheitspolitisch nicht gegengesteuert wird, droht eine Unterversorgung im kinderorthopädischen Bereich“, sagt Prof. Maximilian Rudert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). Systematisch setzt sich mit dem Thema eine wissenschaftliche Arbeit auseinander, die eine Wirtschaftlichkeitsanalyse hüftrekonstruierender Eingriffe in der Kinderorthopädie erstellt. Die Autorengruppe um Kinderorthopädin Dr. Katharina Gather beleuchtet die Versorgung von Kindern mit Schädigungen im zentralen Nervensystem. Die sogenannte „neurogene Hüftdezentrierung“ behindert bei den Betroffenen Mobilität, Pflegefähigkeit und Lebensqualität. Mit einer speziellen Operationstechnik können orthopädische Chirurgen Hüftgelenke bereits im Wachstum wieder neu einstellen und dadurch Schmerzen verringern, Beweglichkeit verbessern und auch die frühzeitige Entstehung von Gelenkverschleiß verhindern. Die Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg gilt als eine der führenden Einrichtungen für diese hochspezialisierten Operationen. Gather hat die wirtschaftliche Bilanz der lebensverbessernden Operationen wissenschaftlich aufgearbeitet. Demnach sind solche Eingriffe im DRG-System nicht kostendeckend durchführbar. Die Kliniken blieben am Ende auf vielen hundert Euro an Kosten sitzen.
Prof. Tobias Renkawitz, Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg, verlangt daher eine grundsätzliche Neuberechnung der Prozeduren in der ambulanten und stationären Kinderorthopädie. Diese müsse den tatsächlichen Aufwand der Einrichtungen realistisch abbilden. Anders könne trotz Vorhaltepauschalen nicht sichergestellt werden, dass Familien „auch zukünftig Zugang zu einer adäquaten kinder- und jugendorthopädischen Versorgung erhalten“.
Einige Wochen später gibt die Krankenhaus-Regierungskommission eine Empfehlung zur Kindermedizin ab. Demnach soll das künftige Vorhaltebudget für die Leistungsgruppen von Pädiatrie und Kinderchirurgie dauerhaft um einen Aufschlag von bis zu 20 Prozent der bisherigen aDRG-Erlösvolumina der Fachabteilungen der operativen und konservativen Kinder- und Jugendmedizin erhöht werden.
Weiterführender Link:
Solidarität mit Kindern und Menschen mit Behinderung?
Eine Wirtschaftlichkeitsanalyse hüftrekonstruierender Eingriffe in der Kinderorthopädie
https://link.springer.com/article/10.1007/s00132-023-04381-7
Im Jahr 2022 wurden insgesamt 1.966 Nierentransplantationen durchgeführt, 1.431 Nieren wurden nach postmortaler Organspende übertragen, 535 Nieren nach einer Lebendspende. Demgegenüber gab es 2.407 Anmeldungen auf die Warteliste. Rund 6.700 Patientinnen und Patienten warteten Ende 2022 auf eine Nierentransplantation. Die Nephrologen sprechen mit Blick auf die Zahlen der vergangenen zehn Jahre von einer auf niedrigem Niveau stagnierenden Spendebereitschaft. Kampagnen und persönliche Informationsbriefe der Krankenkassen führten keine Trendwende herbei. Auch die Umstrukturierungsmaßnahmen in den Kliniken und die Besserstellung der Transplantationsbeauftragten ließen einen nennenswerten Erfolg vermissen.
Die DGfN fordert daher die Widerspruchslösung, welche zügig zu einer „nachhaltigen Verbesserung“ führen könne. Dabei ist jeder per se ein Organspender, es sei denn, er widerspricht. Derzeit ist es in Deutschland umgekehrt: Wer seine Organe nach seinem Ableben spenden möchte, muss das dokumentiert beziehungsweise den Angehörigen mitgeteilt haben. Doch die Diskrepanz zwischen der Zahl der Menschen, die pro Organspende sind, und der, die das auch tatsächlich dokumentiert haben, sei hoch. „Von insgesamt circa 4.000 Menschen, die einen Hirntod erleiden, spendet im Endeffekt nur circa jeder vierte“, sagt DGfN-Pressesprecherin Prof. Julia Weinmann-Menke.
Sie verweist auf das Beispiel Niederlande, wo die Widerspruchslösung seit einigen Jahren praktiziert wird. Laut einer Auswertung aus 2022 haben 31 Prozent der Bürgerinnen und Bürger bisher widersprochen und möchten ihre Organe nicht spenden. 45 Prozent seien mit der Organspende explizit einverstanden. „Wenn bei uns der Anteil der Spenden nach Hirntod allein durch die Widerspruchslösung von 25 auf 40 Prozent steigen würde, kämen wir in den Bereich, dass wir fast so viele Spenderorgane haben, wie benötigt werde“, erläutert Weinmann-Menke.
Kritik kommt auch von Prof. Rainer Blasczyk, Kongresspräsident der 56. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie. Ihm zufolge werden die Tests für die Verträglichkeitsbewertungen von Organspenden immer präziser und moderner. Dennoch bringen sie den Patientinnen und Patienten hierzulande keinen Fortschritt. „Denn in Deutschland müssen Patienten nehmen, was sie kriegen können, egal wie schlecht die Verträglichkeit ist.“
Betroffen von der Knappheit sind im vergangenen Herbst Kinder und Erwachsene, die selbst nicht ausreichend Immunglobuline bilden können, um sich vor Infektionen zu schützen. Dabei handelt es sich um Menschen mit angeborenen Immundefekten oder Patienten mit bestimmten Krebserkrankungen wie der chronisch lymphatischen Leukämie oder des Multiplen Myeloms, die dauerhaft oder vorübergehend auf eine Antikörper-Therapie angewiesen sind.
[caption id="attachment_7409" align="aligncenter" width="1200"]Rückblende: Die Versorgung mit Immunglobulinen, die aus menschlichem Blutplasma gewonnen werden, gerät im vergangenen Jahr aufgrund pandemiebedingter Lieferkettenprobleme ins Stocken. Hinzu kommt, dass deutlich weniger Blutplasma gespendet wird. Dann stoppt Octapharma, ein Hersteller in Deutschland, im Juni 2022 die Lieferung seines neuen Immunglobulin-Präparats. Als Grund nennt das Unternehmen Rabattforderungen des GKV-Spitzenverbandes. Dadurch könne das neue Präparat nur unter Herstellungskosten vertrieben werden. „Durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine sind die Rohstoff- und Herstellungskosten erheblich gestiegenen – und steigen weiter. Ein Vertrieb unter den Herstellungskosten ist aus nachvollziehbaren Gründen wirtschaftlich nicht möglich“, teilt die Firma noch in einem Update vom 18. August 2022 mit.
Im Herbst wird die Versorgungslücke für die Betroffenen deutlich spürbar: Tausende Patientinnen und Patienten müssen zusehen, wie sich die Regale in den Apotheken leeren. Die Apothekerinnnen und Apotheker fangen an, die Mengen zu reduzieren und die Abgabe zu stückeln. Patientenorganisationen schlagen angesichts verzweifelter Anrufe – insbesondere von Eltern betroffener Kinder – Alarm. Viele fürchten, dass die Immunglobulin-Präparate ganz ausgehen könnten.
Der öffentliche Druck wirkt offenbar: Kurz vor Weihnachten verabschiedet der Bundestag das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Darin enthalten ist eine fachfremde Regelung, welche Immunglobuline menschlicher Herkunft vom sogenannten erweiterten Preismoratorium im Fall von Neuzulassungen beziehungsweise einer neuen EU-Genehmigung für das Inverkehrbringen ausnimmt. Rückwirkend ab dem 31. Dezember 2018 entfalle damit auch die Preisfestsetzung durch das Vorgängerpräparat, erläutert das Bundesgesundheitsministerium auf Nachfrage. Octapharma hebt daraufhin im Januar den Lieferstopp für sein neues Präparat auf. An seiner Kritik an den verordneten Medikamenten-Rabatten hält das Unternehmen jedoch fest: Es würde in keinem anderen Wirtschaftszweig „derartige Forderungen“ erhoben. „Dies trifft die Hersteller von plasmatischen Produkten in besonderem Maße aufgrund überproportional hoher Rohstoff- und Herstellungskosten“, betont die Firma.
Der Gesetzgeber reagiert außerdem im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Dieses führt eine Ausnahme vom erweiterten Preismoratorium ein: Hersteller können sich vom Abschlag für Arzneimittel ganz befreien lassen, „wenn für das in den Markt eingeführte Arzneimittel eine neue arzneimittelrechtliche Genehmigung erteilt wurde, die im Vergleich zu bereits zugelassenen Arzneimitteln mit demselben Wirkstoff eine neue Patientengruppe oder ein neues Anwendungsgebiet erfasst, und wenn eine Verbesserung der Versorgung zu erwarten ist“, teilt das BMG der Presseagentur Gesundheit mit. Im Fall einer Bewilligung vereinbart der GKV-Spitzenverband mit dem pharmazeutischen Unternehmer einen neuen Herstellerabgabepreis für das Arzneimittel.
Eine dritte Reaktion erfolgt im Rahmen des im Juni verabschiedeten ALBVVG. Dieses sieht die Möglichkeit vor, die Preismoratoriums-Preise für versorgungskritische Arzneimittel anzuheben. Zum 1. Juli werden außerdem die Basispreise im Zuge des Inflationsausgleichs beim Preismoratorium um 6,9 Prozent angehoben. Das eröffnet den Herstellern die Möglichkeit, Preise abschlagsneutral auch um bis zu 6,9 Prozent anzuheben. Abschläge, die bereits bestehen, da die Abgabepreise oberhalb der Basispreise liegen, werden durch Anhebung der Basispreise entsprechend gemindert oder fallen weg. „Dies wird einer weiteren Entlastung der Hersteller dienen“, ist das Ministerium überzeugt.
Die aktuelle Lage sieht folgendermaßen aus: Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bezeichnet die Versorgung von Immunglobulin-Präparaten im Juni noch als „angespannt, aber grundsätzlich gedeckt“. Zu diesem Zeitpunkt sind sieben Immunglobulin-Präparate nicht lieferbar. Diese Situation dürfte künftig häufiger eintreten. Die Bundesregierung muss bezüglich der Versorgung mit Blutplasma-Präparaten bereits einräumen, dass auch ohne Pandemie künftig mit gewissen Unwägbarkeiten zu rechnen ist. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion Ende vergangenen Jahres erläutert sie die Gründe dafür: Zum einen steige der Verbrauch an Immunglobulin-Präparaten in Deutschland seit zehn Jahren – aufgrund von Indikationserweiterungen, verbesserter Diagnostik und ansteigenden Diagnosen. Prognosen des PEI zufolge wird der Bedarf jährlich um acht Prozent wachsen. Zum anderen wirken sich rückläufige Plasmaspenden aus den USA aus. Eine konkrete Zahl nennt die Regierung in ihrer Antwort nicht, aber laut Octapharma werden rund 40 Prozent des europäischen Blutplasmabedarfs mittels US-Importen gedeckt. Hinzu kommt, dass es nicht klar sei, in welche Länder die global agierenden Hersteller ihre Immunglobulin-Präparate in den Verkehr bringen, führt die Regierung aus. Langfristig werden die Hersteller von Blutplasmaprodukten ihre Präparate dorthin verkaufen, wo sie dauerhaft gute Preise erzielen werden – zum Beispiel in die USA oder ins europäische Ausland, befürchtet der Immunologe und Kinderarzt Prof. Volker Wahn, ehemals Charité. Mehr Blutplasmaspenden in Europa und vor allem in Deutschland sind ihm zufolge unerlässlich, um eine stabile Versorgung zu sichern.
Das BMG lässt bereits seit einiger Zeit von einer eigens gegründeten Arbeitsgruppe „Blut“ ausloten, wie das Spendenaufkommen in Deutschland gesteigert werden kann. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ruft zum Blutspendetag 2023 erstmals gezielt zum Spenden von Blutplasma auf. Nach Wahns Ansicht reicht eine solche Kampagne aber nicht aus. Die Anforderungen an die Plasmaspendezentren sollten verschlankt werden, fordert er im Interview des Monats (Link am Ende des Beitrages). Außerdem sei das ganze Spendenprozedere umzukrempeln, ist der Experte überzeugt. So müsse durch deutlich höhere Aufwandsentschädigungen das Spenden attraktiver gemacht werden.
Das dürften noch dicke Bretter sein, die dafür gebohrt werden müssen.
Weiterführender Link:
Interview des Monats mit Prof. Volker Wahn: Wegen Engpässen: Rutschen wir in eine Sparmedizin?
https://www.gerechte-gesundheit.de/debatte/interviews/uebersicht/detail/interview/104.html
Dass es bei der Implementierung von Leitlinien im Versorgungsalltag noch Luft nach oben gibt, zeigt der auf einer Pressekonferenz vorgestellte Versorgungs-Report des WIdO anhand von mehreren Beispielen.
Beispiel Herzinfarkt: Den AOK-Routinedaten zufolge erhalten Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt meist die in den Leitlinien vorgesehenen Medikamente wie Statine oder Blutverdünner. Die Daten offenbaren aber deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. „Frauen sind schlechter versorgt als Männer. Sie erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren“, sagt Christian Günster, der beim WIdO die Qualitäts- und Versorgungsforschung leitet. Bei älteren Frauen ab 80 Jahren liege die Behandlungsrate fast zehn Prozent niedriger als bei Männern des gleichen Alters.
Beispiel Restless-Legs-Syndrom: In der aktuellen Leitlinie wird die Behandlung mit dem Medikament Levodopa aufgrund von hohen Risiken nicht mehr empfohlen. Die WIdO-Analyse zeigt, dass etwa ein Viertel der diagnostizierten Patientinnen und Patienten dennoch eine Dauertherapie mit diesem Mittel erhalten. „30 Prozent aus dieser Gruppe wurden sogar länger als zwei Jahre damit therapiert“, kritisiert Günster. Möglicherweise betrieben viele Betroffene zudem „Ärztehopping“, um an das Präparat zu gelangen. „Hier gibt es noch viel zu tun, um eine leitliniengerechte Arzneimittel-Therapie zu erreichen“, betont der Versorgungsforscher.
Beispiel Kontroll-Koronarangiographien nach Erweiterungen der Herzkranzgefäße mit einem Ballonkatheter (PCI): Hierzu gebe es seit 2016 eine Negativ-Empfehlung. Der routinemäßige diagnostische Herzkatheter wird nicht mehr empfohlen, wenn nicht zu erwarten ist, dass daraus eine therapeutische Konsequenz folgt. Hier erkennt Günster ein Umsteuern. Seit Veröffentlichung der neuen Empfehlungen sei es zu einem deutlichen Rückgang bei den Kontroll-Koronarangiographien gekommen.
Der WIdO-Experte spricht von einer „sehr gemischten“ Bilanz zur Leitlinien-Umsetzung in der Praxis. Auf dem Podium diskutieren die Expertinnen und Experten daher verschiedene Ansätze für eine raschere Implementierung. Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband, nennt insbesondere eine „gut aufgeräumte Krankenhauslandschaft mit klar verteilten Aufgaben“. Eine Erfolgsgeschichte seien die zertifizierten Krebszentren. Im ambulanten Setting sieht der AOK-Vertreter vor allem die mangelnde Transparenz zur Behandlungsqualität als Schwierigkeit.
Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, vom Bundestag im November 2019 verabschiedet, hat der Gesetzgeber der Leitlinienerstellung bereits einen deutlichen Booster verpasst: Die Erstellung oder Aktualisierung kompletter Leitlinien kann über Mittel des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert werden. Außerdem kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit Evidenzrecherchen beauftragt werden. Dr. Monika Nothacker weiß diese Unterstützung zu schätzen. Die stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) beschreibt in der Pressekonferenz die Anforderungen, welche bei der Leitlinienerstellung zu beachten sind. Dazu zählen die repräsentative Beteiligung, auch von Betroffenen-Organisationen, die formale Evidenzbasierung sowie die strukturierte Konsensfindung. Das sei viel Arbeit, was auch für die Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen gelte – „da hinken wir immer hinterher“, räumt Nothacker ein.
Fortschritte erkennt sie dagegen bei der Verbreitung von Leitlinien. Fachgesellschaften publizierten mittlerweile Kurz- und Langversionen sowie Patientenfassungen. Außerdem werden Leitlinien inzwischen auf großen Kongressen vorgestellt und in Qualitätsmanagementsysteme integriert. „Wir sind außerdem sehr dahinter her, dass die Leitlinien auch digital an den Point of Care kommen“, meint Nothacker. Allerdings gebe es dafür viele Hürden. Bereits 2021 hat die AWMF eine nationale Strategie gefordert, um evidenzbasiertes Wissen in digitale Gesundheitsanwendungen, Patienteninformationen oder Arztinformationssysteme zu integrieren.
Mehr zu Weiterentwicklungsmöglichkeiten von Leitlinien ist in dem Versorgungsreport „Leitlinien – Evidenz für die Praxis“ nachzulesen. Nothacker, Prof. Jörg Meerpohl, Prof. Holger Schünemann und Prof. Ina B. Kopp gehen in einem gemeinsamen Aufsatz unter anderem auf „Living Guidelines“ ein. Ziel sei es, diejenigen Empfehlungen zu identifizieren, die eine häufige Aktualisierung benötigen – zum Beispiel alle zwei bis vier Monate – und dafür Evidenzrecherchen in kurzen Abständen durchzuführen. Bislang wurden die meisten „Living Guidelines“ im Kontext der Corona-Pandemie erstellt. Dabei spielte die strukturierte Zusammenarbeit zwischen universitären Teams und Leitliniengruppen eine wichtige Rolle, schreiben sie. „Die erfolgreiche Zusammenarbeit kann als mögliche Blaupause für künftige Entwicklungen evidenzbasierter Leitlinien gesehen werden.“
Eine noch weitergehende Vision sind digitale Leitlinienformate, die eine Einpassung in ein digitales „Evidenz-Ökosystem“ mit direkter Anbindung an die Nutzenden ermöglichen. Dessen Kern, so beschreiben es die Experten, sei ein strukturiertes Datenformat für alle Produkte, das einen ungehinderten Austausch von Versorgungs- und Studiendaten erlaubt – „bis hin zur ‚Übersetzung‘ in allgemeinverständliche Formate“. Als Voraussetzung dafür nennen die Wissenschaftler gemeinsame Plattformen, Schnittstellen sowie einen Willen und eine Kultur des Teilens. Bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein.
DEAL und die dynamische Evidenzaktualisierung
Mit der Aktualisierung von Leitlinien beschäftigt sich das Projekt DEAL des Innovationsfonds. Die Abkürzung steht für „Dynamische Evidenzaktualisierung für Aktuelle Leitlinienempfehlungen“. Das Projekt untersucht und bewertet die Machbarkeit eines digital unterstützten „Living Recommendations“-Prozesses. Der DEAL-Prozess beinhaltet die systematische Identifizierung, Bewertung und Aufbereitung neuer Evidenz zu ausgewählten Leitlinien- und Impfempfehlungen mit hohem Aktualisierungsbedarf („HAP-Empfehlungen“) in kurzen Intervallen mit anschließender Entscheidungsfindung zu möglichen Empfehlungsänderungen. In einem zweiten Projektteil wird eine Kriterienliste für die Identifizierung von Leitlinienempfehlungen mit hoher Aktualisierungspriorität entwickelt. Das Projekt wird für 21 Monate mit insgesamt circa 629.000 Euro gefördert.
Weiterführender Link:
Christian Günster, Jürgen Klauber, David Klemperer, Monika Nothacker, Bernt-Peter Robra, Caroline Schmuker (Hrsg.), WIdO, Versorgungs-Report Leitlinien – Evidenz für die Praxis, PDF, 311 Seiten
https://mwv-open.de/site/books/10.32745/9783954668007/download/9414/
Das verrät BMBF-Staatssekretärin Judith Pirscher kürzlich auf dem Krebs-Kongress Vision Zero. Der Politikerin zufolge wird das Thema Survivorship ähnlich wie die Prävention noch immer zu wenig betrachtet: „Der Forschungsbedarf ist groß.“ Immer mehr Menschen in Deutschland leben mit einer Krebserkrankung oder haben diese überstanden. In der Dekade wollen sich die Expertinnen und Experten künftig mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Mit welchen Langzeitfolgen haben die Patientinnen und Patienten zu kämpfen? Was wünschen sich Langzeit-Überlebende? Welchen Einfluss hat die Krebserkrankung auf sie und auf ihre Angehörigen? Das Problem besteht Pirscher zufolge insbesondere darin, dass es nur unzureichende Daten gibt oder dass diese nicht strukturiert genutzt werden können – „und genau hier werden wir ansetzen“, verspricht die Staatssekretärin.
Das Datenproblem treibt sie um. In der Forschung und Versorgung generiere man heute so viele Daten wie nie zuvor, aber als Entscheidungsgrundlage für Diagnose und Therapie werde nur ein kleiner Teil davon genutzt – ein viel zu kleiner Teil. „Das wollen und müssen wir ändern, gerade im Hinblick auf die Krebsbehandlung der Zukunft, die ganz stark auf personalisierte Therapien setzen wird“, meint die Politikerin und verweist beispielhaft auf das Projekt PM4Onco, das im Rahmen der Medizininformatik-Initiative umgesetzt wird (siehe Infokasten). Sie will außerdem gezielt mit Datenschützern das Gespräch suchen – zum Beispiel auf deren Fachkonferenzen. Die Szene schätzt die Politikerin, die selbst einmal stellvertretende Landesbeauftragte für Datenschutz des Landes Nordrhein-Westfalen gewesen ist, als „sehr abgekapselt“ ein. „Datenschutz darf kein Verhinderungsinstrument sein für das, was wir dringend nötig haben“, sagt Pirscher und appelliert: „Wir müssen an jeder Stelle den gesellschaftlichen Diskurs führen.“
Ihr Plan löst bei Prof. Michael Baumann, dem Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), und bei der Patientenvertreterin Ulla Ohlms spürbar Erleichterung aus. „Wir sagen ja immer etwas frech, dass Datenschutz etwas für Gesunde ist“, erzählt letztere. Das sei natürlich ein bisschen übertrieben. „Aber wir hätten es gerne eine Nummer kleiner.“ Patienten wünschten sich, dass ihre Daten in große Datenbanken und -pools eingespeist werden, damit durch Algorithmen und KI daraus etwas entstehen könne, um Krebs besser zu behandeln oder sogar zu heilen. Dieser Wille von Ärzten, Forschern, Patienten und Krankenkassen müsse in die „Datenschutz-Bürokratie“ eindringen, verlangt die Vorstandsvorsitzende von PATH, einer Stiftung von Brustkrebspatientinnen.
Ähnlich argumentiert Baumann, der auf repräsentative Umfragen verweist, wonach Patienten die Forschung mit ihren Daten befürworteten. Aber die Datenschützer hörten „offensichtlich nicht, was die Betroffenen sagen“, kritisiert der Mediziner. Letztlich könne der Datenschutz aber nur das repräsentieren, „was wir als Gesellschaft wollen und da frage ich mich, ob der politische Druck aus der Gesellschaft und ganz speziell von Patientinnen und Patientin hoch genug ist“.
Staatssekretärin Pirscher ist trotz der komplexen Gemengelage optimistisch. Sie glaubt sogar, dass Gesundheitsdaten der Treiber sein könnten, um den Datenschutz zu ändern, denn: „Im Gesundheitsbereich ist dieses überbordende Schützen eigentlich ein Vernachlässigen.“ Ein weiteres Argument liefert Dr. Ruth Hecker, die zu bedenken gibt, dass der Datenschutz darauf ausgerichtet sei, Sicherheitslücken zu erkennen und zu schließen. „Aber es gibt viel, viel größere Sicherheitslücken in der Versorgung der Patientin und Patienten, weil wir eben den Datenschutz haben“, sagt die Vorstandsvorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Das werde allerdings nicht gleichberechtigt diskutiert. Sie empfiehlt, die Probleme anhand praktischer Beispiele auf Augenhöhe gegenüberzustellen.
Vieles spricht dafür, dass der Umgang mit Daten einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren für die Dekade sein wird. Nach dem Jahrzehnt sollte Deutschland eine „Spitzenposition in Krebsforschung und -versorgung“ einnehmen. So formuliert DKFZ-Chef Baumann die Zielmarke. Das Format der Dekade hat Pirscher allerdings schon jetzt überzeugt: Es gebe für zehn Jahre eine klare Priorisierung. Auch werde das Thema aus politischen Streitigkeiten herausgehalten und die verschiedenen Akteure hätten Gelegenheit, „in Ruhe“ miteinander zu arbeiten. Vor einem inflationären Einsatz rät sie jedoch ab: Eine Dekade für dieses und jenes sollte es nicht geben.
[caption id="attachment_7463" align="alignleft" width="800"]Innovationen in die Klinik bringen
Auf dem Krebskongress Vision Zero verkündet der DKFZ-Vorstandsvorsitzende Prof. Michael Baumann schlechte Nachrichten: Bei der klinisch-translationalen Krebsforschung, bei der es darum geht, Innovationen in die Klinik zu bringen, bestehe großer Nachholbedarf. Die gute Nachricht: Diese Situation werde durch die Erweiterung des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) „gezielt angegriffen“, wie es der Wissenschaftler ausdrückt. Neben Heidelberg und Dresden wird es vier neue Standorte geben. Damit arbeiteten elf Universitätsklinika und das DKFZ zusammen, um Innovationen zur klinischen Anwendung zu bringen. Die Mission des erweiterten NCT sei nicht nur Forschung, sondern auch der faire Zugang zu Studien und Innovationen in ganz Deutschland, stellt Baumann klar. Förderbeginn sei am 1. Juni gewesen, man befinde sich damit in der Phase der Implementierung, und „wir haben das Versprechen abgegeben, dass Ende dieses Jahrzehntes dieses NCT mit einer weltweit einmaligen Struktur komplett implementiert ist“.
Personalized Medicine for Oncology
Ziel von PM4Onco ist es, die IT-technischen Grundlagen zur Etablierung der personalisierten Medizin in der Krebsbehandlung zu legen, um an Krebs erkrankten Patientinnen und Patienten eine bestmögliche, individuell angepasste und somit möglichst wirksame Therapie zu bieten. Indem sämtliche Datenquellen zusammengebracht werden – etwa aus der genetischen Diagnostik, der standardisierten Tumordokumentation, der Vorgeschichte der Betroffenen und letztlich dem Verlauf der Erkrankung nach der Therapie – kann der gesamte Krankheitsverlauf für die Wissenschaft und damit für viele weitere und künftige Erkrankte nutzbar gemacht werden.
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Weiterführender Link:
Mehr Informationen über das Projekt
https://www.uniklinikum-dresden.de/de/das-klinikum/universitaetscentren/zentrum-fuer-medizinische-informatik/leistungen/pm4-onco
Für erstaunlich wenig öffentlichen Widerhall sorgt im März eine Erklärung des Forums Gesundheitsforschung. Dabei hat es diese in sich. Das Forum, ein hochrangiges Beratungsgremium des Bundesforschungsministeriums im Bereich der Lebensforschung, proklamiert in dem Dokument, dass es „sinnvoll und notwendig“ sei, die aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten als Partner in der patientenorientierten Gesundheitsforschung „als Standard“ zu etablieren. Eine für alle Seiten gewinnbringende Patientenbeteiligung erfordere einen Kulturwandel bei allen Akteuren und strukturelle Änderungen auf vielen Ebenen, heißt es weiter.
Die Erklärung ist ein wichtiges Signal, Patienten nicht länger lediglich als „Rohstofflieferant“ für Studien zu sehen, sondern sie als Partner anzuerkennen, die neue Perspektiven auf den Forschungsgegenstand eröffnen. Dr. Sarah Weschke vom QUEST Center des Berlin Institute of Health liest an der neunseitigen Erklärung sogar einen Bewusstseinswandel ab. „Vor einigen Jahren wäre eine solche Erklärung noch undenkbar gewesen“, glaubt die Leiterin des Teams Patient & Stakeholder Engagement. Im internationalen Vergleich und vor allem im Unterschied zum englischsprachigen Raum, wo sich die Forschungsbeteiligung von Patienten bereits seit Längerem etabliert hat, besteht in Deutschland noch viel Nachholbedarf. Allerdings gibt es auch hierzulande einige Leuchtturmprojekte wie den Patientenbeirat Krebsforschung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ). Das 13-köpfige Gremium unterstützt den Stiftungsvorstand und die Wissenschaftler des DKFZ dabei, mit ihren Erfahrungen die Erwartungen der Patienten besser und umfassender zu verstehen und macht auf unvorhergesehene Risiken, Hindernisse und Folgen bei der Umsetzung von Forschungsvorhaben aufmerksam.
Weitere Good-Practice-Beispiele hat das Forum Gesundheitsforschung in einer Auflistung zusammengestellt. Die immerhin 17 Seiten umfassende Übersicht kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ernstgemeinte Integration von Patientenvertretern in Forschungsprojekte kein Selbstläufer ist. „Die Forschenden benötigten Flexibilität, Geduld und Ergebnisoffenheit, denn die Einbeziehung von Betroffenen kann den gesamten Forschungsprozess umkrempeln“, weiß Weschke. Sie bildet seit einigen Jahren Forscherinnen und Forscher – unter anderem von Universitätskliniken – zu diesem Thema fort. Außerdem hat sie die Publikation „Aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsforschung“ (siehe Grafik unten) mitverfasst, die im Mai erschienen ist.
Das Heft gibt einen Überblick zu verschiedenen Beteiligungskonzepten wie Partizipative Gesundheitsforschung und Citizen Science. Zur bekanntesten Form der aktiven Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsforschung gehört demnach das aus Großbritannien stammende Format Patient and Public Involvement beziehungsweise Patient Engagement. In Deutschland habe sich bislang weder ein einheitlicher Begriff noch eine konsentierte Definition etabliert, konstatieren die Autorinnen. Als Minimaldefinition sprechen sie von einem Mitspracherecht von Patientinnen und Patienten, ihren Angehörigen oder Vertretungen in mindestens einer Phase eines Forschungsprozesses. Das bedeutet: „Sie sind aktiv an der Planung, Durchführung, Auswertung, Interpretation und/oder der Dissemination eines Forschungsprojekts beteiligt. Denn nur wenn der Input von Patientinnen und Patienten auch einen Einfluss auf den Verlauf eines Forschungsprozesses hat, kann von wirklicher Beteiligung gesprochen werden“, heißt es in der Publikation. Diese versteht sich als „Heranführung“ für klinisch Forschende an das Thema, von einem Leitfaden mag QUEST-Mitarbeiterin Weschke ausdrücklich nicht sprechen. Zwar wünschten sich viele Forschende Checklisten und ähnliches, aber einen „One fits it all“-Ansatz gebe es aufgrund der Heterogenität sowohl von Beteiligungsformen als auch von Forschungsvorhaben nicht.
Patienten als Forschungspartner
Eine seriöse Kooperation erfordert nicht nur Fortbildungen für Forschende, sondern auch für Patienten. „Damit Patientenvertreter zu ‚Forschungspartnern‘ werden können – ist es für sie wichtig zu lernen, wie Forschung funktioniert und welche ‚Fachsprache‘ Mediziner und Forscher verwenden“, bringt die Patienten Experten-Akademie für Tumorerkrankungen (PEAK) den Schulungsbedarf auf den Punkt. PEAK organsiert regelmäßig Seminare und Workshops, im September beschäftigt sich eine Veranstaltung beispielsweise mit Forschungsethik in der Medizin. Schulungen für Betroffene bietet außerdem die europäische Patientenakademie EUPATi sowie das Zentrum für Kompetenzentwicklung in der Krebs-Selbsthilfe an. Letzteres ist bei der Stiftungsprofessur Selbsthilfeforschung am Universitätsklinikum Freiburg angesiedelt.
Viel Aufwand ist das alles, es ist jedoch allgemeiner Konsens, dass diese Investitionen sich für die Forschung auszahlen. Die Mitglieder des Forums Gesundheitsforschung sind etwa davon überzeugt, dass eine frühe und aktive Beteiligung die Qualität der Forschung steigern, Forschungsfragen relevanter machen, den Transfer der Ergebnisse in der Praxis unterstützen, Patienteninteressen stärken und Akzeptanz von Forschung in der Gesellschaft erhöhen könnte.
Ähnlich wird es bei der Dekade gegen Krebs formuliert. Die 2019 gegründete und vom Bundesforschungsministerium unterstützte Initiative hat sich die Patientenbeteiligung groß auf die Fahnen geschrieben. Die Forschenden lernten dadurch eine andere Sichtweise auf ihr Forschungsfeld kennen und erhielten wertvolle Einblicke in die „Bedürfnisse, Sorgen und Nöte von denjenigen, zu deren Wohl sie forschen“. Aus Befragungen sei bekannt, dass Patientinnen und Patienten manchmal andere Dinge wichtig sind als den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Die Einschätzung, dass Patienten mitunter andere Prioritäten setzen, teilt Bernd Crusius ausdrücklich. Den Betroffenen liege vor allem die Lebensqualität und die Verbesserung der Versorgung am Herzen, so der Geschäftsführer des Hauses der Krebs-Selbsthilfe in Bonn. Ebenso wie Weschke bemerkt auch er ein allmähliches Umdenken. Die zunehmende Bereitschaft, Patienten in Forschungsprozesse einzubinden, macht er unter anderem an den stetig steigenden Kooperationsanfragen an das Haus der Krebs-Selbsthilfe fest. Derzeit ist die gesamte Organisation in 260 Aktivitäten der Patientenbeteiligung involviert. Patienten müssen auf Forschung, die sie betrifft, Einfluss haben, gemäß dem Leitbild „Nichts über uns ohne uns!“, betont Crusius.
Auch die Art der Beteiligung hat sich weiterentwickelt. Noch im letzten Jahr sind „Last Minute“-Anfragen keine Seltenheit gewesen: Forschende baten am Tag vor der Abgabe ihres Antrages in einem hektischen Telefonat um einen Letter of Intent der Selbsthilfe. Eine Aufwandsentschädigung für die Betroffenen war in diesen Anträgen fast nie enthalten. Solche Anfragen erlebt Crusius mittlerweile kaum noch. Verbesserungspotenzial sieht er aktuell insbesondere bei der frühzeitigeren Einbindung der Betroffenen. Ideal wäre es, wenn die Patientenvertreter bereits beim Studiendesign involviert werden, etwa wenn es um die Auswahl geeigneter Endpunkte geht und nicht erst „am Ende der Kette“, sagt er. Crusius stört auch, dass es in Deutschland noch immer keine einheitlich geregelte finanzielle Kompensation für die Patientenbeteiligung an Forschungsprojekten gibt, wie es in anderen Ländern schon gute Praxis ist. Diese Defizite dürften in die Kategorie Kulturwandel und strukturelle Änderungen fallen, die das Forum Gesundheitsforschung in seiner Erklärung so nachdrücklich eingefordert hat.
Welche Hürden erschweren derzeit eine stärkere Beteiligung von Patientinnen und Patienten an der Forschung?
Weschke: Auch wenn es in den letzten Jahren wichtige Entwicklungen in Richtung mehr Beteiligung gab, ist dieser Ansatz in Deutschland noch nicht selbstverständlich und in den meisten Einrichtungen der Gesundheitsforschung fehlt es an ausreichenden Strukturen und Ressourcen für die Unterstützung von Beteiligungsaktivitäten. Auch sind Forschende – aber auch Patientenorganisationen – häufig noch nicht genügend über das Thema informiert: Viele wissen nicht, was unter aktiver Beteiligung verstanden wird und wie man diese so umsetzen kann, dass sie einen Mehrwert bestenfalls für alle Beteiligten und die Forschung bietet. Teilweise wird sogar noch angenommen, die bloße Teilnahme an einer Studie oder Befragung sei schon „aktive“ Beteiligung, oder wenn eine Patientenorganisation bei der Rekrutierung für eine Studie hilft, ohne darüber hinaus eine aktive Rolle oder ein Mitspracherecht im Forschungsprozess zu haben.
Welche Vorbehalte bestehen seitens der Wissenschaftler aber auch seitens Patienten, wenn es um eine Einbeziehung von Betroffenen in die Forschung geht?
Weschke: Weil Beteiligungsprozesse insbesondere zu Beginn mehr Zeit und Ressourcen kosten, kann es Vorbehalte von Forschenden geben: Sie werden gewöhnlich aufgrund ihrer Publikationen und Mitteleinwerbungen bewertet. Somit kann sich Beteiligung sogar negativ auswirken, selbst wenn sie das Potenzial hat, die Forschung zu verbessern, die Relevanz für Betroffene zu erhöhen und damit die Translation in die Praxis zu fördern. Auch aufgrund fehlender Informationen zum Thema kommt es vor, dass Forschende eine Patientenorganisation kurz vor einer Einreichungsfrist kontaktieren und um ein Unterstützungsschreiben für einen Antrag bitten. Wenn dann keine weitergehende Einbindung erfolgt, führt das zu Enttäuschung bei den Organisationen, die vielleicht bei der nächsten Anfrage weniger motiviert sind, sich einzubringen. Weiterbildungsangebote für Forschende, aber auch für interessierte Patientinnen und Patienten können dabei helfen, Vorbehalte abzubauen und die jeweiligen Perspektiven, Wünsche und Erwartungen kennenzulernen und zu verstehen.
Wie kann mehr Patientenbeteiligung an der Forschung hierzulande realisiert werden? Und was können wir in dieser Hinsicht von anderen Ländern lernen?
Weschke: Neben der Integration in Förderausschreibungen ist es wichtig, dass sich Forschungsinstitutionen zu mehr Beteiligung bekennen, entsprechende Unterstützungsstrukturen schaffen und hierfür Ressourcen und Personal bereitstellen. Erfreulicherweise hat das Forum Gesundheitsforschung vor einigen Monaten eine Erklärung zur Patientenbeteiligung veröffentlicht, in der die Mitglieder konkrete Schritte zur Institutionalisierung von Beteiligung benennen. Außerdem sollte sich die Patientenbeteiligung positiv auf die Bewertung von Forschenden-Karrieren auswirken. Sonst könnte sie als zusätzliche Bürde empfunden werden, die nur umgesetzt wird, weil Mittelgeber das plötzlich verlangen. Hier hilft ein Blick nach Großbritannien, wo mitunter diskutiert wird, inwiefern aktive Beteiligung eher als „tick box exercise“ umgesetzt oder so gestaltet wird, dass sie sich leicht quantifizieren lässt. Bedauerlicherweise kann das dazu führen, dass die Anzahl von Workshops wichtiger wird als deren Themen oder der Einfluss von Patientinnen und Patienten auf den Forschungsprozess. Von diesen Erfahrungen können wir tatsächlich lernen und bereits zu Beginn Begleitforschung zu dem Thema etablieren, zum Beispiel zur Entwicklung von Qualitätskriterien und zur Messung von Wirkungen, die auch qualitative Aspekte berücksichtigen.
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Zur Person
Dr. Sarah Weschke leitet bei QUEST das Projektteam Patient & Stakeholder Engagement (PSE). Das QUEST Center for Responsible Research ist am Berlin Institute of Health in der Charité angesiedelt. Die Diplom-Psychologin arbeitete vorher als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin an der Universität Rostock am interdisziplinären Department „Altern des Individuums und der Gesellschaft“; Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Zusammen mit Antje Schütt und Eva Müller Fries hat sie folgende Publikation verfasst: „Aktive Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsforschung – eine Heranführung für (klinisch) Forschende“.
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Wie kann medizinische Forschung durch die Beteiligung von Patientinnen und Patienten verbessert werden?
Kerek-Bodden: Patienten müssen auf Forschung, die sie betrifft, Einfluss haben, gemäß dem Leitbild „Nichts über uns ohne uns!“. Egal, wie kompliziert Wissenschaft auch sein mag: Betroffene bieten immer eine einzigartige Sicht auf das jeweilige Thema. Durch die Erfahrung mit ihrer Erkrankung wissen Krebspatienten am besten, was für sie wirklich wichtig ist und wie ihre Hauptziele, die qualitätsgesicherte Versorgung und die Lebensqualität zu verbessern, erreicht werden können.
Auf welchen Ebenen der Forschungsbeteiligung von Betroffenen sehen Sie hierzulande den größten Nachholbedarf?
Kerek-Bodden: Wir brauchen in Deutschland dringend einen Kulturwandel hin zu „Patienten als Forschungspartner“. Und dies zunächst bei der Patientenbeteiligung in der Entwicklung klinischer Studien. Die frühe Einbeziehung Betroffener mit ihrer einzigartigen Expertise ermöglicht die bessere Berücksichtigung von Patientenprioritäten und -erfahrungen, was zu relevanteren und patientenzentrierten Studien führt. Dies wiederrum wird bessere Studienergebnisse und Behandlungsmöglichkeiten für unsere Patienten bringen.
Wie bewerten Sie die momentane Situation?
Kerek-Bodden: Obwohl mittlerweile immer mehr Patienten in klinischen Studien beteiligt sind, gibt es noch viel Luft nach oben. In der Onkologie liegt die Quote bei circa acht Prozent. Daher ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben für und mit der Krebs-Selbsthilfe die Aus- und Weiterbildung von Patientenvertretern, um eine flächendeckende Patientenbeteiligung in der Forschung konsequent zu verwirklichen. Das Haus der Krebs-Selbsthilfe Bundesverband arbeitet seit 2021 gemeinsam mit dem Zentrum für Kompetenzentwicklung in der Krebs-Selbsthilfe der Uni Freiburg an der Entwicklung und Erprobung von digitalen Schulungs- und Fortbildungsangeboten. Des weiteren unterstützen wir die nationale Patienten-Experten-Akademie für Tumorerkrankungen (PEAK), die Patientenvertretende mit ihrem Kursangebot darauf vorbereitet, ihre gelebten Erfahrungen und ihre Expertise in das deutsche Gesundheitssystem einzubringen.
Welche konkreten Forschungsprojekte mit Patientenbeteiligung haben für Sie hierzulande Vorbildcharakter?
Kerek-Bodden: Im isPO-Projekt, einem Modellprojekt für die sektorenübergreifende Psychoonkologie in Deutschland, waren über das Haus der Krebs-Selbsthilfe – Bundesverband Patientenvertretende in allen Projektphasen integriert und in den Forschungsprozess eingebunden, um neue Untersuchungs- und Betreuungsformen für an Krebs erkrankte Menschen zu entwickeln.
Gibt es weitere?
Kerek-Bodden: Aktuell ist die Initiative zum Aufbau einer bundesweiten Plattform zur „Medizinischen Genomsequenzierung“ (genomDE) ein Leuchtturmprojekt, eine bundesweite Exzellenz-Initiative mit führenden Forschungsinfrastrukturen der Genommedizin. In genomDE arbeiten einschlägige medizinische Netzwerke, Fachgesellschaften mit Patientenvertretungen von Anfang an zusammen mit dem Ziel, die Nutzung genomischer Information zum innovativen Bestandteil der Regelversorgung in Deutschland zu machen.
Zur Person
Hedy Kerek-Bodden ist Vorsitzende des Hauses der Krebs-Selbsthilfe – Bundesverband. Zu den zehn bundesweit organisierten Selbsthilfeverbänden, die im Haus der Krebs-Selbsthilfe vereint sind, gehört auch die Frauenselbsthilfe Krebs. In diesem Verein engagiert sich Hedy Kerek-Bodden bereits seit 2013 und ist aktuell dessen Vorstandsvorsitzende. Im Strategiekreis der Nationalen Dekade gegen Krebs beleuchtet sie den Blickwinkel der Betroffenen und setzt sich für die Interessen der Patientinnen und Patienten ein.
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Weiterführender Link:
Weitere Informationen zum isPO-Projekt der Uniklinik Köln
https://webstatic.uk-koeln.de/im/dwn/pboxx-pixelboxx-235998/patientenbeteiligung-ispo-cio.pdf
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Die Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass Deutschland bei den Ausgaben für das Gesundheitssystem zwar auf den vorderen Plätzen liege, bei der Lebenserwartung jedoch zu den Schlusslichtern gehöre. Die Wissenschaftler haben die Lebenserwartung in sechs Ländern mit hohem Einkommen verglichen. Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede: In den bestplatzierten Ländern (Frauen: Spanien, Männer: Schweiz) werden die Menschen im Durchschnitt mehrere Jahre älter als in Deutschland. Hierzulande ist vor allem die erhöhte Anzahl von Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auffällig.
Die DEGAM ist auch deshalb alarmiert, weil in Deutschland überdurchschnittlich viele Ärztinnen und Ärzte arbeiteten. Gleichzeitig gebe es mehr Krankenhaus- und Intensivbetten als in fast allen anderen Vergleichsländern. DEGAM-Präsident Prof. Martin Scherer erwähnt außerdem ein krasses Missverhältnis: „Die Anzahl der Arztkontakte pro Person ist extrem hoch – aber die Zeit pro Patienten, um gesundheitsförderndes Verhalten zu besprechen, viel kürzer als in den verglichenen Ländern.“ Die Fachgesellschaft fordert daher mehr Prävention. Dringend nötig sei es insbesondere, die sprechende Medizin aufzuwerten, damit den Hausärztinnen und -ärzten mehr Zeit für Gesundheitsberatung insbesondere für Risikopatienten zur Verfügung steht.
Echte Prävention müsse zudem viel stärker als gesellschaftspolitische Aufgabe gesehen werden, denn der Anteil übergewichtiger und adipöser Menschen sei überdurchschnittlich hoch, zudem seien Alkohol- und Zigarettenkonsum höher als in den Vergleichsländern. Auch bewegten sich die Deutschen zu wenig. Die Fachgesellschaft schlägt vor, eine Zuckersteuer und ein Werbeverbot für Tabakprodukte einzuführen. Auch Raucherentwöhnung als Kassenleistung, die Subventionierung von gesunder Ernährung in Kindergarten und Schule sowie mehr Sportangebote für jede Altersstufe seien „längst überfällige Schritte“. Nur so könne in Deutschland bei der Lebenserwartung zumindest den internationalen Durchschnitt erreichen.
Stichwort Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Die Fachgesellschaft geht davon aus, dass die kardiovaskuläre Krankheitslast auch medikamentös effektiver reduziert werden könne. Dr. Uwe Popert von der DEGAM wird konkret und verlangt, dass bei Menschen mit hohem absoluten und relativen Herzinfarkt-Risiko verstärkt Statine verschrieben werden sollten. In Deutschland liege die Indikationsgrenze derzeit bei einem 20-prozentigen Risiko, dass innerhalb von zehn Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis – zum Beispiel Herzinfarkt – auftritt. Im europäischen Ausland befinde sich die Schwelle meist bei zehn Prozent. Auch hierzulande sollte man diesen Wert insbesondere für Jüngere bei zehn Prozent ansetzen, um eine problematische Verzögerung der Behandlung zu vermeiden.
Weiterführender Link:
Quellen: „The underwhelming German life expectancy“ in: European Journal of Epidemiology
https://link.springer.com/article/10.1007/s10654-023-00995-5
Wiederholte Schocks wie die Pandemie und die von ihr ausgelöste Wirtschaftskrise hätten offengelegt, dass Gesundheitssysteme und -institutionen auf allen Ebenen akut unterfinanziert seien, heißt es in dem Policy Brief. Auch klimabedingte Krisen zeigten, dass Gesundheitssysteme flexibler, widerstandfähiger und gerechter werden müssen. Die Autoren sehen eine „seltene Gelegenheit für ein radikales Überdenken“ der Strukturen und Verfahren der Finanzierung der internationalen Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich. Konkret empfehlen sie, dass Deutschland als „honest broker“ unter anderem mit Regierungen in Partnerländern, regionalen und globalen Entwicklungspartnern und dem Privatsektor daran arbeiten sollte, stabilere Bedingungen für Investitionen privater Unternehmen in gesundheitsbezogenen Lieferketten zu schaffen. Auch sollte sich die deutsche Regierung dafür einsetzen, dass die Investitionen des Privatsektors mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 in Einklang stehen und zu der Zielsetzung „Gesundheit für Alle“ beitragen. Die laufenden Bemühungen um eine Umstrukturierung der globalen Gesundheitsfinanzierungsarchitektur seien zu unterstützen, sodass neben den Gesundheitsministerien auch Regierungschefs in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen werden.
Vorausgegangen ist den Empfehlungen ein Impulsdialog im Hub, an dem unter anderem Prof. Jayati Ghosh, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Massachusetts in Amherst, teilgenommen hat. Sie betont ausdrücklich, dass Gesundheit nicht nur in die Zuständigkeit der Gesundheitsministerien falle, sondern auch in die der Finanzministerien, der Infrastrukturministerien, der Sozialministerien et cetera. Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist auch Mitglied des WHO Council on the Economics of Health For All. Sie verlangt: „Wir müssen unser Verständnis von Gesundheit und auch unsere Wirtschaftssysteme entsprechend ändern.“
Hub und Healthy
Der Global Health Hub Germany und Healthy DEvelopments organisieren gemeinsam Impulsdialoge zu globalen Gesundheitsthemen. Die Dialoge werden vom Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert. Der Hub wurde 2019 gegründet, um die verschiedenen Akteure in einem unabhängigen Netzwerk zusammenzubringen und damit die Global Health Aktivitäten in Deutschland effizienter zu gestalten. Das Webportal Healthy DEvelopments ist eine gemeinsame Initiative des BMZ, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und der KfW Entwicklungsbank.
Dieses Mal werden zwei erste Preise ausgezeichnet. Das Projekt „Open med“ in München betreibt der Verein „Ärzte der Welt“: Ärztinnen und Ärzte kümmern sich ehrenamtlich um die medizinische Versorgung von Menschen, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Wie interprofessionelle Zusammenarbeit in benachteiligten und strukturschwachen Stadtvierteln gelingen kann, zeigt das Projekt Stadtteilgesundheit in Berlin-Neukölln und Hamburg-Veddel. Dort werden die Menschen nicht nur behandelt, sondern auch ihre krankmachenden Lebensumstände in den Blick genommen. Beide Erstplatzierten erhalten ein Preisgeld von je 20.000 Euro.
Der Berliner Gesundheitspreis rückt Projekte in den Fokus, die richtungsweisende Ansätze zur Vernetzung zwischen sozialen und gesundheitlichen Akteuren entwickelt und umgesetzt haben. Dafür bedürfe es einer „gesamtgesellschaftlichen Anstrengung“, um das Recht auf gleiche Gesundheitschancen, gesundheitsförderliche Lebensgrundlagen, zielgruppenspezifische Angebote und einen niederschwelligen Zugang zur Gesundheitsbildung und -versorgung für alle Menschen gleichermaßen und nachhaltig zu stärken, hebt der AOK-Bundesverband hervor. Er verleiht den Innovationspreis gemeinsam mit der Berliner Ärztekammer seit 1996.
Mit Sonderpreisen prämiert die interdisziplinär besetzte Jury dieses Mal die „Sozialberatung in Arztpraxen in Berlin-Lichtenberg“ und die „SGB-übergreifende familienorientierte Versorgung für von psychischen- und Suchterkrankungen betroffene Familien“. Das Angebot in Lichtenberg bietet niederschwellig Hilfe für Patienten bei Problemen, die sozialer und nicht medizinischer Natur sind. Hausärzte vermitteln ihre Patienten in kritischen Lebenslagen direkt an Sozialberater, die in der Arztpraxis erreichbar sind. Vorhandene Strukturen der medizinischen Versorgung werden mit kommunalen Angeboten zusammengeführt.
Das SGB-übergreifende Projekt will dem Spießrutenlauf der Zuständigkeiten diverser Sozialgesetzbücher begegnen. Das bundesweit agierende Kooperationsnetzwerk steht damit vor einer komplexen Aufgabe und befindet sich noch im Aufbau. Ziel ist es, die Hilfesysteme quer über die SGB-Grenzen hinweg durch Kooperationen zu vernetzen. Für Betroffene ist es derzeit kaum möglich, die ihnen zustehenden Leistungen abzufragen und die nötige Hilfe zu bekommen. Im Zentrum der Initiative stehen Kinder und Jugendliche, deren Eltern psychisch erkrankt oder suchtkrank sind.
Beide Sonderpreise sind mit 5.000 Euro ausgezeichnet.
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Das Institut wurde vor immerhin acht Jahren gegründet. Jetzt will Heidecke die Qualitätssicherung zielgerichteter weiterentwickeln. Im Mai hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das IQTIG beauftragt, ein Konzept zu entwickeln. Es geht darum, kontinuierlich und systematisch relevante Qualitätsdefizite und Verbesserungspotenziale zu identifizieren. „Da können wir zeigen, wo offene Flanken im Gesundheitswesen sind“, so Heidecke auf dem Symposium. Die Beauftragung umfasst beispielsweise eine raschere Entwicklung von Qualitätsindikatoren in einem eng begrenzten Versorgungsausschnitt. Das IQTIG will mit einem kontinuierlichen datenbasierten Monitoring Versorgungsbereiche mit relevanten Qualitätsdefiziten erkennen und priorisieren. „Dadurch können in Zukunft Verbesserungspotenziale deutlich schneller erkannt werden“, schreibt das Institut in einer Mitteilung. Das IQTIG will dem G-BA seine Empfehlungen bis zum 31. Januar 2025 vorlegen. Die Beauftragung ist ein weiterer Schritt, um das vom G-BA im vergangenen Jahr beschlossene Eckpunktepapier zur Weiterentwicklung der datengestützten gesetzlichen Qualitätssicherung umzusetzen. Der Ausschuss will, dass Aufwand und Nutzen der datengestützten gesetzlichen Qualitätssicherung besser zusammenpassen.
Als Erfolgsstory gelten dagegen die Brustkrebszentren, die seit 20 Jahren von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) zertifiziert werden. Mittlerweile wurde dieses System auf fast alle Tumorarten ausgeweitet. „Als wir vor 20 Jahren das Zertifizierungssystem mit den ersten Brustkrebszentren gestartet haben, war noch nicht abzusehen, wie sehr das die onkologische Versorgung prägen würde“, sagt PD Dr. Simone Wesselmann von der DKG auf einem Jubiläumssymposium in Juni. Die Erfolge seien enorm. Studien belegten unter anderem, dass die Behandlung in zertifizierten Zentren im Vergleich zur Behandlung in nicht-zertifizierten Einrichtungen zu deutlichen Überlebensvorteilen der Patientinnen und Patienten führt, weniger Komplikationen auftreten und die Begleit- oder Spätfolgen der Behandlung und der Erkrankung milder ausfallen. Außerdem wurde bereits exemplarisch für Darmkrebszentren gezeigt, dass in Zentren niedrigere Behandlungskosten entstehen. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach bekräftigt anlässlich des Symposiums seine Unterstützung für das Zertifizierungssystem: „Die Exzellenz der Brustkrebszentren hat vielen Frauen das Leben gerettet.“
Zertifizierte Zentren sind Netzwerke aus stationären und ambulanten Einrichtungen, in denen alle an der Behandlung beteiligten Fachrichtungen eng zusammenarbeiten. Die Zentren bilden den gesamten tumorspezifischen Patientenpfad ab: Von der Früherkennung, über Diagnostik und Therapie bis hin zur Nachsorge und Palliation. Mittlerweile können Krebspatienten sich europaweit in über 1.900 zertifizierten Zentren behandeln lassen.
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Allerdings stuft der Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen die Gefahr, dass von der optimalen Behandlungsstrategie abgewichen wird, bei einer investorenbetriebenen ärztlichen Einrichtung tendenziell größer ein als bei einem niedergelassenen Arzt. Limitierend wirke jedoch, dass solche Abweichungen im Zentrum gegenüber den angestellten Ärztinnen und Ärzte durchgesetzt werden müssen und auch rufschädigend wirken könnten. Wasem empfiehlt bei der Vergütung auf Mischsysteme zu setzen, um ökomische Anreize besser austarieren zu können. „Es gibt kein Vergütungssystem, das keine Anreizwirkung bewirkt.“ Außerdem sollte stärker in die Qualitätssicherung investiert werden, um ökonomisch fehlgeleitete Entscheidungen besser erkennen zu können.
Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), attestiert dem GKV-System zahlreiche Fehlanreize: Gutes ärztliches Handeln werde nicht gefördert. Ein Arzt, der sich gründlich kranken Menschen widme, werde nicht belohnt. Es bestehe daher sehr großer Reformbedarf. Zwischen guten und schlechten Gewinnen will Reinhard nicht unterschieden, sondern vielmehr zwischen Ökonomisierung und Kommerzialisierung. Letzteres sei ein deutlich weitgehender Begriff. Wesentliches Gewinnstreben dürfe nicht im Vordergrund stehen, meint der BÄK-Präsident, der jedoch einräumt, dass sich Ärzte ökonomischen Zwängen stellen müssten. Diese könnten nicht gänzlich ausgeblendet werden. „Ökonomisches Verhalten muss man von uns bis zu einem gewissen Grad erwarten können.“
Der Medizinethiker Prof. Giovanni Maio, Universität Freiburg, betont bei der Diskussionsrunde, dass die Medizin kein Gewerbe sei. Ärzte dürften daher nicht in Konstellationen arbeiten, in denen sie bei jeder Entscheidung in einen Rollen- und Zielkonflikt hineinsteuern. Vor diesem Hintergrund bezeichnet er die 20 Jahre DRG-System im Krankenhaus als einen „Kardinalfehler“. Bei einer Durchkapitalisierung ärztlicher Tätigkeit bestehe die Gefahr, dass eine gute Versorgung der Bevölkerung gar nicht mehr angestrebt werde, sondern stattdessen eine Fokussierung auf lukrative Eingriffe stattfinde. Als Beispiel für eine solche Entwicklung nennt Maio die Augenheilkunde. „Die Ausrichtung der Medizin am Wohl des Patienten darf nicht etwas Fakultatives sein“, lautet sein Fazit.
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Damit das auch zukünftig so bleibt, müssen gewaltige Herausforderungen gemeistert werden. Für den nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) ist das Problem, Personal für die Pflege zu finden, momentan das drängendste. Pflegeexperte Prof. Heinz Rothgang von der Universität Bremen ergänzt, dass die Engpässe auch Assistenz- und Hilfskräfte betreffen. „Wir haben Probleme, das Personal auf allen Qualifikationsstufen zu mobilisieren“, sagt er. Die Folgen stellt Laumann für das bevölkerungsreichste Bundesland unverblümt dar: Es gebe mittlerweile in fast allen Regionen des Landes Wartelisten – sowohl für die stationäre als auch für die ambulante Pflege. „Wer im System ist, hat eine Versorgung, aber viele Leute warten sehr oder zu lange, bis sie einen Platz in diesem System finden.“ Der Politiker verschweigt nicht, dass das offizielle System ohne die osteuropäischen Betreuungskräfte, deren Arbeit teilweise in einer Grauzone stattfindet, zusammenbrechen würde. Die Zahl der Personen, die einen Pflegegrad bekommen, habe sich in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen vier Jahren um 25 Prozent gesteigert.
Seit Beginn dieses Jahres können Pflegedienste nur noch mit den Pflegekassen abrechnen, wenn sie einen Tarifvertrag haben. Kostensteigerungen von bis zu 30 Prozent, über die ebenfalls auf der Veranstaltung diskutiert wird, gebe es nur bei jenen Diensten, die vorher keinen Tarifvertrag gehabt hätten, klärt Laumann auf und betont: „Pflege muss tariflich bezahlt werden, sonst kommen wir nie aus der Diskussion heraus, dass die Pflege attraktiver sein soll.“ Auf der anderen Seite brauche es aber auch eine diesen Kostensteigerungen entsprechende Erhöhung der Leistungen in der ambulanten und stationären Pflege.
Auch über die angespannte finanzielle Lage der sozialen Pflegeversicherung wird bei der Veranstaltung intensiv diskutiert. Für mehr Steuerzuschüsse gibt es momentan nicht viel Spielraum. Von einem „Kampf um staatliche Ressourcen“ spricht etwa Laumann und nennt beispielhaft die Stichwörter Klimawandel, Sondervermögen und Wohngeldreform. Auch habe sich der Staat in der Pandemie – etwa mit Impfungen und Kurzarbeitergeld – bereits sehr solidarisch gezeigt. An der Beitragsschraube kann ebenfalls nicht viel gedreht werden. Beitragserhöhungen treffen insbesondere jene mit wenig Lohn, warnt der Sozialpolitiker. Und außerdem gibt es ja auch noch die kritische Zielmarke von 40 Prozent, welche die Sozialversicherungsbeiträge nicht übersteigen sollten. Johannes Pöttering, Hauptgeschäftsführer von unternehmer nrw, spricht von einer Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. „Nicht alles, was sozialpolitisch wünschenswert wäre, ist am Ende auch ökonomisch darstellbar.“
Demgegenüber geht der Pflegeexperte Rothgang auf die steigenden Eigenanteile ein. Im ambulanten Setting bestehe die Konsequenz oft darin, dass Leistungen von den Pflegebedürftigen nicht mehr in Anspruch genommen werden. Stationär liege die durchschnittliche Zuzahlung mittlerweile bei mehr als 2.500 Euro monatlich. „Und das bei Renten, die für einen männlichen Arbeitnehmer in Westdeutschland etwa halb so hoch liegen.“ Der Wissenschaftler erinnert daran, dass die Pflegeversicherung eingeführt wurde, um eine pflegebedingte Verarmung zu verhindern – „genau das leistet die Pflegeversicherung nicht mehr“. Gut ein Drittel der Heimbewohnenden seien Sozialhilfeempfänger. Rothgang weist auf kostentreibende Faktoren, wie etwa eine höhere Entlohnung von Pflegekräften, hin. Den nächsten Kostensprung erwartet er bereits im Sommer, wenn mit der zweiten Umsetzungsstufe des Personalbemessungsverfahrens die Einrichtungen mehr Stellen refinanziert bekommen. Das PUEG hält nach seiner Einschätzung die Situation bis zum Ende der Legislatur unter Kontrolle. „Aber spätestens dann sind wir wieder ganz dicht vor der Wand, gegen die wir fahren.“
Den anwesenden Bundestagsabgeordneten ist die dringliche Problemlage bewusst. Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, berichtet, dass sich Pflegebedürftige und pflegende Angehörige zunehmend alleingelassen fühlten – „immer mehr Bürokratie, alles komplizierter und kaum Entlastung vor Ort“. Die SPD-Politikerin sieht daher die Kommunen in einer Schlüsselfunktion. „Hierfür notwendige strukturelle und finanzielle Fragen müssten dringend angegangen werden.“ Ebenso wichtig sei die Modernisierung des Leistungskataloges der Pflegeversicherung. Auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink, räumt Nachbesserungsbedarf ein. Ihrer Ansicht nach muss die soziale Pflegeversicherung mit Priorität behandelt werden. „Sie wird schon jetzt nur durch Vorziehen verschiedener Maßnahmen über Wasser gehalten, das trägt aber nicht mal bis zum Jahresende.“
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Wer Veranstaltungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen besucht, erlebt ein Wechselbad der Gefühle: Euphorie ob der weitreichenden medizinischen Möglichkeiten, die Gesundheitsdaten verheißen, Aufbruchstimmung und Begeisterung für die neuen Möglichkeiten wechseln sich ab mit tiefer Resignation aufgrund der bisherigen Fehlschläge und mangelnder Vernetzung, bisweilen sogar Hilflosigkeit.
[caption id="attachment_7309" align="aligncenter" width="1200"]Eigentlich soll Olaf Scholz Ende März beim Forschungsgipfel über Blockaden und Chancen bei Energie und Gesundheit sprechen. Doch der Bundeskanzler muss sich um Blockaden in den eigenen Reihen, nämlich im Koalitionsausschuss, kümmern. Eine Ironie, die auch Hubertus Heil nicht verborgen bleibt, den Scholz als Ersatz schickt. Der Arbeitsminister vergleicht die momentan stattfindenden Transformationsprozesse mit der ersten industriellen Revolution. „Das ist die ganz große Mission, an der wir arbeiten müssen.“ Er erwähnt Gremien wie den Zukunftsrat und die Allianz für Transformation, spricht von Aufbruch, Zukunftsfähigkeit und der Innovationskraft Deutschlands. „Speed matters“, heißt es in der Rede des Ministers, die den Schwerpunkt eher auf Energie und weniger auf Gesundheit legt. Allerdings erwähnt Heil das zwischen dem Gebot der Datensparsamkeit und Big Data bestehende Spannungsverhältnis. Ein neues Konzept für Datensouveränität werde gebraucht, sagt der Politiker, der sich entschlossen gibt. „Wenn man will, geht das. Und wenn man will, geht das sogar schnell“, sagt er an anderer Stelle.
Weitaus ernüchternder klingt der Impuls des Vorsitzenden der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) Prof. Uwe Cantner auf dem Gipfel. Der Volkswirt konstatiert: Die aktuelle Bundesregierung, aber auch ihre Vorgänger, haben ein Problem mit der Umsetzung komplexer gesellschaftlicher Transformationsvorhaben. Dies sei insbesondere vor dem Hintergrund der Digitalisierung verschiedener Bereiche sehr gravierend. Es brauche viele Maßnahmen von verschiedenen politischen Akteuren, die sequenziell, parallel und in einer bestimmten politischen Konsistenz zueinander aufgesetzt werden müssen. Zahlreiche Akteure seien einzubinden und die Rahmenbedingungen anzupassen. Dafür gebe es keinen Königsweg, dieser Prozess sei mit vielen Unsicherheiten verbunden, weshalb Cantner die notwendige Bereitschaft herausstellt, Planungen zu verändern und in neue Richtungen aufzubrechen. Wichtig sei, dass die Regierung dafür besondere Governance-Strukturen aufsetzt – „das ist bisher nicht gelungen“.
Kritisch bemerkt Cantner zu diversen Strategien: „Die lesen sich alle sehr schön, da werden schöne Zukünfte beschrieben.“ Er vermisst jedoch einen entscheidenden Punkt – die operative Umsetzung: „Wie bringt man das Ganze auf die Straße?“, fragt der Wirtschaftswissenschaftler. In seinem Vortrag stellt er daher exemplarisch eine Roadmap für einen „Datenraum Gesundheit in der deutschen Gesundheitswirtschaft“ (siehe Abbildung am Ende der Seite) vor. Diese skizziert grob den Umsetzungsweg, beschreibt Meilensteine sowie Reflexionszonen und markiert kritische Stellen des Prozesses. Das Beispiel Gesundheitswirtschaft liegt für Cantner deshalb auf der Hand, weil „wir dort ein erhebliches Defizit feststellen“. Er merkt an, dass zu diesem Thema bereits 2017 und 2020 Strategiepapiere aufgesetzt worden seien. In jüngster Zeit habe die Bundesregierung drei Strategien dazu formuliert: Die Digitalstrategie des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr enthalte dazu Passagen, dann die jüngst vorgestellte Digitalstrategie des Bundesgesundheitsministerium. Cantner nennt außerdem die Zukunftsstrategie Forschung und Innovation. Zwar verwiesen die Publikationen aufeinander, aber einen gemeinschaftlichen und integrierten Ansatz vermag der EFI-Vorsitzende nicht zu erkennen.
Über konkrete Schritte diskutieren, um das „nächste Level“ der Gesundheitsforschung zu erreichen, will auch der forschende Arzt Prof. Tobias B. Huber vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Dass der Zeitpunkt dafür mehr als reif ist, daran lässt sein Vortrag bei einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrates zur patientenorientierten Datennutzung keinen Zweifel. „Noch nie sind bei einem klinischen Aufenthalt so viele Daten erhoben worden wie heute“, sagt Huber und nennt neben Laborparametern auch molekulare Daten. Bei Routineuntersuchungen gehe man mitunter sehr tief in molekulare, zum Teil genetische Analysen, damit entstünden riesige Datensätze. Parallel dazu gebe es nahezu eine Revolution experimenteller Techniken, um Gewebe tiefer aufzuschlüsseln. Der Mediziner vergleicht das Gewebe mit einem Hochhaus, von dem Rudolf Virchow früher lediglich die Außendimensionen beschrieben habe. „Heute öffnen wir die Tür eines solchen Hochhauses, gehen in jedes beliebige Zimmer, öffnen den Kühlschrank und gucken uns die Details der Zusammensetzung eines Senfes an.“
Hinzu kommt, dass die Daten Huber zufolge zunehmend in digitalisierter Form vorliegen und man erstmals in der Lage ist, deren Vielfalt zu verstehen, zu analysieren und ein Meinungsbild abzuleiten. Früher hätte Big Data für eine leere Hülse gestanden, räumt er ein, „aber heute können wir aus Big Data Meaningful Data, bedeutungsvolle Daten machen, die uns einen wirklich tiefen Einblick geben“. Dem Leiter des UKE-Zentrums für Innere Medizin geht es darum, wie die von ihm geschilderten Entwicklungen sowohl für den individuellen Patienten als auch für das Gemeinwohl genutzt werden können.
In Hubers Ausführungen schwingt eine ansteckende Aufbruchstimmung mit, noch stärker ist diese bei Dr. Tobias Gantner zu spüren. Der Geschäftsführer der HealthCare-Futurists schwärmt Mitte März beim Digitalgipfel der Rheumatologen von medizinischen KI-Anwendungen, Arzt-Avataren, Citizen Science, Remote Diagnostics und vielem mehr. Innovation, sagt Gantner, verlaufe nicht linear, sondern "fuzzy". Und: „Disruptive Innovation ist nicht die lineare Weiterdenkung des Status quo“. Den Rheumatologinnen und Rheumatologen schreibt der Futurist, der einst als Chirurg gearbeitet hat, folgendes ins Stammbuch: Nur weil etwas nicht gleich out of the box funktioniere, bedeute das nicht, dass es keine Zukunft habe. Gantners Optimismus lässt jedoch beim Datenschutz spürbar nach. „Wenn den Leuten bei digitaler Transformation nur Datenschutz einfällt, wird es nicht funktionieren“, sagt er dann. Die Datenschutzdiskussion, die hierzulande geführt werde, sei „völlig obsolet“. Ganz anders müsse man darüber sprechen, „aber leider scheinen wir da noch nicht zu sein“.
Es ist einer dieser reizvollen Zufälle, dass zeitgleich zum Digitalgipfel der Rheumatologen und nur ein paar hundert Meter weiter der Bundesdatenschutzbeauftragte Prof. Ulrich Kelber seinen Jahresbericht vorstellt. Vor der versammelten Hauptstadtpresse outet er sich als „großer Fan“ der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Als Privatperson hätte er gerne eine elektronische Patientenakte (ePA). Seine Standardeinstellung wäre: „Alle Ärzte dürfen alles sehen, weil ich eine optimale Versorgung haben möchte.“ Das von Lauterbach geplante Opt-out-Verfahren für die ePA hält Kelber für möglich: Es gebe keinen grundsätzlichen Ausschluss einer solchen Regelung aus datenschutzrechtlichen Erwägungen, stellt er klar. Das stimmt hoffnungsvoll und erinnert an ein Gutachten des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege, in welchem weise formuliert wurde, dass Datenschutz Teil des Lebens- und Gesundheitsschutzes sein sollte und nicht als Gegenteil verstanden werden sollte.
Ein paar Tage hält dieser Blütentraum, dann verflüchtigt er sich angesichts des Hickhacks um die Bestätigungsmails der Terminservice-Stellen, die Kelber in ihrer jetzigen Form verbieten will, und man befindet sich wieder mitten im grauen gesundheitspolitischen Alltag.
Roadmap für einen Datenraum Gesundheit in der deutschen Gesundheitswirtschaft
[caption id="attachment_7091" align="aligncenter" width="1200"]Das GKV-FinStG sieht unter anderem die Einführung eines pauschalen Kombinationsabschlages von 20 Prozent auf bislang nicht gesondert preisregulierte Arzneimittelkombinationen vor. Weiterhin etabliert das Gesetz neue Leitplanken für Erstattungsbeträge, die Absenkung der Orphan-Umsatzschwelle von 50 auf 30 Millionen Euro sowie die Rückwirkung des Erstattungsbetrages auf den siebten Monat nach Markteintritt. Bei den beiden zuletzt genannten Maßnahmen erscheint eine „zeitnahe Realisierung der gesteckten Einsparziele unrealistisch“, heißt es im jüngst erschienenen AMNOG-Report 2023 der DAK-Gesundheit. Im Detail bedeutet das: Der Gesetzgeber schätzt das Einsparpotenzial des rückwirkenden Erstattungsbetrags auf 150 Millionen Euro pro Jahr, die Reportautoren gehen von lediglich 80 Millionen Euro aus.
Stichwort Orphan-Umsatzschwelle: Hier rechnet der Gesetzgeber mit 100 Millionen Euro pro Jahr. Die Verfasser des AMNOG-Reports halbieren dagegen das Einsparpotenzial und erwarten nur bis zu 50 Millionen Euro jährlich. Für die Erstattungsbetragsleitplanken gehen die Autoren um den Gesundheitsökonomen Prof. Wolfgang Greiner dagegen davon aus, dass das Einsparziel übertroffen werde – „wenngleich eine präzise Abschätzung der potenziellen Einsparungen über alle AMNOG-Wirkstoffe derzeit nicht möglich ist“. Für den pauschalen Kombinationsabschlag sei das Einsparpotenzial ebenfalls nicht seriös bezifferbar, was die Experten auf praktische Umsetzungsfragen im Hinblick auf die Identifikation und das Versorgungsmonitoring von Kombinationstherapien zurückführen.
Die Regelungen des GKV-FinStG zu Leitplanken und Kombitherapien sind auch der Grund, warum Greiner und Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, das Gesetz im Vorwort als „Zwischenschritt“ bezeichnen. Weitere Eingriffe des Gesetzgebers könnten erforderlich sein, sollte etwadie Komplexität der AMNOG-Leitplanken zur Preisbildung nicht die gewünschten, sondern Kollateraleffekte mit sich bringen, heißt es dort. Auch die Umsetzung des Kombinationsabschlages könnte – bei „fehlendem pragmatischen Lösungswillen der Vertragspartner“ – eine weitere Regulierung notwendig machen. Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, geht in seinem Beitrag für den Report ebenfalls auf dieses Thema ein. Einen Abschlag hält er zwar für grundsätzlich sinnvoll, den pauschalen Abschlag von 20 Prozent sieht er jedoch kritisch, „da damit weder der Zusatznutzen einer Kombinationstherapie noch der jeweilige Zusatznutzen der Einzelkomponenten einer Kombinationstherapie im Einzelfall angemessen abgebildet wird“.
Zu „systembedingten Schwachstellen“, die der Gesetzgeber noch nicht berücksichtigt hat, äußert sich die DAK im Report. Sie nennt unter anderem die Ausgabenentwicklung von Arzneimitteln bei stationären Behandlungen. Die Kasse verweist auf die Tendenz, dass sich Behandlungen – gerade mit hochpreisigen Arzneimitteln – unter anderem durch Spezialisierungen von Arzneimitteltherapien vermehrt ins Krankenhaus verlagerten. „Dadurch werden Auswertungen bezüglich der Ausgaben zunehmend verzerrt und von mancher Seite gegenüber Politik und Öffentlichkeit lediglich auf die Ausgaben im ambulanten Sektor verwiesen.“ Die Arzneimittelausgaben im Krankenhaus beziffert die DAK auf fast 1,2 Milliarden Euro.
Außerdem wirft die Kasse die Frage auf, wie im Preisbildungsverfahren mit ATMPs im Allgemeinen und mit sogenannten Einmaltherapien im Speziellen sowie mit deren Besonderheiten umgegangen werden könne. Letzteren Punkt sieht auch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem. Im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit erwähnt er als eine AMNOG-Baustelle den „Umgang mit der Unsicherheit bei Zell- und Gentherapien, insbesondere bei der Risikoteilung hinsichtlich der Unsicherheit über die langfristigen Effekte von Einmaltherapien“. Wasem spricht außerdem die noch ausstehende Reaktion zum Thema Euro-HTA an.
Regierung verteidigt Kombinationsabschlag
Der neue Kombinationsabschlag ist nach Ansicht der Bundesregierung gerechtfertigt. Der gleichzeitige Einsatz mehrerer Arzneimittel in Kombination führe dazu, dass sich aktuell die Kosten der Einzelwirkstoffe summierten, hinreichende Evidenz zum Gesamtnutzen der Kombination für den Patienten und zum Anteil eines Kombinationspartners am Therapieerfolg jedoch regelhaft nicht vorhanden sei, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion. Zur Gewährleistung der finanziellen Stabilität der GKV sei es gerechtfertigt, dass die Solidargemeinschaft beim Einsatz von Kombinationstherapien mit geringeren Gesamtkosten belastet werde als der Summe der Erstattungsbeträge bei einer Anwendung in der Monotherapie. Der Gesetzgeber habe sich mit dem Kombinationsabschlag für ein Regulierungsinstrument mit hoher Zielgenauigkeit und differenzierter Ausgestaltung entschieden, heißt es weiter. (Siehe Link 1)
Von den AMNOG-Reformen des GKV-FinStG bereitet dem ehemaligen Vorsitzenden der Schiedsstelle nach § 130b SGB V vor allem die Vorgabe Bauchschmerzen, dass der Preis bei geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen nicht höher als der der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) sein darf, wenn diese noch unter Patentschutz steht. „Zum einen halte ich es grundsätzlich für falsch, inkrementellen Fortschritt nicht mehr zu belohnen“, sagt Wasem. Zum anderen führe es auch zu völlig absurden Ergebnissen: Zum Beispiel sei dann der Preis für ein Arzneimittel, das in Kombination mit der zVT gegeben wird und wo diese Kombination einen geringen Zusatznutzen hat, Null. „Dass das Unfug ist, ist doch offensichtlich.“ Wasem warnt grundsätzlich davor, dass sich das AMNOG ein Stück weiter vom Verhandeln eines Preises in Richtung eines Algorithmus entwickele. Damit könnten den Besonderheiten in den jeweiligen Einzelfällen oft nicht angemessen Rechnung getragen werden. „Das Minimum, was meines Erachtens hier geändert werden müsste, wäre auch für die neuen Konstellationen bei patentgeschützten Komparatoren eine Soll-Regelung einzuführen“, schlägt er vor.
[caption id="attachment_7122" align="alignleft" width="500"]
…durch die Hintertür
Leistungskürzungen durch die Hintertür prangert dagegen der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) in einer Reaktion auf den AMNOG-Report an. Die Begründung: Mit dem GKV-FinStG ermögliche der Zusatznutzen einer neuen Therapie nicht mehr in jedem Fall einen höheren Preis als ihn die bisherige Vergleichstherapie hatte. Dadurch sei nicht länger jede Innovation für den hiesigen Markt interessant und nicht jedes neue Medikament werde künftig auch hierzulande verfügbar sein. „Deutschland wird mit einer Schlechterstellung bei der Versorgung mit Arzneimitteln leben müssen, die sich für Patientinnen und Patienten wie Leistungskürzungen auswirken werden“, prophezeit vfa-Präsident Han Steutel. (Siehe Link 2 )
Weiterführende Links:
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, 7. März 2023, PDF, 8 Seiten
https://dserver.bundestag.de/btd/20/059/2005904.pdf
AMNOG-Report 2023, Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz und seine Auswirkungen, DAK-Gesundheit, 1. März 2023, PDF, 101 Seiten
https://www.dak.de/dak/bundesthemen/amnog-report-2023-2610266.html#/
Die Ambulantisierung steht seit drei Jahrzehnten ganz oben auf der Agenda der Sozial- und Gesundheitspolitik, stellt Prof. Doris Schäffer von der Universität Bielefeld fest. Die Gesundheitswissenschaftlerin kritisiert in einem Aufsatz unter anderem mangelnde langfristig ausgerichtete gesundheitspolitische Strategien und Konzepte. Sie vermisst außerdem flexible rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen, um den mit der Ambulantisierung einhergehenden Anforderungen mit neuartigen Initiativen begegnen zu können. Das Schockierende: Schäffers Aufsatz ist bereits 2001 erschienen, aber ihre Diagnose ist noch immer top aktuell. Namhafte Experten wie Prof. Ferdinand Gerlach, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrats (SVR) Gesundheit und Pflege, sowie der Krankenhauskenner Prof. Boris Augurzky sind sich darin einig, dass hierzulande das Ambulantisierungspotenzial brach liegt. Angesichts des sich verschärfenden Fachkräfteengpasses und des enormen Kostendrucks in der GKV dürfte die Notwendigkeit dafür weiter steigen.
[caption id="attachment_7236" align="alignright" width="800"]Der medizinische Fortschritt ermöglicht, dass immer mehr Eingriffe ambulant durchgeführt werden können – und zwar ohne Abstriche bei der Qualität und bei zugleich geringeren Kosten. Die Patientinnen und Patienten erholen sich im gewohnten Umfeld und binden somit weniger Betten und Personalkapazitäten in den Kliniken. Der SVR unterscheidet in seinem Gutachten aus dem Jahr 2018 zwischen zwei Dimensionen der Ambulantisierung: Zum einen die Ersetzung stationärer Behandlungen durch ambulante, die entweder bei einem niedergelassenen Facharzt oder ambulant im Krankenhaus durchgeführt werden. Zum anderen kann auch die Vermeidung von Klinikaufenthalten durch eine vorherige ambulante Therapie als Ambulantisierung im weiteren Sinne verstanden werden.
Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag festgehalten, die Ambulantisierung voranbringen zu wollen. Solche Bekenntnisse kennt man bereits aus vergangenen Legislaturen. Seit den 1990er-Jahren wurden viele – von Experten als kleinteilig charakterisierte – Lösungen zur ambulanten Leistungserbringung im Krankenhaus geschaffen. Einen Überblick stellen der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem und Dr. Wulf-Dietrich Leber vom GKV-Spitzenverband im Krankenhausreport 2016 dar, der sich dem Schwerpunktthema „Ambulant im Krankenhaus“ widmet. Sie nennen unter anderem: vor- und nachstationäre Behandlung, ambulantes Operieren, diverse Institutsambulanzen und die ambulant spezialfachärztliche Behandlung. Diverse Versorgungsangebote stehen an der Schnittstelle zwischen ambulant und stationär „vergleichsweise inkonsistent nebeneinander“, konstatieren die beiden Experten. Es gebe sogar Fälle, in denen identische Leistungen je nach Regelungskreis unterschiedlich vergütet werden. Kein Wunder also, dass Wasem und Leber eine ordnungspolitische Antwort vermissen und von einem Steuerungsdefizit sprechen. Dieses Defizit ist besonders folgenschwer, da die fehlende Harmonisierung der Vergütungs- und Planungsstrukturen innovative sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen verhindert.
Ähnlich klingt es sieben Jahre später bei einer Veranstaltung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) im Dezember 2022. Dort macht Zi-Vize Thomas Czihal die starken Preisunterschiede zwischen ambulanter und stationärer Leistungserbringung mit dafür verantwortlich, dass die Ambulantisierung nach wie vor nur schleppend voranschreite. Für die finanzielle Besserstellung von stationären Eingriffen gegenüber ambulanten nennt er einige prägnante Beispiele (siehe Infokasten).
[caption id="attachment_7240" align="alignleft" width="800"]Die spannende Frage lautet nun, ob die sogenannten Hybrid-DRGs, die der Koalitionsvertrag der Ampel angekündigt hat, die verkrusteten Strukturen aufbrechen und der Ambulantisierung den entscheidenden Schub verleihen kann. Als eine Form der sektorengleichen Vergütung hat diese die Techniker Krankenkasse bereits in einem Vergütungsmodell beispielhaft entwickelt und erprobt. Gesetzlich verankert wurden sie im Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Paragraf 115f SGB V sieht vor, dass Kassenärztliche Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und GKV-Spitzenverband für geeignete Leistungen aus dem AOP-Katalog eine spezielle sektorengleiche Vergütung vereinbaren.
Ende März wurde offiziell verkündet, was Insider längst erwartet haben: Die Verhandlungen der Selbstverwaltung sind ergebnislos zu Ende gegangen. Einer der Gründe dafür dürfte gewesen sein, dass die DKG die Ambulantisierung mehr oder weniger ausschließlich an den Krankenhäusern stattfinden lassen will. Es kommt jetzt auf das Bundesgesundheitsministerium (BMG) an, ob die Ambulantisierung durch die Hybrid-DRGs zum Fliegen kommt oder weiterhin vor sich hin dümpelt und ein Dasein als leeres Politversprechen führt. Das Ministerium ist nämlich im Falle einer Nicht-Einigung mit einer Ersatzvornahme am Zug.
Dem Zi-Vorstandsvorsitzenden Dr. Dominik von Stillfried zufolge muss es darum gehen, den „goldenen Käfig der DRGs“ aufzubrechen. Für die Krankenhäuser seien alle Vergütungen außerhalb dieser Fallpauschalen unattraktiver. Es gebe daher einen starken ökonomischen Anreiz, möglichst viele Leistungen in diesem Rahmen stationär zu erbringen. Paragraf 115f hat von Stillfried zufolge das Potenzial, dass bestimmte Leistungen nicht mehr zu DRG-Sätzen gemacht werden können, sondern nur zu einem sektorengleichen Betrag, der auch für die Niedergelassenen gilt. Das hätte eine neue ambulante Versorgungsstruktur zu Folge, argumentiert er, die aber vermutlich nicht für alle Klinken attraktiv wäre. 115f könnte seiner Auffassung nach im Zuge der Krankenhausreform eine ideale Grundlage für die kleinsten Häuser (Level Ii) sein, die im Grunde ambulante Leistungen erbringen, wenn der Leistungskatalog entsprechend breit gefasst wird.
Ob Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach, der gelegentlich auch Krankenhausminister genannt wird, dafür mit der Ersatzvornahme tatsächlich die Weichen stellt, ist derzeit allerdings ziemlich ungewiss. Fakt ist jedoch, dass das BMG bei der Ersatzvornahme auf Vorarbeiten zurückgreifen kann. Der Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg hat im Auftrag des Ministeriums bereits eine initiale Auswahl von Leistungsbereichen für eine sektorengleiche Vergütung vorgenommen. Nachzulesen ist das in einem Gutachten, das vor einem Jahr veröffentlicht wurde. Außerdem hat der Wissenschaftler der Universität Hamburg in einem Projekt des Innovationsfonds Möglichkeiten einer schnellen Umsetzung einer sektorengleichen Vergütung geprüft. Er schlägt eine Implementierung in zwei Phasen vor. Beide sehen die Vergütung unabhängig vom Ort der Behandlung, aber in Abhängigkeit der medizinischen Komplexität vor.
[caption id="attachment_7248" align="alignright" width="800"]Apropos Komplexität: Das Thema Ambulantisierung ist auch deshalb so komplex, weil es sehr eng mit den noch immer ungelösten Fragen der Strukturreform der Krankenhauslandschaft zusammenhängt. Damit verbunden sind wiederum die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren, wie etwa jüngst wieder auf dem Krankenhausgipfel zu beobachten gewesen ist. Der ehemalige SVR-Vorsitzende Gerlach hofft, dass die Akteure endlich aus ihren Schützengräben herauskommen, denn die Ambulantisierung sei längst überfällig, sagt er gegenüber der Presseagentur Gesundheit. Durch diverse digitale Optionen und Geräte könnten bereits heute Patienten ambulant mit einem Dutzend verschiedener Vitalparameter lückenlos überwacht werden. Konzepte wie „hospital at home“ und „healthcare anywhere“ etablierten sich international gerade mit bemerkenswerter Geschwindigkeit. Gerlach prognostiziert daher, dass der allergrößte Teil der heutigen Krankenhausbelegtage in der Zukunft wegfallen werde und auch müsse. Das bedeute für den ambulanten Bereich, dass er diese Leistungen zukünftig zu erbringen hat. „Und es ist alternativlos, dass ambulanter und stationärer Sektor viel, viel enger zusammenarbeiten, als dies bisher der Fall ist“, mahnt der Experte. Wenn das nicht passiert, müsse der Gesetzgeber tatsächlich eine sektorenübergreifende Versorgung mit aller Macht durchsetzen.
[caption id="attachment_7246" align="alignright" width="500"]
Ambulante versus stationäre Vergütung
Thomas Czihal nennt die Leistenbruch- und Katarakt-Operation: Die stationäre Durchführung der Leistenbruch-Operation werde 3,4-mal höher vergütet als die ambulante. Die Operation wird zu 96 Prozent stationär erbracht. Die stationäre Durchführung der Katarakt-Operation wird 1,8-mal höher vergütet als die ambulante; sie wird heute bereits zu 84 Prozent ambulant erbracht, so der Versorgungsforscher. Er verweist auf Berechnungen des Zi, wonach die Vergütung der stationären Durchführung von Leistungen des Abschnitts 1 des AOP-Katalogs rund das Vierfache der Vergütung einer ambulanten Leistungserbringung betrage. „Eine möglichst hohe Vergütung für die ambulante Durchführung wird ein wichtiger Anreiz zur Förderung der ressourcenschonenderen ambulanten Behandlung sein“, meint Czihal.
Beim AOP-Katalog handelt es sich um den Katalog ambulant durchführbarer Operationen, sonstiger stationsersetzender Eingriffe und stationsersetzender Behandlungen. Ein Gutachten des IGES Instituts empfiehlt kürzlich rund 2.500 medizinische Leistungen, die zusätzlich in den AOP-Katalog aufgenommen werden sollten. Damit würde sich die Anzahl der derzeit möglichen ambulanten Leistungen von Kliniken nahezu verdoppeln.
Welche Erfolgschancen räumen Sie der Krankenhausstrukturreform ein – hinsichtlich einer Verstärkung der ambulanten Medizin?
Langenberg: Das kommt darauf an, ob es Bund und Ländern gelingt, ein in der Praxis umsetzungsfähiges Konzept zu entwickeln. Bisher sehe ich das noch nicht. Die Absicht, erst einmal mit dem NRW-Modell zu starten, ist aber ein richtiger Schritt. Für den Erfolg kommt es außerdem auf die Einbeziehung derjenigen an, die die Versorgung tatsächlich leisten. Immerhin kündigt der zirkulierende Entwurf des „Orientierungspapiers“ aus dem Bundesgesundheitsministerium ein „Konzept zur weiteren Einbindung wesentlicher, betroffener Akteure“ an. Wir sind gespannt, was daraus werden wird. Zum zweiten Teil der Frage: Die ambulante Medizin ist im Konzept der Regierungskommission noch weitgehend eine Leerstelle. Lediglich im Bereich der geplanten Level-I-Krankenhäuser gibt es einige Impulse. Die Kommission selbst räumt ein, dass dies nicht mehr als ein „erster Schritt“ sein kann – und vertröstet uns im Übrigen auf eine weitere Stellungnahme. Für die Ambulantisierung werden deswegen zunächst einmal der AOP-Katalog und die „sektorengleiche Vergütung“ nach § 115f SGB V viel relevanter sein.
[caption id="attachment_7134" align="aligncenter" width="1200"]Welche Wirkung werden die angekündigten Hybrid-DRGs im besten Fall entfalten?
Langenberg: Im besten Fall ist das der Einstieg in eine echte sektorenübergreifende Versorgung mit einem besseren Einsatz des überall knappen Personals. Das kann gelingen, wenn man mit einem überschaubaren Katalog von Leistungen anfängt, die sich wirklich gut für eine verstärkte Ambulantisierung eignen und so auskömmlich finanziert werden, dass Kliniken wie Niedergelassene die notwendigen Umstellungsprozesse auch tatsächlich bewältigen können. Dann kann es schrittweise weitergehen. Eine „Sturzgeburt“ hilft hingegen niemandem. Schon die in § 115f SGB V vorgesehene Frist für die Erarbeitung einer speziellen sektorengleichen Vergütung durch die Selbstverwaltung war mit drei Monaten von vorneherein zu knapp bemessen.
War das Absicht?
Langenberg: Es drängt sich ein wenig der Eindruck auf, dass das von Seiten des Bundesgesundheitsministeriums so intendiert war, um auch in diesem Bereich letztlich selbst zu entscheiden. Ohne eine sorgfältige Entwicklung mit Analyse der Auswirkungen und ohne Einbeziehung des praktischen Versorgungswissens wird es aber keinen Erfolg geben können.
Ambulantisierung ist bislang immer noch eine Wunschvorstellung. Wie kommt diese zum Fliegen?
Langenberg: Auf die Einbeziehung der Versorgungspraxis und die Finanzierung der Übergangskosten habe ich schon hingewiesen. In aller Kürze drei weitere Punkte: Erstens: Stationärer wie ambulanter Bereich müssen fair beteiligt werden. Ambulantisierung als Einbahnstraße kann nur scheitern. Hier kann der Bundesgesundheitsminister aus meiner Sicht noch dazulernen. Zweitens muss die Misstrauens- und Kontrollphilosophie überwunden werden.
Inwiefern?
Langenberg: In der Vergangenheit sind viele vom Ansatz her gute Ideen, sei es die spezialfachärztliche Versorgung oder das Entlassmanagement, letztlich in Bürokratie erstickt worden. Das darf jetzt nicht wieder passieren. Drittens und ganz, ganz wichtig: Bei der verstärkten Ambulantisierung muss die ärztliche Weiterbildung mitgedacht werden. Wir dürfen den ärztlichen Nachwuchs nicht abhängen, sonst verschärfen wir die ohnehin großen Versorgungsprobleme. Mit klugen Konzepten lässt sich das aber lösen. Die Ärztekammern stehen bereit, ihre Kompetenz an dieser Stelle einzubringen.
Wenn Sie persönlich die Wahl haben: Welchen Eingriff würden Sie nur im Krankenhaus vornehmen lassen und welchen auf jeden Fall ambulant?
Langenberg: Das möchte ich, wenn etwas ansteht, mit der Ärztin, dem Arzt meines Vertrauens besprechen können. Dann wünsche ich mir, dass es nicht darum geht, was in einem Katalog steht oder was die Kostenseite diktiert, sondern einzig und allein darum, was für meine Gesundheit die beste Entscheidung ist. Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Primat des Patientenwohls und die Unabhängigkeit der ärztlichen Entscheidungen verteidigen. Bei den Regelungen für das ambulante Operieren und die sektorengleiche Vergütung müssen die Begleiterkrankungen der Patientinnen und Patienten, aber auch soziale Kontextfaktoren ausreichend berücksichtigt werden. Wenn Ambulantisierung gelingen soll, müssen die Menschen sich darauf verlassen können, dass nach einem ambulanten Eingriff die erforderliche ärztliche, pflegerische und soziale Unterstützung gegeben ist. Deshalb ist Ambulantisierung mehr als die Änderung von einigen Vergütungsregeln: Es geht darum, das gesamte System zu stärken.
[caption id="attachment_7278" align="alignleft" width="500"]
Zur Person
Ulrich Langenberg ist seit Jahresbeginn Geschäftsführer Politik der Bundesärztekammer. Der Facharzt für Neurologie hat zuvor als Leiter der Gruppe Krankenhaus im nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium die dortige Krankenhausreform entscheidend mitgestaltet. Als weitere berufliche Station war Langenberg Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein. Schwerpunkte dieser Tätigkeit waren: die Gebührenordnung für Ärzte, die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler, Krankenhausplanung, sektorenübergreifende Versorgung sowie ethische Fragen.
© pag, Fiolka
Eine Prognose zum geriatrischen Versorgungsbedarf in Sachsen soll das Projekt „Regionale multisektorale geriatrische Versorgungsplanung“, kurz RemugVplan geben. Es hat den Versorgungsbedarf von geriatrischen multimorbiden Patienten für Sachsen analysiert und die Entwicklung bis 2050 prognostiziert. Die Forschenden untersuchten, wie viel ambulante, stationäre, pflegerische und rehabilitative Leistungskapazität für deren Versorgung erforderlich ist. Anschließend erfolgte ein Abgleich mit den tatsächlich vorhandenen, regionalen Versorgungsstrukturen. Die Modellierung basiert auf Primärdaten, Routinedaten der AOK PLUS, Zensusdaten sowie Daten geografischer Dienste. Hinzu kamen Experteninterviews und Befragungen von Angehörigen.
[caption id="attachment_7263" align="alignright" width="800"]Es sei eine Herausforderung gewesen, die Daten zusammenzustellen, berichtet Projektleiterin Dr. Ines Weinhold vom Wissenschaftlichen Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung. „Wenn man die Kapazitäten in den Strukturen und in den Einrichtungen nicht kennt, ist das schwierig.“ Auch die Übertragung des vom Innovationsfonds geförderten Projekts über Bundeslandgrenzen hinweg „scheitert einfach an den Datengrundlagen“.
Mit der Herausforderung, Berufsprofile an die Versorgungsbedarfe anzupassen, hat sich unterdessen der Bundesverband Managed Care im Rahmen einer Fachtagung beschäftigt. Als ein Problem identifiziert Wiebke Böhne dort die „Schwerfälligkeit der Strukturen“. Viele Berufe hätten sich zwar weiterentwickelt oder neu gebildet, um den neuen Versorgungsbedarfen gerecht zu werden. Sie kämen aber nicht über den Status von Pilotprojekten hinaus, bemängelt die Referentin für Strategie und Grundsatzfragen bei der AOK Niedersachsen. „Der ordnungspolitische Rahmen kommt dem nicht nach.“ In eine ähnliche Kerbe schlägt Sonja Laag, Leiterin Versorgungsprogramme bei der Barmer in Wuppertal: Es fehle an modernen Versorgungs- und Stellenverträgen, um die Kräfte adäquat einzusetzen.
Manch einer in der Praxis fürchte aber den Wandel hin zu mehr Interdisziplinarität, eine Kultur der Zusammenarbeit müsse noch entstehen, die ärztliche Dominanz bisweilen abgebaut werden, sind weitere Impulse aus dem Podium. Es gehe darum, Kompetenzprofile zu entwickeln und sich an internationalen Best-Practice-Beispielen zu orientieren.
In der „Spezialisierung“ und „Fragmentierung“ der Gesundheitsberufe sieht Prof. Nils Schreiber allerdings auch Probleme. Der „ganzheitliche Blick auf den Patienten“ sei nicht mehr möglich, meint der Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er sieht zwar die Notwendigkeit, meint aber: „Der Hausarzt selbst kommt fachlich nicht mehr nach.“
Spezialisierung führt zu neuen Aufgaben. Als Beispiel nennt Prof. Erika Gromnica-Ihle von der Deutschen Rheuma-Liga die rheumatologischen Fachassistenten. Diese „nehmen dem Arzt Arbeit ab“, böten sogar selbst eigene Sprechstunden an. Diese Leistungen würden aber nicht angemessen vergütet.
[post_title] => Neue Bedarfe versus „schwerfällige Strukturen“ [post_excerpt] => Neue Bedarfe versus „schwerfällige Strukturen“ [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => neue-bedarfe-versus-schwerfaellige-strukturen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2023-05-11 10:15:03 [post_modified_gmt] => 2023-05-11 08:15:03 [post_content_filtered] => [post_parent] => 7004 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=7032 [menu_order] => 70 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [106] => WP_Post Object ( [ID] => 7035 [post_author] => 3 [post_date] => 2023-05-11 10:10:55 [post_date_gmt] => 2023-05-11 08:10:55 [post_content] =>Dem QUEST Center zufolge werden zu einem guten Viertel der an Universitäten und Krankenhäusern durchgeführten klinischen Studien auch Jahre nach Abschluss keine Ergebnisse publiziert. Die Folge: Andere Wissenschaftler und Ärzte erfahren nicht, ob eine bestimmte medizinische Intervention bereits getestet wurde, oder ob sich eine zweite Auswertung der Ergebnisse lohnen würde. „Patientinnen und Patienten haben sich zur Studienteilnahme bereit erklärt, um die Wissenschaft und die Medizin voranzubringen. Ihnen gegenüber besteht die Verpflichtung, Studienergebnisse zu veröffentlichen“, sagt der stellvertretende QUEST-Direktor Prof. Daniel Strech. Außerdem sei es aus ethischer Sicht zumindest fragwürdig, Ergebnisse von mit Steuermitteln finanzierten Studien nicht offenzulegen.
Sein Team hat Informationen von etwa 3.000 klinischen Studien gesammelt, die in einem von zwei etablierten Registern aufgeführt sind und von einer der 35 Universitätsklinika in Deutschland durchgeführt werden. Dabei wurde folgenden Fragen nachgegangen: Hat der Studienleiter die Ergebnisse veröffentlicht? Wurde die Studie vor Beginn registriert? Wurde im Register auf die Veröffentlichung der Ergebnisse hingewiesen? Waren die Ergebnisse öffentlich einsehbar?
Das neue Dashboard präsentiert die Ergebnisse zu den Transparenzindikatoren sowohl für ganz Deutschland als auch für die einzelnen Universitäten. Die Universitätskliniken wissen QUEST zufolge oft selbst nicht genau, wie viele ihrer Studien transparent registriert und veröffentlicht sind. Auch die Förderorganisationen kennen die Veröffentlichungsquote der von ihnen finanzierten Studien nicht.
Strech ist davon überzeugt, dass öffentliche Informationen zur Transparenz einen großen Effekt haben können und verweist auf eine Internetseite der Universität Oxford. Diese informiere über die Transparenz von Arzneimittelstudien im europäischen Register. Dort habe die Charité zunächst weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen gelegen. „Nachdem wir uns mit dem Clinical Study Center der Charité besprochen haben, und dort ein Prozess zur Verbesserung gestartet wurde, konnte man einen regen Anstieg in der Transparenz beobachten“, berichtet Strech. Die Charité liege mit der Veröffentlichung der Ergebnisse von 97 Prozent ihrer Studien mittlerweile ganz vorne.
Weiterführender Link:
Das Dashboard des QUEST Center kann hier eingesehen werden
https://quest-cttd.bihealth.org/
Die Hintergründe: In ihrer Eingabe gehen die Petenten auf die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tod ihres Sohnes ein, der mit einem Herzfehler geboren wurde und nach einer Operation im Januar 2017 verstarb. Das Krankenhaus sei zwar mit dem Qualitätssiegel „Ausgezeichnet für Kinder“ als familienfreundlich zertifiziert worden. Das sei aber insbesondere angesichts der mangelnden Einbeziehung der Eltern in die klinischen Prozesse sowie der Art und Weise, wie mit ihrem Sohn umgegangen worden sei, nicht nachvollziehbar, schreiben die Petenten.
In der Begründung zur Beschlussempfehlung weist der Ausschuss darauf hin, dass viele Krankenhäuser auf eine freiwillige Zertifizierung setzten, um ihre Bemühungen um Qualität transparent zu machen. Allerdings lasse nicht jedes Zertifikat automatisch auf eine gute Versorgungsqualität der Einrichtung schließen. Für Patientinnen und Patienten sei die Aussagekraft von Zertifikaten oder Gütesiegeln meist nur schwer nachvollziehbar. Die Abgeordneten erwähnen das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG). Dieses sei vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beauftragt worden, Kriterien zur Bewertung von Zertifikaten und Qualitätssiegeln zu entwickeln und anhand dieser über die Aussagekraft dieser Zertifikate in einer für die Allgemeinheit verständlichen Form zu informieren. Den Patienten solle damit eine Hilfestellung bei der Beurteilung gegeben werden. Im September vergangenen Jahres habe das IQTIG seinen Abschlussbericht abgegeben, der aktuell im G-BA beraten werde, heißt es in der Beschlussempfehlung.
Schlussendlich vertritt der Petitionsausschuss die Auffassung, dass Klarheit über die Aussagekraft von verliehenen Qualitätszertifikaten und Gütesiegeln im medizinischen Bereich bestehen müsse. Deren Zweck, die Transparenz über bestimmte Qualitätsmerkmale der medizinischen Versorgung zu steigern, dürfe nicht konterkariert werden. Zudem dürften nicht unberechtigte Erwartungen geweckt werden. Daher sind nach Auffassung der Abgeordneten die Vergabekriterien und -verfahren von besonderer Bedeutung.
[post_title] => Was sind medizinische Gütesiegel wert? [post_excerpt] => Was sind medizinische Gütesiegel wert? [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => was-sind-medizinische-guetesiegel-wert [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2023-05-11 10:11:47 [post_modified_gmt] => 2023-05-11 08:11:47 [post_content_filtered] => [post_parent] => 7004 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=7042 [menu_order] => 90 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [108] => WP_Post Object ( [ID] => 7045 [post_author] => 3 [post_date] => 2023-05-11 10:11:17 [post_date_gmt] => 2023-05-11 08:11:17 [post_content] =>
Die Finanzierung der Krebsberatungsstellen (KBS) ist gesichert, aber die vom GKV-Spitzenverband (GKV-SV) erlassenen Förderrichtlinien, nach denen das Finanzvolumen von 42 Millionen Euro auf der Grundlage des Königsteiner Schlüssels verteilt werden, müssen noch nachjustiert werden. Das weiß auch Kathleen Lehmann, Referentin Ambulante Versorgung im GKV-SV, die über ihre Erfahrungswerte referiert. Um herauszufinden, wie die Verteilung der Fördermittel auf die KBS hinsichtlich einer flächendeckenden Versorgung aussieht, nimmt der GKV-SV statistische Auswertungen vor. Danach finden sich die mit Abstand meisten geförderten KBS in Nordrhein-Westfalen (22), Baden-Württemberg (18) und Bayern (10). Schlusslichter sind Mecklenburg-Vorpommern und Saarland (je 1) und die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen (je 2). Um allerdings genauere Aussagen über den Versorgungsgrad machen zu können, müssten auch die unterschiedlichen Größen, Personalausstattung und inhaltliche Ausrichtung betrachtet werden. Legt man den Bezug zur Einwohnerzahl zugrunde, so sieht das Bild schon ganz anders aus: Danach stehen Sachsen, Thüringen und Hamburg bei geförderten KBS ganz oben und Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen sind abgeschlagen.
Die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen unterzieht Rechtsanwalt Prof. Peter Wigge einer kritischen Bestandsaufnahme. Er konstatiert: „Die Regelförderung der Krebsberatungsstellen befindet sich im Spannungsfeld der vom Gesetzgeber intendierten einrichtungsbezogenen Unterstützung und der rechtlich definierten Aufgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung.“
Für die Beratungsstellen spricht Hanna Bohnenkamp. Die Leiterin der KBS der Hessischen Krebsgesellschaft kritisiert das „Windhundprinzip“, wonach die Fördermittel nach Reihenfolge des Antragseingangs vergeben werden. Das könne dazu führen, dass bereits etablierte Stellen in der nächsten Förderperiode auf der Strecke blieben. Die Psychologin kritisiert außerdem die Vorgaben der Wirtschaftlichkeitsprüfung: Es würden nur die Beratungsleistungen angeschaut und die vielen darüberhinausgehenden Angebote nicht einbezogen.
Ein Zuhörer, der aus Dresden angereist ist, meldet sich in der Diskussion zu Wort: Alle Fördergelder seien im Nu ausgeschöpft gewesen. Für sein Angebot der psychoonkologischen Beratung für Kinder und Jugendliche sei nichts mehr übrig. Der Grund ist schnell gefunden: Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) in Sachsen und Thüringen hat sich nach dem „Windhundprinzip“ an dem Fördertopf kräftig bedient. Ist das Sinn der Sache, den ÖGD mit Quersubventionen zu unterstützen? Kathleen Lehmann sieht hier durchaus Korrekturbedarf und räumt ein, dass dies so nicht gewollt sei.
Die Kosten der Krebsberatung
- 21 Mio. Euro Fördersumme im Jahr 2020
- 42 Mio. Euro Fördersumme ab 2021 per Gesetz
- GKV förderte 104 KBS im Jahr 2022
- PKV fördert anteilig mit sieben Prozent
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Eng verknüpft mit dem Thema Versorgungsdaten, auch Real World Data genannt, ist die Digitalisierung. Dr. Frank Brunsmann, der bei Pro Retina den Bereich Diagnose und Therapie leitet, mahnt an, gesetzliche Rahmenbedingungen für die Digitalisierung konkret am Patientennutzen zu orientieren. Aktuelle Initiativen – dabei nennt er auch das geplante Register- sowie das Forschungsdatengesetz – müssten patientenorientiert zusammen gedacht werden.
Zuvor hat Brunsmann einige ungedeckte Evidenzbedarfe aus Patientensicht skizziert – wie den langfristigen Nutzen, der aus einer Gentherapie resultiert. Eine solche Therapie sei bereits Bestandteil der Regelversorgung. Die Entscheidung für die Aufnahme in den GKV-Leistungskatalog sei auf Grundlage einer randomisierten kontrollierten Studie gefallen, die einen Zeitraum von fünf Jahren abgedeckt hat. Aus Patientenperspektive sei entscheidend, was langfristig passiere. „Unser Blick geht über die fünf Jahre hinweg“, betont Brunsmann, der Versorgungsdaten für eine späte Nutzenbewertung ins Spiel bringt.
Als weiteres Beispiel für ungedeckten Evidenzbedarf nennt er bildgebende Verfahren: Diese seien wichtig, um Strukturveränderungen der Netzhaut erkennen und daraus Therapieentscheidungen ableiten zu können. „Eigentlich“, so der Patientenvertreter, seien diese Verfahren etabliert, Teil der ärztlichen Versorgung und in Leitlinien genannt. „Aber aufgrund der Evidenzlage sind sie häufig nicht Bestandteil des Leistungskatalogs der GKV.“ Brunsmann fordert Vorgehensweisen, „die letztendlich dazu führen, dass diese etablierten Verfahren als Kassenleistung aufgenommen werden“.
Er kritisiert außerdem die Evidenzlage bei Medikamenten, die außerhalb ihrer Zulassung eingesetzt werden. Da die anfallenden Daten nicht genutzt werden, bleibe die Evidenz niedrig. Verbesserungsbedarf sieht er ferner bei Therapieangeboten, die außerhalb der GKV zum Teil aggressiv beworben werden und für die Patienten aus eigener Tasche 10.000 Euro bezahlen – „ein Spiel mit der Hoffnung“. Für einige dieser Angebote wäre Evidenz fast schon geschäftsschädigend, meint der Patientenvertreter.
Angesichts der unterschiedlichen Bereiche, in denen Versorgungsdaten die Evidenz deutlich verbessern könnten, fragt Brunsmann umso dringlicher nach den Wegen, auf denen dies umgesetzt wird. Dass dabei sehr heterogene Herausforderungen mitgedacht werden müssen, verschweigt er nicht. Exemplarisch nennt er feingranulare Codierung, den Einsatz von Registerdaten sowie die Frage, wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen bewahrt bleibe. Auch die Frage, wie Solidarität zu verstehen ist, nennt er in diesem Zusammenhang.
Damit geht es um nichts weniger als den Kern der gesetzlichen Krankenversicherung.
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Der Mangel an Gesundheitspersonal hat sich den Autorinnen und Autoren zufolge 2020 stärker auf die Versorgungsqualität ausgewirkt als die Anzahl der Krankenhausbetten. Der Report empfiehlt den Regierungen, ihre Gesundheitssysteme anzupassen, um besser auf künftige Extremereignisse vorbereitet zu sein. Dazu gehöre zuallererst eine Stärkung des Gesundheitspersonals sowie weitere Investitionen in die Gesundheitsdateninfrastruktur und Prävention.
Mit den Herausforderungen für die europäischen Gesundheitssysteme beschäftigt sich auch ein Workshop der European University Hospital Alliance an der Charité Universitätsmedizin Berlin. „Steigende Anforderungen an die Gesundheitsversorgung, verschärft durch einen zunehmenden Fachkräftemangel, können nicht allein durch Anwerbungs- und Bindungsstrategien bewältigt werden“, konstatiert Prof. Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité. Die Gesundheitssysteme in Europa müssten sich auf lange Sicht anpassen, um zu bestehen. „Ganz essenziell wird dabei das Vermeiden von Krankheiten sein, mit einem neuen gesamtgesellschaftlichen Fokus auf Prävention und Gesunderhaltung der Menschen in allen Bereichen.“ Gleichzeitig müsse man digitale Innovationen gezielt zur Entwicklung neuer Arbeitsweisen und Ausbildungsprogramme nutzen.
[caption id="attachment_7171" align="aligncenter" width="1200"]Weiterführender Link:
Der OECD-Report (auf Englisch), Ready for the Next Crisis? Investing in Health System Resilience, Serie OECD Health Policy Studies Februar 2023
www.oecd.org/health/ready-for-the-next-crisis-investing-in-health-system-resilience-1e53cf80-en.htm
Die Lage vieler Betroffenen sei „dramatisch“ und die Versorgung „absolut unzureichend“ schreibt die Union in einem Antrag. Darin fordert sie, ME/CFS sowohl in ein Disease-Management-Programm (DMP) als auch in den Katalog der Ambulantfachärztlichen Versorgung für komplexe Krankheitsbilder aufzunehmen. Ferner befürwortet die Union eine Chroniker-Pauschale.
Der CDU/CSU zufolge sind bereits vor der Pandemie hierzulande 250.000 Menschen von dem Krankheitsbild betroffen gewesen. Infolge von Corona steige die Zahl weiter. Rund 60 Prozent seien arbeitsunfähig. Der volkswirtschaftliche Schaden gehe in die Milliarden.
ME/CFS gilt als schwerwiegende Multisystemerkrankung, die oft nach einem Infekt auftritt. Auch ein Teil der Long-COVID-Betroffenen erkrankt daran. Frauen seien dreimal häufiger betroffen als Männer, berichtet die Immunologin Prof. Carmen Scheibenbogen, Berliner Charité, in der Anhörung. Bisher gebe es keine heilende Therapie. Deshalb sind Kassenärztliche Bundesvereinigung und GKV-Spitzenverband gegen die Aufnahme in den DMP-Katalog. Letzterer fordert, ein „umfassendes bio-psycho-soziales Krankheitsmodell“ im Auge zu behalten und eine zu enge Fokussierung auf „biomedizinische Verfahren“ zu vermeiden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sowie Betroffenen-Verbände begrüßen den Vorstoß.
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) hat im Januar 100 Millionen Euro für die Versorgungsforschung von Long-COVID und Postvac in Aussicht gestellt. Gespräche über die Finanzierung laufen Medienberichten zufolge noch. Auch Martina Stamm-Fibich, Patientenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, mahnt insbesondere den Aufbau von nachhaltigen Forschungsstrukturen wie beispielsweise neuer Professuren an. Dafür sieht sie auch die Länder in der Pflicht. „Im Bereich der Therapieforschung würde ich mir mehr Initiative aus der pharmazeutischen Industrie wünschen“, sagt sie.
Weiterführender Link:
Zum Antrag der Union „ME/CFS-Betroffenen sowie deren Angehörigen helfen – Für eine bessere Gesundheits- sowie Therapieversorgung, Aufklärung und Anerkennung“
https://dserver.bundestag.de/btd/20/048/2004886.pdf
Der Innovationsfonds fördert seit 2016 neue Versorgungsformen und Versorgungsforschung in Deutschland. Er unterstützt mit GKV-Geldern innovative, sektorenübergreifende neue Versorgungsformen und Vorhaben der patientennahen Versorgungsforschung. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz von 2019 wurde er modifiziert: Das Gesetz sieht vor, dass der Fonds befristet bis 2024 fortgeführt wird, das jährliche Fördervolumen wird auf 200 Millionen Euro gesenkt. Im Koalitionsvertrag der Ampel ist indes unmissverständlich festgehalten, dass der Innovationsfonds verstetigt werden soll. Vor diesem Hintergrund hat im vergangenen Jahr bereits der Bundesverband Managed Care eine „mutige Weiterentwicklung“ des Fonds verlangt (Gerechte Gesundheit berichtete) – nicht zuletzt, weil neue Versorgungsprojekte bislang nicht den Sprung in die Regelversorgung geschafft hätten. Auch Hecken mahnt kürzlich auf einem Kongress von Monitor Versorgungsforschung eine kritische Reflexion aller Beteiligter an.
Er selbst macht auf der Veranstaltung den Anfang und räumt ein: In der Vergangenheit wurde manches gefördert, obwohl das Wissen bereits in der Versorgung vorhanden gewesen sei. Gleichzeitig wurde manches gefördert, obwohl bei kritischerer Prüfung hätte bemerkt werden können, dass bestimmte Anträge von Anfang an dazu verdammt waren, keine befriedigenden Ergebnisse zu erbringen.
Für zwingend erforderlich hält es Hecken daher, künftig vor der Förderbekanntmachung enger mit dem Netzwerk Versorgungsforschung zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sollten Themencluster und Schwerpunkte identifiziert werden, bei denen Untersuchungsbedarf und „echter medical need“ gesehen wird. Praktisch könnte das so aussehen, dass sich Forscherinnen und Forscher mit inhaltlich ähnlichen Projekten zusammenschließen. Eine andere Möglichkeit sei, umfassende Projekte an ein vernetztes Konsortium vergeben werden.
[caption id="attachment_6889" align="alignright" width="514"]
Die Agenda des G-BA
Ein drängendes Thema für den Fonds ist aus Sicht des G-BA beispielsweise die Diagnostik. Hecken geht es dabei nicht um die Bewertung eines einzelnen Medizinproduktes, sondern grundsätzlich um Wirksamkeit und Nutzen von Diagnostik im Kontext von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Beispiel Onkologie: Viele Patienten bekämen in den letzten Tagen noch ein CT, nur wenige würden allerdings der palliativmedizinischen Versorgung zugeführt, kritisiert Hecken. Als weitere förderungswürdige Themen nennt er unter anderem Indikationsstellung – konkret die Übersetzung, Entwicklung oder Validierung von Fragebögen beziehungsweise Assessment-Instrumenten. In Sachen Qualitätssicherung denkt der G-BA-Chef an validierte Qualitätsindikatoren aus Routinedaten insbesondere aus der ambulanten Versorgung – „damit die permanenten Dokumentationsexzesse ein Ende finden“.
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Bild: Prof. Josef Hecken, Vorsitzender des Innovationsausschusses © pag, Fiolka
Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem warnt auf der Veranstaltung allerdings davor, bei der Priorisierung das Kind mit dem Bade auszuschütten. „Wir müssen die Balance wahren zwischen den großen Linien und der Vielzahl von indikationsspezifischen Einzelproblemen in der Versorgung, die Balance zwischen Mainstream und differenzierten Fragestellungen“, appelliert er. Das sieht Hecken ebenso. Er schlägt pro Ausschreibungsrunde ein Großthema vor, bei dem „die Erde bebt“. Daneben müsse es Platz für die „Exoten“ geben, als ein Stichwort nennt er Orphan Diseases.
Auch Prof. Bertram Häussler bricht bei seinem Vortrag eine Lanze für mehr Priorisierung – und für mehr thematischen Weitblick. „Wenn wir heute über Versorgungsforschung nachdenken, dann muss uns klar sein, dass wir über eine Zukunft nachdenken, die locker zehn Jahre von heute entfernt ist, vielleicht sogar noch mehr.“ Damit spielt der Direktor des Berliner IGES Instituts auf die Jahre an, die es dauert, bis die Projekte überhaupt auf dem Markt sind. Hinzu kommt die müheselige Implementierung. Häusslers Schlussfolgerung: Bei der Forschung müsse es um „unmet needs“ gehen, die in zehn Jahren eine Rolle spielen. „Wir sollten davon ausgehen, dass wir in zehn Jahren Digitalisierung haben werden und brauchen nicht mehr zu erforschen, ob es hilft, wenn wir mit einer App eine Information von A nach B schicken.“
Neben der Priorisierung der Versorgungsforschung kommen bei der Tagung weitere Reformbedarfe des Innovationsfonds zur Sprache. Hecken etwa will mehr Professionalisierung bei der der Vorauswahl der Projekte durch den Expertenpool, dem mittlerweile über 100 Personen angehören. Der Pool hat den Beirat abgelöst, der Hecken zufolge nach relativ einheitlichen Kriterien die Forschungsvorhaben begutachtet habe. Das ist beim Pool derzeit offenbar nicht der Fall.
Problematisch findet der G-BA-Chef außerdem das Thema Adressaten, wenn es um die Überführung neuer Versorgungsformen und Versorgungsforschung geht. Als Adressaten kommen dafür neben dem G-BA beispielsweise die Trägerorganisationen des Ausschusses, Vertragspartner auf Landesebene, medizinische Fachgesellschaften, Ministerien oder Organisationen der Pflege in Frage. Regt der Innovationsfonds eine Überprüfung oder eine Überführung an, ist nur der G-BA als Adressat gezwungen, bestimmte Schritte zu veranlassen oder dem Bundesgesundheitsministerium Meldung zu erstatten, wenn nichts passiert. Um auch bei den anderen Akteuren einen „gewissen Druck“ zu erzeugen, plädiert Hecken dafür, einen Rechtfertigungszwang für alle Adressanten einzuführen.
[caption id="attachment_6915" align="alignleft" width="517"]
Priorisierungskatalog
Wie lässt sich die Versorgungsforschung konkret priorisieren? Häussler nennt dafür unter anderem einen ursprünglich aus der Pädiatrie stammenden Ansatz, der sich mittlerweile in vielen Bereichen der Medizin etabliert habe: die CHNRI method.
Fünf Kernfragen stehen dabei im Mittelpunkt, die Häussler wie folgt wiedergibt:
Answerability: Kann man eine (Forschungs-)Frage überhaupt beantworten?
Equity: Ist es gerecht, diese Frage zu beantworten, auch in Hinblick auf die Ressourcen?
Impact on burden: Wird es den Menschen später besser gehen, wenn wir das erforscht haben?
Deliverability: Lässt es sich umsetzen?
Effectiveness: Wird es brauchbare beziehungsweise bezahlbare Ergebnisse liefern?
Dieses Problem sieht auch Prof. Wolfgang Hoffmann, Vorsitzender des Netzwerkes Versorgungsforschung. Er konstatiert, dass die Maßnahmen zur Überführung in die Regelversorgung nicht effektiv seien. „So wie es bei neuen Medikamenten und Medizinprodukten einen geraden Weg in Regelversorgung gibt, braucht es das auch für innovative Versorgungsmodelle“, verlangt er. Der Versorgungsforscher von der Universitätsmedizin Greifswald räumt ein, dass die Versorgungsforschung gefordert sei, sich so zu organisieren, dass die Dinge „nicht im Sande verlaufen“. Als großen Bremsklotz für Versorgungsinnovationen sieht er allerdings den Gemeinsamen Bundesausschuss. Die Bänke des Gremiums seien nicht innovativ, weil sie alle ihren Beritt zu verteidigen hätten. Deshalb passiere nichts, was eine der Bänke in Frage stellen würde. Hoffmann ist deshalb davon überzeugt, dass letztlich nur der Weg über den Gesetzgeber bleibe: „Um neue Versorgungsformen in die Breite der Regelversorgung zu implementieren, wird es fast nie ohne gesetzliche Regelung funktionieren“, meint er. Die Nachfrage Häusslers, wie viele einzelne Paragraphen das SGB V vertragen kann, ist allerdings nicht unberechtigt.
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Was diese therapeutischen Lücken im Versorgungsalltag bedeuten, schildert der Gynäkologe Prof. Matthias Beckmann vom Universitätsklinikum Erlangen. Weichen Ärzte vom Therapiekonzept ab, sind Patienten verunsichert. Der Wechsel der Medikamente führe zu Abbrüchen und damit zu einer abbruchbedingten Verschlechterung der Prognose. Besonders dramatisch: Beim triple-negativen Brustkrebskarzinom gebe es neue Checkpoint-Inhibitoren, die zusammen mit einem Chemotherapeutikum zugelassen worden seien. Dieses Therapiekonzept stelle für die Patientinnen einen deutlichen Überlebensvorteil dar. Allerdings sei der Kombinationspartner derzeit nicht erhältlich. Die Alternativen hätten keinen Überlebensvorteil gezeigt, so Beckmann. Das Tandem könnte daher nicht eingesetzt werden. „Deswegen haben wir eine Verschlechterung der Prognose durch eine nicht durchgeführte Therapie“, sagt er. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sieht er durch die Engpässe als „nachhaltig gestört“ an.
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) will mit einem neuen Gesetz, dessen Eckpunkte Mitte Dezember vorgestellt wurden, Arzneimittelengpässen begegnen. „Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben“, lässt er sich zitieren. Sein Vorhaben konzentriert sich vor allem auf den beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelten Beirat sowie Kinderarzneimittel. Bei ihnen seien die Konsequenzen der Ökonomisierung gerade besonders hart zu spüren. Ihre Preisgestaltung solle daher „radikal“ verändert werden.
Die Eckpunkte für das geplante Gesetz sehen unter anderem vor, dass der Beirat eine Liste von Arzneimitteln erstellt, die für die Sicherstellung der Versorgung von Kindern erforderlich sind. Festbeträge und Rabattverträge sollen für diese Mittel abgeschafft werden. Das Preismoratorium wird für sie angepasst. Als neue Preisobergrenze wird das 1,5-fache eines aktuell bestehenden Festbetrags oder, sofern kein Festbetrag besteht, das 1,5-fache des Preismoratorium-Preises festgelegt. Die GKV übernimmt für Kinder bis zum vollendeten zwölften Lebensjahr und für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr die Mehrkosten von verordneten Arzneimitteln bis zum 1,5-fachen Festbetrag bei einer Abgabe von Arzneimitteln über Festbetrag.
Außerdem sollen Onkologika und Antibiotika, deren Wirkstoffe in der EU produziert werden, bei Ausschreibungen von Kassenverträgen bevorzugt werden. Der Beirat kann dem Bundesgesundheitsministerium weitere Wirkstoffe und Indikationen empfehlen. Für rabattierte Arzneimittel soll es eine mehrmonatige, versorgungsnahe Lagerhaltung geben. Apothekern soll es erleichtert werden Ersatz für Arzneimittel, die von Engpässen betroffen sind, anzubieten. Und: Um drohende Engpässe frühzeitig zu erkennen, erhält das BfArM zusätzliche Informationsrechte gegenüber pharmazeutischen Unternehmen und Großhändlern.
Auch die Onkologen haben einige Vorschläge parat, wie den Engpässen wirksam begegnet werden könnte. Auf der Pressekonferenz bringt Prof. Thomas Seufferlein, Vorstandsmitglied der Deutschen Krebsgesellschaft, unter anderem eine Positivliste unverzichtbarer Arzneimittel ins Spiel. An der Liste sollen auch die Fachgesellschaften mitschreiben. Der Onkologe nennt ferner eine „bessere Berücksichtigung des Wertes von (generischen) Arzneimitteln für die Versorgung bei der Bepreisung“.
Außerdem liegt den Krebsmedizinern mehr Transparenz am Herzen: Seufferlein mahnt ein präventives Frühwarnsystem an, um Versorgungsdefizite rechtzeitig abzuwenden. Dazu gehöre unter anderem ein Monitoring von Apothekenvertrieb/Großhandel und Herstellungsvolumen, auch über die Kostenträger. Der Medizinische Leiter der DGHO, Prof. Bernhard Wörmann, will, dass die Industrie umgehend über drohende Lieferengpässe informiert – und nicht erst bei bereits bestehenden Problemen.
[caption id="attachment_6922" align="alignleft" width="516"]
Eine Erfolgsgeschichte: der Beirat
BfArM-Präsident Prof. Karl Broich stellt vor der Presse das Vorgehen des vom Bundesinstitut koordinierten Beirates anhand mehrerer Beispiele vor. Ein Schema F gibt es nicht, denn: „Kein Engpass gleicht dem anderen“, sagt Broich. Für ihn ist das Gremium „ein Erfolgsfaktor, der uns geholfen hat, zusammen sehr viele Krisensituation zu bewältigen“.
Mit Positivlisten hat er dagegen keine so bestechenden Erfahrungen gemacht. Der vor einigen Jahren unternommene Versuch sei am Ende nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Broich zufolge hat jede Fachgesellschaft die ihr wichtigsten Arzneimittel aufgeschrieben sowie alles, „was noch wünschenswert wäre“. Das Ergebnis sei eine „ultralange Liste“ gewesen. Diese Erfahrung habe die US-Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) mit den amerikanischen Fachgesellschaften ebenso gemacht.
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Bild: Prof. Karl Broich, Präsident des BfArM © pag, Fiolka
Last but not least ist festzuhalten, dass Engpässe kein allein deutsches Problem sind. Die US-Zulassungsbehörde hat sich damit ebenso auseinandergesetzt wie die Europäische Union. Die FDA konstatiert etwa, dass es für Hersteller einen Mangel an Incentives gebe, „less profitable drugs“ zu produzieren. Auch honoriere der Markt Hersteller nicht für ausgereifte Qualitätssysteme, die sich auf eine kontinuierliche Verbesserung und das frühzeitige Erkennen von „supply chain issues“ konzentrieren. Hierzulande fordern Ärzteorganisationen vermehrt eine stärkere Rückverlagerung der Produktion wichtiger Arzneimittel nach Europa. Neben den Onkologen hat sich dafür Ende vergangenen Jahres auch der Marburger Bund stark gemacht. Doch der Aufbau neuer Produktionsstätten in Europa ist noch eine ganz andere Herausforderung als an der Festbetragsschraube zu drehen oder bei Rabattverträgen weitere Vorgaben zu machen. Ein sehr langer Atem wird dafür erforderlich sein.
[caption id="attachment_6930" align="alignright" width="500"]
Chinas Medikamente
Die starke Abhängigkeit der deutschen Arzneimittelproduktion von China ist Thema im Herbst beim „Berliner Dialog“ von Pro Generika. Dort ziehen Experten eine Parallele zur Abhängigkeit von russischem Gas. Die geo- und wirtschaftspolitischen Risiken seien in den letzten Jahren massiv gewachsen, warnt Dr. Tim Rühlig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er hält eine militärische Auseinandersetzung Chinas mit Taiwan für nicht unwahrscheinlich. Diese könne schneller kommen als viele derzeit glaubten. Eine Reduzierung der eigenen Abhängigkeit von der Volksrepublik sei deshalb politisch geboten – vor allem durch mehr Diversifizierung und eine größere unternehmerische Risikostreuung, argumentiert Rühlig. Aufgrund des Kostendrucks habe sich die Produktion in den letzten Jahren nach Fernost verlagert, erläutert Peter Stenico, seinerzeit Vorstandsvorsitzender von Pro Generika. Ein weiterer Grund seien gezielte Maßnahmen des chinesischen Staates, die Arzneimittelproduktion auszubauen.
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Bild: Dr. Tim Rühlig, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
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Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, Arzneimittelengpässe in der Behandlung von Krebspatienten 2022, Januar 2023, PDF, 5 Seiten
www.dgho.de/publikationen/schriftenreihen/arzneimittelengpaesse/arzneimittelengpaesse-in-der-onkologie-2022.pdf
mit: Prof. Monika Klinkhammer-Schalke (Tumorzentrum Regensburg, Universität Regensburg), Friedhelm Leverkus (Pfizer), Prof. André Scherag (Universitätsklinikum Jena) und Gloria Seibert (Temedica)
Die Referentinnen und Referenten der ersten Session plädieren einhellig dafür, den Begriff Real World Data (RWD) durch versorgungsnahe Daten auszutauschen. Prof. Monika Klinkhammer-Schalke betont: „Versorgungsnah ist, einen Menschen zu begleiten – von Anfang bis Ende – und vor allem mit den Daten zu zeigen, welches die beste Therapie ist.“ Eine wichtige Rolle spielten dabei die Krebsregister. Anhand mehrerer Beispiele stellt sie den Wert der Forschung mit versorgungsnahen Daten für die konkrete Behandlung von Krebspatienten dar: Die Arbeitsgemeinschaft deutscher Tumorzentren führe alle zwei Jahre mit den Landesregistern Daten zu 13 Tumorarten zusammen. Die Daten zeigten beispielsweise, wann eine postoperative Chemotherapie nach neoadjuvanter Radiochemotherapie beim Rektumkarzinom notwendig sei, so die Versorgungsforscherin. Ein weiteres Beispiel ist die WiZen Studie. Die Erhebung konnte belegen, dass Patienten besser überleben, wenn sie in zertifizierten Zentren behandelt werden. Für die Studie wurden Daten von vier großen Registern gemeinsam mit Daten der AOKen ausgewertet.
Als Hürde für die Forschung mit versorgungsnahen Daten nennt Klinkhammer-Schalke unter anderem die unterschiedlichen Datenschutzvorgaben aus den Bundesländern. Positiv stimmt sie jedoch die gute Zusammenarbeit in der Krebsmedizin bei mehreren Großprojekten. Die Onkologie sei damit eine Blaupause für andere Krankheiten. Als großer Vorteil habe sich der Stammdatensatz erwiesen.
Im Anschluss stellt Prof. André Scherag die Aktivitäten der vom Bundesforschungsministerium geförderten Medizininformatik-Initiative (MII) vor. Deren Grundidee: Daten aus der stationären Krankenversorgung nicht ausschließlich für den konkreten Versorgungsfall zu verwenden, sondern diese für Forschung zu nutzen und damit zur Verbesserung der Versorgung beizutragen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Datenintegrationszentren. Sie stellten eine Organisationseinheit innerhalb der Universitätskliniken dar und kümmerten sich darum, die Daten aus der stationären Krankenversorgung zu erschließen und zu harmonisieren. Ein durchschnittliches Krankenhaus verfügt Scherag zufolge über bis zu 250 primäre IT-Systeme, in denen die Daten in unterschiedlicher Weise abgelegt sind. „Diese Daten müssen auf einen Standard gebracht werden, damit man über Standorte hinweg Datenintegration und -auswertung machen kann“, sagt er. Dafür seien auch viele rechtliche Vorgaben zu beachten, weshalb an den MII-Standorten die breite Einwilligung (Broad Consent) eingeführt wurde und man außerdem „Use and Access Committees“ etabliert hat.
Der Wissenschaftler betont, dass die MII nur ein Teil der gerade laufenden vielfältigen Initiativen zum Thema Medizindaten sei. Er hofft, dass eine versorgungsnahe und forschungskompatible elektronische Patientenakte bald im Zentrum der Aktivitäten steht – „das wäre der Traum“.
Die zahlreichen Initiativen hebt Friedhelm Leverkus ebenfalls positiv hervor. Mit dem geplanten European Health Data Space verweist er auch auf die internationale Ebene. Leverkus berichtet, dass sich sowohl die europäische als auch die US-amerikanische Zulassungsbehörde für Real World Data öffneten und prognostiziert, dass versorgungsnahe Daten zunehmend im Zulassungsprozess verwendet werden. Gebe es beispielsweise beim „Primary Approval“ nur geringe Patientenzahlen, weil es sich bei dem Medikament um ein Orphan Drug handele, ließen sich die einarmigen Studien durch Versorgungsdaten ergänzen. Letztere seien daher ein wichtiger Baustein, um die Aussagesicherheit zu erhöhen. Leverkus zufolge gibt es für etwa drei Viertel der Nutzenbewertungen von Orphan Drugs randomisierte kontrollierte Studien (Randomized Controlled Trials, RCT), bei einem Viertel hingegen nicht. Weitere Einsatzmöglichkeiten sieht er bei Indikationserweiterungen sowie dem Thema Sicherheit.
Insgesamt verbesserten versorgungsnahe Daten die Arzneimittelforschung – zum Beispiel könnten die Bedarfe besser identifiziert und die Medikamente besser zu den Patientinnen und Patienten gebracht werden. Auch die Versorgung werde verbessert. Leverkus ist überzeugt: „Wir sind näher dran an dem, was die evidenzbasierte Medizin will: Wir können datenbasiert entscheiden.“
Mit der Analyseplattform Permea werten Sie Patientendaten aus der Versorgungswelt aus. Wie funktioniert das? Welche Datenwelten bringen Sie zusammen?
In unserer Datenplattform haben wir Zugriff auf unterschiedlichste gesundheitsbezogene Datentypen wie beispielsweise Versicherungsdaten, Verkaufs- und Rezeptdaten, Registerdaten, Patientenkonversationen sowie patientengenerierte Daten von mehr als 50.000 Erkrankungen. Jeder dieser Datentypen beleuchtet einen unterschiedlichen Aspekt des Gesundheitswesens. Traditionell werden diese Datentypen isoliert betrachtet. Wir bei Temedica brechen diese Silos auf, verknüpfen einzelne Datensets und generieren daraus bisher unbekannte Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse werden über unsere innovative Analyseplattform Permea unseren Partnern zur Verfügung gestellt, die damit einen 360-Grad-Überblick über Erkrankungen, Märkte und Patienten erhalten.
Wie übersetzen Sie Ihre Erkenntnisse in neues Wissen für Versorgungsakteure?
Die unterschiedlichen Datensets aus unserer Datenplattform verknüpfen wir auf eine intelligente Art und Weise, woraus aus einzelnen Datensets neue Informationen entstehen. Ein Beispiel hierfür ist die Information, welche Therapiewechsel in einer spezifischen Patientenkohorte stattfinden und was die jeweiligen Gründe für die Wechsel sind. Wenn wir diese Information nun im richtigen Kontext betrachten, entsteht daraus neues Wissen, das für alle Beteiligten im Gesundheitssystem, wie beispielsweise Ärzte, Patienten, Forschungsinstitute, Versicherungen und die Industrie, von hoher Relevanz ist. Hierfür haben wir unser Temedica Ökosystem geschaffen – damit erhält jeder Stakeholder Zugriff auf das durch uns neu geschaffene Wissen: Ärzte nutzen dieses für eine bessere Versorgung ihrer Patienten, Patienten verstehen ihren Krankheitsverlauf besser, Wissenschaftler erhalten neue forschungsrelevante Einblicke und Versicherungen und die Industrie ein besseres Bild über die Versorgungsrealität.
[caption id="attachment_6720" align="aligncenter" width="1200"]
mit: Prof. Peter Falkai (LMU Klinikum, München) und Prof. Tjalf Ziemssen (Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden)
In der zweiten Session steht die Versorgung von chronischen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen im Mittelpunkt – und wie diese durch Real World Data verbessert werden kann. Prof. Tjalf Ziemssen betont, dass die Erfahrung eines einzelnen Arztes nicht ausreiche, um Patienten mit Multipler Sklerose (MS) optimal zu behandeln. Wichtig sei es, hoch qualitative Versorgungsdaten von möglichst vielen Zentren zu sammeln, um von der Erfahrung weiterer Neurologinnen und Neurologen zu profitieren und „die Gesamtheit der Therapieerfahrung“ in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Seiner Erfahrung nach sind die meisten Patientinnen und Patienten bereit, ihre Daten zu teilen. Diese Erfahrung bestätigt Prof. Peter Falkai. Auch die deutliche Mehrheit der psychisch Kranken habe kein Problem damit, dass ihre Daten gesammelt werden. An seiner Klinik sei ein Broad Consent etabliert worden.
Wichtig sind nach Ansicht beider Ärzte versorgungsnahe Daten auch dafür, um Wissenslücken aus Zulassungsstudien auszugleichen, denn die Folgen neuer Therapien zeigten sich bei neurologischen oder psychiatrischen Patienten erst nach einigen Jahren. Ziemssen und Falkai heben insbesondere die Bedeutung von Daten zur Lebensqualität hervor.
Noch immer existieren zahlreiche Hürden beim Umgang mit Real World Data in der Versorgung. MS-Spezialist Ziemssen mahnt eine neue Kultur an, auch in Form von Incentivierungen: Es sei für die Behandler sehr aufwendig, die Patienten ausführlich aufzuklären und die Daten zu pflegen. Thema IT: Die Informationssysteme der Krankenhäuser sind nach seiner Einschätzung nicht in der Lage, agile versorgungsnahe Daten zu sammeln. Zudem seien diese IT-Systeme, ebenso wie die Praxissoftware der Niedergelassenen, abgeschottete Burgen. Ärzte sollten in die Softwareentwicklung miteinbezogen werden, lautet seine Folgerung.
Falkai problematisiert die mangelnde Kommunikation zwischen Versorgungsforschern und klinischen Forschern. Dabei könnten beide voneinander profitieren: Wer eine randomisiert kontrollierte Studie mache, könne aus versorgungsnahen Daten lernen, ob die Frage wirklich relevant sei. Umgekehrt könnten aus versorgungsnahen Daten Fragestellungen entwickelt werden, für deren Beantwortung eine RCT erforderlich sei. Falkais Kritik: „Jeder macht sein eigenes Ding und vergisst über den eigenen Tellerrand zu schauen.“
Was muss passieren, damit die digitale Infrastruktur hierzulande reif ist für eine systematische Generierung und Weiterverarbeitung von Real World Data?
Es muss eine wirklich gute digitale Infrastruktur mit entsprechenden Schnittstellen geschaffen werden, zum anderen müssen auch für die einzufordernde Dokumentation finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden, wie das zum Beispiel bei den skandinavischen Registern schon der Fall ist. Am besten von den Kostenträgern und eben nicht direkt von der Pharmaindustrie.
Welche Erfahrungen haben Sie mit digitalen Tools gesammelt, in die Patientinnen und Patienten ihre Versorgungsdaten selbst eingeben? Wie verändert sich dadurch ihre Patientenrolle?
Wir haben mit der Einbindung von digitalen Tools in den klinischen Alltag bei der Multiplen Sklerose sehr positive Erfahrungen gemacht. Das Konzept unseres digitalen MS Zwillings wird sehr gut von den Patienten aufgenommen. Auch die Erfassung neurologischer Funktionen mittels digitaler Tools wird sehr geschätzt. Allerdings muss die Implementierung möglichst integrativ in die Versorgungsprozesse erfolgen, was bei den DiGAs als nicht integrierte Black Box nicht der Fall ist.
[caption id="attachment_6724" align="aligncenter" width="1200"]
mit: Dr. Gertrud Demmler (Siemens Betriebskrankenkasse), Prof. Josef Hecken (G-BA), Dr. Thomas Kaiser (IQWiG) und Dr. Martina Schüßler-Lenz (Paul-Ehrlich-Institut)
[caption id="attachment_6961" align="alignright" width="500"]Welche Erfahrungen die Zulassungsbehörden mit Real World Data – insbesondere bei Gen- und Zelltherapien – sammeln, gibt Dr. Martina Schüßler-Lenz zum Auftakt der dritten Session wieder. Sie spricht bezogen auf die Qualität der Daten von einer „unbefriedigenden Situation“. „Die Qualität der Daten, die wir bekommen, ist sehr unterschiedlich.“ Oft wiesen sie „wesentliche Lücken“ auf.
Schüßler-Lenz berichtet, dass oft bereits existierende Krankheitsregister vom Hersteller für die Durchführung von Beobachtungsstudien genutzt werden, um die zum Zeitpunkt der Zulassung nicht vorhandenen Daten nachzuliefern. Welche Datenquelle verwendet werde, sei die Entscheidung der Zulassungsinhaber, die Behörden geben jedoch vor, welche Daten zu erfassen sind. Das Problem: Oft könnten die Register diese nicht liefern. Die Ergänzung der Register um die geforderten Daten dauere wiederum Jahre. Die PEI-Vertreterin charakterisiert die europäische Registerlandschaft unter anderem als intransparent, nicht vernetzt und geprägt von Insellösungen – „und davon ist Deutschland in keiner Weise ausgenommen“, sagt sie. Erschwerend kommen die unterschiedlichen Anforderungen an Patienteninformationen und Datenschutz hinzu. Auch fehle auf europäischer Ebene ein legaler beziehungsweise regulatorischer Rahmen, an dem aber momentan gearbeitet werde.
Für Prof. Josef Hecken bleiben RCT zwar der Goldstandard beim Health Technology Assessment (HTA), allerdings seien die Realitäten zunehmend andere: Der medizinisch-technische Fortschritt stoße in Behandlungsbereiche vor, „in denen man es verstärkt mit kleineren Patientengruppen zu tun hat, in denen es in manchen Fällen ethische Limitationen gibt und in denen es einen echten oder vermeintlichen ungedeckten Medical Need gibt“. Auf Zulassungsebene fänden daher Nutzen-Schadens-Betrachtungen auf Basis „rudimentärer Daten“ statt – mit der Folge, „dass wir häufig keine Daten haben, die eine HTA-Bewertung ermöglichen“.
Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu den Auflagen der Zulassungsbehörden sei, dass bei der Anwendungsbegleitenden Datenerhebung der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Register verpflichtend vorgebe. Eine Harmonisierung der beiden Verfahren hält Hecken für überfällig. „Die mit viel Euphorie und jugendlichem Leichtsinn gestartete Anwendungsbegleitende Datenerhebung ist im Gestrüpp der unzureichenden Registerstruktur hängengeblieben“, konstatiert der G-BA-Chef. Ein großes Problem sei insbesondere der frühzeitige Beginn.
Mehr Ernsthaftigkeit in der Analyse versorgungsnaher Daten fordert Dr. Thomas Kaiser vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Für bessere Daten sorgen müssten sowohl Hersteller als auch Registerbetreiber, „die wollen, dass mit ihren Registern Interventionseffekte beobachtet werden“. In diesem Fall käme es auf die richtigen Endpunkte, Laufzeiten und Confounder, das heißt Störgröße, sowie Vollständigkeit an. Die richtigen Methoden sind Kaiser zufolge weitgehend bekannt.
Er appelliert dafür, das Totschlag-Argument der „Best Available Evidence“ aufzugeben. Best verfügbar heiße nicht zwingend geeignet: Wenn Daten keine Angaben zu relevanten Endpunkten und zur Vergleichstherapie erhöben, dann seien diese nicht geeignet, eine Frage zum Zusatznutzen zu beantworten.
Positiv steht Kaiser registerbasierten RCT gegenüber. Beispiele dafür habe man während der Pandemie in anderen Ländern, etwa Großbritannien, gesehen. Dort habe es eine solche Studie gegeben, bei der neun Tage nach Planungsbeginn der erste Patient eingeschlossen werden konnte. Dabei ging es um die Behandlung von Coronapatienten mit einem Medikament auf Intensivstation. Kaiser nennt drei Gründe für die rasche Realisierung: Die Studie setzte auf eine bestehende Infrastruktur auf, konzentrierte sich auf Wesentliche und last, but not least gebe es im Königreich eine ausgeprägte Studienkultur. Diese vermisst er hierzulande.
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[caption id="attachment_6690" align="alignright" width="500"]Jenseits der Zulassungs- und HTA-Welt stellt Dr. Gertrud Demmler die Kassenperspektive auf versorgungsnahe Daten dar. Für sie ist es wichtig, anhand von Real World Data nachzuvollziehen, ob die Versorgung tatsächlich bei den Versicherten und Patienten ankommt. Außerdem werden die Daten für eine stärker personalisierte Beratung genutzt – „weg von der Schrotkugel“. Über Real World Data in einen engeren Austausch mit den Leistungserbringern zu kommen, ist für die Vorständin der Siemens-Betriebskrankenkasse ein „zentrales Zukunftsthema“: Sie will mehr Vernetzung, anstatt sich nur auf der Abrechnungsebene auszutauschen. Großen Weiterentwicklungsbedarf sieht sie etwa beim Entlassmanagement.
Das Problem: Es gebe zwar sehr viele Daten, aber die Abrechnungsdaten kämen zum Teil mit einem „unglaublichen Zeitverzug“. Demmler will Versorgungsdaten „in Echtzeit“. Wenn das im Rahmen des Abrechnungsprozesses nicht möglich sei, müsse man dies voneinander trennen. Bei längerfristigen Versorgungsperspektiven sind die Kassen zudem mit Löschfristen und zum Teil unklaren Datennutzungsrechten konfrontiert. Demmler hält fest: „Über eine viel stärkere, zeitnähere und hürdenfreiere Nutzung von Daten können wir die individuelle Versorgungssituation der Versicherten unterstützen und gleichzeitig die Qualitätsorientierung im Gesundheitswesen maßgeblich vorantreiben.“
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Mehr Informationen und Links zu den YouTube-Aufzeichnungen der Veranstaltungsreihe
www.gerechte-gesundheit.de/aktion/real-world-data-nachlese.html
Bei Frauen verursachten Schmerzerkrankungen und Demenzen mehr Krankheitslast als bei Männern. Männer hatten eine höhere Krankheitslast durch Lungenkrebs oder alkoholbezogene Störungen. Im jüngeren Erwachsenenalter führten neben Schmerzerkrankungen besonders auch alkoholbezogene Störungen bei beiden Geschlechtern bereits zu einer relativ hohen Krankheitslast. Neben den Altersverläufen stehen die Ergebnisse regional und getrennt nach Männern und Frauen zur Verfügung.
Die Analysen ergeben im Einzelnen, dass pro Jahr rund 12 Millionen DALY anfallen. Das entspricht 14.584 DALY je 100.000 Einwohner. Im Vergleich aller betrachteten Krankheitsursachen trägt die koronare Herzkrankheit insgesamt am meisten zur Krankheitslast bei (2.321 DALY je 100.000 Einwohner), gefolgt von Schmerzen im unteren Rücken (1.735 DALY) und Lungenkrebs (1.197 DALY), Kopfschmerzerkrankungen mit 1.032 DALY und der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung mit 1.004 DALY. Auch psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen sind unter den zehn häufigsten Krankheitslastursachen vertreten. „Solche Daten sind unverzichtbare Grundlage für Steuerung und Priorisierung von Maßnahmen der Gesundheitsversorgung und Prävention“, unterstreicht Prof. Lothar Wieler, seinerzeit Präsident des RKI.
„Burden 2020 – Die Krankheitslast in Deutschland und seinen Regionen“ wurde gefördert vom Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss. Beteiligt sind neben dem RKI das Wissenschaftliche Institut der AOK und das Umweltbundesamt.
[caption id="attachment_6763" align="alignright" width="500"]Was sind DALY, YLL und YLD?
Krankheitslast wird in Form des Indikators DALY (Disability-adjusted life years) gemessen. DALY beziffern die Abweichung der Gesundheit der Bevölkerung von einem optimalen Gesundheitszustand und setzen sich aus der Krankheitslast durch Mortalität (Years of life lost, YLL) und Morbidität (Years lived with disability, YLD) zusammen. YLL messen die Lebenszeit, die durch vorzeitiges Versterben im Vergleich zur statistischen Lebenserwartung verloren geht. YLD messen die Lebenszeit, die in eingeschränkter Gesundheit (Krankheit/Behinderung) verbracht wird. Krankheitslast hat gegenüber der isolierten Betrachtung von Sterbefällen und Krankheitshäufigkeiten den Vorteil, dass die Bedeutung von Krankheit (YLD) und Tod (YLL) für die Bevölkerungsgesundheit vergleichbar wird, auch international und regional. Als Datenquellen für Burden 2020 dienen vor allem die Todesursachenstatistik, Befragungsdaten und GKV-Abrechnungsdaten.
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Kinder- und Jugendärzte spielen eine maßgebliche Rolle bei der Aufdeckung von Kindesmisshandlung. Die emotionale Belastung solcher Untersuchungen und der damit einhergehende Stress seien allerdings mit einer unzureichenden Vorbereitung nicht tragbar, geht aus den Ergebnissen Thiekötters hervor. „Der Stressgrad, den die befragten Ärztinnen und Ärzte angeben, übersteigt deutlich klassische Notfallsituationen in der Primärversorgung“, so die Promovendin der Universität Witten/Herdecke. Sie deutet dies als Zeichen dafür, „dass es hier in der Ausbildung, aber auch in der Bereitstellung von Ressourcen Verbesserungsbedarf gibt.“
[caption id="attachment_6817" align="alignright" width="800"]Die Ergebnisse sollen als Richtlinie dienen, um notwendige Maßnahmen für den Umgang mit Stressfaktoren im Kinderschutz zu ergreifen. Durch gesundheitspolitisch veranlasste Änderungen in der Ausbildung könnten Kinder- und Jugendärzte besser auf solche Situationen vorbereitet werden. Zudem brauche es eine erweiterte Entwicklung praxistauglicher Prozesse, um die Kommunikation mit Eltern oder zuständigen Behörden richtig gestalten zu können. Auch der interdisziplinäre Austausch zum fachlich nahen Gebiet der Kinderpsychiatrie und Psychotherapie müsse ausgebaut werden, findet Prof. Oliver Fricke, Co-Autor der aus den Ergebnissen entstandenen Publikation. „Zwar sind Ärztinnen und Ärzte grundsätzlich vertraut mit der Kinderschutzleitlinie, doch nicht immer sind die Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung eindeutig als solche einzuordnen.“
Unterstützt wurde die Untersuchung vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Die vollständigen Ergebnisse sind als Publikation im internationalen Journal „Children“ veröffentlicht worden.
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Am 1. Januar 2025 soll zusätzlich ein von der Bundesregierung geplantes Implantateregister mit eigener Behörde in den Regelbetrieb starten. Dieses sieht eine gesetzliche Verpflichtung für Kliniken vor, ihre Daten an das Register zu übermitteln. Für Prof. Bernd Kladny, DGOOC-Generalsekretär, ist es unverständlich, dass auf die Erfahrungen sowie auf den Datenschatz des EPRD dabei nicht zurückgegriffen werden soll. Ulrike Elsner, Vorsitzende des vdek, befürchtet einen Rückschritt: Das EPRD verfüge über mehr Informationen als das zukünftige Implantateregister. Das neue Register müsse also mindestens äquivalente Daten erheben, um Vergleichsmöglichkeiten für die Hersteller zu schaffen. Diese betonen außerdem die Notwendigkeit, übermäßige Bürokratie und doppelte Datenerfassung zu vermeiden. „Das EPRD hat sich nun über zehn Jahre bewährt. Die Politik sollte diese international anerkannte und oft als Benchmark bezeichnete Institution nutzen“, verlangt Michel.
Unterdessen kritisiert die DAK Gesundheit, dass häufig Knieoperation stattfinden, ohne dass zuvor alle fachärztlichen oder physiotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden. Bis zu elf Prozent der Operationen bei Kniearthrose könnten durch eine bessere Versorgung vermieden werden und ein Knieersatz um sieben Jahre verzögert werden. Zu diesem Ergebnis kommt der Versorgungsreport der Kassen. Demnach ist fast jeder Vierte mindestens einmal im Leben von Kniearthrose betroffen. Im Laufe der Erkrankung scheitert bei jedem Fünften der Gelenkerhalt, sodass ein künstliches Kniegelenk eingesetzt werden muss. „Unser Report wirft die Frage auf, ob viele angesetzte Knie-Operationen überhaupt notwendig waren“, sagt DAK-Chef Andreas Storm. Risikofaktoren müssten durch Prävention verringert und konservative Therapiemöglichkeiten besser ausgeschöpft werden.
Auf einer Pressekonferenz mit diesen Ergebnissen konfrontiert sagt PD Stephan Kirschner, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik: Die DAK liege „nicht ganz falsch“. Bei der medikamentösen Therapie und bei der Krankengymnastik gebe es „einen gewissen Nachholbedarf“ und „in Einzelfällen Unterversorgung“. Er sieht aber auch die Patienten in der Verantwortung. Diese müssten aktiv nach Physiotherapie fragen.
[caption id="attachment_6868" align="aligncenter" width="1200"]
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Versorgungsreport der DAK:
Knieschmerzen/Gonarthrose – Wie eine bessere Versorgung Gelenkersatz vermeiden kann
www.dak.de/dak/download/report-2592292.pdf
Im Klimapakt verpflichten sich die Partner, bereits bestehende Initiativen und Aktivitäten zu bündeln und den Herausforderungen bei der Klimaanpassung und beim Klimaschutz aktiv zu begegnen. Unterzeichner sind neben dem BMG unter anderem die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), der GKV-Spitzenverband, die Bundesärztekammer oder die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Angegangen werden sollen unter anderem Energieeinsparungen, energetische Sanierung, Abfallvermeidung, nachhaltige Beschaffung, Nutzung erneuerbarer Energien und ein effizienter Ressourceneinsatz.
Vieles davon erfüllt das Universitätsklinikum Jena (UKJ) bereits. Dort leitet Dr. Marc Hoffmann die Stabsstelle Umweltschutz. Am UKJ existierten Projekt- und Arbeitsgruppen zu Themen wie Energie und Nachhaltigkeit, berichtet er auf der Veranstaltung „Klimaschutz im Krankenhaus“ der DKG. Für Geschäftspartner und Lieferanten gälten Beschaffungsgrundsätze, legt er dar. Das Klinikum habe es durch sein Energiemanagement geschafft, die CO2-Emissionen von rund 18.600 Tonnen in 2016 auf 12.100 in 2020 zu reduzieren.
Das UKJ ist nicht allein. Einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts zufolge steht der Klimaschutz ganz oben auf der Agenda vieler Krankenhäuser. 71 Prozent der befragten Kliniken sähen dafür die Notwendigkeit. 38 Prozent hätten bereits Leitlinien und Zielvorgaben zur Energieeinsparung und Nachhaltigkeit etabliert, 30 Prozent beschäftigten Klimamanager. Um noch mehr machen zu können, brauchen die Kliniken aber zusätzliches Geld, meint DKG-Vorstandsvorsitzender Dr. Gerald Gaß auf der Klimaschutz-Veranstaltung. Er verlangt von der Bundesregierung, aus dem Sondervermögen zur Klimaneutralität in Deutschland ein Green-Hospital-Investitionsprogramm aufzulegen. Der DKG schwebt ein zweistelliger Milliardenbetrag vor. Bisher hätten die Kliniken den Klimaschutz nicht adäquat verfolgen können, meint Gaß. Denn in der Vergangenheit sind die Länder ihren Investitionsverpflichtungen nicht ausreichend nachgekommen.
Und müssen die Beschäftigten im Gesundheitswesen diesen Aspekt auch mitdenken? Prof. Sebastian Schellong, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, hat dazu ein ambivalentes Verhältnis, wie auf der DKG-Veranstaltung deutlich wird. Bei Prävention und Gesundheitsförderung sei in Patientengesprächen Klimaschutz relevant – zum Beispiel, wenn es um Ernährung und Bewegung gehe. Er betont aber, dass die primäre Aufgabe der Gesundheitsberufe die „Dienstleistung am Patienten“ sei. Und diese Aufgabe fordere die Mitarbeiter in Kliniken bereits enorm – angesichts von Personalmangel und Bewältigung der Corona-Krise. Schellong: „Unsere Problemlage ist derzeit die allgemeine Erschöpfung.“
Weiterführender Link:
Die gemeinsame Erklärung zum Klimapakt Gesundheit
www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/G/Gesundheit/Erklaerung_Klimapakt_Gesundheit_A4_barrierefrei.pdf
Die Good Clinical Trials Collaborative (GCTC), eine gemeinnützige Organisation, verlangt die Richtlinien für randomisierte kontrollierte klinische Studien (RCT) zu überarbeiten. Im Mittelpunkt stehen ein Abbau von Bürokratie und finanzieller Hürden sowie die Öffnung für nationale elektronische Gesundheitsdaten, die unter pragmatischem Einsatz von Datenschutz für die Auswahl von Probanden nutzbar sein sollen.
Diesen Vorstoß begrüßen Fachgesellschaften und Patientenvertretung der deutschen Herzmedizin. Ähnliche Forderungen haben sie bereits in einem 2020 veröffentlichtem Positionspapier zur Nationalen Herz-Kreislauf-Strategie formuliert. Darin geht es um eine bessere finanzielle Ausstattung der kardiovaskulären Forschung, neue Forschungsprogramme für individualisierte Herz-Medizin, ein konzentriertes Programm zu KI-basierter kardiovaskulärer Forschung sowie politische und finanzielle Unterstützung beim Einrichten von Registern und für industrieunabhängige klinische Studien.
„Der Vorstoß der GCTC geht daher genau in die richtige Richtung“, sagt Prof. Stephan Baldus. Klinische Studien sollten in naher Zukunft smarter – das heißt kostengünstiger, effektiver und mit weniger Abbruchsrisiko – durchgeführt werden. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie begrüßt den Vorschlag, neben RCTs auch Daten aus den elektronischen Patientenakten dafür zu nutzen. Es werde Zeit, die klinische Forschung generell „ins 21. Jahrhundert zu überführen“.
Den kardiologischen Fachgesellschaften zufolge wurden die Rahmenbedingungen für RCTs in den letzten Jahren stark verkompliziert, sodass eine Durchführung wichtiger Studien mittlerweile oft zu komplex, zu kostspielig und zu langwierig geworden sei. „Statt neue, sichere Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Arzneimitteln und Verfahren zu ermöglichen, stehen die Richtlinien der Erforschung dieser mittlerweile im Weg“, heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung. Die Folge sei, dass RCTs oft abgebrochen oder gar nicht erst durchgeführt werden, was zu Lasten der Patientinnen und Patienten gehe und oft knappe Forschungsressourcen verschwende. Die GCTC fordert Lehren der COVID-Forschung auf RCTs in sämtlichen Bereichen zu übertragen. Flankierend sind dafür eine schnellere Digitalisierung und sichere, Cloud-basierte Technologien für die elektronische Patientenakte wichtig.
Auch für eine verbesserte Versorgung von herzkranken Kindern hierzulande seien diese Schritte unumgänglich. „Seit der letzten Novelle des Arzneimittelgesetzes sind die bürokratischen Hürden so groß geworden, dass ein einzelnes Zentrum ohne einen gut geölten Apparat für Studienlogistik im Hintergrund keine wissenschaftsinitiierten Studien mehr durchführen kann“, berichtet Prof. Matthias Gorenflo, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler. Über solche Strukturen verfügten nur wenige Zentren, sodass sei diese Art der klinischen Forschung im Grunde zum Erliegen gekommen sei. Auch deshalb mahnen die Kardiologen eine kostengünstigere, pragmatische klinische Forschung an, die sich Real-World-Daten zunutze macht, und die Erkenntnisse aus RCTs validiert und komplementiert.
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Für die Gesundheitskioske als niedrigschwelliges Angebot sieht das Bundesgesundheitsministerium folgende Aufgaben vor: Vermittlung von Leistungen der medizinischen Behandlung, Prävention und Gesundheitsförderung und Anleitung zu deren Inanspruchnahme, allgemeine Beratungs- und Unterstützungsleistungen zur medizinischen und sozialen Bedarfsermittlung und Durchführung von einfachen medizinischen Routineaufgaben.
Vorbild für das neue Versorgungsangebot ist der vom Innovationsfonds geförderte Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt. Das Vorzeigeprojekt ist 2022 zum Spielball politischer Auseinandersetzungen geworden, als die Ersatzkassen im September ihren Ausstieg verkünden. Dieser Rückzug wird als Reaktion auf Lauterbachs GKV-Finanzstabilisierungsgesetz gewertet, das vom Kassenlager heftige Kritik erfährt. Den Ersatzkassen zufolge haben sich außerdem die Leistungen des Kiosks mit bereits bestehenden Angeboten der Krankenkassen und anderen Akteuren gedoppelt – Stichwort Doppelstrukturen. Dr. Andreas Philippi (SPD), seinerzeit Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestags und mittlerweile Gesundheitsminister in Niedersachen, mahnt daher bei einer Fachtagung eine grundsätzliche Strukturreform der Gesundheitsversorgung an. Dazu gehörten auch Gesundheitskioske – an „ganz spezifischen“ Standorten. „Auch wenn es am Ende des Tages nicht unbedingt 1.000 solcher Einrichtungen sein müssen.“
Hamburg jedenfalls bekommt einen zweiten Kiosk, im Stadtteil Lurup. Das teilen die AOK Rheinland/Hamburg und die Mobil Krankenkasse mit, die bereits die Einrichtung in Billstedt finanzieren. Solche unterstützenden Angebote seien wichtig für Menschen, die sich alleine nicht oder nur schlecht im Gesundheits- und Sozialsystem zurechtfinden, meint Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg.
Ähnlich argumentiert Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, der dem deutschen Gesundheitssystem mangelnde Sozialkompetenz attestiert. Er wirbt dafür, Gesundheitskioske auch für psychisch kranke Menschen zu erproben. „Gerade Menschen in Armut, mit geringer Bildung, in Arbeitslosigkeit und mit ungenügender sprachlicher oder gesellschaftlicher Teilhabe könnte entscheidend dabei geholfen werden, Angebote zur psychischen Gesundheit zu nutzen.“
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Rund drei Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie verzeichnet die Deutsche Sepsis Hilfe einen Anstieg von Meldungen von Betroffenen mit Long-COVID-Symptomen, die durch eine Corona-Sepsis hervorgerufen wurden. Anlässlich des Projektes „Deutschland erkennt Sepsis“ baut die Organisation eine nationale Kontaktstelle für die Überlebenden, die mit den Spätfolgen einer Sepsis zu kämpfen haben, auf. Für sie soll zusätzlich ein Programm aufgesetzt werden: Sepsis Survivorship.
[caption id="attachment_6847" align="alignright" width="800"]Eine Sepsis kann sowohl durch Bakterien hervorgerufen werden als auch durch Viren und Pilze. Prof. Frank M. Brunkhorst vom Uniklinikum Jena geht davon aus, dass seit Beginn der Pandemie in Deutschland bisher 157.000 Menschen mit einer kritischen SARS-CoV-2-Infektion intensivmedizinisch behandelt wurden. Etwa 125.000 Menschen, die diese schwere Infektion überlebt haben, seien von Spätfolgen betroffen, die viele gemeinsame Merkmale einer überlebten Sepsiserkrankung aufweisen. „Diese Patientinnen und Patienten wissen meist nicht, dass sie eine Corona-Sepsis überlebt haben und Spätfolgen zu erwarten sind“, betont der stellvertretende Vorsitzende der Sepsis Hilfe. Um diesen Menschen zu unterstützen, soll eine nationale Beratung für Angehörige und Patienten aufgebaut werden. Für dieses Projekt arbeitet die Sepsis Hilfe mit der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zusammen.
Unterdessen hat der Bundestag im Januar über einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion beraten, der die Situation von Menschen in den Blick nimmt, die an ME/CFS erkrankt sind. Der zuständige Berichterstatter Erich Irlstorfer verlangt: „Die Erkrankung sowie das Leid der Betroffenen müssen endlich ernst genommen werden.“ Er fordert passgenaue und bedarfsorientierte Versorgungsstrukturen. Im Antrag wird der unverzügliche Aufbau der im Koalitionsvertrag genannten Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen für ME/CFS angemahnt. Auch sollte Betroffenen der Zugang zu Gesundheits- und Sozialsystemen erleichtert werden. Rehabilitationsangebote für Angehörige müssten gefördert werden, um deren physische und psychische Belastung zu reduzieren und die schulische oder berufliche Teilhabe auch für schwer Erkrankte zu ermöglichen.
Parallel zu der Debatte im Bundestag haben zahlreiche Menschen, die unter Corona-Langzeitfolgen leiden, eine Protestaktion initiiert. Die Gruppen „NichtGenesen" und „NichtGenesenKids“ haben über 400 Feldbetten vor dem Reichstag aufgestellt. Sie setzen sich unter anderem für mehr Forschung, Medikamentenstudien und eine bessere ärztliche Versorgung für Long-COVID-Betroffene ein.
Die Forderungen scheinen nicht zu verhallen: Gesundheitsminister Lauterbach hat ein Programm für Long-COVID-Patienten angekündigt. Dieses soll unter anderem eine Hotline für Betroffene beinhalten. Auch will der Politiker die Versorgungsforschung zu dem Thema fördern.
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Den aktuellen Gesetzentwurf hat das Parlament bis Redaktionsschluss (31. Oktober) noch nicht verabschiedet. Er schließt aus, bereits laufende lebenserhaltende Therapien bei sehr schlechter Erfolgsaussicht zugunsten der Behandlung von Menschen mit einer besseren Überlebenschance zu beenden. Das stößt bei Ärzteorganisationen wie der Bundesärztekammer auf Widerstand. Zahlreiche Fachgesellschaften haben zudem in einer Stellungnahme die geplante Regelung kritisiert: Sie erschwere die Anwendung des Kriteriums der Überlebenswahrscheinlichkeit und führe zu mehr vermeidbaren Todesfällen, heißt es in der Positionierung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Dagegen begrüßen Behindertenaktivisten wie Nancy Poser oder Dr. Sigrid Arnade das geplante Verbot der Ex-Post-Triage. Eine Position, die auch die BAG Selbsthilfe teilt.
„Wenn medizinische Hilfe wegen unzureichenden Ressourcen priorisiert werden muss, zwingt das zu tragischen Entscheidungen, dann ist nur noch Schadensbegrenzung möglich, also durch kluges Handeln möglichst viele Leben zu retten. Zu diesem klugen Handeln gehört auch die Ex-Post-Triage:
[caption id="attachment_6274" align="alignright" width="500"]Bereits getroffene Zuteilungsentscheidungen sollten in Abständen anhand der aktuellen klinischen Erfolgsaussicht geändert werden dürfen. Die Zumutung ist bei der Beendigung einer laufenden Intensivtherapie nicht größer als die Verweigerung in der Notaufnahme: In beiden Fällen muss ein Mensch sterben, der bei ausreichend verfügbaren Ressourcen hätte gerettet werden können. Warum sollte bevorzugt werden, wer zufällig früher aufgenommen wurde?
Ich habe Verständnis dafür, dass viele Menschen mit Behinderung nach zwei Jahren Pandemieerfahrung befürchten, auch bei der Triage benachteiligt zu werden. Ein Verbot der Ex-Post-Triage würde aber Behandlungsversuche verhindern und wäre damit gerade für unsere Personengruppe von Nachteil: In der Notaufnahme kann eine Behinderung – mangels anderer Kriterien – als vermeintliche Einschränkung der Erfolgschancen missdeutet werden, während sich die aktuelle Erfolgsaussicht im Rahmen eines Behandlungsversuchs viel objektiver beurteilen lässt.
Wir Menschen mit Behinderung leben in vielen Fällen mit einer höheren Gefahr eines schweren COVID-19-Verlaufs. Umso mehr sind wir darauf angewiesen, dass wir beim Eintreffen in der Notaufnahme nicht wegen voller Intensivstationen abgewiesen werden. Wenn die Überprüfung von Zuteilungsentscheidungen verboten wird, bleiben die Intensivstationen mit aussichtslosen Patienten gefüllt, zum Nachteil für die, die zufällig später kommen.
Wir sollten den Weg einschlagen, der möglichst viele Menschenleben rettet. Ärztinnen und Ärzte, die unter höchstem Druck solche Entscheidungen treffen müssen, brauchen dafür unser Vertrauen und Rechtssicherheit. Und bei all dem gilt weiterhin: Der Staat muss dafür sorgen, dass Triage vermieden wird!“
„Die Frage sollte eher lauten: Warum kann die Ex-Post-Triage nicht erlaubt werden? Bei der sogenannten Ex-Post-Triage verfügt ein Patient bereits über eine lebensrettende Behandlungsmöglichkeit. Das heißt, dass man solchen Patient:innen bewusst etwas wegnehmen müsste. Zurecht wird dieses aktive Tun strafrechtlich ganz herrschend als Totschlag angesehen. Auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht wäre es ja ein aktiver Eingriff in eine bestehende Rechtsposition bereits behandelter Personen, wenn der Gesetzgeber es legitimieren würde, diese Position jederzeit zu entziehen. Dass auch andere Bürgerinnen und Bürger eine solche Position anstreben, kann einen solchen Eingriff nicht rechtfertigen.
[caption id="attachment_6454" align="alignleft" width="500"]Unter dem Gesichtspunkt des Diskriminierungsschutzes kommt aber noch ein Weiteres hinzu: Bei der Triage geht es um die krisenhafte Notsituation eines Kollaps‘ des Gesundheitswesens. Hier ist es schlichtweg nicht möglich, hinsichtlich aller in Betracht kommenden Patient:innen fortlaufend (!) und nicht extra nur bei Schichtbeginn auf der Station evidenzbasierte Prognosen zu Überlebenswahrscheinlichkeiten zu erstellen. Es besteht vielmehr die Gefahr gefühlsmäßiger Abschätzungen auch von Mediziner:innen mit der Tendenz, die Resilienz von Menschen mit Behinderungen zu unterschätzen.
Genau dies ist aber eine typische Ausgangslage für Diskriminierungen. Ohnehin ist die Frage, ob es noch der Würde des Menschen entspricht, wenn die Betroffenen und ihre Angehörigen unter Umständen über Tage und Wochen im Unklaren bleiben müssen, ob ihnen nicht in den nächsten Minuten die lebensrettende Behandlungsmöglichkeit entzogen wird. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist ein besonderes Vertrauensverhältnis und kein Verhältnis der Über- und Unterordnung.
Der Gedanke, Leben zu evaluieren führt in einen utilitaristischen Wertekosmos, in dem eben nicht jedes Leben gleich viel wert ist, sondern in dem nach einem Nutzen für die Gesellschaft oder nach Entlastung für das Gesundheitssystem gefragt wird. Menschen mit Behinderung würden in einem solchen Kosmos tendenziell den Kürzeren ziehen. Dies ist nicht Zielrichtung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts."
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Die Veranstaltung ist nur ein Beispiel für den Meinungsbildungsprozess, der momentan bei vielen ärztlichen Organisationen im Gange ist – nicht ganz freiwillig, sondern vom Urteil des Bundesverfassungsgerichtes unter Zugzwang gesetzt. Das gleiche gilt für die Politik. Die Volksvertreter ringen schon länger mit dem Thema Sterbehilfe. In dieser Legislatur soll nun endlich ein Gesetz dazu verabschiedet werden. Dabei haben die Abgeordneten insbesondere zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht eine sehr weitreichende Entscheidung getroffen hat: Es spricht nämlich nicht nur Todkranken das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu. Dieses sei nicht an bestimmte Beweggründe wie eine unheilbare Krankheit gekoppelt. Auch Menschen, die völlig gesund sind, haben den Karlsruher Richtern zufolge das Recht, sich beim Suizid professionell begleiten zu lassen. Gerade mit diesem Punkt tun sich viele Ärzte schwer.
Grundsätzlich gilt: Zwar bleibt die aktive Sterbehilfe, die Tötung auf Verlangen, weiterhin in Deutschland verboten. Aber es darf das tödliche Medikament zur Verfügung gestellt werden, welches vom Sterbewilligen dann eingenommen wird. Der Deutsche Ärztetag hat zwar im Mai vergangenen Jahres als Reaktion auf das Urteil beschlossen, das berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe nicht mehr aufrechtzuerhalten. Betont wurde aber: Suizidbeihilfe ist keine ärztliche Aufgabe.
Die Diskussion über die assistierte Selbsttötung fordert das ärztliche Selbstverständnis heraus. Gerade deshalb sind Befragungen von Fachgesellschaften ein so wichtiges Instrument, um einen Einblick zu den Einstellungen, Erfahrungen und zur Handlungspraxis der Mitglieder zu gewinnen. Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie verfolgt das Thema schon seit Jahren und hat dazu bereits einige Umfragen initiiert. Der aktuellen, im September vorgestellten Befragung zufolge bleibt die assistierte Selbsttötung ein seltenes Phänomen: Lediglich 22 von 745 Befragten geben an, bereits Assistenz bei der Selbsttötung geleistet zu haben. Allerdings berichten gleichzeitig 40 Prozent der Umfrageteilnehmenden, dass sie bereits von Patientinnen und Patienten auf das Thema angesprochen worden seien. Studienautor Prof. Jan Schildmann von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg geht davon aus, dass Ärztinnen und Ärzte in der Hämatologie und Onkologie in Zukunft angesichts des veränderten rechtlichen Rahmens häufiger mit Anfragen konfrontiert werden. In der Schweiz habe sich die Zahl der assistierten Selbsttötungen seit 2010 etwa verdreifacht und mache dort heute knapp zwei Prozent aller Todesfälle aus.
Hierzulande befürwortet laut Umfrage nur eine Minderheit der Onkologen (26,7 Prozent) ein berufsrechtliches Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung. Freiverantwortlichkeit und unerträgliches Leiden werden als wichtige Kriterien für die Bereitschaft zur ärztlich assistierten Selbsttötung gesehen.
[caption id="attachment_6298" align="aligncenter" width="1200"]
Auch die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) will mit einer Umfrage unter ihren Mitgliedern Haltungen und Erfahrungen zum assistierten Suizid ermitteln. „Es gibt hier kein Richtig oder Falsch“, betont DGS-Vizepräsident Norbert Schürmann. Die Befragung hat im September begonnen und soll für ein halbes Jahr online sein. Gefragt werden die Schmerzmediziner unter anderem, welche Patienten aktuell um Unterstützung bitten. Weiter will die Fachgesellschaft wissen: Sollen nur Palliativpatientinnen und Palliativpatienten das Anrecht auf unterstützten Suizid haben oder auch chronisch somatisch und/oder psychisch Kranke, wenn die Behandlungen keinen Erfolg zeigen? Oder haben auch gesunde Menschen einen Anspruch auf ärztliche oder nicht-ärztliche Unterstützung?
Im Jahr 2020 kamen 9.206 Personen in Deutschland durch Suizid zu Tode, die meisten davon im Rahmen einer psychischen Erkrankung. Suizid und Suizidprävention sind daher auch zentrale Themen der Psychiatrie und Psychotherapie. Hinzu kommt, dass die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit einer Suizidentscheidung, die vom Bundesverfassungsgericht zur Voraussetzung für eine legitime Assistenz gemacht wurde, wesentlich in die fachärztliche Kompetenz von Psychiatern fällt, betont die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Eine in diesem Jahr veröffentlichte Online-Befragung der Gesellschaft zeigt, dass sich deren Mitglieder eine klare gesetzliche Regelung der Suizidbeihilfe wünschen. „Sie sollte unter anderem eine Begutachtung der Freiverantwortlichkeit umfassen, die nicht von derselben Person durchgeführt wird wie die Suizidassistenz,“ ergänzt DGPPN-Präsident Prof. Thomas Pollmächer.
[caption id="attachment_6302" align="alignleft" width="500"]Insgesamt liegen Daten von 2.048 Befragten und damit von mehr als einem Fünftel der Mitglieder der DGPPN vor. Der überwiegende Teil hält die Beihilfe bei freiverantwortlichen Suiziden nur unter bestimmten Umständen für legitim, zum Beispiel im Angesicht einer terminalen Erkrankung mit hohem Leidensdruck. Jeder fünfte Befragte findet allerdings, es gebe keinerlei Umstände, die eine Assistenz beim Suizid legitimierten. Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung schließt nach Einschätzung von drei Viertel der Befragten eine selbstbestimmte Entscheidung nicht per se aus. Allerdings könne die Freiverantwortlichkeit durch psychotische Symptome, depressive Symptome, kognitive Beeinträchtigungen und Suchterkrankungen deutlich eingeschränkt sein.
Die Befragungen der Fachgesellschaften zeigen – ebenso wie die kürzlich erschienene Stellungnahme des Ethikrates – wie vielschichtig das Thema Suizid ist. Dennoch darf das Parlament nicht länger davor zurückschrecken und muss endlich eine verlässliche gesetzliche Regelung entwickeln, nachdem es diese Aufgabe bereits in der vergangenen Legislatur vernachlässigt hat. Das sind die Volksvertreter nicht zuletzt auch jenen Bürgern schuldig, die noch immer auf der Warteliste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte stehen und bereits seit Jahren hingehalten werden.
[post_title] => Herausgefordertes Selbstverständnis [post_excerpt] => Wie Ärztinnen und Ärzte mit der Sterbehilfe ringen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => herausgefordertes-selbstverstaendnis [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-11-09 09:54:27 [post_modified_gmt] => 2022-11-09 08:54:27 [post_content_filtered] => [post_parent] => 6216 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=6223 [menu_order] => 30 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [128] => WP_Post Object ( [ID] => 6225 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-11-09 09:54:35 [post_date_gmt] => 2022-11-09 08:54:35 [post_content] =>Mitte September schlägt die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) angesichts der geplanten AMNOG-Modifizierungen Alarm. Konkret geht es um den geänderten Rahmen für Preisverhandlungen von Arzneimitteln mit geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen. Die ärztlichen Wissenschaftler befürchten, dass dadurch insbesondere chronisch kranken Patientinnen und Patienten der Zugang zu neuen wirksamen Arzneimitteln erschwert werde.
[caption id="attachment_6305" align="aligncenter" width="1200"]
Zur Einordnung: Den Zusatznutzen neuer Medikamente bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss in vier Kategorien: gering, beträchtlich, erheblich oder nicht quantifizierbar. Künftig soll es ausnahmslos nur noch für die beiden obersten Kategorien – beträchtlich und erheblich – einen höheren Preis gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie geben können. Gemessen an den bisherigen Erfahrungen wären das noch 20 Prozent der neuen Arzneimittel statt bisher 56 Prozent, erläutert AWMF-Präsident Prof. Rolf Treede. „Damit würde ein wesentlicher Anreiz zur Verfügbarkeit neuer Arzneimittel in Deutschland wegfallen.“
Der AWMF zufolge hätte das vor allem negative Auswirkungen auf innovative Arzneimittel für chronische Erkrankungen wie sie in der Diabetologie, Endokrinologie, Hämostaseologie oder Psychiatrie besonders häufig seien. „Hier würde aus methodischen Gründen fast nie ein so positiver Zusatznutzen gesehen wie beispielsweise in der Onkologie“, betont Prof. Bernhard Wörmann, Vorsitzender der Ständigen AWMF-Kommission Nutzenbewertung von Arzneimitteln. Die bisherige Methodik der frühen Nutzenbewertung mit vier Kategorien müsse daher beibehalten und die Bewertung von Parametern wie Patient-Reported-Outcome und Lebensqualität gefördert werden, verlangt er.
Ähnlich lautet die Einschätzung des unparteiischen Vorsitzenden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Auch Prof. Josef Hecken geht davon aus, dass diese AMNOG-Neuerung vor allem Arzneimittel für Chroniker betrifft, die etwa an Diabetes oder Koronarer Herzkrankheit leiden. „Hier sehe ich eine ernsthafte Gefahr, das ist ein Paradigmenwechsel“, warnt er eine Woche vor Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes auf einer Veranstaltung von RS Medical Consult. Hecken sagt voraus, dass er einen geringen oder nicht quantifizierbarer Zusatznutzen künftig nicht mehr vergeben brauche, „weil der dann am Ende des Tages nichts mehr wert ist“.
Das AMNOG hat im vergangenen Jahr seinen zehnten Geburtstag gefeiert und sich als Systeminnovation längst bewährt. Wegen der zahlreichen Änderungen, die das Verfahren im Laufe der Jahre erfahren hat, gilt es als lernendes System – Grabenkämpfe um Evidenz und Endpunkte inklusive. Die letzte große Änderung, die der Gesetzgeber eingeführt hat, ist die anwendungsbegleitende Datenerhebung. Wird das System jetzt mit dem GKV-FinStG überdreht? Der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, jahrelanger Vorsitzender der AMNOG-Schiedsstelle, befürchtet einen „erheblichen Flurschaden“.
Für Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, ist das AMNOG „zu wertvoll“, um es in einem Konvolut von anderen Regeln zu verschlimmbessern, sagt er bei RS Medical Consult. Einen Tag bevor der Bundestag das Gesetz verabschiedet, legt Joachimsen noch einmal öffentlich via Pressemitteilung nach: „Wenn ein zusätzlicher therapeutischer Vorteil, den der G-BA festgestellt hat, im Rahmen der Erstattungsverhandlungen nicht mehr vergütet werden soll, wird die Bewertung des G-BA zur Farce.“
Das Gesetz enthält noch weitere Änderungen zum AMNOG. Beim 20-prozentigen Preisabschlag für Arzneimittelkombinationen erkennt Hecken ebenfalls „großen Diskussionsbedarf“. Zwar sei es „absolut richtig“, dass dieses Thema angegangen werde, denn die Kombinationen stellen nach seiner Einschätzung erhebliche Preistreiber dar.
[caption id="attachment_6308" align="alignright" width="800"]Mittlerweile gebe es in fortgeschrittenen Therapielinien – vor allem in der Onkologie, aber auch im Orphan-Bereich – keine ersetzenden Arzneimitteltherapien mehr. Stattdessen werden neue Komparatoren von Therapielinie zu Therapielinie auf teure Wirkstoffe aufgesetzt, erläutert Hecken. Diese „add-on-Systematik“ sei im heutigen Paragrafen 130b SGB V nicht wiedergegeben. Mit der Rasenmäher-Methode des Gesetzgebers, pauschal 20 Prozent abzuziehen, hat er allerdings Probleme. Wichtig sei eine Analyse der Kombinationen: Was ist der wertvollste Bestandteil, was lediglich „Beifang“? Skeptisch ist Hecken auch, ob die neue Regelung rechtlich Bestand haben wird. Sein Fazit lautet daher: die richtige Idee, aber von der Umsetzung her eher eine „Verzweiflungstat“.
Kein Problem hat das G-BA-Oberhaupt dagegen mit der abgesenkten Orphan-Drug-Umsatzschwelle und der Rückwirkung des Erstattungsbetrags ab dem siebten Monat. Bezogen auf den Erstattungsbetrag erinnert Hecken daran, dass es in anderen Ländern Europas je nach Preis zum Teil bis zu 500 Tage dauere, bis diese Arzneimittel im dortigen Sozialversicherungssystem überhaupt erstattungsfähig seien. „Bei uns ist das ab Tag eins der Fall.“ Für ihn handelt es sich daher um eine Änderung, die längst überfällig und ordnungspolitisch sinnvoll sei, deren Einsparvolumen er jedoch für überschaubar hält.
Auffällig ist, dass die AMNOG-Änderungen im gesetzgeberischen Prozess und der begleitenden öffentlichen Diskussion nahezu kaum eine Rolle gespielt haben – wenn man von einigen Interventionsbemühungen in letzter Minute absieht. Bemerkenswert ist etwa der Vergleich zum Ärzteprotest angesichts der einkassierten Neupatientenregelung. Darüber wundert man sich offenbar selbst im Bundesgesundheitsministerium. Entsprechend zurückhaltend fallen die Modifikationen in den Änderungsanträgen der Regierungsfraktionen zum AMNOG aus. Statt auf 20 Millionen Euro wird die bisherige 50-Millionen-Umsatzschwelle für Orphans jetzt auf 30 Millionen abgesenkt. Stichwort Kombinationstherapien: Jene mit beträchtlichem Zusatznutzen verschont der Gesetzgeber vom Abschlag. Außerdem haben die MdBs ergänzt, dass die Folgen der Änderungen im kommenden Jahr vom Bundesgesundheitsministerium evaluiert werden sollen. Zusammen mit dem Bundeswirtschaftsministerium werden die Auswirkungen auf die Versorgung und den Standort bewertet.
[post_title] => Paradigmenwandel beim AMNOG [post_excerpt] => Risiken und Nebenwirkungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => paradigmenwandel-beim-amnog [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-11-09 09:54:35 [post_modified_gmt] => 2022-11-09 08:54:35 [post_content_filtered] => [post_parent] => 6216 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=6225 [menu_order] => 40 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [129] => WP_Post Object ( [ID] => 6230 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-11-09 09:54:43 [post_date_gmt] => 2022-11-09 08:54:43 [post_content] =>
Von der Öffentlichkeit bleibt der Umstand, dass ein Sozialversicherungszweig mit einem zweistelligen Milliardendefizit ringt, weitgehend unbeachtet. Das dürfte an der gegenwärtigen Konkurrenz gleich mehrerer Krisen liegen: Krieg in der Ukraine, Klima- und Energiekrise, eine bevorstehende Rezession und der Dauerbrenner Corona. Die GKV läuft da unter ferner liefen. Vielleicht ist das Thema auch zu abstrakt, vermutet die Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Carola Reimann bei einer Veranstaltung der Allgemeinen Ortskrankenkassen, bei der es darum gehen soll „Gerechtigkeitslücken in der GKV-Finanzierung“ zu schließen.
Gerecht wird das GKV-FinStG von kaum einem Akteur des Gesundheitswesens empfunden. Eher schlecht als recht gleicht es das 17-Milliarden-Defizit des kommenden Jahres aus. Am Tag, als die Volksvertreter ihren Segen dazu geben, bringt es der BKK-Dachverband in einem Tweet auf den Punkt: Die Finanzierung zum Stopfen der Finanzlücke in der gesetzlichen Krankenversicherung sei „nicht fair verteilt“. Die Hauptlast tragen die Beitragszahler, kritisieren die Betriebskrankenkassen.
Die Hintergründe der tiefroten Zahlen stellt der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen auf der AOK-Veranstaltung dar. Die Jahre 2015 bis 2019 sind für ihn „goldene Jahre der Gesundheitspolitik“, seinerzeit waren nämlich die beitragspflichtigen Einnahmen und die Ausgaben der Kassen im Einklang. Diese Zeit hat die Politik für zahlreiche ausgabenintensive Gesetze genutzt. 2019 deutete es sich laut Wasem bereits an, ab 2020 geht die Schere dann immer weiter zwischen Ausgaben und beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten auseinander. Das habe auf der Ausgabenseite wenig mit COVID zu tun, schließlich sei dieser Kostenblock weitgehend über Bundesmittel finanziert worden, erläutert der Ökonom. Auf der Einnahmenseite habe man es aber durchaus mit den Folgewirkungen des reduzierten Wirtschaftswachstums zu tun.
Mit dem Auseinanderdriften von Einnahmen und Ausgaben nimmt die strukturelle Unterdeckung der GKV deutlich zu: von 30 Milliarden im Jahr 2019 auf 50 Milliarden in diesem Jahr. Aufgefangen wurde dieses Defizit – neben einer merklichen Erhöhung der Zusatzbeiträge und einem Abbau der Kassenrücklagen – vor allem durch die Einführung eines Sonder-Bundeszuschusses. Wenn man den Sonderzuschuss streicht – wie mit GKV-FinStG geschehen – „dann hat man sofort ein zu stopfendes Loch“, sagt Wasem. Er macht klar, dass das im Oktober verabschiedete Gesetz nur auf „knappste Kante“ für 2023 genäht sei. Dauerhafte Regelungen seien daher dringend erforderlich.
Dass das Stabilisierungsgesetz „keine Antwort auf die Gesamtherausforderung“ liefere und für eine nachhaltige Sicherung nicht ausreichend sei, räumt Heike Baehrens (SPD) auf der AOK-Veranstaltung im September ein. Nur kurze Zeit später kündigen Gesundheitspolitikerinnen und -politiker der Ampel ein Folgegesetz für das kommende Jahr an. Anlässlich der Verabschiedung des GKV-FinStG im Bundestag twittert Maria Klein-Schmeink von den Grünen: „...die Arbeit an einer nachhaltigen und gerechten Lösung für 2024 ff beginnt jetzt.“
Eine nachhaltige Lösung muss die demografische Entwicklung zwingend mitdenken, denn bis etwa 2035 gehen die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge in den Ruhestand. Auf diese Herausforderung weist DAK-Chef Andreas Storm bei einer Veranstaltung von RS Medical Consult im Oktober eindringlich hin. Er nennt folgende Zahlen: Der Anteil von Rentnern bezogen auf Erwerbsbevölkerung beträgt im Jahr 2010 40 Prozent, 2040 wird er dagegen bei 70 Prozent liegen. Diese Entwicklung führe auf der Ausgabenseite tendenziell zu höheren Leistungsausgaben. Eine weitere Konsequenz: „Wenn Menschen ins Rentenalter kommen, sinken die Einnahmen dieser Versicherten drastisch gegenüber der Erwerbsphase“, sagt Storm.
Zur Erinnerung: Der Versicherte zahlt als Erwerbstätiger 16 Prozent Beitragssatz auf seinen Bruttolohn, im Ruhestand dagegen 16 Prozent Beitrag auf seine Rente. „Deshalb haben wir hier auch ein strukturelles Einnahmenproblem“, warnt der Kassenchef. Er sagt voraus: „Zwischen 2020 und 2035 geht demografisch in diesem Land die Post ab.“ Mit Bordmitteln gebe es keine Chance, die Schere zwischen GKV-Einnahmen und -Ausgaben wieder zu schließen.
Der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesauschusses, Prof. Josef Hecken, spitzt das von Storm erläuterte Problem weiter zu. Künftig werde man es vermehrt mit Rentnern zu tun haben, die unstete Erwerbsbiografien aufweisen und teilweise ihr Leben lang nur wenig verdient haben. „Mindestlohn ist schon nichts, 48 Prozent vom Mindestlohn ist gar nichts und 16 Prozent Beitrag von gar nichts – da rentiert sich am Ende des Tages der Beitragseinzug nicht mehr.“ Außerdem kumuliere die demografische Entwicklung mit dem medizinisch-technischen Fortschritt. Immer mehr Erkrankungen, die früher zur Auszahlung des Sterbegeldes geführt hätten, seien heute behandelbar. Hecken befürchtet daher: „Wir fahren mit Volldampf gegen die Wand.“
Eine nachhaltige und faire Weiterentwicklung der GKV muss Einnahmen und Ausgaben betrachten. Der, so Hecken, „größte und ineffizienteste“ Ausgabenblock der GKV sind die Krankenhäuser. Konsens besteht seit Langem, dass eine Strukturreform dieses Sektors überfällig ist. Allerdings muss für eine solche Reform zunächst zusätzliches Geld in die Hand genommen werden. Einiges an Zeit dauert ein solch umfassender Reformprozess ebenfalls.
Bezüglich der Einnahmen werden vielfältige Maßnahmen diskutiert. Am häufigsten: die Aufstockung der GKV-Beiträge von ALG-II-Beziehern. Ein Vorhaben, das bereits im Koalitionsvertrag der Großen Koalition stand und das zu Reibereien mit dem Arbeitsminister führen dürfte. Einige Politiker nennen die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze als Option. Wasem regt beispielsweise an, die Beitragsgrundlage auf Arbeitgeberseite zu erweitern. Bisher seien lohnintensive Firmen benachteiligt. Denkbar sei eine zweite Säule, früher als „Maschinensteuer“ diskutiert. Die Innungskrankenkassen schlagen außerdem vor, einen Anteil aus den Steuereinnahmen auf Alkohol und Tabak der GKV in die Kassen zu spülen.
Welche Reformschritte letztlich realisiert werden, ist derzeit noch völlig offen. Festzuhalten bleibt: Die Erwartungen sind groß, die politischen Spielräume eher gering.
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Trotz der zahlreichen Kommissionen stehen wir heute da wie zuvor. Ist die Beschreibung korrekt?
Wasem: Der Auftrag der beiden Kommissionen bezog sich nicht nur auf die Krankenversicherung. In der Rentenversicherung etwa hatte die Rürup-Kommission die Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahren und die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors vorgeschlagen. Beides ist ja dann auch in den Folgejahren eingeführt worden.
Aber bei der Krankenversicherung…
Wasem: ... standen sich Rürup mit seinem Vorschlag einer Kopfpauschale und Lauterbach mit dem Konzept der Bürgerversicherung gegenüber. Von der Herzog-Kommission war der Übergang zu einem kapitalgedeckten System mit Kopfpauschalen vorgeschlagen worden. Keines der Konzepte ist umgesetzt worden. Und ich denke, es ist auch richtig zu sagen, dass die GKV in den 20 Jahren, die seitdem vergangen sind, nicht demografiefester geworden ist. Das ist insbesondere deswegen unbefriedigend, weil sich das Thema demografischer Wandel nicht erledigt hat. Im Gegenteil: In den jetzt vor uns liegenden 15 Jahren steigt der Altenquotient deutlich an – das hat die jüngste amtliche Bevölkerungsvorausschätzung noch einmal deutlich gemacht.
[caption id="attachment_6457" align="alignleft" width="500"]Vor uns liegt ein größerer Versorgungsbedarf – weil mehr Alte – bei weniger Arbeitskräften und weniger Beitragszahlern. Haben wir für einen strukturellen Wandel überhaupt noch genügend Zeit?
Wasem: Die von der Rürup-Kommission diskutierten Lösungsvorschläge lassen sich natürlich noch umsetzen – wobei kontrovers diskutiert wird, inwieweit Bürgerversicherung und Kopfpauschale Antworten auf den demografischen Wandel geben. Soweit man eine Kapitaldeckung, also den Vorschlag der Herzog-Kommission, als ein Lösungsinstrument ansieht, ist es dafür in der Krankenversicherung schon zu spät. Dafür müssten jetzt so große Summen zusätzlich zur Finanzierung der laufenden Gesundheitsausgaben angespart werden, das ist völlig illusorisch. Das kann man gegebenenfalls für die Pflegeversicherung noch diskutieren: Da dort die Leistungen in nennenswertem Umfang erst nach dem 80. Lebensjahr anfallen, hätte man mehr Zeit.
Die Anpassung des Gesundheitswesens an den demografischen Wandel hat aber nicht nur etwas mit der Finanzierung, sondern auch mit den Versorgungsstrukturen zu tun. Politischen Willen vorausgesetzt kann man diese durchaus in den kommenden zehn Jahren an eine stark alternde Bevölkerung weiter anpassen. Ich hoffe sehr, dass die vom BMG im nächsten Jahr vorzulegenden Eckpunkte einer Strukturreform dies im Blick haben.
Die GKV hat goldene Jahre gerade erst hinter sich. Die Chance für eine Strukturreform der Krankenhäuser, die ja zunächst Investitionen kostet, wurde verpasst. Welche Konsequenzen wird das haben?
Wasem: Die Beobachtung trifft zu: Solange trotz ausgabenträchtiger Gesundheitsreformen die Beitragssätze stabil bleiben konnten, hat die Politik die Strukturreform der Krankenhäuser nicht angepackt. Ich erinnere mich, dass ich 2019 eine Gesundheitspolitikerin aus der Regierung gefragt habe, wie lange das gut geht. Die Antwort lautete: „Hoffentlich bis zur nächsten Bundestagswahl“. Jetzt ist wohl die Einsicht, dass Handlungsbedarf besteht, gestiegen, aber natürlich lassen sich Reformen in der Rezession sehr viel schwieriger realisieren. Gerade weil die Krankenhausreform erst auf mittlere Sicht zu geringeren Ausgabenzuwächsen führt, zunächst aber Geld auf den Tisch gelegt werden muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das aus Beitragsmitteln allein hinbekommen, sondern gehe davon aus, dass wir dafür die Haushalte von Bund und Ländern brauchen.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Politik nicht über die Legislatur hinaus sachgerechte Lösungen für Herausforderungen der Zukunft angeht?
Wasem: Für die Krankenversicherung ist – wie eben dargestellt – bereits die Analyse, was man eigentlich bei der Finanzierung tun müsste, alles andere als klar: Bürgerversicherung, Kopfpauschale, Kapitaldeckung? Bei der Rentenversicherung war die Situation einfacher, weil es rasch Konsens gab, im bestehenden System zu bleiben und man sich „nur“ darauf verständigen musste, wie stark die Wirkungen des demografischen Wandels den Beitragszahlern aufgebürdet werden sollen und in welchem Maß die Rentner den Wandel über geringere Rentenanpassungen selbst finanzieren. Hinzu kommt, dass wir in der Krankenversicherung Versorgungsleistungen absichern.
Das bedeutet?
Wasem: Die Festlegung eines Niveaus ist deutlich komplexer als in der Rentenversicherung – und wird zudem dadurch geprägt, dass die Ausgaben der Krankenkassen die Einnahmen und Einkommen der Leistungserbringer sind. Gleichwohl finde ich, wir müssen die Niveau-Diskussion auch für die Krankenversicherung führen. Sie kumuliert meines Erachtens insbesondere in der Frage nach der Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt in einer alternden Gesellschaft.
Nun kommt zur demografischen Herausforderung noch eine akute Not, verursacht durch Pandemie, Krieg, Inflation – bald Rezession. Das GKV-Löcher-Stopf-Gesetz für 2023 mag ja noch hinhauen, aber dann?
Wasem: Das Löcher-Stopfen ist deswegen notwendig, weil wir seit vier Jahren wieder ein stärkeres Wachstum der Ausgaben als der beitragspflichtigen Einnahmen haben. Bis einschließlich dieses Jahr haben wir das insbesondere über einen jeweils diskretionären Sonder-Bundeszuschuss finanziert. Wenn der plötzlich weitestgehend wegfällt, weil er politisch nicht mehr durchsetzbar ist, entsteht akuter Handlungsbedarf. Und da es vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eher unwahrscheinlich ist, dass Einnahmen- und Ausgabenwachstum von selbst im Gleichklang ist, müssen entweder dauerhaft zusätzliche Einnahmequellen erschlossen werden oder die Ausgabenzuwächse gebremst werden.
Kommen wir um Rationierung herum? Ulla Schmidt hat zu dem Instrument gegriffen, obwohl sie 2003 nur vier Milliarden Euro zum Löcher-Stopfen einsammeln musste.
Wasem: Na ja, ob das GKV-Modernisierungsgesetz schon Rationierung war, würde ich mit einem Fragezeichen versehen. Das Sterbegeld wurde abgeschafft und die Leistungspflicht für nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel ist weitestgehend entfallen. Richtig aber ist: Wir müssen die Frage nach dem Leistungsumfang im Solidarsystem stellen – auch wenn sie deutlich schwieriger als in der Rentenversicherung ist. Wobei man die Augen davor nicht verschließen darf, dass jede Leistungsbegrenzung natürlich eine Umverteilung von oben nach unten bewirkt, weil einkommensabhängig finanzierte Leistungen in die Finanzierung durch den Markt oder die PKV verlagert werden. In einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung haben wir das beim GKV-Modernisierungsgesetz schön zeigen können.
Wie kann eine Finanzierungsreform aussehen, die dem Problem angemessen ist?
Wasem: Wichtig ist sicherlich, dass die Maßnahmen – anders als der jeweils einmalig beschlossene Sonder-Bundeszuschuss oder der Griff in die Rücklagen von Gesundheitsfonds und Krankenkassen – „basiswirksam“ sind. Sonst wiederholt sich das Löcher-Stopfen alljährlich. Wir brauchen aus meiner Sicht einen Mix: einen dauerhaft höheren und dynamisierten Bundeszuschuss, mit Augenmaß weiter steigende Beitragssätze und auf der Ausgabenseite ein Konzept für einen kritischeren Blick auf den Leistungskatalog und die Zahlungsbereitschaft für medizinischen Fortschritt.
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[post_title] => Demografie trifft auf GKV-Finanzkrise [post_excerpt] => Prof. Jürgen Wasem über verschleppte und zukünftige Reformen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => demografie-trifft-auf-gkv-finanzkrise [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-11-09 09:54:51 [post_modified_gmt] => 2022-11-09 08:54:51 [post_content_filtered] => [post_parent] => 6216 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=6232 [menu_order] => 60 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [131] => WP_Post Object ( [ID] => 6234 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-11-09 09:54:58 [post_date_gmt] => 2022-11-09 08:54:58 [post_content] =>
„Viele Menschen, die wegen einer akuten oder chronischen Erkrankung in der Klinik behandelt werden, sind in schlechtem Ernährungszustand“, sagt Prof. Matthias Pirlich, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM). Dies betreffe besonders ältere Menschen. Dem Ernährungsbericht der Gesellschaft zufolge zeigen fast ein Drittel der Patienten im Krankenhaus Zeichen einer Mangelernährung. Mit fatalen Folgen: Ein chronischer Energie- und Nährstoffmangel kann Heilungsprozesse negativ beeinflussen und die Prognose der Betroffenen weiter verschlechtern. „Mangelernährung ist mit einer erhöhten Komplikationsrate sowie mit einem erhöhten Sterberisiko verbunden“, erläutert der Experte.
Bereits seit Jahren fordert die DGEM, dass ein Screening auf Mangelernährung sowie eine ernährungsmedizinische Betreuung feste Bestandteile der klinischen Behandlung sein sollten. Eine Vielzahl von Studien belegte, dass eine individuelle ernährungsmedizinische Behandlung die Genesung von Klinikpatienten wirksam unterstützt. Doch noch immer seien in vielen Kliniken weder standardmäßig Screenings auf Mangelernährung vorgesehen noch ausreichend Diätassistenten und -assistentinnen verfügbar, kritisiert der Arzt.
Beim 44. ESPEN Congress on Clinical Nutrition and Metabolism in Wien haben kürzlich über 75 Verbände aus aller Welt die „International Declaration on the Human Right to Nutritional Care“ unterzeichnet. Damit soll das Bewusstsein für die Bedeutung krankheitsassoziierter Mangelernährung geschärft und auf die mangelnde Ernährungsversorgung von Menschen mit chronischen und akuten Krankheiten hingewiesen werden.
Weiterführender Link:
Link zur „Vienna Declaration“
www.dgem.de/sites/default/files/PDFs/Vienna%20Declaration%20%20FINAL%205_2022.pdf
[post_title] => Mangelernährung: das Recht auf wirksame Versorgung [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => mangelernaehrung-das-recht-auf-wirksame-versorgung [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-11-09 09:54:58 [post_modified_gmt] => 2022-11-09 08:54:58 [post_content_filtered] => [post_parent] => 6216 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=6234 [menu_order] => 70 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [132] => WP_Post Object ( [ID] => 6236 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-11-09 09:55:07 [post_date_gmt] => 2022-11-09 08:55:07 [post_content] =>
Der Innovationsfonds ist für den Verband sowohl Erfolgsgeschichte als auch eine „Geschichte der verpassten Chancen“. Als positiv vermerkt er, dass der Fonds das Innovationsklima im Gesundheitssystem erheblich verbessert, die beteiligten Akteure zu innovativen Ideen ermuntert und verschiedenste Kooperationen ermöglicht habe. Bewährt habe sich der praxisorientierte Ansatz des Fonds: Alle Versorgungskonzepte werden im realen Versorgungssetting erprobt und müssen unter Einhaltung eines wissenschaftlichen Studiendesigns den Praxistest bestehen. Den hohen administrativen Aufwand kritisiert dagegen der Verband.
Im Koalitionsvertrag der Ampel ist eine Verstetigung des Fonds vorgesehen. Auch ein Evaluationsbericht von Prognos im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) empfiehlt im Frühjahr, das Instrument unbefristet fortzuführen. Allerdings, so der BMC, konnte der Innovationsfonds bislang den „wichtigsten Nachweis seiner Existenzberechtigung“ nicht erbringen: die Verbesserung der Regelversorgung durch erprobte Innovationen. Vielmehr scheine sich die Interpretation durchzusetzen, dass auch Selektivverträge ein geeignetes Ziel von Projekten sein könnten. Die von allen Beitragszahlern finanzierten Ergebnisse sollten jedoch allen zugutekommen, argumentiert der Verband. Für eine grundlegende Weiterentwicklung macht er einige Vorschläge. Dazu gehören unter anderem:
Weniger Bürokratie, mehr Beteiligung von Patienten sowie eine Flexibilisierung von Projektdauer und -umsetzung sind weitere Reformstichwörter, die der BMC in einem Papier nennt.
Rückblick:
Im April ist das Prognos-Gutachten zu dem Schluss gekommen, dass die vom Fonds geförderten Projekte wichtige und nachhaltige Impulse für die Gesundheitsversorgung seien. Durch sie können belastbare Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der Versorgung gewonnen werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss sieht den Evaluationsbericht als Bestätigung für Pläne der Koalition, das Förderinstrument dauerhaft zu etablieren.
Weiterführender Link:
Endbericht: Gesamtevaluation des Innovationsfonds, Wissenschaftliche Auswertung der Förderung aus dem Innovationsfonds
https://dserver.bundestag.de/btd/20/013/2001361.pdf
Es gibt keine Versorgung, keine Netzwerke, keine ursächliche Therapie, zählt Christina Bernades von der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK) auf einem von mehreren BKKen organisierten Expertendialog die Probleme auf. Dazu gehört auch das fehlende Wissen über die Erkrankung unter Ärztinnen und Ärzten. Daher dauert es durchschnittlich fünf Jahre, bis die Betroffenen eine Diagnose erhalten.
Im Rahmen eines Innovationsfonds-Projektes der SBK, der Bahn-BKK und der BKK VBU werden derzeit Diagnose- und Therapiekonzepte erarbeitet, die langfristig in die Regelversorgung kommen sollen. Auch an Long-Covid Erkrankte könnten hiervon profitieren. Dafür arbeiten die Betriebskrankenkassen unter anderem mit der Charité zusammen. Dort leitet Prof. Carmen Scheibenbogen das Fatigue Centrum. Auch sie beschreibt auf der Veranstaltung die extrem schwierige Versorgungssituation. Ein Beispiel: In ganz Deutschland gibt es nur zwei Ambulanzen für die Erkrankung: eine für Erwachsene an der Charité und eine für Kinder in München.
[caption id="attachment_6496" align="alignright" width="800"]Der Ärztin zufolge fehlt es außerdem an einem grundlegenden Verstehen der Krankheit. „Wir haben bisher nur Fragmente.“ Vieles spreche dafür, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handele, an der deutlich mehr Frauen als Männer erkranken. Umso wichtiger sind klinische Studien. Doch bei deren Planung und Durchführung ist Scheibenbogen mit vielen Hürden etwa in Form von ausuferndem Datenschutz konfrontiert.
Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK, spricht das Thema Teilhabe an. Unternehmen, Schulen und Kitas könnten viel dafür tun, dass die Menschen nicht in ihren vier Wänden verschwinden. „Indem wir Home-Office- beziehungsweise -Schooling-Angebote und Möglichkeiten zu Pausen und Rückzug schaffen, geben wir den Menschen die Möglichkeit, wenigstens in kleinen Teilen ihren Alltag weiterzuleben.“
Auch bei den Rehakliniken ist ein Umdenken erforderlich. Da die Behandlung dort oft auf Aktivierung und Bewegung setzt, sind deren Angebote für Menschen mit ME/CFS nicht geeignet. „Körperliche Belastungen sind für ME/CFS-Patientinnen und -Patienten schädlich und können den Zustand deutlich verschlimmern“, warnt Peter Pollakowski von der Bahn-BKK.
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Zum Hintergrund
Myalgische Enzephalomyelitis (ME), auch bekannt als Chronisches Fatigue Syndrom (CFS), ist eine komplexe neuroimmunologische Erkrankung. Sie wird häufig durch eine Infektionskrankheit wie den Epstein-Barr-Virus ausgelöst und nimmt oft einen schweren Verlauf. Zu den Symptomen gehören neben einer schweren Fatigue auch Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Gelenk-, Muskel- und Kopfschmerzen. Charakteristisch ist die Post-Exertional Malaise: Schon nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung verstärken sich die Symptome deutlich für einen längeren Zeitraum. Bei Schwerstbetroffenen kann diese bereits durch das Umdrehen im Bett ausgelöst werden. Viele Menschen mit ME/CFS sind arbeitsunfähig und können ihren Alltag nicht mehr bewältigen.
[post_title] => ME/CFS: Hilflosigkeit im System [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => mecfs-hilflosigkeit-im-system [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-11-09 11:08:15 [post_modified_gmt] => 2022-11-09 10:08:15 [post_content_filtered] => [post_parent] => 6216 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=6238 [menu_order] => 90 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [134] => WP_Post Object ( [ID] => 6241 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-11-09 09:55:30 [post_date_gmt] => 2022-11-09 08:55:30 [post_content] =>
Mit 542 zu 43 Stimmen bei 9 Enthaltungen haben die Abgeordneten kürzlich eine mit dem Rat erzielte Einigung gebilligt. Es geht darum, den Aufgabenbereich des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zu erweitern. Mit den neuen Regeln soll die EU besser gegen übertragbare Krankheiten gewappnet sein, ihre Ausbreitung besser verhindern können und besser mit Krankheitsausbrüchen umgehen.
Das ECDC arbeitet künftig mit der Kommission, den Behörden der Mitgliedstaaten, den Einrichtungen der EU und internationalen Organisationen zusammen. Damit aktuelle und vergleichbare Daten zur Verfügung stehen, koordiniert das ECDC die Normierung der Datenerhebungsverfahren, die Validierung und Analyse der Daten sowie ihre Verbreitung auf EU-Ebene. Darüber hinaus soll das Zentrum die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten beobachten. Es beurteilt, ob diese in der Lage sind, Ausbrüche übertragbarer Krankheiten zu erkennen, sie zu verhindern, darauf zu reagieren und sie zu bewältigen. Außerdem soll es Handlungsbedarf aufzeigen und wissenschaftlich fundierte Empfehlungen abgeben.
Ein weiteres vom Parlament angenommenes Maßnahmenpaket ermächtigt die Kommission, in Zukunft formell einen EU-weiten Gesundheitsnotstand festzustellen. Dadurch stößt sie verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten an und ermöglicht, dass zügig Gegenmaßnahmen getroffen und Vorräte von medizinischen Gütern angelegt werden. Außerdem bringen die neuen Vorschriften Klarheit mit Blick auf die gemeinsame Beschaffung von Arzneimitteln und medizinischen Geräten: Unter anderem kann der gemeinschaftliche Kauf auf EU-Ebene verhindern, dass die teilnehmenden Staaten gleichzeitig Beschaffungen tätigen und Verhandlungen führen.
Im Zuge des Aufbaus der Europäischen Gesundheitsunion hat die Kommission im Herbst 2020 einen neuen Rahmen für die Gesundheitssicherheit vorgeschlagen. Er beruht auf den Erfahrungen im Umgang mit der Coronapandemie und besteht aus drei Rechtsakten. Diese sehen eine Stärkung der Rolle der Europäischen Arzneimittelagentur, die Ausweitung des Aufgabenbereichs des ECDC und einen Vorschlag für eine Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren vor.
[post_title] => EU wappnet sich für künftige Gesundheitskrisen [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => eu-wappnet-sich-fuer-kuenftige-gesundheitskrisen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-11-09 09:55:30 [post_modified_gmt] => 2022-11-09 08:55:30 [post_content_filtered] => [post_parent] => 6216 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=6241 [menu_order] => 100 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [135] => WP_Post Object ( [ID] => 6243 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-11-09 09:55:47 [post_date_gmt] => 2022-11-09 08:55:47 [post_content] =>Psychisch kranke Menschen müssen sich lange gedulden, bevor sie einen Behandlungsplatz bei einem Psychotherapeuten bekommen. Einer Auswertung der Bundespsychotherapeutenkammer zufolge warteten im Jahr 2019 rund 40 Prozent der Patientinnen und Patienten zwischen drei und neun Monate auf ihren Behandlungsbeginn. Dass sie psychisch krank und behandlungsbedürftig sind, wurde vorher in einer speziellen Sprechstunde festgestellt. Seit der Corona-Pandemie hat sich der Mangel an Behandlungsplätzen noch verschärft.
Nora Blum weiß um die Unterversorgung und empfindet die Situation als ungerecht. Ebenso wie die Kammer fordert sie mehr Kassensitze für Therapeuten. „Die Patienten werden depriorisiert“, kritisiert sie auf der Veranstaltung. Blum hat mit den Online-Kursen von Selfapy ein digitales Hilfsangebot für Menschen mit psychischen Belastungen wie Depressionen oder Angststörungen entwickelt. Bezahlt wird eine Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) von den Krankenkassen, wenn eine ärztliche Verordnung vorliegt.
[caption id="attachment_6464" align="alignleft" width="500"]Die App-Gründerin betont, dass das digitale Angebot auch Betroffene erreiche, die keinen Zugang zum herkömmlichen Versorgungssystem hätten. Sie spricht von Personen, die im ländlichen Raum wohnen und denen Kraft und Zeit fehle, 20 weitere Therapeuten abzutelefonieren. Eine App zu installieren sei im Vergleich zu anderen Hürden der Versorgung einfach zu bewerkstelligen. Momentan wird das Angebot in andere Sprachen übersetzt, um den Kreis möglicher Nutzerinnen und Nutzer zu erweitern.
Blum spricht auch über die Grenzen ihres Angebots: Die App ist beispielweise nur für Personen mit einer leichten oder mittelschweren Depression zugelassen. Für schwer Erkrankte ist sie nicht geeignet. Trotzdem stellt sich die Frage, ob digitale Gesundheitsangebote dazu geeignet sind, Versorgungsengpässe abzumildern. Machen sie die Versorgung gerechter?
Für die Medizinethikerin Prof. Verina Wild ist Digital Health eine der großen Ideen, um niedrigschwellig und kostengünstig benachteiligte Gruppen zu erreichen. Wild unterscheidet bei Apps allerdings zwischen Anbietern, die ihre Anwendung als DiGA anerkennen lassen und in medizinischen Studien die Wirksamkeit der App beweisen wollen. „Solche Apps sind von einem medizinischen Ethos motiviert“, sagt Wild. Es gehe darum, Menschen nützlich zu sein und vernachlässigte Gruppen in den Fokus zu nehmen. Daneben gebe es zahlreiche Anbieter, die aus finanziellem Interesse Apps entwickeln. Der Markt biete viele Möglichkeiten, sagt Wild und nennt das Stichwort Gesundheitsdaten.
MdB Ruppert Stüwe sieht die Digitalisierung als große Chance für mehr Gesundheitsgerechtigkeit. Die Politik müsse sich vor allem um die Rahmenbedingungen dieses Prozesses kümmern, so der SPD-Forschungspolitiker. Seine größte Sorge: Das ganze Geschäft werde drei bis vier großen Playern überlassen und ein gesellschaftlicher Diskurs finde nicht statt.
[post_title] => Wenn Patienten depriorisiert werden [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => wenn-patienten-depriorisiert-werden [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-11-09 10:57:30 [post_modified_gmt] => 2022-11-09 09:57:30 [post_content_filtered] => [post_parent] => 6216 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=6243 [menu_order] => 110 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [136] => WP_Post Object ( [ID] => 6245 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-11-09 09:55:57 [post_date_gmt] => 2022-11-09 08:55:57 [post_content] =>Organoide sind aus Stammzellen gewonnene Gewebestrukturen, die in vitro, also außerhalb des menschlichen Körpers, dreidimensional wachsen und die zelluläre Architektur sowie bestimmte Funktionen eines Organs in Teilen nachahmen. Hirnorganoide bestehen so wie das menschliche Gehirn aus Nervenzellen und Gliazellen, die Stütz- und Versorgungsgewebe bilden.
„Hirnorganoide erlauben neue Einblicke in die frühe Gehirnentwicklung und in die Entstehung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen“, sagt Prof. Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin Münster. Sie ermöglichten zudem, die Effekte von Medikamenten, Giftstoffen, Keimen oder Viren auf menschliche Gehirnzellen und auf die Gehirnentwicklung zu untersuchen. Schöler ist ein Sprecher der Arbeitsgruppe, die die Stellungnahme erarbeitet hat. Darin wird beschrieben, wie die Forschung an und mit Hirnorganoiden ein tieferes Verständnis einzelner Prozesse des menschlichen Gehirns ermöglichen kann.
Diese Forschung wirft eine Reihe ethischer und juristischer Fragen auf. Zum Beispiel, ob menschlichen Hirnorganoiden gegenüber eine Schutzpflicht entstehen könnte. Die hierzu vertretenen Positionen sehen solche Schutzansprüche zumeist erst dann gegeben, wenn Hirnorganoide Bewusstsein beziehungsweise Empfindungsfähigkeit besäßen ‒ aus Sicht der Arbeitsgruppe eine Voraussetzung, die gegenwärtig nicht erfüllt ist. Die Stellungnahme verneint, dass weit entwickelten Hirnorganoiden ein vergleichbarer Schutz wie Embryonen zuzusprechen ist. Diese könnten sich – anders als Embryonen – nicht zu einem vollständigen Organismus oder gar Menschen entwickeln. Deswegen sei ein gleichartiger Schutz weder aus dem geltenden Recht ableitbar noch verfassungsrechtlich geboten.
Das Fazit: Auf absehbare Zeit wirft die Forschung an und mit Hirnorganoiden in vitro keine regulierungsbedürftigen ethischen und rechtlichen Fragen auf. Allerdings könnten den Autoren zufolge die aktuellen Grenzen des Entwicklungspotenzials von Hirnorganoiden aufgrund der Dynamik des Forschungsfeldes in Zukunft überwunden werden. In diesem Fall sollten die etablierten Verfahren der wissenschaftsinternen Selbstregulierung genutzt werden, um ethisch, rechtlich oder gesellschaftlich relevante Entwicklungen frühzeitig einschätzen und auf sie reagieren zu können.
Weiterführender Link:
Stellungnahme „Hirnorganoide – Modellsysteme des menschlichen Gehirns“
www.leopoldina.org/hirnorganoide.
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Dass weiterhin Bedarf bei den Patienten für eine zentrale Informations- und Beratungsstelle besteht, ist unstrittig. Hoch komplex sei das deutsche Gesundheitswesen, konstatiert vzbv-Interims-Vorständin Jutta Gurkmann. Es bestehe ein „riesiges Wissensgefälle“ der Patientinnen und Patienten sowohl gegenüber den Krankenkassen als auch gegenüber den Behandlern.
Den vom vzbv geforderten Neustart bei der UPD ordnet der Patientenbeauftragte Stefan Schwartze in seinem Impulsreferat auf der Tagung ganz grundsätzlich ein: Um Patientenorientierung, Empowerment und aktive Beteiligung weiterzuentwickeln, gebe es zwei wirksame Instrumente im Gesundheitswesen – die UPD zur individuellen Stärkung der Patienten und zweitens die Patientenbeteiligung als kollektives Recht der benannten Patientenorganisationen (siehe Infokasten). Beide Instrumente seien mittlerweile fast genau 20 Jahre alt. „Es steht an, sie einer Inventur zu unterziehen und sie zukunftsweisend zu gestalten“, sagt Schwartze.
Im Fall der UPD muss die Umgestaltung ziemlich rasch erfolgen, denn noch aus der vergangenen Wahlperiode hat die Regierung die Hausaufgabe übernommen, bis zum 1. Januar 2024 eine neue Lösung zu installieren. Bis zu diesem Zeitpunkt laufen die jetzigen Verträge noch, erläutert Schwartze. Der Koalitionsvertrag sieht vor, die Patientenberatung in eine „dauerhafte, staatsferne und unabhängige Struktur“ zu überführen und zwar unter Beteiligung der maßgeblichen Patientenorganisationen. Dem Patientenbeauftragten ist darüber hinaus eine regionale Vertretung der UPD ein besonderes Anliegen: Damit es Ansprechpartner gibt, „die man nach dem ersten Kontakt etwa über das Telefon aufsuchen kann und die sich auch die Unterlagen angucken können“.
Maria Klein-Schmeink, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, hebt als Anforderung an die neue UPD insbesondere deren Unabhängigkeit hervor. Nicht zuletzt, weil sie als langjährige Berichterstatterin Patientenrechte ihrer Fraktion Erfahrungen mit „versuchter und praktizierter Einflussnahme“ machen musste. Die Politikerin verweist etwa auf große Kämpfe darum, wie Monitorberichte der UPD ausgestaltet werden sollten. Auch den Einbezug der Patientenorganisationen begrüßt Klein-Schmeink. Sie geht davon aus, dass diese dadurch mehr Gewicht im gesamten System bekommen.
Patientenbeteiligung in der Selbstverwaltung
Laut Koalitionsvertrag soll Patientenbeteiligung insbesondere im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gestärkt werden. Schwartze hat sich bereits mit Patientenvertretern aus dem Koordinierungskreis Patientenbeteiligung im G-BA getroffen. „Nach deren Schilderung kämpfen im wahrsten Wortsinn circa 300 Ehrenamtliche in 80 Ausschüssen, unterstützt von elf Hauptamtlichen, gegen die hochprofessionelle Maschinerie der anderen Bänke“, berichtet er. Ihm liegt die Stärkung der professionellen Ressourcen am Herzen, um eine inhaltliche Verhandlung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Die benannten Patientenorganisationen, ihr Koordinierungskreis und die Stabsstelle Patientenbeteiligung benötigten dringend mehr bezahlte hauptamtliche Struktur und substanzielle finanzielle Aufwandsentschädigung für die ehrenamtliche Aufgabe der Patientenbeteiligung. „Ich habe hier Gesprächsbereitschaft und meine Unterstützung signalisiert“, betont der Regierungsvertreter. „Patientenorientierung beziehungsweise -zentrierung kann nur gelingen, wenn die Perspektive der Patienten bei der Gestaltung der gesundheitlichen Versorgungsprozesse und bei der Entwicklung von Leistungsinhalten einbezogen wird.“
Die Frage nach der Rechtsform scheint noch offen zu sein: gemeinnützige GmbH oder Stiftung, für beide Optionen gibt es gute Argumente. Der vzbv bevorzugt allerdings letzteres, denn eine Stiftung habe einen besseren Ruf und signalisiere mehr Unabhängigkeit, argumentiert Gurkmann. Schwartze vermeidet es dagegen, sich festzulegen. „Es spricht einiges für das Stiftungsmodell, es kann aber auch mit einer gGmbH gelöst werden“, sagt er. Auch bei der Finanzierung, die Unabhängigkeit zur Bedingung hat, sind zwei Varianten im Gespräch: Naheliegend scheint eine Steuerfinanzierung zu sein. Grünen-Politikerin Klein-Schmeink bringt noch eine Variante ins Spiel – und zwar per Umlage im Gesundheitssystem. Doch ganz gleich, welche Option es am Ende wird, eines ist ihr wichtig festzuhalten – die Stärkung von Patienten ist eine Systemaufgabe.
Monitor Patientenberatung kritisiert Dauerbaustellen
Der Monitor Patientenberatung 2021 wurde unlängst von der UPD veröffentlicht. Darin genannt werden einige Dauerbaustellen des Versorgungssystems: „Die Suche nach einem Psychotherapieplatz blieb auch in 2021 für Patientinnen und Patienten mangels ausreichender Therapieplätze eine langwierige und frustrierende Erfahrung”, vermeldet die UPD. Daran habe auch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) nichts geändert. Auch bei fragwürdigen Praktiken im Leistungsgeschehen von Krankenkassen ließen Verbesserungen weiter auf sich warten. Ratsuchende im Krankengeldbezug berichteten der UPD weiterhin davon, dass sie sich von ihren Kassen telefonisch unter Druck gesetzt fühlen. Im Rahmen von Widerspruchsverfahren erhalten Versicherte nach wie vor verwirrende Zwischennachrichten, die sie zu einer ungerechtfertigten Rücknahme ihres Widerspruchs verleiten sollen. „Dass Patientinnen und Patienten in prekären Situationen in Angst vor Anrufen oder Schreiben ihrer Krankenkassen leben, ist nicht akzeptabel“, sagt der Patientenbeauftragte der Bundesregierung. Solche zum Teil sogar rechtswidrigen Praktiken müssten eingestellt werden.
Die Genommedizin nutzt Sequenzinformationen für eine genetische Diagnostik und klinische Interpretation der individuellen Erbinformation. Ärztinnen und Ärzte können damit Krankheiten immer besser diagnostizieren sowie optimale Präventionsmaßnahmen und Therapien einleiten. Eine personalisierte Medizin, basierend auf Erkenntnissen der Analyse des individuellen Erbmaterials eines einzelnen Menschen, ist damit in greifbare Nähe gerückt. So erklärt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) diesen innovativen medizinischen Ansatz, der bereits heute in Deutschland erfolgreich eingesetzt wird. Allerdings noch längst nicht bei allen Patienten, die davon profitieren könnten, denn regelhaft steht dieses Versorgungsangebot noch nicht zur Verfügung.
Als Wegbereiter dafür gilt die 2019 vom BMG gestartete und mit über acht Millionen Euro unterstützte Initiative genomDE. Sie soll Standards für den klinischen Einsatz von Genomdiagnostik, die qualitätsgesicherte Sequenzierung und die interdisziplinäre Auswertung der Sequenzdaten etablieren. Auch eine bundesweite Plattform für diagnostisch erhobene genetische Daten soll konzipiert und aufgebaut werden. Diese soll ein immer wieder postuliertes Ziel verwirklichen, nämlich Gesundheitsversorgung und Forschung miteinander zu verbinden.
Bei dem genomDE-Symposium im Juli betont Petra Brakel, Leiterin der Unterabteilung Medizinprodukte, Apotheken und Betäubungsmittel im BMG, dass die datenbasierte Versorgung eine ganz grundlegende Voraussetzung habe: das Vertrauen aller Beteiligter – insbesondere aller Patientinnen und Patienten – in die sicherheitstechnischen, die datenschutzrechtlichen und ethischen Standards, die in diesem Verfahren eingesetzt werden. Dafür werde genomDE konkrete Lösungsansätze entwickeln.
Zur Anwendung kommen sollen diese in einem weiteren Projekt, dem Modellvorhaben Genomsequenzierung nach Paragraf 64e SGB V, das kurz vor Ende der vergangenen Legislatur mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung auf die Schiene gesetzt wurde. Ziel dieses Projektes ist die Implementierung einer umfassenden Diagnostik und personalisierten Therapiefindung bei seltenen und onkologischen Erkrankungen mittels umfangreicher Genomsequenzierung – und zwar im Rahmen eines strukturierten klinischen Behandlungsablaufs. Die Regelung soll nach erfolgreicher Evaluation Eingang in die Regelversorgung erhalten. Die Laufzeit beträgt fünf Jahre.
BMG-Vertreterin Brakel hebt die Bedeutung des Modellvorhabens klar hervor: Man lege damit die Basis für eine innovative, bundesweit einheitliche und qualitativ hochwertige Genomdiagnostik bei seltenen und onkologischen Erkrankungen. „Wir stellen damit sicher, dass alle Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung und nicht nur diejenigen, deren Krankenkasse gegebenenfalls schon ein Projekt betreibt, Zugang zu diesen Versorgungsformen haben.“
Johannes Wolff vom GKV-Spitzenverband betont in seinem Vortrag vor allem den Modellcharakter. Man versuche, einen Startpunkt zu finden, es gehe aber nicht darum, eine Flächendeckung und Regelversorgung zu etablieren und alle denkbaren Indikationen einzubeziehen. Bezüglich der teilnehmenden Patienten weist Wolff darauf hin, dass der Erkenntnisgewinn „voraussichtlich wesentlich“ sein müsse: Klinisch relevanter Mehrwert für die Behandlung oder wesentliche Erkenntnis für die Diagnose lauten die Stichwörter. Das ist auch für die vorgesehene Evaluation von entscheidender Bedeutung, denn: „Je mehr wir mit der Schrotflinte auf das Thema Genomsequenzierung schießen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis nicht so überzeugend ist“, ist der Kassenvertreter überzeugt. Er empfiehlt, sich auf jene Bereiche zu konzentrieren, in denen den Patienten bei der Versorgung ein Nutzen entsteht, um gleichzeitig zu vermeiden, dass sie „genauso früh sterben, aber doppelt so teuer“ sind.
Wolff zufolge sind derzeit 20 Krankenhäuser an den Vertragsverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband beteiligt, nachdem anfangs 52 Anträge von 29 Kliniken eingegangen waren (27 für den Bereich Onkologie, 25 für seltene Erkrankungen). Ihm ist es wichtig hervorzuheben, dass es sich um ein dynamisches Vertragswerk handele. Beispielsweise kann der Kreis der teilnehmenden Häuser größer werden, auch der Beitritt der PKV ist gesetzlich vorgeschrieben. Anpassungen an andere Indikationen und neue Vergütungen sollen ebenfalls regelmäßig überprüft werden.
Der Startschuss für dieses mit Spannung erwartete Modellvorhaben soll allerdings nicht, wie ursprünglich vorgesehen, Anfang 2023 fallen. Wie auf dem Symposium bekannt gegeben wird, geht es erst im Januar 2024 los. Ein Jahr länger zu warten, mag für die Akteure des Gesundheitswesens hinnehmbar sein, für die betroffenen Patientinnen und Patienten ist es jedoch ein herber Schlag.
Infokasten: Stichwort wissensgenerierende Versorgung
Auf dem Symposium unterstreicht Dorothee Andres, ebenfalls BMG, dass die Initiative genomDE das für das Modellvorhaben Genomsequenzierung wichtige Konzept einer wissensgenerierenden Versorgung erarbeite. Auch Sebastian Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung, hebt hervor, dass die Basis von genomDE ein wissensgenerierendes Versorgungskonzept für Patientinnen und Patienten sein werde.Dieses werde die Nutzung von klinischen und assoziierten genomischen Daten für die individuelle Behandlung sowie für die Forschung zur kontinuierlichen Verbesserung von Diagnostik und Therapie ermöglichen. Die notwendigen Eckpunkte für eine wissensgenerierende Versorgung erläutert auf der Veranstaltung der Onkologe Prof. Michael Hallek, Universitätsklinikum Köln. Dazu zählt er neben dem spezifischen Wissen zu den jeweiligen Krankheitsbildern die Einbeziehung translationaler Spitzenforschung an großen, vernetzten Zentren sowie die Schaffung weiterer vernetzter Strukturen. Wichtig sei eine reibungsfreie Interaktion von Leistungserbringern und forschenden Einrichtungen. Digitalisierung und Interoperabilität der Datenbewirtschaftung seien ebenfalls wichtige Bausteine, ebenso wie der Abbau bürokratischer Hürden und spezielle Managementkompetenzen.
Zolgensma, ein Gentherapeutikum gegen spinale Muskelatrophie, kostete bei Markteinführung in Deutschland mehr als zwei Millionen Euro pro einmalig notwendiger Dosis. Kaftrio, ein hochwirksames Medikament gegen die Symptome von Mukoviszidose, schlägt im Jahr mit 275.000 Euro je Patientin oder Patient zu Buche. Der Ethikrat weist auf die Herausforderungen hin, die solch hohe Preise mit sich bringen: Angesichts begrenzter Ressourcen in einem solidarischen Gesundheitswesen gelte es, die Ansprüche von allen Versicherten auf bestmögliche Behandlung, aber auch die von forschenden Arzneimittelherstellern auf Refinanzierung ihrer Investitionen gegen das Erfordernis abzuwägen, Gesundheitskosten und insbesondere Krankenkassenbeiträge nicht beliebig ansteigen zu lassen.
Die Jahrestagung des Gremiums wirft verschiedene Schlaglichter auf dieses hochkomplexe Thema, das „voller Paradoxien und Aufreger“ steckt, wie es Prof. Bertram Häussler vom IGES Institut ausdrückt. Im ersten Vortrag der Veranstaltung nennt er einige aufschlussreiche Zahlen: Den Aufschlag der gesetzlichen Krankenversicherung für Forschung und Entwicklung (F&E) beziffert er etwa auf elf Milliarden Euro pro Jahr. 90 Prozent der Arzneimittel seien für einen Durchschnittspreis von 30 Cent pro Tag zu haben. Und: Mit 330 Milliarden seien die weltweiten F&E-Ausgaben – die öffentlichen sind darin inkludiert – so hoch wie ein Viertel der Verteidigungsausgaben aller NATO-Staaten.
Der Institutschef stellt außerdem Preisbildungsmechanismen von Arzneimitteln dar. Alter und Menge seien wichtige Steuerparameter. Nach Ablauf des Patents falle der Preis stark. Je mehr Patienten es gebe, an die das Medikament abgegeben werden kann, desto geringer der Preis, denn in diesem Fall verteile sich die Ausgabensumme für F&E auf mehr Einheiten.
Die Ausgaben für F&E eines neuen Arzneimittels wurden in einer Studie aus dem Jahr 2003 auf 400 Millionen Dollar beziffert, dabei eingerechnet sind auch die Kosten für die Misserfolge anderer Arzneimittelentwicklungen. Häussler weist außerdem auf eklatante Preisunterschiede zwischen den verschiedenen Krankheitsgebieten hin: Für Herz-Kreislauf-Erkrankungen werde immer weniger ausgegeben, solche Medikamente „kosten ja nur noch einen Cent pro Tag und mit Rabatten sind das zwei Drittel Cent pro Tag“. Anders sehe es in der Onkologie aus, ein Bereich mit derzeit vielen Neuzulassungen.
Den stetigen Strom an Innovationen nennt der Arzneimittel-Experte das „Weltkulturerbe der Pharmazie“. Vor 20 Jahren hätten nur acht Länder dazu beigetragen, mittlerweile seien es bereits 25. Von Indien und China werde man in den nächsten fünf Jahren viel mehr sehen, prophezeit Häussler. Er geht insgesamt von einer „Pluralisierung, Liberalisierung und Demokratisierung“ des Forschungsgehens aus. Demnächst werde beispielsweise in Kenia ein forschendes Pharmaunternehmen an den Start gehen. Möglich sei das, weil Technologie und Kapital transportabel sind. Außerdem würden bereits 29 Prozent der Arzneimittel von Ein-Produkt-Firmen eingebracht. Dagegen käme von Big Pharma, das heißt sechs Firmen, 19 Prozent der Arzneimittel. „Ganz viele der kleinen forschungsgetriebenen Pharmafirmen laufen heutzutage vom Homeoffice aus, die Prozesse werden fast nur noch virtuell geleitet“, berichtet Häussler. Die von ihm erwartete Verbreitung von Forschungsaktivitäten in Länder, die in diesem Bereich vorher noch nicht aktiv waren, hält er insbesondere vor dem Hintergrund der globalen Gerechtigkeitsdiskussion für eine faszinierende Botschaft.
Zwei Impulse auf der Jahrestagung berichten direkt aus der Versorgungsperspektive. Das ist zum einen der Mukoviszidosepatient Stephan Kruip, der auch Mitglied des Ethikrats ist, und zum anderen die Ärztin Prof. Bettina Kemkes-Matthes vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Letztere berichtet von den enormen Therapiefortschritten bei der Hämophilie. Früher habe den Patienten die vom Mediziner Rudolf Marx geprägten „drei Vs“ gedroht: verbluten, verkrüppeln, verarmen. Heutzutage könnten sie ein weitgehend normales Leben führen. „Unsere Patienten verbluten nicht mehr wie vor 100 Jahren, sie sterben nicht mehr an Infektionen wie vor 50 Jahren, sondern sie sterben an ‚normalen‘ Todesursachen“, betont die Medizinerin.
Zu den durch die Industrie ermöglichten Fortschritten zählt sie virussichere aus menschlichem Blut hergestellte Konzentrate sowie gentechnisch hergestellte Konzentrate mit einer verlängerten Halbwertszeit, sodass sich die Patienten nicht mehr alle zwei Tage spritzen müssen. Doch auch die Kosten verschweigt sie nicht: Allein die Konzentrate kosteten 900 Millionen Euro jährlich, jeder gesetzlich Versicherte zahle damit zwölf Euro pro Jahr für die Therapie. „Die Lebensqualität und das Überleben des Patienten ist ganz klar davon abhängig, wie viel finanzielle Mittel für ihn verfügbar sind“, lautet ihr Fazit.
Der Mukoviszidosepatient Kruip beleuchtet den finanziellen Aspekt noch ausführlicher am Beispiel des Medikaments Kaftrio, das für Betroffene einen, so stellt er klar, „unbezahlbaren“ Zusatznutzen habe: „Das ist so entscheidend für die Verbesserung der Lebensqualität, der Gesundheit, der Lebenserwartung, der Möglichkeiten Geld zu verdienen, auch Partner zu kriegen, Kinder zu bekommen – in den letzten Jahren ist die Zahl der Schwangerschaften bereits bei Mukoviszidosepatienten angestiegen – dass wir auf dieses Medikament nie mehr verzichten wollen.“ Aus Sicht der Betroffenen müsse der Zugang zu diesem Medikament dauerhaft und weltweit gesichert sein. Die Voraussetzung dafür sei ein fairer und nachhaltiger Preis.
Basierend auf den Jahrestherapiekosten von 250.000 Euro rechnet Kruip vor, dass in Deutschland Medikamentenkosten von 1,3 Milliarden Euro jährlich entstehen würden, wenn das Mittel von 80 Prozent der 6.500 Mukoviszidosepatienten genommen werden würde – vorausgesetzt der gegenwärtige Preis bleibt bestehen. Kruip hat Kriterien zur Rechtfertigung des Preises entwickelt (siehe Infokasten).
[caption id="attachment_6167" align="alignright" width="500"]Kriterien zur Rechtfertigung eines Medikamentenpreises
Stephan Kruip auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates
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Kriterium 1: Angebot und Nachfrage
Kriterium 2: Herstellungskosten
Kriterium 3: Return on Investment
Kriterium 4: Einsparung bei anderen Therapien
Kriterium 5: Kann dieser Preis auf andere seltene Erkrankungen übertragen werden?
Kriterium 6: Qualitätsadjustiertes Lebensjahr (QALY)
Kriterium 7: Solidarische Krankenversicherung
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Zu seinem siebten Kriterium „Solidarische Krankenversicherung“ führt er aus, dass 78 völlig gesunde Versicherte ihren monatlichen Beitrag von 270 Euro nur dafür zahlen müssten, um für einen Patienten das Medikament Kaftrio zu finanzieren. Kruip fragt sich daher, „wann diese Solidarität überspannt wird“.
Auch das Thema Verteilungsgerechtigkeit wird am Beispiel Mukoviszidose konkret fassbar. Kruip kritisiert einen Geldmangel in der Versorgung, insbesondere bei den Spezialambulanzen. „Wir brauchen 400 Euro pro Monat und Patient, um diese zu finanzieren“. Die Krankenhäuser bekämen nur einen Bruchteil davon und jene, die es gut machten, würden bestraft. „Hier geht es um zwei Prozent der Medikamentenkosten und das macht uns natürlich Sorgen.“
Der Patientenvertreter plädiert unter anderem im AMNOG für einen Interimspreis – ein Vorschlag, den der AOK-Bundesverband bereits vor einiger Zeit ins Spiel gebracht hat.
Darüber hinaus fordert er grundsätzlich eine gesellschaftliche Aushandlung und öffentliche Diskussion dazu, wo Grenzen zu ziehen seien und ob es Limitierungsentscheidungen geben sollte – und wenn ja, wo.
Der Theologe Prof. Markus Zimmermann geht in seinem Vortrag anschließend der Frage nach, wer über den Zugang zu neuen Medikamenten entscheiden sollte. Unstrittig sei, dass die konkrete Entscheidung von der zuständigen politischen Behörde gefällt werden müsse. Idealerweise auf Grundlage von evidenzbasiertem Wissen über Wirksamkeit, zuverlässigen Berechnungen der Kosteneffektivität und des Zusatznutzens sowie auf Basis einer interdisziplinären HTA-Untersuchung, bevor dann eine Empfehlung – und keine Entscheidung – an eine von all diesen Vorarbeiten getrennte funktionierende Beschlussinstanz abgegeben wird, erläutert Zimmermann.
Durchaus unterschiedlich werde allerdings gehandhabt, wer über die Gewichtung der genannten Elemente befindet. In einigen Ländern wie Schweden oder Großbritannien wurde dabei die Öffentlichkeit in Form von Bürgerforen beziehungsweise Citizen Councils einbezogen, berichtet der in der Schweiz lehrende Professor. Dort setze man auf das Votum eines Expertengremiums. Allerdings habe die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, deren Vizepräsident Zimmermann ist, der Schweiz empfohlen, von Schweden zu lernen und öffentliche Prozesse zu fördern. So soll abgesichert werden, dass Entscheidungen zum Zugang zu teuren Medikamenten auf tatsächlich vertretenden Werthaltungen beruhen. „Klar scheint uns, dass HTA-Empfehlungen zur Finanzierungspraxis von Medikamenten stets auch Werturteile beinhalten und daher auch nicht rein technokratisch beantwortet werden können und somit geht es bei dem Ganzen auch um die Frage des staatlichen Paternalismus in diesem Bereich.“
[caption id="attachment_5980" align="alignright" width="500"]
Was ist die "Rule of Rescue"
Bei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit wird meist über geeignete Allokationskriterien diskutiert. Bei der Jahrestagung des Ethikrats unterscheidet der Theologe Prof. Markus Zimmermann zwischen prozeduralen wie transparente Begründung und inhaltlichen. Zu letzteren zählt er das Menschenwürde-, Bedürftigkeits-, Solidaritäts-, Wirksamkeits- und Nutzenprinzip. Die Prinzipien an sich seien kaum umstritten, ihre Anwendung in den einzelnen Bereichen aber durchaus. Ein besonders schwieriges Thema sei beispielsweise die „Rule of Rescue“. Dabei geht es um die im individuellen Ethos verankerte spontane Neigung, Menschen in Not zu helfen – auch dann, wenn die dafür aufzuwendenden Mittel irrational hoch sind und dann in der Folge an anderen Stellen fehlen. „Was auf der Mikroebene zu begrüßen ist, kann auf der politischen Makroebene das Dilemma aufwerfen, bei der Ressourcenallokation zwischen Menschen in akuter Not und Menschen, die aufgrund der dann getroffenen Entscheidung später in Not geraten werden, entscheiden zu müssen“, erläutert Zimmermann. Ein aktuelles Beispiel sei die im Frühjahr 2020 getroffene Entscheidung, alle Kräfte bei der Intensivmedizin zu bündeln, um dort Leben zu retten. Die unbeabsichtigte Nebenfolge bestehe darin, dass Menschen mit Tumorerkrankungen jetzt sterben, weil sie viel zu spät behandelt wurden.
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An dramatischen Äußerungen zur Lage fehlt es nicht. Auf die Liste der zehn größten Gefahren für die globale Gesundheit hat beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die zunehmenden Resistenzen gesetzt. Die Welt könnte ins Vor-Penicillin-Zeitalter zurückfallen, 100 Jahre medizinischer Fortschritt würden zunichte gemacht, mahnt WHO-Generalsekretär Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus bereits vor zwei Jahren.
Dr. Tim Eckmanns, beim Robert Koch-Insitut für die Überwachung von Antibiotikaresistenzen und -verbrauch zuständig, ordnet bei einer Veranstaltung im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestags vor einigen Wochen die Situation ganz grundsätzlich ein: Weltweit seien 2019 einer systematischen Analyse zufolge 1,27 Millionen Menschen wegen einer Antibiotikaresistenz gestorben. Bei weiteren 4,95 Millionen, die ebenfalls an antibiotikaresistenten Erregern gestorben sind, sei unklar, ob die Resistenz oder der Erreger alleinige Ursache war. Rechnet man diese Zahlen zusammen, so sind deutlich mehr Menschen wegen einer Antibiotikaresistenz gestorben als an Malaria und HIV/Aids zusammen. Von einer stillen Pandemie spreche man auch deshalb, erläutert Eckmanns, weil dem nicht jedes Mal ein Name gegeben werde. „Die Leute sterben an einer Sepsis oder an einer Pneumonie und die Antibiotikaresistenz wird dabei nicht erwähnt.“ Der Public-Health-Experte verweist auf einen bekannten Report zu dem Thema von Dr. Jim O´Neill aus dem Jahr 2014. Demnach werden die Todesfälle wegen Resistenzen auf zehn Millionen in 2050 steigen – wenn man nicht gegengesteuert. Die Kosten veranschlagt der Ökonom in diesem Szenario auf 100 Billionen Dollar global. „Wir müssen handeln“, sagt Eckmanns.
Apropos Handeln: Bei der Veranstaltung im Bundestag stellt sich das neu gegründete Deutsche Netzwerk gegen Antimikrobielle Resistenzen (DNAMR) vor. Forscherinnen und Forscher öffentlicher Einrichtungen, Start-ups und Pharmaindustrie haben sich als Bündnis zusammengeschlossen, um „mit einer Stimme zu sprechen und die Politik zu involvieren“, wie es Co-Sprecher Prof. Achim Hörauf ausdrückt. Mit seinem Team entwickelt er an der Universität Bonn neue Antibiotika. Aus der universitären Forschungsperspektive sagt er: „Wir wollen als Forscher erfolgreich Antibiotika entwickeln, stehen aber vor dem Problem, was wir mit einem guten Kandidaten machen, wenn die Industrie das Ganze nachher aus finanziellen Erwägungen nicht mehr aufgreifen kann.“ Der Markt in der EU müsse so gestaltet werden, dass sich Antibiotikaforschung wieder lohnt, sagt er in Richtung Politik. „Wir dürfen nicht noch ein paar Jahre im Kreisverkehr bleiben, sondern müssen zu einer Lösung kommen“, fordert Hörauf.
Das verlangt auch Dr. Marc Gitzinger. Der Gründer und CEO von BioVersys, der ebenfalls dem Netzwerk angehört, sagt: „Wenn wir verantwortungsvoll neue Antibiotika verwenden wollen, dann dürfen wir sie nicht verkaufen und das ist ein Problem.“ Gitzinger berichtet aus der Perspektive der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die mittlerweile bei der Entwicklung neuer Antibiotika eine entscheidende Rolle spielen. Der WHO zufolge sind 80 Prozent der heutigen Entwicklungsbeispiele von KMU. Oft handele es sich um Kleinstunternehmen mit fünf Mitarbeitern, berichtet Gitzinger. „Das ist alles furchtbar fragil: Wir haben null Einnahmen, alles investiert über Investoren und Forschungsgelder.“
In dieser Hinsicht hat sich mittlerweile einiges getan: Nach Angaben des Bundesforschungsministeriums beteiligt sich die Bundesregierung von 2018 bis 2028 mit bis zu 500 Millionen Euro an verschiedenen Programmen. Dazu gehören etwa die „Global Antibiotic Research and Development Partnership“ (GARDP), der „Cobating Antibiotic Resistant Bacteria Biopharmaceutical Accelerator“ (CARB-X), die nationale Wirkstoffinitiative sowie die „European and Developing Clinical Trials Partnership“ (EDCTP). Antibiotikaforschung ist zudem ein Schwerpunkt des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), das von Bund und Ländern finanziert wird.
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Gitzinger zufolge hat die Forschungsförderung bewirkt, dass die präklinische Forschung wieder neue Innovationen bringe. Weiterhin bestehe jedoch das Problem, dass die Pipeline heute noch immer viel zu „dünn“ sei, es zu wenig neue Medikamente für die Vielzahl von verschiedenen Infektionen gebe. Der Hauptgrund dafür sei, dass sich der Privatsektor fast komplett aus dem Feld der Antibiotika verabschiedet habe, weil es keinen funktionierenden Markt gebe. „Verschwindend gering“ sei das Interesse daran im Vergleich zu Krebs oder der Immunologie, konstatiert der Unternehmer. Er fordert von der Politik neue Vergütungssysteme, die es dem Privatsektor wieder ermöglichten, das Entwicklungsrisiko auf sich zu nehmen, aber im Erfolgsfall auch vergütet zu werden.
Entscheidend dafür ist, die Vergütung vom Verkaufsvolumen zu entkoppeln. Entsprechende Modelle müssen nicht erst mühsam entwickelt werden, sie existieren bereits. Gitzinger nennt das Subscription-Modell, bei dem Staaten den Zugang zu einem neuen Antibiotikum erwerben und zwar unabhängig vom Volumen. Institutionen wie das Robert Koch-Institut oder Experten der Krankenhäuser entscheiden dann, wann das neue Mittel adäquat eingesetzt wird (siehe Abbildung). Bei der Transferable Exclusivity Extension (TEE) geht es dagegen im Wesentlichen um einen Gutschein, den eine Firma erhält, die ein neues Antibiotikum entwickelt hat. Diesen kann sie selbst verwenden oder an einen anderen Hersteller weiterverkaufen, der ein hochlukratives Medikament hat und mit dem Kauf eine längere Marktexklusivität erwirbt, erläutert Gitzinger.
Für die EU-Ebene sei eher das TEE-Modell geeignet findet er, nationale Regelungen sollten ergänzend etabliert werden. Wichtig sei, dass endlich nachhaltig und sinnvoll gehandelt werde, appelliert er an die Politik und erinnert daran, dass die meisten modernen medizinischen Eingriffe – vom Kaiserschnitt bis zur Krebstherapie – nicht ohne den Zugang zu wirksamen und funktionierenden Antibiotika funktionierten. „Es geht damit um nichts weniger als das Bestehen unseres modernen Gesundheitssystems.“
• Falscheinsatz in der Humanmedizin: In vielen Ländern sind Antibiotika ohne Rezept erhältlich. Patienten schlucken sie wie Bonbons, auch wenn sie gar nicht wissen, ob überhaupt eine Bakterieninfektion vorliegt. Dazu kommt, dass die Medikamente zu kurz genommen werden. Nicht alle Erreger werden getötet, was die Bildung von Resistenzen begünstigt. Auch in Deutschland werden Antibiotika zu oft falsch eingesetzt.
• Massive Nutztierhaltung: Antibiotika eignen sich in der Tiermast nicht nur zur (prophylaktischen) Behandlung kranker Schweine, Rinder, Hühner oder Puten. Sie befördern offenbar auch das Wachstum. Dieser Einsatz zwecks Mästung ist in der Europäischen Union immerhin seit 2006 verboten. Seit diesem Jahr ist die prophylaktische Gabe von Antibiotika europaweit unzulässig. Von den Ställen können resistente Erreger oder Antibiotika selbst auf vielfältige Weise in die Umwelt gelangen.
• Ein weiterer Weg, über den Antibiotika in die Umwelt gelangen, sind die Kläranlagen. Denn der menschliche Organismus verstoffwechselt antimikrobielle Wirkstoffe nur zum Teil und scheidet einen nennenswerten Anteil wieder aus. Von der Toilette geht’s in die Kläranlage und von dort aus wieder in die Gewässer sowie mit dem Klärschlamm in die Böden. „Abwässer aus Krankenhäusern oder Privathaushalten können also zur Resistenz-Problematik beitragen“, heißt es in dem DART-2020-Bericht (Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie).
• Daneben entpuppen sich manche Antibiotika-Produktionsstätten, vor allem in Asien, als Resistenz-Quelle, weil Abfälle und Abwässer nicht ordnungsgemäß entsorgt werden. Keime werden aber auch durch den weltweiten Handel von Tieren und Lebensmitteln sowie durch Fernreisende um die Erdkugel transportiert. 34 Prozent der Globetrotter kehren mit Darmbakterien heim, die Stoffe produzieren können, welche Antibiotika wirkungslos machen.
Es gibt bereits neue Modelle zur Vergütung von Antibiotika. Als vorbildlich gilt Großbritannien. Was machen die Briten besser?
Gitzinger: Neue, hochwirksame Antibiotika sollen nur selten und gezielt verwendet werden. Bei niedrigen Stückpreisen kann sich diese nachhaltige Verwendung für die Hersteller, die hunderte Millionen für die Entwicklung ausgeben müssen, finanziell nicht lohnen. Bei sehr hohen Stückpreisen würden Anreize geschaffen, auch neue Antibiotika häufiger als angezeigt zu verwenden, da sich dann mehr verdienen lässt. Dieser Kreis muss gebrochen werden.
Und wie?
Gitzinger: Die Briten haben ein Vergütungsmodell entwickelt, welches den finanziellen Erfolg eines Antibiotikums vom Verkaufsvolumen entkoppelt. Wie bei Netflix wird für den Zugang zu einem neuen Reserveantibiotikum gezahlt. Die adäquate Verwendung wird dann – losgelöst vom Preis – durch die Ärzte entschieden, welche bestimmen, ob das Medikament für den Patienten aus medizinischer Sicht notwendig ist. Die Briten legen dabei den „Netflix-Preis“ über ein Punktesystem fest, mit dem sie erörtern, wie wichtig das Antibiotikum für die Gesellschaft ist und orientieren sich daran, dass die Vergütung ausreichend sein muss, dass es sich auch für die Hersteller lohnt, die hohen Entwicklungskosten und -risiken einzugehen. Das Model der Briten stellt auf den sozioökonomischen Wert ab, den der Zugang zu wirksamen Antibiotika hat.
Bei der Entwicklung neuer Antibiotika spielen mittlerweile viele Kleinstfirmen eine wichtige Rolle. Mit welchen Problemen kämpfen diese und wie ließen sich diese lösen?
Gitzinger: Kleine Firmen kämpfen vor allem mit der Finanzierung ihrer Forschung und Entwicklung. Gerade im Antibiotikabereich ist dies extrem, da Risikokapitalgeber neben dem technischen Entwicklungsrisiko derzeit auch ein Risiko beim Marktversagen auf sich nehmen. Dies kann nur durch Reformen beim Vergütungssystem nachhaltig gelöst werden. Die Zeit drängt! Es muss wieder eine gewisse Sicherheit geben, dass wenn ein neues Antibiotikum erfolgreich zugelassen wird, sich diese Investition auch finanziell gelohnt hat. Neben der Finanzierung, dem mit Abstand größten Problem, gibt es noch Folgeschwierigkeiten.
Welche sind das?
Gitzinger: Hierzu zählen die normalen wissenschaftlichen und regulatorischen Hürden ein neues Antibiotikum zur Zulassung zu bringen, allerdings wird dies in unserem Sektor durch akuten Mangel an Experten weiter verschärft. Dies liegt an der jahrelangen Vernachlässigung des Vergütungsthemas, wodurch immer weniger Firmen und Hochschulen das Feld als attraktiv angesehen haben. Die wenigen Firmen, die heute noch führend in der Entwicklung sind, müssen überleben, denn sonst droht uns eine Krise ungeahnten Ausmaßes. Antibiotikaresistenzen verschwinden nicht einfach und es dauert lange neue, wirksame Medikamente gegen die Vielzahl von infektiösen Bakterien zu entwickeln. Im Falle eines großen Ausbruchs wie bei COVID-19 wird es länger dauern, neue Antibiotika zu entwickeln – vor allem wenn die letzten Firmen gezwungen wurden, ihre aktuellen Entwicklungen aus finanziellen Gründen zu stoppen.
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Zur Person
Dr. Marc Gitzinger ist CEO und Gründer von Bioversys, einer in Basel ansässigen Firma, die neue Antibiotika entwickelt. Er ist außerdem Präsident der BEAM Alliance, die Abkürzung steht für Biotech companies from Europe innovating in Anti-Microbial resistance research. Auch beim neu gegründeten Deutschen Netzwerk gegen Antimikrobielle Resistenzen (DNAMR) engagiert sich Gitzinger.
Bereits die Frage, was unter einer angemessenen Diagnostik und Therapie zu verstehen ist, stelle sich in der augenärztlichen Praxis täglich neu und müsse im Gespräch mit dem Patienten geklärt werden. „Der Respekt vor dem Patientenwillen und der Patientenautonomie ist die wichtigste Richtschnur augenärztlichen Handelns“, sagt DOG-Präsident Prof. Gerd Geerling. Von zentraler Bedeutung sei es daher, ergebnisoffen, ehrlich und transparent über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten aufzuklären.
Der Patientenwille sei allerdings nicht der einzige Maßstab dafür, wo Unterversorgung einerseits und Überversorgung andererseits beginnen. Behandlungswünsche finden prinzipiell dort ihre Grenze, wo ihnen „ärztliches Gewissen oder ein Mangel an gesellschaftlichen Ressourcen entgegenstehen“, heißt es im Kodex. Zu diesen Ressourcen zählen auch die Behandlungskapazitäten der Augenärztinnen und Augenärzte selbst: Aufgrund des demografischen Wandels nimmt die Zahl ophthalmologischer Patientinnen und Patienten seit Jahren zu, sagt der BVA-Vorsitzende Dr. Peter Heinz. „Mit Blick auf die Altersstruktur ophthalmologisch tätiger Ärztinnen und Ärzte ist dagegen absehbar, dass deren Zahl in den kommenden Jahren eher abnehmen wird.“ Der Kodex rufe daher auch zum Engagement in Forschung und Lehre auf. Nur so könne die Weiterentwicklung des Fachs gewährleistet und – über die Ausbildung des augenärztlichen Nachwuchses – die Versorgung zukünftiger Patienten sichergestellt werden.
[caption id="attachment_6051" align="alignright" width="500"]Auch ökonomische Überlegungen spielen im ärztlichen Alltag eine Rolle. Die Augenärzte finden, dass das im Hinblick auf die einzelne Praxis legitim, angesichts der gesellschaftlichen Kosten sogar geboten sei. „Patientinnen und Patienten darf aber durch eine Überbewertung ökonomischer Kriterien kein Schaden entstehen“, heißt es im Kodex. DOG und BVA sehen daher primär renditeorientierte Investoren im niedergelassenen Versorgungsbereich kritisch.
Eine weitere Herausforderung: Zukünftig müsse auch die ökologische Nachhaltigkeit eine „größere Rolle im Behandlungsalltag“ einnehmen, betont Geerling. Nur wenn die zur Verfügung stehenden Ressourcen nachhaltig und verantwortungsbewusst eingesetzt werden, könnten zukünftige Generationen von Augenärzten sowohl zum eigenen als auch zum Wohl der Patienten arbeiten.
Weiterführender Link:
Ethik-Kodex der Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) und des Berufsverbands der Augenärzte (BVA)
www.dog.org/wp-content/uploads/2022/04/Kodex-der-Augenaerztinnen-und-Augenaerzte-in-Deutschland_DOG_BVA.pdf
Abgesehen von nationalen und internationalen Klimaschutzrichtlinien gebe es lokal viele Möglichkeiten, in einem Klinikum oder einer Praxis selbst aktiv zu werden. Es sei essenziell, dass „gemeinsam kreativ und niederschwellig gedacht wird“, sagt Prof. Annette Hanseburg, Universitätsmedizin Mainz. Auch ohne unmittelbare große finanzielle Investitionen könnten Sofortmaßnahmen für einen aktiven Klimaschutz ergriffen werden – vorausgesetzt, die Klinikleitung ziehe mit. Die Fachgesellschaft nennt unter anderem: ein konsequentes Recycling-Konzept; Austausch klimabelastender Narkosegase; Aufnahme des Ziels Klimaneutralität in die Unternehmensziele; jährliche Bestimmung des CO2-Fußabdrucks zur Erfolgskontrolle; papierloses Krankenhaus; Reduktion von Einmalartikeln.
Der effizienten Koordination von Maßnahmen zwischen Ärzten kommt eine wesentliche Rolle beim gelebten Klimaschutz zu, betont Jun.-Prof. Martin Weiss, Universität Tübingen. Unnötig wiederholte Tests und überflüssiger ressourcenraubender Medikamentenverbrauch könnten vermieden werden. Das Gleiche gelte für klimabelastende halogenierte Narkosegase wie Stickstoffoxid und Desfluran, die unter Umständen durch intravenöse Betäubungsmittel ersetzt werden können. Letztere verursachten nur einen Bruchteil an Emissionen.
Die Fachgesellschaft unterstützt den Vorschlag des Gesundheitsökonomen Prof. Boris Augurzky, einen Krankenhaus-Klimafonds einzuführen, der von Bund und Ländern gefüllt wird. „Aus unserer Sicht haben Krankenhäuser in Deutschland – ob kommunal oder privatwirtschaftlich geführt – flächendeckend nicht die Kraft, um im ausreichenden Maße in Klimaschutz zu investieren“, argumentiert DGGG-Präsident Prof. Anton Scharl.
Als Themen für Fort- und Weiterbildungen werden insbesondere genannt: Ziele und Grenzen der Patientenfürsprecher, Patientenrechte und soziale Kompetenzen.
Die Studie wurde im Auftrag des Patientenbeauftragten der Bundesregierung Stefan Schwartze durchgeführt und auf dem 16. Patientenfürsprechertag vorgestellt. Für die Analyse wurden Gespräche mit Expertinnen und Experten organisiert, eine Auswertung der Landesgesetzgebung und der Qualitätsberichte der Krankenhäuser vorgenommen sowie eine bundesweite Online-Befragung von Patientenfürsprecherinnen und -fürsprechern mit rund 330 Teilnehmenden durchgeführt.
Viele Bundesländer haben demnach die Einrichtung dieser Position in ihren Krankenhäusern gesetzlich geregelt. Doch das ist nicht in allen Ländern der Fall. „Eine gesetzliche Regelung wirkt sich positiv auf die Verbreitung der Patientenfürsprache aus“, hält Schwartze fest. Er wirbt daher dafür, zukünftig im besten Fall vergleichbare Regelungen gesetzlich zu verankern. „Denn Patientinnen und Patienten sollten sich möglichst bundesweit in allen Krankenhäusern an Patientenfürsprecher wenden können.“
Themen der Studie sind außerdem unter anderem Ehrenamt und Unabhängigkeit, Erreichbarkeit und Ausstattung sowie Dokumentation und Berichterstattung. Bei der Diskussion geht es auch um das Verhältnis zum Beschwerdemanagement. Das Engagement der Sprecher sei ein vom Krankenhaus unabhängiges Ehrenamt, das Beschwerdemanagement beruhe dagegen auf einer gesetzlichen Vorgabe und sei Teil des Krankenhauses, heißt es. „Man muss aufpassen, dass man nicht vereinnahmt wird“, sagt ein Teilnehmer. Ein anderer weist auf die steigenden Ansprüche von Patienten und Politik hin. In Niedersachsen werde darüber beraten, ob Demenz-Patienten einen speziellen Fürsprecher bekommen sollen. Dabei müsse man schon jetzt den Leuten hinterherlaufen und suche händeringend Vertreter, klagt ein Patientenfürsprecher aus Hildesheim.
Dass es in Deutschland zu wenig Psychotherapie-Plätze gibt, ist unbestreitbar. Asylbewerber sind aber doppelt benachteiligt, geht aus dem Jahresgutachten hervor. Denn: „Nur wenige Therapeutinnen und Therapeuten sind auf die Behandlung von Asylsuchenden spezialisiert.“ Außerdem mangele es häufig an Dolmetschern. Darüber hinaus stießen Behandler auf Abrechnungsprobleme, „weil die Bearbeitung in den Sozialämtern so lange dauere“. Dabei bezieht sich der SVR auf Aussagen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Der SVR setzt auf einen Ausbau der psychologischen Versorgungsangebote für Asylbewerber.
Dem Bericht zufolge scheuen sich viele Migranten, denen der Aufenthalt in Deutschland untersagt ist, aus Angst vor Abschiebung zum Arzt zu gehen. Der SVR empfiehlt dem Gesetzgeber, das Aufenthaltsgesetz zu ändern, sodass „der Gesundheitsbereich – auch jenseits medizinischer Notfälle – von der Übermittlungspflicht gegenüber Ausländerbehörden ausgenommen ist“.
Die Autoren stellen außerdem fest, dass Migranten, die sich dauerhaft in Deutschland aufhalten, mitunter zu wenig über ihren Krankenversicherungsschutz wissen. Wenn sie dann Leistungen in Anspruch nehmen wollten, scheiterten sie an der Bürokratie. „Hier müsste es entsprechende Beratungs- und Hilfsangebote geben, die in der Fläche verfügbar und möglichst niedrigschwellig zugänglich sind“, regt der SVR an. Die Experten haben dabei die Clearingstellen im Sinn. Diese existieren bereits in einigen Großstädten und beraten nicht nur zugewanderte Personen unabhängig vom Aufenthaltsstatus, sondern generell Menschen ohne Krankenversicherung oder mit ungeklärtem Versicherungsstatus. Länder und Kommunen sollten prüfen, wie diese Einrichtungen in der Fläche ausgebaut werden können.
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Die Pandemie sorgt allerdings in 2020 dafür, dass die stationäre Fallzahl um 13,5 Prozent zurückgegangen ist. In 2021 habe sich diese Lage kaum verändert, konstatiert Report-Verfasser Prof. Boris Augurzky vom Institute for Healthcare Business. Dass die Patienten in der Zahl wie vor der Pandemie zurückkommen, halten er und seine Kollegen für nicht realistisch. Der Report spricht außerdem von einem Personalzuwachs in der Pflege in 2020 von fünf Prozent. Im Zusammenspiel mit dem Fallzahlenminus sei so ein Rückgang der Arbeitsproduktivität von 16 Prozent entstanden.
Autor Dr. Adam Pilny, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, thematisiert das Problem der nicht ausreichenden Investitionsfinanzierung der Länder. „Wenn man die Substanz der Krankenhäuser erhalten will, müsste man pro Jahr sieben bis acht Prozent der Erlöse reinvestieren.“ Die Länder leisteten 2020 aber nur 3,4 Prozent. Krankenhäuser schlössen diese Lücke nur zum Teil aus eigener Kraft, sodass es zu einem Substanzverzehr komme.
In den kommenden Jahren würden zudem die Bedarfe und Wünsche stärker steigen als personelle und finanzielle Ressourcen, prognostiziert Augurzky. „Es droht Rationierung.“ Für diesen Fall hätte Dr. Matthias Bracht aus der Geschäftsführung des Klinikum Region Hannover gerne „Instrumente“ vom Gesetzgeber. Dass die kommen, glaubt Augurzky nicht. Sein Report-Kollege Dr. Sebastian Krolop, Vorstand der Healthcare Information and Management System Society, versichert Bracht: „Diese Instrumente wollen Sie nicht haben. Das würde für einen dermaßen sozialen Unfrieden sorgen.“ Währenddessen glaubt Dr. Gerhard Sontheimer, Vorstand des kommunalen ANregiomed-Klinikverbunds in Bayern: „Die erste Stufe der Rationierung ist die Priorisierung.“ An diesem Punkt befinde man sich bereits. Damit meint er das Verschieben oder gar Absagen elektiver Eingriffe.
Augurzky sagt, dass man die Probleme kurzfristig durch Vorhaltefinanzierung und Ambulantisierung begegnen könnte. Auch in der Digitalisierung schlummere Potenzial. „Ultrakurzfristig“ helfe aber nur eins: mehr Geld.
Weiterführender Link:
Der Krankenhaus Rating Report 2022 „Vom Krankenhaus zum Geisterhaus?“ kann kostenpflichtig beim Verlag medhochzwei bestellt werden: www.medhochzwei-verlag.de/Shop/ProduktDetail/krankenhaus-rating-report-2022-978-3-86216-915-3
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mehr, dafür aber ein erhöhter Herstellerabschlag um fünf Prozentpunkte.)
Stichwort AMNOG: Der zwischen GKV-Spitzenverband und Hersteller verhandelte Erstattungsbetrag für neue Arzneimittel soll künftig rückwirkend ab dem siebten Monat nach Inverkehrbringen des Medikaments gelten. Außerdem trifft das Gesetz Vorgaben für Erstattungsbeträge von Arzneimitteln, die nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses im AMNOG-Verfahren keinen, einen geringen oder einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen haben. Die Umsatzschwelle von Orphan Drugs für die Nutzenbewertung will Lauterbach von 50 auf 20 Millionen Euro reduzieren. Zudem wird für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen ein Kombinationsabschlag in Höhe von 20 Prozent auf den Erstattungsbetrag eingeführt.
Auch die Krankenkassen müssen ihren Anteil leisten. Für sie ist ein „kassenübergreifenden Solidarausgleich“ vorgesehen. Dabei sollen in zwei Stufen die Finanzreserven, die abzüglich eines Freibetrags von zwei Millionen Euro 0,2 Monatsausgaben überschreiten, abgeschöpft werden.
Die gesetzliche Obergrenze für die Finanzreserven der Kassen soll von 0,8 auf 0,5 Monatsausgaben gesenkt werden. Diese Grenze gelte auch für das bestehende Anhebungsverbot für Zusatzbeitragssätze. Außerdem will das BMG eine Reduzierung der Obergrenze für die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds von derzeit 0,5 auf 0,25 Monatsausgaben festlegen. Der Anstieg der sächlichen Verwaltungsausgaben der Kassen für 2023 dürfe nicht höher als drei Prozent gegenüber 2022 sein. Die Zuweisungen an die Kassen für Verwaltungsausgaben sollen um 25 Millionen Euro gemindert werden.
Vertragsärzte müssen künftig ohne die extrabudgetäre Vergütung für neue Patienten auskommen. Dabei handelt es sich um eine Regelung aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz, die eindeutig Lauterbachs Handschrift trägt. Im Krankenhaus sollen ab 2024 nur noch die Personalkosten qualifizierter Pflegekräfte, die direkt am Bett arbeiten, im Pflegebudget berücksichtigt werden. Einen Schuldigen für das GKV-Defizit macht Lauterbach bei der Vorstellung der Eckpunkte aus: seinen Vorgänger Jens Spahn. Der habe teure Gesetze auf den Weg gebracht und Strukturreformen versäumt. Lauterbach habe das Minus zum großen Teil „geerbt“. Die Spahnsche Gesetzgebung hat zweifelsohne immense Kosten verursacht. Dass Lauterbachs Einfluss als damaliger Gesundheitsexperte im SPD-Fraktionsvorstand auf eben diese Gesetze nicht gering war, verschweigt der Minister an diesem Tag.
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Das Bündnis kritisiert die „anhaltenden Missstände in der Versorgung von Frauen und Familien rund um die Geburt und in den ersten Lebenswochen des Säuglings“. Viele Gebärende durchlebten psychisch belastende oder traumatische Geburten, die Frauen, Kinder und Familien prägen. Ebenso wirkten sich massive strukturelle Defizite und eine mangelhafte Personalausstattung negativ auf die Arbeit von Hebammen sowie Ärztinnen und Ärzten aus, die auch die Versorgung von Frau und Kind beeinträchtigen.
Das „Bündnis gute Geburt“ appelliert an alle Verantwortlichen, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um schnellstmöglich Verbesserungen in der Versorgung herbeizuführen. Ziel müsse sein, werdende Mütter und Familien in den Mittelpunkt der Geburtshilfe zu rücken, sie wertzuschätzen und rund um die Geburt angemessen zu unterstützen. Entsprechende Strukturen und Angebote seien in Praxen, Kreißsälen, auf Wöchnerinnenstationen und während des Wochenbetts zu schaffen. Unterdessen konstatiert die von Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach einberufene Krankenhauskommission in ihrer ersten Stellungnahme, dass der Abbau von Abteilungen gepaart mit steigenden Fallzahlen in Pädiatrie und Geburtshilfe zu Unterversorgung führe. Um kurzfristig den Druck rauszunehmen, sollen die Fachbereiche schon Anfang 2023 mehr Geld erhalten.
Erst kürzlich hat der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft (AKF) einen Bericht mit dem Titel „Gewalt unter der Geburt – wie werden Betroffene und die Öffentlichkeit dazu sinnvoll informiert?“ veröffentlicht. Erstellt wurde dieser im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Der Bericht basiert auf den Gutachten von Professoren der Gesundheits- und Hebammenwissenschaften, einer Expertin für Migrationsgesundheit, einer Medizinjournalistin und Vertreterinnen von Betroffeneninitiativen. Sie erörtern ausführlich die Möglichkeiten und Wege einer sinnvollen Information zu Gewalt unter der Geburt. Die unterschiedlichen und weit gefächerten Empfehlungen der Gutachterinnen zeigen, dass in Deutschland strukturierte und planvolle Maßnahmen zur Aufklärung über respektlose und traumatisierende Geburten ergriffen werden sollten, hält der AKF fest. Die Gutachten samt den Empfehlungen des Arbeitskreises hält letzterer für einen „ersten hoffnungsvollen Schritt“, um das Thema gesundheitspolitisch in den Fokus zu rücken und endlich konkrete Maßnahmen zur Sensibilisierung und Beseitigung von Respektlosigkeit und Gewalt unter der Geburt zu ergreifen.
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Der Experte stellt klar, dass die Datenbasis in Deutschland an sich viel Potenzial biete. Man könnte schon heute sehr viel mehr daraus machen, ohne den Dokumentationsaufwand zu erhöhen. Dazu sei es jedoch notwendig, vorhandene Datenbestände allgemein zugänglich zu machen. „Sie sind nicht das Eigentum der Ärzteschaft, der Krankenkassen oder des Staates, sondern ein öffentliches Gut.“ Um Qualität und Transparenz geht es kürzlich auch bei einer Veranstaltung des IKK e.V. Um beides nachhaltig zu verbessern, sei ein Paradigmenwechsel von einer institutionellen Sicht hin zu einer Patientenorientierung notwendig, lautet ein Fazit des Termins.
Das Thema Patientensouveränität ist auch nach 20 Jahren noch nicht gelöst, stellt dort Prof. Eva Maria Bitzer, Pädagogische Hochschule Freiburg, fest. Politik und Gesundheitswesen begeisterten sich deshalb so sehr für Gesundheitskompetenz, weil sie bestrebt seien, die Verantwortung auf die Kompetenz der Menschen abzuwälzen. Bitzer warnt daher: „Gesundheitskompetenz stärken heißt nicht, Patienten zu Ärzten zu machen und Verantwortung abzugeben.“ Das Gesundheitssystem sei patientenorientiert zu gestalten und seine Organisationen so weiterzuentwickeln, dass für alle Menschen gesundheitskompetentes Handeln möglich ist. Die Frage sei nicht, ob die Gesundheitskompetenz der Patienten in Deutschland zu qualitätsorientierten Entscheidungen befähige, erläutert die Professorin. Es gehe vielmehr darum, wie die Versorgungsinstitutionen mündige Entscheidungen zur qualitätsorientieren Inanspruchnahme unterstützen.
Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90/Die Grünen) wirbt auf der Veranstaltung für ein breites Qualitätsverständnis. Dieses umfasse mehr als Ergebnisqualität. Aus Perspektive der Patienten beinhalte der Qualitätsbegriff neben der Struktur- und Prozessqualität auch Fragen wie die Nutzerperspektive und -beteiligung sowie Patienteninformation, unterstreicht die stellvertretende Fraktionsvorsitzende. „Man muss den gesamten Patientenweg in den Blick nehmen.“ Bislang betreffe die Qualitätssicherung überwiegend den stationären Sektor, ergänzt Prof. Claus-Dieter Heidecke, Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen. Es müsse nicht nur darum gehen, alle stationären Bereiche abzudecken, sondern vor allem den ambulanten Sektor in die Qualitätsbetrachtung mit einzubeziehen. Dieser ist dabei bislang noch immer weitgehend außen vor.
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Ein weiteres Manko betrifft die von Klein-Schmeink angesprochene Nutzerperspektive: Bei der Qualitätsmessung bleiben hierzulande die Erfahrungen der Patientinnen und Patienten meist unberücksichtigt. Die Erhebung von sogenannten „Patient Reported Outcome Measures" (PROM) ist noch immer die Ausnahme. Bei PROM-Verfahren berichten Behandelte anhand medizinischer Kriterien selbst, wie eine bestimmte Therapie gewirkt hat. Zahlreiche Länder haben PROM bereits in ihr Gesundheitssystem integriert. „Systematische Befragungen von Patientinnen und Patienten über die selbst empfundenen Behandlungsergebnisse finden in Deutschland nicht statt”, heißt es in einem Report von Bertelsmann Stiftung, Technischer Universität Berlin und Weißer Liste. Die Ergebnisqualität werde über klinische Indikatoren oder aus Sekundärdaten ermittelt – was fehle, sei ein zentraler Baustein, der hilft, die Versorgungsqualität aus systemischem und individuellem Blickwinkel zu bewerten. Erste Initiativen wollen diese Lücke schließen, doch landesweit ist die Durchdringung laut Report noch gering: Erst 28 Prozent der Krankenhäuser setzen PROM bereits um, allen voran Universitätskliniken (42 Prozent) und private Krankenhäuser (36 Prozent).
Last but not least sind in Sachen Qualität und Transparenz auch die Krankenkassen gefragt. Einige von ihnen haben Transparenzinitiativen zu ihrem Leistungsgeschehen gestartet. Beispiel Innungskrankenkassen: Mit Experten aus Leistungsrecht und Controlling entwickelten sie 2021 ein Tableau von Kennziffern, die es den Versicherten ermöglichen sollen, sich ein Bild von der Arbeit ihrer Kasse zu machen. Zu den Kennzahlen gehören Angaben zur Zahl der Gesamtanträge, genehmigte beziehungsweise abgelehnte Anträge bezogen auf die unterschiedlichen Leistungsbereiche sowie ein Überblick über die Anzahl und den Ausgang von Widerspruchsverfahren. An einem kassenartenübergreifenden Aufschlag arbeitet, so ist auf der Veranstaltung zu erfahren, der GKV-Spitzenverband. Dieser soll voraussichtlich Anfang nächsten Jahres umgesetzt werden.
Die Siemens Betriebskrankenkasse veröffentlicht dagegen ihre Kennzahlen zu Widersprüchen und Beschwerden bereits seit einigen Jahren. 2021 hat Kassenvorständin Gertrud Demmler angekündigt, die Qualitätsinitiative stärker auf die direkte Erfahrung der Versicherten auszuweiten. Kennzahlen und Indikatoren geben nur ein indirektes Bild von der Qualität von Krankenkassen geben, „sie sind eine Hilfskrücke“.
Viele Akteure und Beobachter im Gesundheitswesen dürften sich einig sein, dass nach Jahren der Diskussion und Strategieentwicklung ein großer Wurf zu Qualität und Transparenz dringend notwendig ist.
Weiterführender Link:
Zur Studie „Patient-Reported Outcome Measures (PROMs): ein internationaler Vergleich:
www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/patient-reported-outcome-measures-proms-ein-internationaler-vergleich
„Um die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen zu fördern, setzen wir zügig für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG um“, steht im Koalitionsvertrag auf Seite 66. Auf dem kürzlich stattgefundenen Krankenhausgipfel bekräftigt Prof. Edgar Franke, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium: „Wir müssen das Ambulantisierungspotenzial wirklich heben.“
[caption id="attachment_5615" align="aligncenter" width="1200"]Gastgeber Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), wird beim Krankenhausgipfel konkret. Bis zu 20 Prozent der bisher vollstationär erbrachten Leistungen könnten Kliniken auch ambulant erbringen, sagt er mit Verweis auf internationale Studien. Auf Basis eines vom IGES Institut angefertigten Gutachtens könne ein Katalog an stationsersetzenden Leistungen definiert werden, bei denen die Krankenhäuser zukünftig nach medizinischen Aspekten selbst entscheiden, ob sie diese Leistungen klinisch-ambulant oder stationär erbringen. Und egal wie die Kliniken agierten, die Krankenkassen rechneten die Leistungen gleich ab. Dadurch verringere sich das Konfliktpotenzial zwischen Kliniken auf der einen Seite und Krankenkassen und Medizinischem Dienst auf der anderen Seite, meint Gaß.
Für die Pflegenden erhofft sich der DKG-Vorstand eine Entlastung, die auch dem Personalmangel entgegenwirke. Die Patienten wiederum müssten auch nach komplexen Eingriffen keine Nacht im Krankenhaus verbringen. Die Vertragsärzte will die DKG miteinbinden. Gaß: „Wir öffnen die Krankenhäuser mit ihrer hochwertigen medizintechnischen Infrastruktur für die intensivere Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und bauen damit die Barrieren zwischen den Sektoren spürbar ab.“ Es müssten allerdings ambulante Behandlungsstrukturen und Prozesse an den Krankenhäusern aufgebaut werden.
In dem von Gaß erwähnten Gutachten führt das IGES Institut 2.467 zusätzliche Leistungen auf, die demnächst ambulant durchgeführt werden könnten. Bislang zählt der Katalog für ambulantes Operieren (AOP) 2.879 Leistungen. Bei den meisten neu vorgeschlagenen Leistungen (1.482) handelt es sich um Operationen an der Haut, am Auge sowie am Muskel- und Skelettsystem. Die neuen Operationen und Prozeduren wurden laut IGES im Jahr 2019 insgesamt rund 15 Millionen Mal als vollstationäre Behandlung durchgeführt. „Das sind mehr als ein Viertel aller etwa 58 Millionen vollstationär erfolgten Leistungen“, hält das Institut fest.
Die hohe Zahl von Leistungen, die Krankenhäuser zukünftig auch ambulant erbringen könnten, resultiere aus einem „potenzialorientierten Ansatz“ der Gutachter. Kliniken sollten aber auch die Möglichkeit bekommen, Leistungen des AOP-Katalogs trotzdem stationär anzubieten. „Gründe dafür können erhöhte Krankheitsschwere, altersbedingte Risiken, soziale Begleitumstände oder erhöhte Betreuungsbedarfe der Patienten sein, also der jeweilige Behandlungskontext“, teilt das IGES mit. Diese Kontextfaktoren könnten weiter abgestuft werden. Damit können Patienten identifiziert werden, die einen erhöhten Versorgungsaufwand bei ambulanter Durchführung benötigen. „Anhand dieser Faktoren lassen sich die zu vereinbarenden sektoreneinheitlichen Vergütungen nach dem Schweregrad des Behandlungsfalles differenzieren und erhöhte Versorgungsbedarfe berücksichtigen.“
Der AOK-Bundesverband nimmt das Gutachten zum Anlass, um die bisherigen gesetzlichen Regelungen für ein mehr an Ambulantisierung als nicht ausreichend zu kritisieren. Derzeit verständigen sich Vertragsärzte, Krankenhäuser und Kassen auf Bundesebene über den Katalog ambulantes Operieren und ein Vergütungssystem. Auf regionaler Ebene können Kliniken und Niedergelassene dann entscheiden, ob sie diese ambulanten Leistungen anbieten. Das Ambulantisierungsdefizit solle bisher allein über finanzielle Anreize beseitigt werden, kritisiert Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes.
[caption id="attachment_5856" align="alignleft" width="800"]„Ein ‘Wer kann, der darf'-Ansatz trägt aber nicht zu effizienten regionalen Versorgungsangeboten bei und führt auf Dauer zu deutlich überteuerten Honoraren.“ Dabei sollte die Ambulantisierung der erste Anwendungsfall einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung sein, die im Koalitionsvertrag vorgesehen ist.
Um die sogenannten „ambulant-sensitiven“ Krankenhausfälle, die nach Einschätzung von Experten häufig auch ambulant versorgt werden könnten, geht es auch beim kürzlich vorgestellten Krankenhaus-Report. Bei diesen Fällen gibt es laut Analyse einen deutlichen Pandemie-Effekt: Der Report stellt 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 durchgängig starke Rückgänge fest, die auch in den Sommermonaten zwischen den Pandemiewellen anhielten. Sie reichten 2021 von minus 13 Prozent bei Herzinsuffizienz-Behandlungen bis zu minus 34 Prozent bei der Behandlung der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung. Für Jürgen Klauber, Mitherausgeber des Reports, können diese Erkenntnisse helfen, einen dauerhaften Strukturwandel zu befördern. Jedenfalls sollten sie bei der aktuell anstehenden Krankenhaus-Reform aufgegriffen werden“, fordert der Geschäftsführer der Wissenschaftlichen Instituts der AOK.
Es ist wie so oft in der Gesundheitspolitik: Über das Ziel besteht weitgehend Einigkeit, aber am Weg dorthin scheiden sich die Geister. Das zeigt etwa eine Umfrage vom Deutschen Krankenhausinstitut und Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, die das Stimmungsbild von Vertragsärzten und Krankenhäusern zur Ambulantisierung ermittelt hat. Beide Gruppen wünschen sich demnach, dass der Umfang ambulant erbringbarer Leistungen erweitert wird. Als Hauptmotivation nennen Kliniken und Ärzte vor allem die Möglichkeit, „Betreuung aus einer Hand“ anbieten zu können, die es den Patientinnen und Patienten erlaube, schnell ins häusliche Umfeld zurückzukehren.
Weniger einig sind sich die beiden Versorgungsbereiche bei der Frage, wie ein sektorengleiches Vergütungskonzept bezogen auf die Personalkosten ausgestaltet sein soll. 36 Prozent der Kliniken bevorzugen eine pauschalierte Vergütung, aber nur 11 Prozent der Vertragsärzte votieren für diese Option. 42 Prozent von ihnen sprechen sich dagegen für eine einzelleistungsorientierte Vergütungssystematik aus. Dies trifft nur bei 18 Prozent der Krankenhäuser auf Zustimmung.
Ein Stichwort, das immer genannt wird, wenn es um die Vergütung der Ambulantisierung geht, sind die Hybrid-DRG, die es bis in den Koalitionsvertrag geschafft haben. Auf sie verweist etwa Staatssekretär Franke beim Krankenhausgipfel. Für den Grünen-Gesundheitspolitiker Armin Grau besteht ihr Charme darin, dass damit vieles in der Zusammenarbeit zwischen den Sektoren verbessert werden könne – und zwar ohne große Finanzierungsreform, erläutert der Bundestagsabgeordnete im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit. DKG-Chef Gaß sieht als Grundlage der Ambulantisierung zwar zunächst das Fallpauschalensystem, das aber durch ein Hybrid-DRG-System abgelöst werden könne.
Nicht alle überzeugen die Hybrid-DRG, ein Schlagwort ohne Substanz, monieren einige. Der Begriff sei nicht eindeutig definiert und suggeriere einen „Mixpreis aus ambulanter und stationärer Vergütung“, kritisiert etwa die Barmer. Der Begriff könnte im ambulanten Sektor die Erwartung schüren, dass die Vergütung sich sehr stark an den DRG orientiert und damit zu starken Kostensteigerungen führt, heißt es in einem Positionspapier der Ersatzkasse. Darin wird ein modulares Vergütungssystem gefordert, das eine Basisvergütung vorsieht. Ergänzt werden soll diese durch weitere Vergütungsbestandteile wie etwa Zuschläge für unterschiedliche Schweregerade der Behandlung.
Infokasten
„Komplex-ambulante DRG“
Ähnlich wie das modulare Konzept der Barmer klingt auch die Grundidee eines Gutachtens des Insitute for Health Care. Autor und Gesundheitsökonom Prof. Boris Augurzky macht sich darin für „komplex-ambulante DRG“ stark, „die auf Basis von Fallkosten der Eintagesfälle mit nur einer Prozedur kalkuliert werden sollten“. Dazu schlägt er ein nach Schweregraden differenziertes Stufenmodell – „Basis“, „erhöht“ und „sehr erhöht“ vor. Die Schweregrade definieren sich über die Patienteneigenschaften und die Länge der Prozeduren und führen zu einer gestuften Vergütung der komplex-ambulanten DRG: „je höher der Schweregrad, desto höher die Vergütung“, sagt Augurzky. Abhängig von Schweregrad und Leistungsart seien außerdem unterschiedliche Voraussetzungen an das Personal und die Infrastruktur notwendig. „Dabei ist es unerheblich, wer die Voraussetzungen erfüllt: Krankenhäuser oder niedergelassene Ärzte.“
Auch bei den Niedergelassenen, namentlich der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, herrscht Skepsis bezüglich der Hybrid-DRG. Für deren Vorstandsvorsitzenden Dr. Andreas Gassen sind diese erst einmal nur ein „Platzhalter“, wie er auf dem Fachärztetag des Spitzenverbands Fachärzte Deutschlands sagt. Er spricht lieber von „Hybrid-Ärzten“, also Mediziner, die sowohl ambulant wie auch stationär behandeln. Ganz wichtig ist ihm: „Es kann nicht sein, dass es für eine Prozedur zwei Preise gibt.“ Er warnt vor einer „Jägerzaun-Ambulantisierung“, in der ein Katalog mit ambulanten Leistungen definiert werde, die aber nur die Krankenhäuser erbringen dürften. „Es gibt auch einige Jägerzäune, die den vertragsärztlichen Bereich beschützen“, spielt Matthias Einwag, Vorsitzender des DKG-Fachausschusses Krankenhausfinanzierung, den Ball bei der Veranstaltung zurück. Er plädiert dafür, am gemeinsamen Strang zu ziehen. „Entweder gelingt es uns gemeinsam, die Versorgung der Menschen sicherzustellen oder es wird uns nicht gelingen.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
„Komplex-ambulante DRG“
Ähnlich wie das modulare Konzept der Barmer klingt auch die Grundidee eines Gutachtens des Insitute for Health Care. Autor und Gesundheitsökonom Prof. Boris Augurzky macht sich darin für „komplex-ambulante DRG“ stark, „die auf Basis von Fallkosten der Eintagesfälle mit nur einer Prozedur kalkuliert werden sollten“. Dazu schlägt er ein nach Schweregraden differenziertes Stufenmodell – „Basis“, „erhöht“ und „sehr erhöht“ vor. Die Schweregrade definieren sich über die Patienteneigenschaften und die Länge der Prozeduren und führen zu einer gestuften Vergütung der komplex-ambulanten DRG: „Je höher der Schweregrad, desto höher die Vergütung“, sagt Augurzky. Abhängig von Schweregrad und Leistungsart seien außerdem unterschiedliche Voraussetzungen an das Personal und die Infrastruktur notwendig. „Dabei ist es unerheblich, wer die Voraussetzungen erfüllt: Krankenhäuser oder niedergelassene Ärzte.“
Eine gesetzliche Klarstellung zur Triage ist aufgrund eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Ende des vergangenen Jahres notwendig. Anlass dafür ist eine Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderungen, die im Falle einer COVID-19-bedingten Triage im Krankenhaus fürchten, aufgrund ihrer Behinderung Benachteiligungen zu erfahren.
Gemäß den aktuellen Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften um die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) soll die klinische Erfolgsaussicht als wichtigstes Kriterium bei der Priorisierung von Behandlungskapazitäten berücksichtigt werden. Eine gesetzliche Regelung existiert bislang nicht. Aus Sicht des Gerichts ein Versäumnis, das schnellstmöglich behoben werden soll. Der Gesetzgeber müsse dafür Sorge tragen, dass jede Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Verteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen hinreichend wirksam verhindert werde, so das Gericht im Dezember vergangenen Jahres.
Mittlerweile existiert ein Gesetzesentwurf, ein Kabinettsbeschluss liegt bis Redaktionsschluss allerdings noch nicht vor. Im Entwurf vorgesehen ist ein neu einzuführender Paragraf 5c im Infektionsschutzgesetz. Dieser greift nach Vorstellungen der Regierungsfraktionen „bei der ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung von pandemiebedingt nicht ausreichenden überlebenswichtigen, intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten im Krankenhaus“. Kern der geplanten Regelung ist das Mehraugenprinzip, falls eine Triage notwendig wird. „Die Entscheidung […] ist von zwei mehrjährig intensivmedizinisch erfahrenen praktizierenden Fachärztinnen oder Fachärzten mit der Zusatzweiterbildung Intensivmedizin einvernehmlich zu treffen, die den Patienten oder die Patientin unabhängig voneinander begutachtet haben“, heißt es im Entwurf, bei dem es sich um eine Formulierungshilfe für die Ampelfraktionen handelt. Besteht kein Einvernehmen, müsse ein weiterer Arzt für eine mehrheitliche Entscheidung hinzugezogen werden. Behandelnde Krankenhäuser seien verpflichtet, nach dieser Regelung zu agieren und deren Einhaltung sicherzustellen. Außerdem sollen sie die Verfahrensabläufe regelmäßig für potenzielle Weiterentwicklungen überprüfen.
Mit Triage in Pandemiezeiten beschäftigt sich kürzlich auch eine Diskussionsveranstaltung der Ärztekammer Nordrhein. Dort hebt Nancy Poser hervor: Sollte es hierzulande zu Zuständen wie in Bergamo 2020 kommen, wäre dies ein Todesurteil für Menschen mit Behinderungen oder Komorbiditäten. Poser ist Richterin am Amtsgericht Trier und eine der Beschwerdeführerinnen vor dem BVerfG.
Die Kläger kritisieren insbesondere das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht in der Leitlinie. Man müsse sich fragen, „ob nicht eine Entscheidung nach Erfolgswahrscheinlichkeit Menschen mit Behinderungen immer diskriminieren wird“, sagt Poser.
[caption id="attachment_5653" align="alignleft" width="800"]Denn Ärzte seien nicht in der Lage, in einer solchen Stresssituation die Behinderung oder Komorbiditäten von Patienten außen vor zu lassen. Spezialisten für die jeweilige Erkrankung seien selten vor Ort. Bei der Priorisierung nach prognostizierter Erfolgswahrscheinlichkeit handele sich um eine gesellschaftliche und verfassungsrechtliche Kernfrage: „Ist es richtig, immer die vermeintlich Schwächeren zu opfern, um eine größere Anzahl vermeintlich Stärkerer zu retten?“
Wonach in einer Triage-Situation entschieden werden soll, habe das BVerfG nicht entschieden. Die Juristin schlägt als Alternative eine Randomisierung vor oder wer als erstes kommt, soll das Bett erhalten. Triage mittels Randomisierung könnte „eine faire Chance“ und weniger diskriminierend sein, stimmt Dr. Maria del Pilar Andrino, Leiterin des Gesundheitszentrums Franz-Sales-Haus in Essen, zu. DIVI-Präsident Prof. Gernot Marx lehnt dies hingegen ab: „Alles was ich als Arzt einbringen kann wäre dann weg, das kann nicht im Sinne unserer Patienten sein.“
In den Intensivstationen ist es bisher nicht zu einer Triage gekommen, weil ambulant eine Vor-Triage stattgefunden hat, berichtet Andrino. „Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung überhaupt nicht abgeholt worden sind aus ihrem Zuhause und überhaupt nicht in die Klinik gebracht worden sind.“ Einige Ärzte hätten sich auch geweigert Patienten zu untersuchen, wenn diese aus medizinischen Gründen keine Maske tragen konnten.
Außerdem erinnert Andrino an die Schließung der Spezialstation für Menschen mit Behinderungen in Rummelsberg, da die Betten für COVID-Patienten freigehalten wurden, wofür die Klinik Freihaltepauschalen erhielt. Darum habe es eine Unterdiagnostik und Unterversorgung gegeben. Erschwerend komme hinzu, dass Menschen mit Behinderungen durch die Corona-Maßnahmen eine Rückentwicklung von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit erfahren hätten.
Für Andrino ist die DIVI-Leitlinie ein „No-Go“. „Damit kann ich als Medizinerin nicht leben.“ Sie bezweifelt ferner, dass zwei Intensivärzte die richtige Wahl für das Vier-Augen-Prinzip sind, wie es der aktuelle Gesetzesentwurf vorsieht. Die DIVI begrüßt dagegen die vorgesehene Regelung ausdrücklich, ob zwei Fachärzte am geeignetsten sind, weiß Marx jedoch auch nicht.
Die Verteilung von Patienten nach dem Kleeblattprinzip hat laut Marx bisher Triage-Situationen auf den Intensivstationen verhindert. Seine Gesellschaft hält auch weiterhin am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht fest. „Man muss klar differenzieren, es geht tatsächlich um die akute Erkrankung“, sagt Marx. Die Ärzte sollen alle wesentlichen die Erfolgsaussicht beeinflussenden Faktoren berücksichtigen: aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten und allgemeiner Gesundheitszustand. Der prämorbide Status stehe dabei „deutlich“ als letztes.
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Arzneimittelengpässe sind eine gesundheitspolitische Herausforderung, die neben der nationalen Betrachtung auch zwingend nach einer europäischen Perspektive verlangt. Im Rahmen der EU-Arzneimittelstrategie geht Brüssel dieses Problem – neben weiteren Themen – an. Besagte Strategie ist allerdings nur eine von drei Säulen der EU-Gesundheitsunion, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgerufen hat. „Wir müssen eine starke Europäische Gesundheitsunion schaffen“, hat sie als Reaktion auf die Corona-Krise im September 2020 in ihrer Rede zur Lage der Union angekündigt.
[caption id="attachment_5670" align="alignleft" width="800"]
Für Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung, ist das ehrgeizige Vorhaben weniger eine Union als die Chance, „eine Vielzahl bereits existierender Teilstrategien aus den Bereichen Gesundheit, Digitales und E-Health zusammenzufassen“. Prof. Helmut Brand von der Universität Maastricht drückt es kritischer aus. Der Experte für europäische Gesundheitswissenschaften und Berater der Europäischen Kommission, sieht die Initiative zumindest in Teilen als eine Mogelpackung: „Was man vorher schon gemacht hat, bekommt einfach ein neues Label“.
Neben der Arzneimittelstrategie ist der europäische Plan zur Krebsbekämpfung ein weiterer Bestandteil der Gesundheitsunion. Diese mit vier Milliarden Euro ausgestattete Initiative stützt sich wiederum auf unterschiedliche Konzepte der Union, insbesondere zu Digitalisierung, Forschung sowie Innovation. Die EU-Länder sollen bei der Krebsbekämpfung unterstützt werden. Die dritte und zentrale Säule der Gesundheitsunion ist schließlich das Thema Krisenvorsorge und -reaktion. Die Pandemie habe gezeigt, wie wichtig eine Koordinierung zwischen den europäischen Ländern für den Gesundheitsschutz ist, argumentiert die EU. Eine konkrete Konsequenz dieser Erkenntnis ist, dass die Befugnisse der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) erweitert wurden. Außerdem wurde eine neue Agentur geschaffen, die die Krise bereits im Namen trägt: die Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen, kurz HERA (Health Emergency preparedness and Response Authority). HERA soll nichts weniger als die Gesundheitssicherheit in der EU vor und während Krisen besser koordinieren, EU-Mitgliedstaaten, Industrie und relevante Interessenträger an einen Tisch bringen sowie medizinische Gegenmittel entwickeln, herstellen, beschaffen, lagern und gerecht verteilen. Eine weitere noch umfassendere Aufgabe lautet: Stärkung der globalen Krisenreaktionsarchitektur im Gesundheitswesen.
Die EU folgt damit Brand zufolge ihrem typischen Krisenmodus. „Wenn es ein Problem gibt, wird in Europa eine neue Agentur gegründet.“ Nach Contergan sei es die EMA gewesen, nach SARS das ECDC und Corona hat nun eben HERA aus der Taufe gehoben. Dass Europa meist nur in Krisen „voranstolpert“, ist unter Experten wohlbekannt. Mit der Coronakrise gebe es jetzt ein Window of Opportunity, etwas im Gesundheitsbereich zu bewegen, ist Brand überzeugt. Er warnt aber auch: „Dieses Fenster wird sich sehr schnell wieder schließen.“ Noch ist viel Bewegung in der europäischen Gesundheitspolitik. Da wäre auf Parlamentsebene etwa der neu eingerichtete Sonderausschuss für Corona. Der Sonderausschuss für Krebs hat dagegen gerade seine einjährige Arbeit mit einer Abschlussempfehlung beendet. Was außerdem auf der europäischen Gesundheitsagenda steht:
In der europäischen Gesundheitspolitik kommen derzeit verstärkt Verordnungen anstatt von Richtlinien zum Einsatz, hat Wölfle von der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung beobachtet. Sie verweist auf die Medizinprodukte-Verordnung, die Verordnung über In-Vitro-Diagnostika, die am 26. Mai Geltung erlangt, die geplante Verordnung zum Gesundheitsdatenraum und die Verordnung über die Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA), der ein mehr als zähes Ringen vorangegangen war.
[caption id="attachment_5666" align="alignright" width="800"]
Mehr Verbindlichkeit sowie viele Initiativen, die derzeit unter dem Eindruck von Corona gebündelt werden, das sind aktuelle Kennzeichen der europäischen Gesundheitspolitik. Darüber hinwegtäuschen, dass dieses Politikfeld in Brüssel bislang meist „unter ferner liefen“ rangierte, können sie jedoch nicht so ganz. Fakt ist: In Sachen Gesundheit hat die EU kein besonders weitreichendes Mandat. Gesundheitspolitik ist die Angelegenheit der Nationalstaaten, eine Einmischung in deren Organisation und Finanzierung der medizinischen Versorgung ist tabu. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur dann ins (gesundheits-)politische Geschehen eingreifen darf, wenn die Angelegenheit nicht auf der einzelstaatlichen Ebene gelöst werden kann. Folgerichtig ist die Generaldirektion Gesundheit vergleichsweise klein, die zuständigen Kommissarinnen und Kommissare kommen meist aus kleineren Staaten wie Malta und Zypern. „Kein deutscher Kommissar würde je den Gesundheitsbereich übernehmen“, ist Brand überzeugt. Auch das EU-Gesundheitsprogramm sei bei der Kommission nie beliebt gewesen.
Zwar hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof Ende der 1990er-Jahre in Sachen Patientenmobilität einiges und vor allem auch für EU-Bürger konkret Erfahrbares bewirkt, wenn man an die Kostenerstattung von Behandlungen im europäischen Ausland durch die heimische Krankenkasse denkt. Doch angesichts der überschaubaren Gestaltungsmöglichkeiten wird Gesundheit in Europa weiterhin meist über Bande gespielt. Von einer „Einmischungskompetenz“ spricht Brand. Diese geht auf den Maastrichter Vertrag zurück, mit dem vor 20 Jahren die Europäische Union begründet und in den die öffentliche Gesundheit aufgenommen wurde. Zwar ist der Geltungsbereich nicht sehr weit gefasst, dafür wurde eine klare Rechtsgrundlage für die Einführung gesundheitspolitischer Maßnahmen geschaffen. Im Vertrag von Amsterdam von 1997 wurden die Bestimmungen dann weiter gestärkt. Die vorrangige Zuständigkeit für Gesundheitsangelegenheiten blieb zwar bei den Mitgliedstaaten, doch der EU wurde mehr Gestaltungsspielraum eingeräumt. Sie konnte nun Maßnahmen mit dem Ziel erlassen, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen (nicht mehr nur „dazu beizutragen“ wie zuvor).
„Health in all policies“
Im Prinzip handelt es sich dabei um einen „Health in all policies“-Ansatz, die Beeinflussung gesundheitlicher Determinanten in Politikfeldern wie Umwelt, Ernährung oder Verkehr. Beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und beim Verbraucherschutz, der den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Verbraucher einschließt, hat die EU weitergehende Kompetenzen. Unstrittig ist, dass sich durch EU-weites Vorgehen in vielen Bereichen – zum Beispiel bei der Nahrungsmittelsicherheit, der Infektionskontrolle, dem Nichtraucherschutz oder der Produktsicherheit – der Gesundheitsschutz für mehr als 500 Millionen Bürger deutlich verbessert hat. Ob die neu postulierte Gesundheitsunion tatsächlich zu einer kohärenten Gesundheitspolitik auf EU-Ebene führt, muss dagegen noch abgewartet werden.
[caption id="attachment_5678" align="alignright" width="800"]
EU4Health – Gesundheit als Programm
1993 veröffentlichte die Kommission eine „Mitteilung über den Aktionsrahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“, so der sperrige Titel. Darin legt sie acht Aktionsbereiche fest – von der Gesundheitsförderung über Krebs und Arzneimittel bis hin zu seltenen Krankheiten. Diese Mitteilung war der Vorläufer der späteren mehrjährigen Gesundheitsprogramme. Diese sind jedoch stärker bereichsübergreifend und interdisziplinär zugeschnitten. Das derzeit laufende vierte Gesundheitsprogramm EU4Health (2021 bis 2027) verfügt über ein Volumen von 5,1 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Vorgängerprogramm von 2014 bis 2020 belief sich auf 449 Millionen. EU4Health soll unter anderem die Gesundheitsunion finanziell unterstützen. Im Gegensatz zu den regulären Förderprogrammen ist die Union nämlich nicht mit eigenen Finanzmitteln ausgestattet. Aufgrund der zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen zwischen EU4Health und Gesundheitsunion fragen Dr. Thomas Kostera und Uwe Schwenk von der Bertelsmann Stiftung, wie eine „Doppelung bürokratischer Mechanismen und mögliche Zielkonflikte“ vermieden werden sollen.
Weiterführender Link:
Health in all Policies – Sonderausgabe April 2020
www.gerechte-gesundheit.de/newsletter/newsletter-detail/newsletter-detail/58.html
Inwiefern liefert die Coronakrise ein „Window of opportunity“ für eine kohärentere europäische Gesundheitspolitik?
Wölfle: Während der Corona-Krise haben sich einige Schwachstellen der europäischen Gesundheitspolitik offenbart: Auf europäischer Ebene gab es seit jeher eher ein Nebeneinander an fragmentierten Projekten, die nicht immer ausreichend koordiniert waren. In der Pandemie war das natürlich fatal. Für Brüssel war die Situation ein Augenöffner, denn globale Krisen – die eben nicht an der Grenze enden – können nur gemeinsam bewältigt werden. Hier gilt es Kräfte zu bündeln, ohne zu sehr in die nationalen Kompetenzen einzugreifen. Der Ruf nach einer besseren Koordination von gemeinsamen gesundheitspolitischen Anliegen wurde lauter. Konsequenterweise ist daraus die Gesundheitsunion entstanden.
Wie schätzen Sie die von Frau von der Leyen angekündigte europäische Gesundheitsunion ein? Und wie bewerten Sie deren konkreten Umsetzungsschritte?
Wölfle: Sie möchte die Rolle der EU in der Koordinierung von gesundheitspolitischen Themen stärken, um so schneller auf globale Gesundheitsgefahren reagieren zu können, wie etwa auf Covid. Das Vorhaben ist zu begrüßen, denn es geht um eine bessere Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten. Allerdings sehen wir auch kontroverse Diskussionen, vor allem wenn es um die Verteilung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU geht. Aber das liegt in der Natur der Sache.
Sehen Sie die Gefahr von Doppelung bürokratischer Mechanismen und möglichen Zielkonflikten zwischen Gesundheitsunion und dem EU4Health-Programm?
Wölfle: Beides ist eng miteinander verzahnt. EU4Health stellt Gelder für Projekte der Gesundheitsunion zu Verfügung, etwa zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren. EU4Health ist somit ein wichtiger Baustein für die Europäische Gesundheitsunion.
Was macht für Sie eine progressive europäische Gesundheitspolitik aus? Wird eine solche gegenwärtig praktiziert oder setzt man bei der künftigen Gesundheitsunion zu einseitig auf grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren und Krisenmanagement?
Wölfle: Für mich bedeutet eine progressive Gesundheitspolitik nicht notwendigerweise mehr Rechtssetzung aus Brüssel, sondern vielmehr eine gemeinsame Strategie, mehr Koordination und mehr gemeinsame Initiativen – auch losgelöst von der Pandemie. Davon profitieren dann auch andere EU-Mitgliedstaaten, deren Gesundheitssystem nicht so ausgebaut ist wie das deutsche. Im Mittelpunkt sollten immer die Interessen der Versicherten und deren Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung stehen.
Und die Gesundheitsunion?
Wölfle: Mit der wird nun ein Schritt in die richtige Richtung gegangen. Die Initiative beschränkt sich nicht nur auf Gesundheitsversorgung in Zeiten von Covid. Der Blick ist viel weiter gerichtet, z.B. auf Lieferengpässe, auf die Versorgung von Krebspatientinnen und -patienten und die Nutzung von Gesundheitsdaten für gemeinsame Zwecke wie die Forschung.
Gesundheit ist Aufgabe der Nationalstaaten. Der EU wurden aber in diesem Bereich eine Reihe von Zuständigkeiten zugewiesen. Wird der Spielraum der Nationalstaaten zunehmend geringer?
Wölfle: Rechtlich gesehen spielt die EU in der Gesundheitspolitik eher eine ergänzende Rolle, da die Gesetze national ausgestaltet werden. Schaut man genau hin, wird schnell klar, dass auch viele auf nationaler Ebene geplante gesundheitspolitische Themen in Brüssel diskutiert werden. Zudem beobachten wir eine verstärkte Aufwertung von europäischen Initiativen.
[caption id="attachment_5683" align="alignright" width="800"]Nehmen wir einmal die europäische Arzneimittelagentur EMA oder die neue Agentur HERA, die für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen verantwortlich ist. Hier werden mehr und mehr Kompetenzen in Europa gebündelt. Des Weiteren sehen wir auch eine Zunahme an Verordnungen, d.h. Regelungen, die direkt auf nationaler Ebene anwendbar sind, wie etwa die Medizinprodukteverordnung. Früher war das Medizinprodukterecht in Richtlinien gegossen, d.h. der nationale Gesetzgeber hatte bei der Umsetzung mehr Spielräume. Nach derzeitigem Stand möchte Brüssel auch für den europäischen Gesundheitsdatenraum eine Verordnung durchsetzen. Gerade deswegen sollten wir in jedem Fall verstärkt Brüssel im Blick behalten, da auch hier Weichen für die nationale Gesundheitspolitik gestellt werden.
Macht es für Akteure wie beispielsweise Patientenorganisationen mehr Sinn, ihre Themen in Brüssel als in Berlin zu adressieren?
Wölfle: Sowohl als auch! Denn Gesundheitspolitik spielt sich zunehmend auch auf EU-Ebene ab. Das haben wir gerade auch während der Pandemie gesehen. Nationale Themen werden oft auch in Brüssel diskutiert. Patientenorganisationen, die ihren Blick ausschließlich auf nationale Gesundheitspolitik richten, verpassen wohlmöglich wichtige Weichenstellungen und Diskussionsmöglichkeiten mit Politikerinnen und Politikern. Deshalb macht es Sinn, sich einem europäischen Dachverband anzuschließen, der ausschließlich Patienteninteressen vertritt. Patientinnen und Patienten können so viel stärker auftreten.
Der G-BA will bis Ende des Jahres 20 Erprobungsstudien auf den Weg bringen. Über die Fast-Track-Bewertungen nach § 137h SGB V werden künftig viele weitere klinische Studien hinzukommen.
Die vom Gremium durchgeführten Erprobungsstudien sind gesetzlich vorgeschrieben, wenn es keine eindeutigen Aussagen zu Nutzen oder Schaden neuer Methoden treffen kann. Die Kosten belaufen sich laut unparteiischem Mitglied Dr. Monika Lelgemann auf eine bis acht Millionen Euro – pro Studie. Allerdings habe sich gezeigt, „dass die erfolgreiche Durchführung von Studien, insbesondere die Gewinnung von Studienzentren und die Rekrutierung von Patienten unter den gegebenen Umständen kaum zu bewältigen ist.“
Grund dafür sei eine gesetzliche Regelung, die es Krankenhäusern erlaubt, die neuen Methoden bereits anzuwenden, während die Erprobungsstudie noch läuft. Für Patienten und Krankenhäuser fehle darum „jeglicher Anreiz“ sich daran zu beteiligen, so Lelgemann.
Die Beratungsabläufe des G-BA könnten optimiert werden, räumt der unparteiische Vorsitzende Prof. Josef Hecken im Pressegespräch außerdem ein. Auch einer besseren Repräsentation von noch nicht beteiligten Berufsgruppen und Patienten verschließe man sich nicht. Allerdings: „Wenn einerseits Verfahrenslängen kritisiert, andererseits aber der Kreis der Beteiligten durch den Gesetzgeber erweitert und zusätzliche langwierige Stellungnahmeverfahren implementiert werden, dann kann das am Ende nicht mehr funktionieren.“
Weitere Probleme bei der Erprobung
· G-BA und das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus haben unterschiedliche Kriterien dafür, ob eine Methode neu ist. Deshalb können für Methoden, die der G-BA als neu ansieht und die erprobt werden sollen, oftmals keine krankenhausindividuellen Entgelte vereinbart werden. Somit bestehe das Risiko, dass Kliniken sich nicht an der Studie beteiligen. Hersteller lehnten es dann ab, die Kosten für den Studienoverhead zu übernehmen, weil sie befürchten, dass die Studie unter diesen Bedingungen nicht erfolgreich durchzuführen ist, heißt es beim G-BA.
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· Oftmals werden NUB-Anfragen zu neuen Methoden gestellt, die sich noch in einem frühen Stadium der Entwicklung befinden. Die Datenlage ist in diesen Fällen so unvollständig, dass sich eine Studie zur abschließenden Klärung von Nutzen und Schaden gar nicht planen lässt. Dennoch ist der G-BA dazu verpflichtet, kritisiert der Ausschuss.
Die kanadischen Forscher analysierten die Behandlungsdaten von über 1,3 Millionen Erwachsenen ab 18 Jahren aus der kanadischen Provinz Ontario. Diese hatten sich zwischen 2007 und 2019 geplanten oder dringlichen chirurgischen Eingriffen unterzogen. Mehr als insgesamt 2.900 Chirurginnen und Chirurgen hatten die Operationen durchgeführt.
[caption id="attachment_5708" align="alignright" width="800"]Das Ergebnis: In der Konstellation männlicher Operateur, Patientinnen traten der Analyse zufolge „deutlich häufiger postoperative Komplikationen bis hin zum Tod der Patientin auf“, sagt Prof. Natascha Nüssler, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). In anderen Geschlechterkonstellationen fand die Studie kein erhöhtes Risiko für Komplikationen. Auch in anderen Fächern kann sich der Geschlechterunterschied zwischen Behandlern und Behandelten negativ auf die Gesundheit der Patientinnen auswirken. Nach einem Herzinfarkt haben Patientinnen, die von einem Arzt behandelt werden, ein höheres Risiko zu versterben als männliche Patienten, die von einer Ärztin behandelt werden, informiert Nüssler. Eine Erklärung wäre, dass männliche Ärzte die Schwere von Symptomen ihrer Patientinnen eher unterschätzen oder Frauen Hemmungen haben, gegenüber einem männlichen Arzt Schmerzen zu offenbaren.
Ein Ausweg, diese gesundheitsgefährdenden Gendereffekte zu reduzieren, seien gemischtgeschlechtliche Ärzteteams. „Dafür müsste der Frauenanteil in der Chirurgie jedoch deutlich steigen“, so die DGAV-Präsidentin im Vorfeld des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 2020 lag der Frauenanteil in dem Fach bei nur rund 22 Prozent.
Über Frauenanteile und Parität wird auch beim Diversity in Health Congress intensiv diskutiert. Besonders Unikliniken seien heutzutage noch sehr hierarchisch organisiert, berichtet Jana Aulenkamp, die selbst als Ärztin am Universitätsklinikum Essen arbeitet. Insbesondere Frauen mit Kindern treffen dort auf vielfältige Hürden. Es bräuchte deutlich familienfreundlichere Konzepte wie Jobsharing und verlässlichere, flexiblere Arbeitszeiten. Auch Quoten können ein Instrument sein, um Frauen Aufstiegschancen zu ermöglichen – ohne dieses Hilfsmittel funktioniert es in ihren Augen noch nicht.
Sevilay Huesmann-Koecke von PwC weist darauf hin, dass in den obersten Führungsebenen des deutschen Gesundheitswesens der Frauenanteil von 2015 zu 2020 insgesamt gesunken sei – vor allem bei Krankenhäusern und im Bereich Politik und Behörden. Auch wenn der Anteil bei Krankenkassen und in der Pharmabranche gestiegen sei, herrscht in keinem Bereich der Gesundheitsbranche Parität. Warum diese in den Gremien der Selbstverwaltung so wichtig ist, erläutert Andrea Galle, Vorständin der BKK VBU: Sie treiben die Meinungsbildung voran und entscheiden, wie Gelder eingesetzt werden. In der Selbstverwaltung seien Männer jedoch überrepräsentiert und spiegelten daher die Diversität von Patientinnen, Patienten und Versicherten nicht wider. „Nur paritätisch besetzte Gremien mit unterschiedlichen Sichtweisen können Entscheidungen treffen, die für alle passen und gerecht sind“, sagt sie.
[post_title] => Gesundheitsgefährdende Gendereffekte [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => gesundheitsgefaehrdende-gendereffekte [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-05-12 15:11:11 [post_modified_gmt] => 2022-05-12 13:11:11 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5547 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5566 [menu_order] => 80 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [160] => WP_Post Object ( [ID] => 5570 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-05-12 14:29:16 [post_date_gmt] => 2022-05-12 12:29:16 [post_content] =>Die Bestände bewegten sich mit knapp 100.000 Verfahren weiterhin auf Rekordniveau, teilt das Landessozialgericht in Essen mit. Das liege an den Klagewellen aus 2018 und 2019, gegen den die Gerichte immer noch ankämpften. Die in diesem Bereich immer weiter steigenden Eingänge seien Ausdruck einer Fehlentwicklung im System der gesetzlichen Krankenversicherung. „Mit den Kosten der gerichtlichen Auseinandersetzung in zigtausenden Verfahren (Gerichts-, Anwalts- und Sachverständigenkosten) werden Beiträge der Versicherten in Milliardenhöhe verbrannt“, kritisiert LSG-Präsident Martin Löns. Denn diese Ausgaben würden ganz oder anteilig aus den im Kern beitragsfinanzierten Haushalten mindestens eines der Beteiligten erbracht, egal wer gewinne oder verliere. Eine sinnvolle Weiterentwicklung der Vergütungsstrukturen finde offensichtlich nicht statt. „In NRW sind mittlerweile rund zehn Prozent aller eintausend Angehörigen der Sozialgerichtsbarkeit in Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern eingesetzt“, heißt es von Seiten des LSG. „Eine gründliche Revision durch den Gesetzgeber ist längst überfällig.“
Bis dahin sieht das Landessozialgericht mittelfristig keine Entspannung: „Bei Rückkehr zu normalen Arbeitsbedingungen wird die Zahl der Klagen steigen, voraussichtlich auf das Niveau vor der Pandemie.“
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Die angespannte Versorgungslage resultiert aus der abnehmenden Zahl von Substitutionsärztinnen und -ärzten bei einer gleichzeitig steigenden Patientenzahl. Aktuell führen laut Bundesopiumstelle in Deutschland rund 2.500 Ärzte substitutionsgestützte Behandlungen für insgesamt ca. 80.000 opioidabhängige Patienten durch. Dem Allgemeinmediziner Dr. Konrad Isernhagen berichten Patientinnen und Patienten von ihren Schwierigkeiten, zeitnah einen Platz für diese Behandlung zu finden. In seiner eigenen Praxis gebe es mittlerweile eine immer länger werdende Warteliste. Aufgrund der bestehenden Mangelversorgung befürchtet der DGS-Vorstand einen Anstieg der Drogentoten. „Dies wird sich aufgrund der demographischen Entwicklung, die auch vor Ärztinnen und Ärzten nicht Halt machen wird, in Zukunft weiter zuspitzen.“ Besonders in ländlichen Regionen drohe ein akuter Versorgungsengpass, warnt Isernhagen. Er fordert neben einer Entbürokratisierung die Suchtmedizin in Lehre und Weiterbildung zu implementieren. Ein weiterer wichtiger Baustein sei eine „Neustrukturierung des EBM“.
Das neue Vergütungskonzept will die individuelle therapeutische Entscheidung zwischen Arzt und Patient stärken und Behandlungsentscheidungen weitgehend von finanziellen Anreizen entkoppeln. Derzeit gewährleiste die aktuelle Vergütungssystematik durch die Überbetonung der täglichen Substitutionsvergabe einerseits keine therapeutische Neutralität und beanspruche damit zugleich die knapper werdenden Praxisressourcen über Gebühr, heißt es seitens des IGES. Dem Institut zufolge adressiert ZamS diese Mängel auf drei Ebenen:
Den ZamS-Autoren zufolge verbesserte die Überarbeitung der Vergütungslogik sowohl die Versorgung von Suchtpatienten als auch die schwierige Lage von Substitutionsärzten, die mit erheblichem Nachwuchsmangel zu kämpfen haben – bei gleichbleibender finanzieller Belastung für das Gesundheitssystem.
[post_title] => Substitutionstherapie: Rezept gegen Mangelversorgung [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => substitutionstherapie-rezept-gegen-mangelversorgung [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-05-12 16:31:04 [post_modified_gmt] => 2022-05-12 14:31:04 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5547 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5584 [menu_order] => 100 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [162] => WP_Post Object ( [ID] => 5576 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-05-12 14:29:32 [post_date_gmt] => 2022-05-12 12:29:32 [post_content] =>Die sechsköpfige Kommission sieht durch die Digitalisierung große Innovations- und Wertschöpfungspotenziale. Digitale Technologien könnten die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern. Mehr verfügbare Gesundheitsdaten eröffneten in Verbindung mit digitalen Analyseverfahren Möglichkeiten für eine stärker personalisierte Diagnostik und Therapie. Das Problem: „Deutschland ist nicht gut aufgestellt“, sagt der EFI-Vorsitzende Prof. Uwe Cantner.
[caption id="attachment_5719" align="aligncenter" width="800"]Die Gutachter sehen für Deutschlands träge digitale Transformation vielfältige Gründe: die Struktur des Gesundheitssystems, Abwägungen und Sorgen bezüglich des Datenschutzes sowie eine noch zu geringe Akzeptanz digitaler Gesundheitsanwendungen sowohl bei Leistungserbringern als auch bei Patientinnen und Patienten. Trotz einiger Initiativen fehle es an einer Gesamtstrategie. „Hier und da etwas unkoordiniert zu machen, bringt überhaupt nichts“, kritisiert Cantner. Eine Strategie ist im Koalitionsvertrag angekündigt. Die Experten mahnen an, dass darin konkrete Zuständigkeiten festgelegt und Meilensteine definiert werden sollen. Auch ein kontinuierliches Monitoring des Umsetzungsfortschritts sei wichtig, ebenso eine koordinierende Stelle mit Durchsetzungskompetenzen.
Angesichts der mehr als stockenden Erprobung des E-Rezeptes hält auch gematik-Geschäftsführer Dr. Markus Leyck Dieken eine solche Instanz für nötig. Diese sollte beispielsweise bei der Kette des E-Rezeptes nicht nur für eine Teilstrecke verantwortlich sein, sondern die gesamte Strecke überblicken und koordinieren, sagt er bei einer Tagung des Handelsblattes. Im Koalitionsvertrag entdeckt er viele digitale Ambitionen, eine der folgenreichsten könnte die Opt-out-Regelung für die elektronische Patientenakte sein. Der Gesundheitsstandort Deutschland benötige unbedingt eine bessere Verfügbarkeit von Daten, betont Leyck Dieken. „Wer das unter Corona nicht taghell erkannt hat, hat die letzten 18 bis 24 Monate verschlafen.“
Eine weitere wichtige Herausforderung nennt er den Übergang zur Telematikinfrastruktur (TI) 2.0: „Wir müssen aus dieser alten Telematik heraus.“ Deren Standards seien bereits 16 Jahre alt, verwendet werde eine Sprache und eine IT, die es in anderen europäischen Ländern überhaupt nicht mehr gebe. Der europäische Datenraum werde mit der alten TI kaum betretbar sein und das Nutzererlebnis miserabel bleiben, warnt der gematik-Chef. Der wichtigste Schritt zur TI 2.0 ist die Verteilung von elektronischen IDs, sowohl für Versicherte als auch für alle anderen Beteiligten. Mit den Kassen sei man bereits in „extrem fortgeschrittenen Gesprächen“. Er geht davon aus, dass schon Anfang kommenden Jahres viele große Kassen die elektronische ID ihren Versicherten anbieten können.
Weiterführender Link:
Zum Gutachten:
www.e-fi.de/fileadmin/Assets/Gutachten/2022/EFI_Gutachten_2022.pdf
Patienten mit seltenen Erkrankungen sind mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Mann vergleicht ihre Situation mit einem ständigen Kampf: der Kampf um die richtige Diagnose und um eine geeignete Therapie. Sie stellt daher klar: „Wir brauchen viel mehr als Shared Decision Making.“ Die Patienten müssten sich gemeinsam mit mehreren Ärzten auf eine Reise begehen.
PD Dr. Jens Ulrich Rüffer ist Geschäftsführer der „Share to care“ Patientenzentrierte Versorgung GmbH. Er betont bei der Diskussion die Bedeutung der institutionellen Gesundheitskompetenz. Dabei gehe es darum, Patienten kompetent zu machen, anstatt darauf zu warten, „dass die kompetenten Patienten zu uns kommen“. Patienten sollten in die Lage versetzt werden, mit den Ärzten gemeinsam auf Augenhöhe zu sprechen.
Mann hält dem entgegen, dass Betroffene mit seltenen Erkrankungen nicht kompetent gemacht werden wollten – der Arzt selbst müsse zunächst kompetent werden. „Es geht nicht darum, was muss der Patient lernen, sondern was muss der Arzt lernen.“ Vom Arzt erwartet sie dagegen, dass er seine Behandelten in die Lage versetzt, seine Vorschläge zu verstehen und ihnen Gelegenheit bietet, auch entgegen seinen Empfehlungen etwas anderes zu wollen.
Ärzte sollten teilhabe- und nicht symptomorientiert arbeiten, fordert Prof. Andreas Meisel. Der Neurologe von der Charité betont außerdem die Bedeutung von Netzwerken sowohl auf Versorger- als auch auf Patientenebene. Allerdings sei die Selbsthilfe in den letzten zehn bis 20 Jahren schwächer geworden. Es sei daher wichtig, Netzwerke zu bestärken sowie Kontakte zu Politik und Ärzten herzustellen. Auch mit digitalen Austauschformaten hat er gute Erfahrungen gesammelt. Das alles sei wichtig, denn: „Dort, wo es eine starke Selbsthilfe gibt, läuft es besser.“
Ihre Erfahrung bringt Matthiessen, Sprecherin des Bündnisses junger Ärzte (BJÄ), in die Diskussion „Führung, Delegation und Substitution im interprofessionellen Team“ auf dem Fachärztetag des Spitzenverbands Fachärzte Deutschlands (SpiFa) ein. Dort wird die Wahrnehmung ordinär ärztlicher Leistungen durch andere Gesundheitsberufler kontrovers behandelt. Wenig Probleme haben die anwesenden Mediziner dabei mit der Delegation, weil dabei die Verantwortung beim Arzt bleibe.
Dr. Max Tischler, ebenfalls BJÄ-Sprecher, fragt sich: „Muss jede Basissonographie selbst gemacht werden?“ Doch auch vermeintlich einfache Tätigkeiten gehörten zur ärztlichen Ausbildung und sollten Mediziner schon deswegen beherrschen, findet Christine Neumann-Grutzeck, Präsidentin des Berufsverbands Deutscher Internisten. Sie macht sich aber für interprofessionelles Arbeiten auf Augenhöhe stark. „Da muss auch mancher Kollege von seinem hohen Ross herunter.“ Auch Delegation könne sinnvoll sein. „Bei der Substitution habe ich Bauchschmerzen“, räumt sie aber ein.
In der Geburtshilfe sind hebammengeführte Kreißsäle ein heißes Eisen. Der Frauenarzt Dr. Christian Albring begegnet diesen mit einer gewissen Skepsis, sie seien aber auch gar nicht so gefragt. „Die Schwangeren wollen dort entbinden, wo sie die höchste Kompetenz im Team vermuten.“ Im Grunde habe er nichts gegen Substitution – wenn die Verantwortung übernommen werde „Dafür braucht es aber Kompetenz und Erfahrung. Da ist noch viel zu tun.“
Es kann übrigens auch andersherum laufen: Behandler übernehmen Aufgaben von Medizinischen Fachangestellten (MFA), sagt Praxisberater Joachim Deuser: „Viele Praxen sind so strukturiert, dass Ärzte ihre besten MFA sind.“
Die Mehrheit der geprüften Krankenkassen habe im Jahr 2021 die notwendigen Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen unterlassen. „Bei Kontrollen weigerten sich Anbieter, Unterlagen zu übermitteln“, teilt der Rechnungshof anlässlich eines aktuellen Berichts mit. Im Ergebnis könnten die Krankenkassen nicht beurteilen, ob die Hilfsmittel geeignet waren, den Behandlungserfolg zu erreichen. So könnten sie ihre Versicherten auch nicht vor Mehrkosten schützen, die diese in Kauf nähmen, um Hilfsmittel in der erforderlichen Qualität oder Menge zu erhalten. „Fehlende Kontrolle birgt die Gefahr von qualitativ minderwertigen Hilfsmitteln oder ungerechtfertigten Mehrkosten. Beides hat der Bundesrechnungshof wiederholt festgestellt“, heißt es in einer Pressemitteilung. Die Behörde macht sich für gesetzliche Änderungen stark: „Gemeinsame Kontrollen der Leistungserbringer durch die Krankenkassen mit einer Verpflichtung, Unterlagen zu übermitteln; flankiert mit einer übergreifenden Kontrolle der Versorgungsqualität durch den Medizinischen Dienst als unabhängigem Akteur.“
[caption id="attachment_5726" align="alignleft" width="800"]Gesondert geht der Rechnungshof auf seiner Meinung nach ungerechtfertigte Mehrkosten für Hörhilfen ein. In mehr als der Hälfte der geprüften Versorgungsfälle hätten die Versicherten diese gezahlt. Das liege an der unzureichenden Beratung der Hörakustiker. „So hatten sie häufig nicht darauf hingewiesen, dass für die Versorgung mit einer bedarfsgerechten Hörhilfe grundsätzlich keine Mehrkosten anfallen“, so der Rechnungshof. Die Kassen kämen hier ihren Informations- und Obhutspflichten nicht nach. „Der Bundesrechnungshof empfiehlt daher, die Versorgung mit Hörhilfen künftig unter einen generellen Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen zu stellen.“
Weiterführende Links:
Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2021, Nr. 52,Krankenkassen kontrollieren Hilfsmittelversorgungunzureichend, 5. April 2022, PDF, 7 Seiten https://bit.ly/3Fcufx1
Bundesrechnungshof, Bemerkungen 2021, Nr. 53,Krankenkassen schützen Versicherte nicht genugvor unnötigen Mehrkosten für Hörhilfen, 5. April 2022, PDF, 6 Seiten/einzelplanbezogene-pruefungsergebnisse/bundesministerium-fuer-gesundheit/2021-53 https://bit.ly/3LKXpWu
Alle vier Jahre werden in der Bundespoliltik die Karten neu gemischt. Danach erstellt die Presseagentur Gesundheit das Kartenspiel „Gesundheitspoker“. Es enthält die wichtigsten Köpfe gesundheitspolitischer Influencer in der neuen Legislatur: allen voran die Mitglieder im Gesundheitsausschuss des Bundestages, die erste Riege im BMG samt nachgeordneter Behörden sowie die Selbstverwaltung.
Wer sich also die „Neuen“ in der Gesundheitspolitik einfach in die Tasche stecken will, hat mit dem Kartenspiel für die 20. Legislatur schon das richtige Format dazu.
Zu weiteren Informationen und zur Bestellung geht es über den folgenden Link:
www.pa-gesundheit.de/pag/gesundheitspoker-2022.html
Dem Vorwurf, dass es in der Vergangenheit nichts unternommen hätte, um Lieferengpässen vorzubeugen, will sich das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nicht aussetzen. Bereits seit 2013 wurden Engpässe in der Behörde registriert, erläutert Gabriele Eibenstein, die als Fachgebietsleiterin im Institut mit dem Thema betraut ist. Mittlerweile existieren gefestigte Strukturen, um Lieferschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen. „2016 ist die Aktivität wesentlich dokumentiert worden, indem ein Jour Fixe etabliert wurde, in dem das BfArM sein Lieferengpassmanagement deutlich verbessert hat“, erläutert Eibenstein. Pharmazeutische Unternehmer melden seither auf Basis einer freiwilligen Selbstverpflichtung Lieferengpässe für versorgungsrelevante Arzneimittel, die dann in einem öffentlich zugänglichen Online-Portal des BfArM abrufbar sind.
Eibenstein lobt das gewachsene Bewusstsein für die Problematik seitens der Industrie und das Miteinander der beteiligten Akteure, das auch losgelöst von Mitteilungen funktioniere und auf „Transparenz, Kooperation, Abstimmung“ basiere. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Meldung von Engpässen besteht jedoch unverändert nicht für die Unternehmen. Welche Medikamente als versorgungsrelevant gelten, legt der besagte Jour Fixe, der mittlerweile in einen Experten-Beirat überführt wurde, fest. Darin vertreten sind neben Behörden wie dem BfArM und dem Paul-Ehrlich-Institut auch medizinische Organisationen und Industrieverbände.
Daneben setzt das BfArM seit Kurzem aber auch auf künstliche Intelligenz und Big Data. Das Institut erhebt umfangreiche Daten zu Produktionskapazitäten und Herstellungswegen und wertet diese mittels KI aus. Ziel ist es, Risikopotenziale möglichst lückenlos und weltweit abzubilden und Maßnahmen zu erarbeiten, die die kontinuierliche Verfügbarkeit aller Komponenten im Herstellungsprozess sicherstellen. Dafür bietet das BfArM den relevanten Akteuren unter anderem konkrete Beratungen an.
In Zukunft soll das Thema Lieferengpässe jedoch nicht mehr nur auf nationaler Ebene angegangen werden. „Auch Europa hat erkannt: Es bedarf einer harmonisierten Herangehensweise unter den Member States“, sagt Eibenstein. Mit Verweis auf aktuelle EU-Gesetzgebung kündigt sie zudem an: „Die EMA wird eine deutliche Erweiterung ihrer Kompetenzen im Bereich Lieferengpass-Management, -Koordination, -Festlegungen und -Maßnahmen erhalten.“ Noch sei die gesetzliche Grundlage dafür jedoch nicht in Kraft getreten.
Bei der Diskussionsrunde wird deutlich: Die Initiativen des BfArM finden in der Praxis durchaus Anklang. „Es hat eine Weile gedauert und kam in Scheibchen“, resümiert Onkologe Prof. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Klinische Onkologie, mit Blick auf das verbesserte Lieferengpass-Monitoring. Aber: „Insgesamt sind wir froh, dass die Politik reagiert hat, auch wenn es vier bis fünf Jahre gedauert hat.“ Zwar wirkten sich schlagzeilenträchtige Lieferengpässe längst nicht in jedem Fall unmittelbar auf die Versorgung oder gar die Prognose der Patienten aus, doch aktuelle Beispiele wie das des kaum ersetzbaren Krebsmedikaments Vincristin machten deutlich: „Es muss alles getan werden, damit so etwas vermieden wird.“ Dies sei auch vor dem Hintergrund eines guten Arzt-Patienten-Verhältnisses unerlässlich. Aufgabe von Medizinerinnen und Medizinern sei es schließlich, Brücken zu bauen und Vertrauen zu schaffen. Dafür sei es „wichtig, dass wir Konstruktionen haben, die zuverlässig sind“, so Wörmann, der seine Feststellung mit einem Plädoyer für mehr europäische Arzneimittelproduktion verbindet: „Das muss qualitätsgesichert bei uns in der Region stattfinden, wo wir Einblick in die Herstellungsqualität haben und auch die Lieferketten selbst überwachen können.“
In dieselbe Kerbe schlägt Prof. Frank Dörje, Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen und Präsidiumsmitglied beim Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA). Er macht vor allem den Kostendruck im Gesundheitswesen für die zunehmende Abhängigkeit von asiatischen Herstellern verantwortlich. Niedrige Preise bei gleichbleibender Qualität und Zuverlässigkeit? „Das ist ein Trugschluss: Man kann nicht alles gleichzeitig haben“, mahnt Dörje. Er betont, auch mit Blick auf die Erfahrungen im Zuge der Corona-Pandemie: „Die Rückverlagerung von Produktionsprozessen ist sicherlich eine wichtige Erkenntnis.“
In Ergänzung hierzu schlägt Dörje vor, für Ausschreibungen von Krankenkassen künftig neben einem weltweiten auch ein ausschließlich europäisches Vergabesegment zu schaffen. Das geht jedoch nicht zum Nulltarif, denn: „Dann haben Sie möglicherweise auch zwei Preissegmente“, so Dörje. Er hält trotzdem an seinem Vorschlag fest und fordert: „Wir müssen dafür sorgen, dass sich Liefersicherheit auch lohnt.“
Johannes Klotz, Referent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, bringt derweil einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein. Im Ministerium hat er zuletzt das Lieferketten-Sorgfaltspflichten-Gesetz begleitet, das Unternehmen mit Sitz in Deutschland dazu verpflichtet, die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten sicherzustellen. Dazu müssen sie ab 2023 in einem abgestuften System unter anderem Risikoanalysen durchführen, Präventions- und Abhilfemaßnahmen entwickeln und einen Beschwerdemechanismus für Betroffene einrichten.
Von dem Gesetz erfasst werden allerdings nur große Unternehmen mit mindestens 3.000 (ab 2023) beziehungsweise 1.000 (ab 2024) Beschäftigten. Neben der Einhaltung der Menschenrechte soll das Gesetz auch für mehr Transparenz in den Lieferketten sorgen, betont Klotz, der darin auch einen unmittelbaren Nutzen in Bezug auf die Liefersicherheit erkennt: „Aus Unternehmenssicht lassen sich Lieferengpässe gut vermeiden, wenn man seine Lieferketten kennt, weiß, wo Probleme liegen und eine Risikoanalyse durchführt.“ Auch hier dürfte die nationale Regelung jedoch nur eine Übergangslösung darstellen. Ein Vorschlag der EU-Kommission für eine europäische Regelung soll noch in diesem Jahr vorgelegt werden, kündigt Klotz an.
[post_title] => Hauptsache billig? [post_excerpt] => Lieferketten – globale Märkte, lokale Folgen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => hauptsache-billig [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-02-10 10:46:13 [post_modified_gmt] => 2022-02-10 09:46:13 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5217 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5225 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [170] => WP_Post Object ( [ID] => 5229 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-02-10 10:46:30 [post_date_gmt] => 2022-02-10 09:46:30 [post_content] =>
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) berücksichtigt nach Überzeugung des Gesundheitsökonomen Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, nicht nur Qualität und Nutzen der Diagnostika, sondern auch deren Kosten. Allerdings habe das Gremium eine „verkürzte Sicht“ auf die Gesundheitsökonomie. Damit meint Wasem: Eigentlich müssten die Grenzkosten und -nutzen von mehr Diagnostik einschließlich der Krankheitskonsequenzen betrachtet werden. Oft verstecke der G-BA allerdings die Wirtschaftlichkeitsdimension „unter einem kritischen Nutzenblick“. Anstatt zu sagen, dass etwas zwar nütze, aber zu teuer sei, erkenne das Gremium den Nutzen nicht an – um dem Eindruck der Rationierung entgegenzuwirken.
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„Der Einsatz von Diagnostika in der medizinischen Versorgung hängt ganz zentral von den Anreizen für die Leistungserbringer ab“, konstatiert Wasem bei der Talkrunde. Die Anreize seien darauf ausgerichtet, eher zu wenig als zu viel Diagnostik zu machen. Im Krankenhaus sei der Großteil der Diagnostik in den DRGs einbudgetiert. „Das Krankenhaus, das mehr Diagnostik macht, hat also mehr Kosten und nicht mehr Erlöse.“ Das gelte auch für die ambulante Versorgung und den Laborbereich. Man müsse daher ein Anreizsystem finden, „bei dem es sich nicht scharf nachteilig auswirkt, wenn ich mehr Diagnostik mache“. Wasem schlägt vor, bei NUB-Ausgleich und extrabudgetären Leistungen nachzujustieren.
Mit Blick auf das Positionspapier des Verbands der Diagnostica-Industrie (VDGH), in dem kritisiert wird, die GKV priorisiere Kostendämpfung gegenüber Innovationen, stellt Wasem klar: „Innovationsförderung als solche ist nicht Aufgabe der GKV.“ Vielmehr sei es ihre Aufgabe, für die Patienten nützliche Innovationen in die Versorgung zu bringen.
Dr. Michael Müller, Vorstandsvorsitzender des Verbands der akkreditierten Labore in der Medizin (ALM), berichtet von den Schwierigkeiten im Winter 2020/2021, die nötigen Kapazitäten für Coronatests bereitzustellen. Ein Jahr später werden trotz wesentlich höherer Kapazitäten weniger Tests durchgeführt. „Es wird zu wenig getestet“, mahnt Müller auf der Veranstaltung im November, „und das bedeutet auch, dass wir aktuell eine Untererfassung haben“. Gleichzeitig führe die Pandemie zu einem deutlichen Rückgang der Laborüberweisungen bei anderen Krankheiten wie Diabetes, Nieren- oder Infektionserkrankungen. „Bis zu 80 Prozent weniger wurden solche diagnostischen Leistungen abgefragt.“ Es sei wichtig, in der Pandemie die Grundversorgung aller anderen akuten und chronischen Erkrankungen aufrechtzuerhalten, appelliert Müller
Die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnostik stellt Prof. André Fischer vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Beispiel Alzheimer dar. Bei der Diagnose der Erkrankung gebe es ein grundlegendes Problem: „Die Patienten werden zu einem Zeitpunkt diagnostiziert, wo eine ursächliche Therapie scheitern muss.“ Meist gingen die Betroffenen erst in eine Klinik, wenn jemandem etwas an ihrem Verhalten auffalle. Zu diesem Zeitpunkt sei die Degeneration des Gehirns aber bereits zu weit fortgeschritten. Bereits heute sei es möglich, Alzheimerpatienten mittels Nervenwasser-Analyse oder MRT zu diagnostizieren, das ist jedoch „invasiv, infrastrukturell sehr aufwendig und kostenintensiv“, bemängelt Fischer.
Große Hoffnungen setzt er auf screeningfähige Biomarker, microRNA-Signaturen, zur Früherkennung von Risikopersonen. Diese seien minimalinvasiv, einfach und kostengünstig. Die so identifizierten Menschen könnten dann die diagnostischen Verfahren erhalten und hätten eine Chance auf eine ursächliche Therapie. Die Entdeckung befindet sich im Forschungsstadium und muss noch bestätigt werden. Fischer erhofft sich eine Praxistauglichkeit in weniger als zehn Jahren, zum Beispiel in Form eines Lateral Flow Tests.
Dr. Martin Walger, Geschäftsführer des VDGH, legt in seinem Impulsvortrag einen Schwerpunkt auf die neue europäische IVD-Verordnung, die im Mai 2022 in Kraft tritt. Diese sorge für massive Verschärfungen für Hersteller und benannte Stellen. „Leider muss man sagen, was die Brüsseler Beamten sich da ausgedacht haben, geht ziemlich an der Sache vorbei“, sagt der Experte. Mitte Oktober hat die EU-Kommission einen Änderungsvorschlag eingereicht, der den beteiligten Ländern längere Übergangsfristen einräumen würde.
Zum Zeitpunkt der Veranstaltung waren erst sechs von 22 geplanten benannten Stellen nach dem neuen Recht anerkannt, denn für sie gelten schärfere Vorgaben zum Beispiel beim Personal. Gleichzeitig drängen mehr IVD auf den Markt. Laut Walger gibt es vier- bis fünfmal so viele Produkte, die den Prozess mit einer benannten Stelle durchlaufen müssen. Dies führe zu einem „ganz schwierigen Engpass“, der die flächendeckende Versorgung mit IVD infrage stellt. „Wenn wir im Mai 2022 ohne geänderte Übergangsregelungen so in die Versorgung starten würden, dann werden wir sehen, dass ein erheblicher Teil der Produkte bis dahin gar kein neues CE-Kennzeichen bekommen kann.“
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Zurück zur Diskussionsrunde am Jahresende: Prof. Peter Langkafel, Direktor der School of Digital Health an der XU Exponential University in Potsdam, hält viele der bestehenden digitalen Anwendungen für zu komplex.
[caption id="attachment_5469" align="alignright" width="1200"]Beispiel Notfalldatensatz: Dieser könne mittlerweile zwar offiziell auf die elektronische Gesundheitskarte geschrieben werden. Doch schon auf dem Weg dahin stießen Leistungserbringer auf hohe Hürden. Allein die Beantragung des benötigten elektronischen Heilberufsausweises sei „unglaublich kompliziert“ und nehme in der Regel mehrere Wochen in Anspruch, so Langkafel.
Er rückt die digitale Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärker in den Fokus. „Suchen, finden, verstehen, beurteilen und anwenden – das ist es, was Gesundheitskompetenz ausmacht“, erläutert der Experte. Doch genau daran hapere es noch allzu oft, insbesondere im Digital-Kontext. So zeige etwa der zweite Health Literacy Survey aus diesem Jahr, „dass drei von vier Personen in Deutschland diese digitale Gesundheitskompetenz gar nicht besitzen“, so Langkafel. In den vergangenen Jahren sei diese Kompetenz sogar gesunken. Ein besorgniserregender Trend, denn: „Diese geringe Gesundheitskompetenz hat zahlreiche, zum Teil massive negative Folgen.“ So würden etwa manche Menschen infolge von Internetrecherchen auf eigene Faust ihre Medikation absetzen oder verändern. Zusätzlich gehe mit niedrigerer Gesundheitskompetenz eine häufigere Nutzung von Notfalldiensten einher. Entwicklern neuer Digital-Anwendungen rät Langkafel deshalb dazu, ihre Anwendungen mehr an ihren potenziellen Nutzerinnen und Nutzern auszurichten. „Kompetenz und Akzeptanz entstehen durch positive Nutzererfahrungen, und die müssen wir in den Vordergrund stellen.“
Damit Digitalisierung und Daten tatsächlich von Nutzen für Versorgung und Forschung sein können, braucht es allerdings mehr als nur eine verbesserte Nutzerfreundlichkeit der Anwendungen, erläutert Sylvia Thun, Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am Berlin Institute of Health an der Charité. Benötigt würden vor allem einheitliche IT-Standards. Wie groß der Bedarf in der Medizin ist, erläutert sie anhand eines anschaulichen Beispiels: „Es gibt allein sieben Möglichkeiten, ein Geburtsdatum zu schreiben.“ Das erschwert das Zusammenführen und die Auswertung von Daten erheblich oder verhindert sie gleich ganz.
Im Zuge der Pandemie-Bekämpfung habe es jedoch Fortschritte gegeben, etwa in Form des „Einheitlichen Datensatzes Covid-19“. Dieser berücksichtigt unter anderem Vitalwerte und Symptome und basiert auf international kompatiblen Standards. Der Grundgedanke dahinter: „Es ist wichtig, dass wir immer den secondary use im Auge behalten“, so Thun. Meint: Bei der Erhebung von Daten sollte immer schon deren Weiterverarbeitung zu Public-Health- oder Forschungszwecken mitgedacht werden. Dafür ist die Verwendung international gebräuchlicher Standards unumgänglich.
Nicht fehlen darf bei der Diskussion das Dauer-Streitthema Datenschutz. „Wir haben uns in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten – eigentlich seit 1973 mit der Erfindung des ersten Datenschutzgesetzes in Hessen – zu Spezialisten des Datenschutzes entwickelt“, bemerkt Innovationsberater Prof. Christian Dierks von Dierks+Company. Was dagegen noch immer fehle, sei ein Datennutzungsgesetz, wie es etwa der Sachverständigenrat Gesundheit angeregt habe. Ein solches Gesetz hält Dierks für dringend geboten. „Denn es reicht nicht aus, zu verhindern, dass die Daten in die falschen Hände gelangen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass sie von den richtigen Händen genutzt werden.“
Kritisch blickt der Mediziner und Jurist auf die Ausgestaltung der Anfang 2021 eingeführten elektronischen Patientenakte. Sie funktioniert bislang nach dem sogenannten Opt-in-Verfahren. Wer sie nutzen will, muss sich also aktiv dafür entscheiden. Andernfalls wird keine Akte angelegt. Dabei wäre auch das umgekehrte Prinzip denkbar. Für Dierks ist klar: Eine nach dem Opt-out-Verfahren organisierte ePA hätte „einen sehr viel größeren gesamtgesellschaftlichen Nutzen und auch einen Nutzen für den Einzelnen“. Das sehen offenbar auch die Ampel-Fraktionen so. Im Koalitionsvertrag kündigen sie eine Umstellung auf Opt-out an.
[post_title] => Digitalen Wandel gestalten [post_excerpt] => Digitalisierung – erlauben, was nutzt? [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => digitalen-wandel-gestalten [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-02-10 10:46:37 [post_modified_gmt] => 2022-02-10 09:46:37 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5217 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5233 [menu_order] => 40 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [172] => WP_Post Object ( [ID] => 5236 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-02-10 10:46:44 [post_date_gmt] => 2022-02-10 09:46:44 [post_content] =>Lauterbachs Verortung wird von vielen begrüßt. Dazu zählen dürfte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Vor der Bundestagswahl hat sie in einem Positionspapier gefordert, dass sich die gesamte Gesundheitspolitik stärker als bisher an der evidenzbasierten Medizin orientieren müsse. Und das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hat einige Wochen vor der Staffelübergabe im Ministerium fünf Forderungen an eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik formuliert.
Die EbM-Expertinnen und Experten verstehen evidenzbasierte Gesundheitspolitik dem Forderungspapier zufolge als Daseinsfürsorge anstatt Kommerzialisierung. Handlungsbedarf sehen sie auch bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Eine weitere Forderung lautet: „Gesundheitsforschung fokussieren und Forschungskultur reformieren für ein ständig besser und evidenzbasierter werdendes Gesundheitssystem.“ Deutschland sei schwach darin, große und wichtige Fragen in der Gesundheitsversorgung durch gute Studien rasch zu beantworten, heißt es zur Begründung. Trotz vieler Initiativen habe auch die Forschung zu Corona-Themen „erhebliche Lücken“ offenbart. Das Netzwerk schlägt ein Zentrum zur Neuorganisation und Finanzierung klinischer Forschung vor. Am wichtigsten aber werde eine neue Forschungskultur bei Patienten, Forschenden, medizinischem Personal und Forschungsförderern sein. „Forschungsaktivitäten und das Mitwirken daran müssen zur normalen Routine werden auf dem Weg hin zu einem ständig besser und evidenzbasierter werdenden Gesundheitssystem.“
Kritisch zu fragen ist aber auch, wie viel Evidenz bereits jetzt im Gesundheitswesen steckt – und konkret im GKV-Leistungskatalog. Forderungen nach dessen kritischer Sichtung und des konsequenten Ausschlusses von nicht evidenzbasierten Leistungen gibt es schon länger. Über die Aufnahme neuer Leistungen in den Katalog entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). „Wenn wir die Patientenversorgung zeitgemäß fortentwickeln wollen, dann müssen wir Entscheidungen treffen, auch wenn die Evidenz nicht in Stein gemeißelt ist“, sagt dessen unparteiischer Vorsitzender, Prof. Josef Hecken. Der Preis für diesen großen Entscheidungsspielraum: Das Gremium müsse immer wieder prüfen, ob neue medizinische Erkenntnisse es nötig machen, Entscheidungen aufzuheben oder zu ändern, betont Hecken auf einem Rechtssymposium des Ausschusses vor einiger Zeit.
Im Rahmen des AMNOG-Verfahrens – wenn der Zusatznutzen neuer Arzneimittel in Relation zum bisherigen Therapiestandard bewertet wird – geschieht dies etwa mittels Beschlüssen, die der G-BA befristet. Auch kann der Hersteller aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse eine erneute Nutzenbewertung beantragen. Dies ist erst kürzlich bei einer Therapie des Knochenmarkkrebses geschehen. Der Hersteller nahm den dritten Datenschnitt einer Studie zum Anlass, um eine erneute Bewertung zu beantragen. Das Ergebnis: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sieht nun anstelle eines Anhaltspunktes für einen geringen Zusatznutzen einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen.
Ein großes Gefälle nimmt Dr. Monika Lelgemann zwischen der Bewertung von Arzneimitteln und von nichtmedikamentösen Leistungen wahr. Bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sei die Evidenz „zu oft unzureichend“, so Lelgemann, die wie Hecken ein unparteiisches Mitglied des G-BA ist. Auch der Leiter des IQWiG, Prof. Jürgen Windeler, macht auf die Unterschiede in der rechtlichen Regulierung zwischen Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Interventionen aufmerksam (lesen Sie dazu Seite XX).
Das ist nicht die einzige Unwucht im System. Eine andere ist die Homöopathie. Hier stellt sich noch eindringlicher die Frage, ob in Sachen Evidenz im Versorgungsystem bisweilen mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Krankenkassen, die einerseits beständig eine Verschärfung des AMNOG-Verfahrens fordern, finanzieren als Satzungsleitung Globuli, für deren Wirkung es keinerlei belastbare Belege gibt. Dazu muss man wissen, dass die Kassen mit der Homöopathie vor allem die freiwillig Versicherten adressieren, also die Gutverdiener. Mit anderen Worten diejenigen, die jede Kasse gerne zu ihren Versicherten zählen möchte. Streicht man diese Leistung – das wäre eine Aufgabe des Gesetzgebers –, dann beraubt man die Kassen um ein wichtiges Marketing-Instrument im Wettbewerb. Wie heikel dieses Thema ist, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass keine der von uns angefragten Krankenkassen oder deren Verbände bereit war, sich in dieser Angelegenheit öffentlich zu äußern.
Wird der neue Gesundheitsminister seine Evidenz-Agenda auch auf solch unerquickliche Streitpunkte ausweiten?
Wie vielschichtig das Thema ist, zeigt eine Initiative des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV). Dieser verlangt einen Zuwendungsindex für die stationäre Patientenversorgung. Dieser solle in die Qualitätsmessung der Krankenhausversorgung eingeführt und in den Qualitätsberichten veröffentlicht werden. Nur so werde es gelingen, die Zeit zu finanzieren, die die Mitarbeitenden brauchen, um sich den kranken Menschen zuzuwenden. „Durch die Technisierung in der Medizin wird diese Zeit nicht anerkannt, nur was evidenzbasiert ist, findet Anerkennung und wird finanziert“, sagt der DEKV-Vorsitzende Christoph Radbruch. Um dies zu ändern will der Verband die professionelle Zuwendung im Krankenhaus so beschreiben, dass sie zu den evidenzbasierten Qualitätskriterien passt. Nach den Vorstellungen des Verbandes soll das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen einen solchen Zuwendungsindex entwickeln.
Das kann dauern. Doch insbesondere beim Thema Datennutzung und Evidenz kann das Gesundheitswesen nicht einfach gemächlich weitertrotten. Prof. Christof von Kalle, Onkologe und Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit, betont gegenüber Gerechte Gesundheit mit Verweis auf die Pandemie, dass wissenschaftliche Daten aus Grundlagenforschung, translationaler und klinischer Forschung die einzige Chance seien, große Herausforderungen an das Gesundheitssystem „wirksam, human, sozial und wirtschaftlich“ zu bewältigen. Er bemängelt das Fehlen einer nachhaltig geförderten Infrastruktur für randomisierte klinische Studien und eine systematische digitale Gesundheitsdatenerfassung. „Dies hat unserer Bevölkerung geschadet.“
Eine evidenzorientierte Gesundheitspolitik muss sich dieser Herausforderung schnellstens stellen.
Strittige Evidenz bei Orphans
Für Orphan Drugs sollen die gleichen Regeln bei der Nutzenbewertung gelten wie für alle anderen Arzneimittel, fordert jüngst das IQWiG. Es befürchtet, dass die derzeitigen, weniger strengen Bewertungsmaßstäbe für Arzneimittel gegen seltene Leiden irreführende Signale in die Versorgungspraxis senden. Der fiktive Zusatznutzen – bei Orphans gilt dieser als automatisch belegt – verhindere, dass zwischen Orphan Drugs mit und ohne echten Fortschritt unterschieden werden kann.
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Prof. Tanja Krones
Welches ist die wichtigste Weichenstellung für eine konsequent an der evidenzbasierten Medizin orientierten Gesundheitspolitik?
[caption id="attachment_5522" align="alignright" width="800"]Niemand würde heute ernsthaft behaupten, dass es eine Alternative zu einer auf Evidenz, also auf wissenschaftlichen Fakten, beruhenden Medizin gibt. „Evidenz“ und „evidenzbasierte Medizin“ sind aber keine geschützten Begriffe, sondern vielfach nur Schlagworte. In Medizin und Gesundheitspolitik wird oft selektiv nur auf die Evidenz verwiesen, die zur eigenen Meinung und Überzeugung passt. Leitend sind also nicht die Fakten, sondern finanzielle Anreize. Aus Sicht des EbM-Netzwerks sind daher zentrale Kurskorrekturen erforderlich, die wir kürzlich als fünf Forderungen für eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik publiziert haben. Als wichtigste Maßnahme haben wir festgehalten, dass die finanziellen Fehlanreize und die überbordende Erlösoptimierung im Gesundheitswesen beseitigt werden müssen. Wir brauchen insgesamt eine konsequentere Ausrichtung an einer Daseinsfürsorge statt einer Kommerzialisierung des Gesundheitswesens.
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Dr. Monika Lelgemann
Wie hoch ist der Anteil gesicherter evidenzbasierter Leistungen im GKV-Leistungskatalog? Wie stehen Sie zu einer kritischen Sichtung des Leistungskatalogs und dem Ausschluss von Leistungen ohne Evidenznachweis?
[caption id="attachment_5520" align="alignleft" width="800"]Die Ankündigung, beim GKV-Leistungskatalog verstärkt auf einen echten Evidenzbezug zu achten, interpretiere ich als Unterstützung der Arbeit des G-BA. Das ist der richtige Weg. Derzeit nehme ich allerdings in der Bewertung ein großes Gefälle zwischen Arzneimitteln und nichtmedikamentösen Leistungen wahr. Das darf so nicht bleiben. Bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden braucht es ebenfalls einen stärkeren datengestützten Vergleich zu etablierten Methoden durch aussagekräftige Studien – und zwar bevor Innovationen auf den Markt kommen. Bisher ist die Evidenz zu oft unzureichend. Bei vielen Leistungen, die schon vor Gründung des G-BA im Leistungskatalog waren, können wir nichts zum Evidenzlevel sagen. Ich glaube, Ressourcen auf die Bewertung neuer Methoden zu konzentrieren, fördert den konsequenten Evidenzbezug mehr, als es eine umfassende Sichtung des bestehenden Katalogs jemals könnte. Völlig klar ist: Unwirksame oder gar schädliche Methoden sind natürlich auszuschließen.
Prof. Christof von Kalle
Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie evidenzbasiert schätzen Sie die Gesundheitspolitik der vergangenen Legislatur ein? In welchem Bereich ist der Nachholbedarf an Evidenzbasierung besonders hoch?
[caption id="attachment_5523" align="alignright" width="800"]Die SARS-CoV-2-Pandemie hat gezeigt, dass wissenschaftliche Daten aus Grundlagenforschung, translationaler und klinischer Forschung die einzige Chance sind, große Herausforderungen an das Gesundheitssystem wirksam, human, sozial und wirtschaftlich zu bewältigen. Wissenschaftliche Daten stehen im Gesundheitssystem aber oft hinter wirtschaftlichen Interessenkonflikten der Stakeholder zurück. Zudem ist evidenzbasierte Entscheidungsfindung ohne Evidenzerhebung nicht möglich. Dabei sind die genaue Messung und schnelle Auswertung primärer Daten entscheidend. Hierfür fehlt in Deutschland aber leider bisher eine nachhaltig geförderte Infrastruktur für randomisierte klinische Studien und eine systematische digitale Gesundheitsdatenerfassung völlig. Dies hat unserer Bevölkerung geschadet.
Klinisch ermöglichen nur vorangelegte digitale Datennetzwerke eine Beschleunigung der Entwicklung von Wissen und Innovationen, zum Beispiel zu Impfstoffen. Metaanalysen der finalen Stufen evidenzbasierter Medizin über randomisierte klinische Studien erzeugen zwar keine primäre molekulare oder biologische Evidenz, aber liefern später extrem wichtige Korrelationen zur Wirksamkeit neuer Verfahren. Mit den richtigen Werkzeugen wird die Wissenschaft in Zukunft also Evidenz noch besser bereitstellen und bei ihrer Interpretation beraten können. Dabei bleibt die Verantwortung für Entscheidungen zu Interventionen letztendlich die Aufgabe der demokratischen Volksvertretung in Bund und Ländern und der aus ihr gebildeten Regierung
Dr. Ellen Lundershausen
Welche Baustellen muss eine stärker an der evidenzbasierten Medizin orientierte Gesundheitspolitik aus ärztlicher Sicht als erstes angehen?
[caption id="attachment_5521" align="alignleft" width="800"]Wenn Bundesgesundheitsminister Lauterbach sagt, dass er die Gesundheitspolitik nach Evidenz und Wissenschaftlichkeit ausrichten wird, dann halte ich das für vernünftig. Entscheiden wir Ärztinnen und Ärzte doch gleichfalls auf Grundlage einer evidenz- und wissenschaftsbasierten Medizin. Hinsichtlich der vom Bundesgesundheitsminister anzugehenden „Baustellen“, fällt mir zuerst die Krankenhauslandschaft ein. Dabei denke ich insbesondere an „Qualität“! So muss es eine Mindestbesetzung in den Abteilungen mit entsprechendem Personal, unter anderem Fachärzten, geben. Dies führt zu mehr Spezialisierung und Arbeitsteilung, wodurch auch beim Fachkräfteproblem etwas „Druck“ aus dem Kessel genommen wird. Wir in Thüringen haben bereits gute Erfahrungen gesammelt, dass in einzelnen Fachgebieten innerkollegial Mindestanforderungen definiert worden sind. Eine weitere Baustelle wäre die neue GOÄ. Diese ist erarbeitet und muss endlich in Kraft gesetzt werden. Darüber hinaus verweise ich auf das Papier der Bundesärztekammer „12 Punkte, die die neue Bundesregierung in der Gesundheitspolitik sofort angehen muss …“. Schlussendlich gilt: Im Mittelpunkt steht der Patient. Dessen Wohl ist der Orientierungspunkt.
Prof. Stefan Huster
Sehen Sie Evidenzprobleme im Bereich der Arzneimittel?
[caption id="attachment_5519" align="alignright" width="800"]Die Ausrichtung des Gesundheitssystems an den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin und Versorgung gehört zweifellos zu den großen gesundheitspolitischen Fortschritten der letzten Jahre und Jahrzehnte. Dies umfasst auch eine an der vorhandenen Evidenz orientierte Vergütung für medizinische Leistungen, wie sie das AMNOG-Verfahren für Arzneimittel anstrebt. Allerdings muss man sich immer der Grenzen dieser Vorgehensweise bewusst sein, will man sie nicht diskreditieren. Nicht selten wird die für die Bewertung erforderliche Evidenz nämlich (noch) nicht vorliegen, so dass Entscheidungen unter großer Unsicherheit zu treffen sind. Hier wird man dann den „(noch) nicht belegten Zusatznutzen“ nicht ohne Weiteres mit einem „belegt fehlenden Zusatznutzen“ gleichsetzen können, sondern im Interesse der Patienten, aber auch der Erhaltung der Innovationskraft der Industrie zu differenzierten Folgerungen gelangen müssen.
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Prof. Reinhard Busse
Sie selbst bezeichnen sich als ein „Kind der evidenzbasierten Gesundheitspolitik“. Was ist die entscheidende Voraussetzung, um eine solche konsequent umzusetzen?
[caption id="attachment_5518" align="alignleft" width="800"]Das European Observatory on Health Systems and Politics unterstützt seit 1998 eine evidenzbasierte Politikgestaltung. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern ist Deutschland trotz mehrfacher Aufforderung nicht beigetreten. Warum? Weil zu viele Akteure bei uns davon ausgehen, dass wir das beste Gesundheitssystem der Welt haben – oder zumindest „eines der besten“. Wenn man nach Evidenz für die Aussage fragt, hört man zumeist, dass Deutsche im Ausland im Falle einer notwendigen medizinischen Maßnahme nach Deutschland möchten. Aber exakt das gleiche „Argument“ hört man in Großbritannien oder Spanien. Was brauchen wir stattdessen? Wir müssen lernen wollen. Das setzt voraus, dass wir die Möglichkeit in Erwägung ziehen, andere könnten es besser machen. Wir brauchen daher eine vorurteilsfreie Aufarbeitung der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems im Vergleich zu anderen hinsichtlich Zugänglichkeit, Qualität oder Beitrag zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit, ein „Health System Performance Assessment“. Und dann müssen wir gucken, was die Länder machen beziehungsweise gemacht haben, die besser abschneiden als wir. Ach so, und wir müssen noch bereit sein, auch selbst Daten zu sammeln und sie transparent zu machen, damit sie für Vergleiche zur Verfügung stehen. Eigentlich ganz einfach … Wann beginnen wir endlich?
Prof. Jürgen Windeler
Das IQWiG gilt hierzulande ein Gralshüter der evidenzbasierten Medizin. Welche Hürden haben Sie bei der Evidenzvermittlung in Richtung Politik als besonders hoch erlebt?
[caption id="attachment_5524" align="alignright" width="800"]Ein evidenzbasiertes Gesundheitssystem zeigt ehrliches Interesse an qualifizierter Evidenz bei Systementscheidungen und im medizinischen Alltag. Dort, wo gesetzliche Regelungen diesen Bezug nicht ernst nehmen, besteht kein Anreiz eine gute Datenbasis zu schaffen. Die Unterschiede in der rechtlichen Regulierung zwischen Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Interventionen machen dies drastisch deutlich. Deutschland leistet derzeit in sehr vielen medizinischen Bereichen keinen relevanten Beitrag für die Schaffung qualifizierter Evidenz. Studien werden nicht gemacht, notwendige Strukturen vernachlässigt. Die Idee, für eine medizinische Maßnahme in Studien grundlegende Evidenz zu generieren und sie gleichzeitig uneingeschränkt in der Versorgung einsetzen zu wollen, ist ein Widerspruch in sich. Es braucht dringend den politischen Willen, qualifizierte Evidenz zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. Daraus muss ein neuer, sinnvoller gesetzlicher Rahmen entstehen, also die Schaffung von Anreizen und Strukturen, um den Begriff „evidenz-basiert“ im deutschen Gesundheitssystem wirklich mit Leben zu füllen.
[post_title] => Evidenz statt Bauch [post_excerpt] => Welche Herausforderungen Expertinnen und Experten sehen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => evidenz-statt-bauch [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-02-10 10:46:51 [post_modified_gmt] => 2022-02-10 09:46:51 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5217 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5241 [menu_order] => 60 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [174] => WP_Post Object ( [ID] => 5247 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-02-10 10:46:57 [post_date_gmt] => 2022-02-10 09:46:57 [post_content] =>Das erste Pro/Kontra in der Session zu neuen Strukturen in der Akut- und Notfallmedizin findet zu folgender These statt: „Alle Fachabteilungen in der Notaufnahme ist der richtige Weg“. Prof. Helge Topka, Chefarzt am Klinikum Bogenhausen, vertritt die Pro-Position. Er legt anhand mehrerer Studien dar, dass Spezialisten eine geringere Fehlerquote haben. Beispiele dafür sind etwa das Erkennen von zerebellären Infarkten sowie richtige EKG-Auswertungen. „Wir haben ein Problem mit der initialen Einschätzung“, sagt er. Schnell wird es grundsätzlich. Topka fragt zum Beispiel: Sind die richtigen Patienten in der Notaufnahme? Welche Strukturen versorgen wen? Der Neurologe definiert die zentrale Notaufnahme als hochspezialisierte Einrichtung für schwerwiegend Erkrankte. Aber ist sie das in der Praxis tatsächlich?
Michael Reindl, Leitender Notarzt der Stadt Oberhausen, stellt die Kontra-Position dar. Er weist darauf hin, dass sich dort 50 Prozent der Patienten selbst vorstellten. „Patienten kommen nicht mit einer Diagnose, sondern mit Symptomen“, betont er ebenfalls. Diejenigen mit keinem klaren Leitsymptom hätten eine vielfach erhöhte Mortalität. Er argumentiert, dass immer mehr Konsile zu einer längeren Verweildauer führten, damit steige die Mortalität. Auch er fragt ganz grundsätzlich, wem der Patient gehöre. Es gebe ein Tauziehen, das politisch getriggert sei.
Das zweite Pro/Kontra in der Session beschäftigt sich mit der medizinischen Ersteinschätzung mit SmED. Der Vorstandsvorsitzende des Zi, Dr. Dominik Graf von Stillfried, stellt das Instrument vor. Er berichtet von positiven Erfahrungen im Praxistest. Bei der anschließenden Diskussion hebt er unter anderem hervor, dass es ausgewogene Kooperationsstrukturen brauche. Auch müsse niemand SmED benutzen. Politisch ist das Instrument gewünscht und wird wohlwollend aufgenommen. An der Basis kann es anders aussehen, wie der Kontra-Beitrag von Dr. Harald Dormann zeigt. Der Chefarzt der zentralen Notaufnahme des Klinikums Fürth befürchtet eine Potenzierung von Weiterleistungszuständigkeiten und ist außerdem davon überzeugt, dass eine Weiterleitung ohne Arztkontakt keine valide Grundlage habe.
[post_title] => Tauziehen um den Notfall-Patienten [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => tauziehen-um-den-notfall-patienten [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-02-10 10:46:57 [post_modified_gmt] => 2022-02-10 09:46:57 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5217 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5247 [menu_order] => 70 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [175] => WP_Post Object ( [ID] => 5251 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-02-10 10:47:04 [post_date_gmt] => 2022-02-10 09:47:04 [post_content] =>Ein niedriger sozioökonomischer Status gehe oft einher mit höheren Gesundheitsbelastungen und schlechteren Gesundheitschancen, beispielsweise einer niedrigeren Gesundheitskompetenz, so die Verantwortlichen. Wesentliche Risikofaktoren bei Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status seien der höhere Anteil an Raucherinnen und Rauchern, weniger sportliche Aktivität, ein ungünstiges Ernährungsverhalten sowie die stärkere Verbreitung von Adipositas.
Zuvor haben bereits Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und des Hamburgischen Krebsregisters bei der Hansestadt erstmals das Krebsüberleben zwischen den verschiedenen Stadtteilen verglichen. Dabei fanden sie teilweise erhebliche Differenzen: Um bis zu 15 Prozentpunkte unterscheidet sich das Fünf-Jahres-Krebsüberleben zwischen den sozioökonomisch stärksten und schwächsten Vierteln.
Zur Einordnung: Sozioökonomische Ungleichheiten beim Krebsüberleben wurden in vielen Ländern dokumentiert. Die Studien basieren meist auf länderweiten Erhebungen, die Städte als eine Einheit behandeln. „Dabei ist ein Vergleich einzelner städtischer Gebiete besonders interessant“, sagt Erstautorin Lina Jansen vom DKFZ. Die Unterschiede bei der Erreichbarkeit medizinischer Versorgung spielten innerhalb einer Stadt eine geringere Rolle. Außerdem lebe die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten.
[caption id="attachment_5466" align="alignnone" width="1200"]Die Studie basiert auf Daten von 73.106 Patienten, die im Hamburgischen Krebsregister erfasst und zwischen 2004 und 2018 an Darm-, Lungen-, Brust- oder Prostatakrebs erkrankt waren. Für sie wurde das altersstandardisierte relative Fünf-Jahres-Überleben ermittelt. Um den sozioökonomischen Status der Stadtteile einzuordnen, nutzten die Epidemiologen den Hamburger Sozialindex. Dieser erfasst unter anderem Arbeitslosenquote, Anzahl der Sozialwohnungen und der Sozialhilfeempfänger sowie Haushaltseinkommen.
Das Ergebnis der Analyse: Je höher der sozioökonomische Status des Stadtteils, desto mehr Patienten überlebten die ersten fünf Jahre nach der Krebsdiagnose. Die Überlebensunterschiede betrugen zwischen den sozioökonomisch stärksten und schwächsten Stadtteilen bei Prostatakrebs 14,7 Prozentpunkte, bei Darmkrebs 10,8 Prozentpunkte, bei Brustkrebs 8 und bei Lungenkrebs schließlich noch 2,5 Prozentpunkte. Eine mögliche Erklärung für die teilweise erheblichen Differenzen könnte die unterschiedliche Wahrnehmung von Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen sein. Die Forscher konnten bei Brust- und Prostatakrebs einen erheblichen Anteil der Überlebensdifferenz auf weiter fortgeschrittene Krebsstadien bei Diagnose zurückführen. Für Darmkrebs und Lungenkrebs galt dies allerdings nicht. Weitere Analysen seien daher dringend erforderlich.
Ein Konsortium „hochrangiger Expertinnen und Experten“, so heißt es offiziell, wird den Aufbau der Plattform vorantreiben. Eingebunden in die Architektur von genomDE sind neben Fachgesellschaften und Patientenverbünden auch die schon existierenden Netzwerke, die Patienten mit Krebs und Seltenen Erkrankungen einen strukturierten Zugang zur Genomsequenzierung anbieten. Koordiniert wird das Projekt genomDE von der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung, TMF.
Offiziell hat die Initiative, die bis Ende 2024 vom Bundesgesundheitsministerium gefördert wird, ihre Arbeit Anfang Oktober aufgenommen. Auf einer Kick-Off-Veranstaltung erklärt TMF-Geschäftsführer Sebastian Semler die Ziele, die mit genomDE erreicht werden sollen: Klinische, phänotypische und genomische Daten werden für die Patientenbehandlung genutzt. Wissen, das dabei entsteht, kommt der Forschung zugute. Dieses wissensgenerierende Versorgungskonzept soll die Gesundheitsversorgung wesentlich verbessern, die Genomsequenzierung deshalb in der Regelversorgung verankert werden. Den Weg dahin ebnen wird neben genomDE auch ein mindestens fünfjähriges Modellvorhaben, das ab 2023 starten soll und Genomsequenzierungen bei Krebs und Seltenen Erkrankungen im Fokus hat.
Auf der Kick-Off-Veranstaltung formulieren Ärzte ebenso wie Patienten- und Kassenvertreter die Anforderungen, die an ein wissensgenerierendes Versorgungskonzept zu stellen sind. Dazu zählen unter anderem Datenschutz, Datenharmonisierung, qualitätsgesicherte Indikationsstellung zur Genomsequenzierung, qualifizierte Beratung von Patienten und Familien sowie höhere finanzielle Anreize für Ärzte, Daten an Register zu übermitteln.
[post_title] => Genomsequenzierung soll in die Fläche [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => genomsequenzierung-soll-in-die-flaeche [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-02-10 10:47:16 [post_modified_gmt] => 2022-02-10 09:47:16 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5217 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5255 [menu_order] => 90 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [177] => WP_Post Object ( [ID] => 5258 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-02-10 10:47:26 [post_date_gmt] => 2022-02-10 09:47:26 [post_content] =>Das Vorhaben ist Bestandteil der Nationalen Demenzstrategie der Bundesregierung. Mit einer Million Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung hat das DZNE eine Infrastruktur erschaffen, welche Hoffmann zufolge die „drei Welten“ – Forschung, Versorgung und Betroffene – zusammenbringt. Die Idee: Das Netzwerk fungiert als Basis und Ideenschmiede für bundesweite Projekte der Versorgungsforschung. Hoffmann betont, dass es dafür bisher keine dauerhafte Plattform gab. „Wir wollen das Wagnis beginnen“, sagt er. Angesichts der zahlreichen Herausforderungen rund um Demenz dürfte eine solche Vernetzung überfällig sein. Der Forscher nennt als Schwierigkeiten unter anderem: ein zu spätes Erkennen der Demenz, unerfüllte Bedarfe der Patienten sowie Schnittstellenprobleme.
Bei der Auftaktveranstaltung geht es auch darum, wie Demenzpatienten, Angehörige und Versorgungsakteure in konkrete Forschungsprojekte miteinbezogen werden können – Stichwort partizipative Forschung.
Demenzaktivistin Helga Rohra, Mitglied im DZNE-Patientenbeirat, stellt klar, dass dafür eine engmaschige Begleitung von Patienten, die sich in der Forschung engagieren, unerlässlich sei. „Stellen Sie mir jemanden an die Seite“, sagt die über 70-Jährige, die seit elf Jahren mit der Diagnose lebt. Eine weitere Herausforderung: Nachdem Rohra in Online-Gruppen andere Betroffene über TaNDem informiert hat, ist sie zu dem Schluss gekommen: „Mit dem Wort partizipative Forschung kann niemand etwas anfangen“.
Auch Demenzforscherin Prof. Martina Roes ist für die Bedeutung der Sprache sensibilisiert. Im Austausch mit anderen Gruppen hat sie gelernt, Menschen mit Diagnose nicht als Betroffene, sondern als „Experts by Experience“ zu definieren, berichtet sie. Das zeige, dass der Austausch mit anderen Partnern die Sprache verändere. „Wir müssen lernen, auf andere Weise zu kommunizieren“, sagt die DZNE-Standortsprecherin Witten. Eine weitere Aufgabe der Forschenden sieht sie darin, Augenhöhe herzustellen.
Roes‘ Kollege Prof. Stefan Teipel spricht in seinem Vortrag von den international zunehmenden Bemühungen, nicht-wissenschaftliche Akteure in die gesundheitsbezogene Forschung einzubeziehen. Ist das auch ein geeignetes Format bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen? Derzeitig gehe die Beteiligung selten über die Konsultation hinaus. Insbesondere in Deutschland sei das Thema noch ein „unerschlossenes Land“, so Teipel. Ihm zufolge kann Partizipation Forschenden neue Perspektiven eröffnen, beispielsweise in Form von Fragestellungen, die sie bisher nicht berücksichtigt haben. Dem steht aber nicht zuletzt ein höherer Aufwand an Zeit und Ressourcen gegenüber. Der Wissenschaftler aus Rostock empfiehlt daher: Der partizipatorische Ansatz ist bereits in der Planungsphase aktiv zu berücksichtigen. Die Rollen von Forschern und Ko-Forschern müssen von vornherein geklärt sein.
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Die Evaluation hat ergeben, dass viele Ärztinnen und Ärzte die Leitlinien nutzen und als hilfreich empfinden. „Um die Leitlinien noch anwendungsfreundlicher zu gestalten, braucht es jedoch kürzere Formate und eine schnellere – besonders digitale – Auffindbarkeit von Informationen“, hält das ÄZQ fest. Auf die Frage nach dem bevorzugten Medium für Leitlinien rangieren Computer oder Laptop auf dem ersten Platz (61 Prozent), gefolgt von Ausdruck (16 Prozent) sowie Smartphone und Tablet (14 Prozent).
[caption id="attachment_5385" align="alignleft" width="1200"]Die AWMF verlangt derweil von der Gesundheitspolitik, Leitlinienwissen verstärkt in digitale Versorgungsstrukturen zu implementieren. Evidenzbasiertes Wissen solle in digitalen Gesundheitsanwendungen, Patienteninformationen oder Arztinformationssysteme integriert werden. „Für uns als AWMF ist klar, dass digitale Anwendungen evidenzbasiert sein müssen, also auf Leitlinienwissen basieren müssen“, sagt der stellvertretende AWMF-Präsident Prof. Henning Schliephake.
Das AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement (AWMF-IMWi) arbeitet derzeit daran, das Leitlinienregister der AWMF in eine digitale Softwarestruktur zu überführen. „Unser Ziel ist es, über ein digitales Leitlinienregister Leitlinienwissen in der Breite des Gesundheitswesens über Systemgrenzen hinweg nutzbar zu machen. Für die Umsetzung fordert die Arbeitsgemeinschaft einen nationalen Aktionsplan, der Maßnahmen zur weiteren Digitalisierung der Leitlinien beinhaltet.
Zur Erinnerung: Das Digitale-Versorgung-Gesetz hat in der vergangenen Legislatur wichtige Weichen in punkto Leitlinien gestellt: zum einen ist eine Finanzierung für deren Entwicklung oder Weitentwicklung durch den Innovationsfonds möglich, zum anderen kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit der Recherche des Wissensstandes beauftragt werden.
Weiterführender Link:
Warum ein nationaler Aktionsplan die Digitalisierung der Leitlinien flankieren müsse, erläutern Prof. Ina Kopp und Prof. Henning Schliephake von der AWMF im „Interview des Monats“ (November 2021).
www.gerechte-gesundheit.de/debatte/interviews/uebersicht/detail/interview/93.html
Auf der Veranstaltung diskutieren Experten über Ethik in der Notaufnahme. Dort gebe es besonders viele Unsicherheitsfaktoren, erläutert Rogge, die Oberärztin für klinische Ethik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein ist. „In der Regel kommen unbekannte Patienten, es fehlen häufig Zusatzinformationen zur Anamnese oder anderen Erkrankungen.“ Gleichzeitig bestehe der Zwang zu einer schnellen Entscheidung.
Eine weitere Herausforderung: In der aktuellen pandemischen Lage müssen sich Mediziner damit auseinandersetzen, wie potenziell knappe intensivmedizinische Ressourcen „gerecht und ethisch gut begründet“ verteilt werden können. Dabei orientiert man sich laut Empfehlung der Fachgesellschaften an der Erfolgsaussicht, die intensivmedizinische Behandlung zu überleben. „Man kann sich vorstellen, was das für eine schwierige und komplexe Aussage beinhaltet“, sagt Rogge. Prognostische Unsicherheit könne man unter anderem durch Big Data reduzieren. Trotzdem müsse der Behandler noch eine prognostische Aussicht machen. Ein Rest Unsicherheit verbleibe.
[caption id="attachment_5393" align="aligncenter" width="1200"]In der Zusatz-Weiterbildung Klinische Akut- und Notfallmedizin kommen Ethik und Palliativmedizin nicht vor, kritisiert Prof. Guido Michels, Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Im Moment kämen zwei bis zehn Prozent der Patienten mit einem palliativen Ansatz in die Notaufnahme, in Zukunft werde man wegen des demografischen Wandels etwa 40 Prozent haben. Er fordert darum: „Wir müssen viel mehr an dieses Konzept Sterben in der Notaufnahme denken.“ Mediziner müssten Sterben erkennen, um es zuzulassen. „In dieser Situation ist die Medizin im Sinne der Kuration nicht an oberster Stelle, wir brauchen menschliche Zuwendung.“ Laut Dr. Susanne Jöbges, Institut für Bioethik der Universität Zürich, ist es „eine der größten Herausforderungen in der Notaufnahme“, jemanden sterben zu lassen. „Dieses Zulassen, ich glaube das fällt uns sehr, sehr schwer.“
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[caption id="attachment_5396" align="alignright" width="800"]Per Videoschalte dabei sind auch ausdrückliche Impf-Skeptiker und Gegner einer Impfpflicht. Eine von ihnen ist Gudrun Gessert, Lehrerin aus Baden-Württemberg. Aus ihrer Sicht habe die Impfung die in sie gesteckten Erwartungen bislang nicht erfüllen können. Gesserts Auftritt mündet daher in die These: „Die Impfpflicht ist nicht geeignet, um die Pandemie überwinden zu können.“ Sigrid Chongo, Leiterin eines Berliner Seniorenzentrums, hält dagegen und verweist auf ihre Erfahrungen aus der Praxis. Das Heim habe nach der Impfung der Senioren sehr viel weniger Probleme mit COVID-19 als zuvor. Das zeige, dass die Impfung wirkt. Prof. Kai Nagel von der TU Berlin bekräftigt die Ausführungen. Er verweist auf deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Intensiv- und Sterbefälle. Diese seien auch auf die Impfquoten zurückzuführen, betont der Experte zur Erstellung von Mobilitätsmodellen zur Ausbreitung des Coronavirus.
Über die praktischen Hindernisse und den gesellschaftlichen Nutzen einer möglichen Impfpflicht wird in der Runde dennoch weit weniger gestritten als zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen verliert sich die Diskussion bisweilen in medizinischen Details rund ums Impfen selbst – über deren genaue Bedeutung allerdings keiner der geladenen Gäste letztgültig Auskunft geben kann.
Die Befürchtung der Impfgegnerin Gessert, wonach als Reaktion auf die bereits beschlossene einrichtungsbezogene Impfpflicht schon bald noch mehr Pflegekräfte ihrem Beruf den Rücken kehren könnten, stößt bei den anwesenden Praktikern auf geringen Widerhall. Die Gründe für einen vorzeitigen Abschied aus dem Pflegeberuf lägen in der Regel woanders, erklärt Ellen Schaperdoth, Krankenpflegerin an der Uniklinik Köln. Viele fühlten sich aufgrund der chronischen Personalnot schon lange überlastet.
Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Uni Erfurt, plädiert derweil für mehr Solidarität auch jenseits einer Impfpflicht. Sie sagt: „Es ist eine egoistische Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen.“ Würden sich alle Menschen nach diesem Muster verhalten, würde das die Kliniken geradewegs in die Überlastung führen.
[post_title] => Impfskeptiker beim Bundespräsidenten [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => impfskeptiker-beim-bundespraesidenten [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-02-10 10:48:00 [post_modified_gmt] => 2022-02-10 09:48:00 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5217 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5268 [menu_order] => 130 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [181] => WP_Post Object ( [ID] => 5271 [post_author] => 3 [post_date] => 2022-02-10 10:48:06 [post_date_gmt] => 2022-02-10 09:48:06 [post_content] =>„Krank laut KI – wer übernimmt in Zukunft die Verantwortung für Diagnosen?” lautet die Leitfrage einer Veranstaltung, die im Rahmen der Zukunftsdiskurse der Universitätsmedizin Göttingen stattfindet. Dort beschäftigt sich Prof. Saskia Nagel, RWTH Aachen, mit ethischen Perspektiven beim KI-Einsatz in der Medizin. Im Moment gehe es darum, dass Mediziner und Prozesse durch KI unterstützt werden, betont sie. Ziel sei immer eine bessere medizinische Versorgung.
Nagel thematisiert den Umgang mit Systemen, die wir nicht mehr komplett durchdringen. Ihre etwas provokante Frage lautet: „Was glauben Sie, wie die Ärzte ihre jetzigen Technologien en détail verstehen?“ Die Professorin vermutet, dass nicht jeder Mediziner diese Systeme voll verstehe – warum sei das dann bei der KI ein Problem? Transparenz als Antwort auf die Black Box der KI hält sie für nicht zielführend. Was nutze ein offengelegter Code, den die meisten nicht verstehen? „Wir brauchen das, was wir Interpretierbarkeit nennen“, verlangt die Ethikerin, der es um Systeme geht, die ihr Verhalten so erklären, dass es die Nutzer verstehen können. Technisch sei das aber nicht immer möglich und sehr aufwendig. Nagel: „Dann müssen wir uns fragen, ob wir uns auf Entscheidungen verlassen sollten, die wir nicht erklären können? Tun wir das nicht schon oft?“
Stichwort Verantwortung: Nagel hält fest, dass diese nur zuschreibbar sei, wenn Kontrolle und Wissen bestehen. Was passiert aber, wenn der Mensch im Zusammenspiel mit der KI nicht mehr derjenige ist, der kontrolliert und nicht mehr alles verstehen kann? Dann bestehe eine Verantwortungslücke, „denn die KI sei kein moralischer Agent“. Wer trägt in diesem Fall die Verantwortung? Nagel nennt drei mögliche Lösungen: Erstens könne Verantwortung proportional aufgeteilt werden. Die zweite Möglichkeit bestehe darin, bei Mensch-Maschinen-Interaktionen nicht mehr nach Verantwortung zu fragen. Als drittes nennt sie die kollektive Verantwortung. Dabei bezieht man Verantwortung nicht länger auf Individuen, sondern auf Systeme oder Gruppen.
Die EU-Kommission will regulieren, was Künstliche Intelligenz darf und was nicht. Dabei möchte sie sich an der Kritikalität, am Risiko des jeweiligen KI-Systems, orientieren. Armin Grunwald, Professor für Technikphilosophie am Karlsruher Institut für Technologie und Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag, fordert einen regelmäßigen TÜV für KI.
[caption id="attachment_5399" align="alignleft" width="800"]Zur an der Kritikalität orientierten Regulierung merkt er an, dass eine theoretische Beurteilung nicht die mögliche Dynamik der späteren realen Nutzung vorwegnehmen könne. Diese sei oft unvorhersehbar, schon allein deshalb, weil Marktgeschehen und Akzeptanz bei den Menschen immer wieder überraschend verlaufen könnten. Daher sei eine niedrige Kritikalität nur ein Hinweis auf ein anzunehmendes geringes Schadenspotenzial, aber keine Garantie, dass dies auch so bleibe. Die Offenheit der Zukunft verhindere eine auf empirischen Daten beruhende Risikobeurteilung. „Hinzu kommt“, so Grunwald, „dass KI-Systeme sich durch maschinelles Lernen in unvorhersehbarer Weise verändern können“. Deshalb verlangt er, dass KI-Systeme zugelassen werden. Sie müssten außerdem verlässlich und nachweisbar ihren Dienst tun und regelmäßig von einer Art TÜV überprüft werden.
[post_title] => Die Verantwortungslücke bei der KI [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => die-verantwortungsluecke-bei-der-ki [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2022-02-10 10:48:06 [post_modified_gmt] => 2022-02-10 09:48:06 [post_content_filtered] => [post_parent] => 5217 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=5271 [menu_order] => 140 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [182] => WP_Post Object ( [ID] => 4913 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-11-11 17:41:01 [post_date_gmt] => 2021-11-11 16:41:01 [post_content] => [post_title] => Ausgabe 57 | November 2021 [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => ausgabe-57-november-2021 [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-11-13 18:49:03 [post_modified_gmt] => 2021-11-13 17:49:03 [post_content_filtered] => [post_parent] => 0 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4913 [menu_order] => 8810 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [183] => WP_Post Object ( [ID] => 4920 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-11-11 17:41:22 [post_date_gmt] => 2021-11-11 16:41:22 [post_content] => [post_title] => Inhaltsverzeichnis [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => inhaltsverzeichnis [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-11-11 17:41:22 [post_modified_gmt] => 2021-11-11 16:41:22 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4913 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4920 [menu_order] => 10 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [184] => WP_Post Object ( [ID] => 4922 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-11-11 17:41:38 [post_date_gmt] => 2021-11-11 16:41:38 [post_content] =>Dafür ist Impfen eines der besten Beispiele. Eigentlich schien das Thema mit dem 2019 verabschiedeten Masernschutzgesetz politisch weitgehend abgehakt, rangierte unter ferner liefen. In der Pandemie nun kommt Impfstoffen eine überragende Bedeutung zu; fasziniert verfolgt die Öffentlichkeit, wie die Vakzine in einem Tempo ent-wickelt und zugelassen werden, das noch vor nicht allzu langer Zeit an Science-Fiction erinnert hätte.
Deutschland will im Falle neuer
Pandemien gerüstet sein und möglichst schnell Impfstoffe produzieren können. Deshalb sollen mit fünf Pharmaherstellern Bereitschaftsverträge geschlossen werden. Und am Paul-Ehrlich-Institut hat das Zentrum für Pandemieimpfstoffe und Therapeutika (Zepai) im Oktober seine Arbeit aufgenommen. Spannend zu beobachten wird sein, wie sich das neu erwachte Interesse auf andere Impfungen jenseits von COVID-19 auswirken wird. Hier besteht zum Teil erheblicher Handlungsbedarf. Zur Erinnerung: Die HPV-Impfquoten für Mädchen liegen in Baden-Württemberg beispielsweise derzeit deutlich unter 40 Prozent.
Bei der Dauerbaustelle Krankenhaus braucht es einen langen Atem, wie die Reformbemühungen um die Notfallversorgung zeigen, die in den letzten Jahren kaum von der Stelle kamen. Die komplizierte Gemengelage erfordert viel politisches Geschick.
Blickt man auf Initiativen wie das DIVI-Intensivregister, so hat Corona im Klinikbereich mehr Transparenz gebracht – aus heutiger Sicht ist es nahezu unverständlich, warum es dafür eine Pandemie brauchte. Wenig ergiebig scheint hingegen weiterhin die Debatte um die richtige Anzahl von Krankenhäusern hierzulande zu sein. Dass es zu viele Häuser gibt, war vor der Pandemie weitgehender Konsens, jetzt sieht es anders aus. SPD-Gesundheitspolitiker Prof. Karl Lauterbach ist beispielsweise öffentlich zurückgerudert und findet nicht mehr, dass es in Deutschland zu viele Kliniken gibt. Fest steht, dass an einer stärkeren Spezialisierung und klaren Aufgabenteilung kein Weg vorbeiführt. Umso spannender ist es, die neue Krankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen zu beobachten. In dem Bundesland hat Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) den Mut gehabt, sich von der starren Planungsgröße Bett zu verabschieden.
Stichwort Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD), bei dem in den vergangenen Jahren stets nur eine Planungsvorgabe existiert zu haben schien: sparen. Es brauchte den Schock einer Pandemie, um der Sorge für die Öffentliche Gesundheit wieder Priorität einzuräumen. Denn dass der ÖGD nahezu kaputtgespart wurde, war in Fachkreisennun wirklich kein Geheimnis, sondern eine Tatsache, die schulterzuckend zur Kenntnis genommen beziehungsweise akzeptiert wurde.
Jetzt die Kehrtwende mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Ob die darin enthaltenen Versprechungen wirklich umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten. Das Gleiche gilt für die Frage, ob die Aufbruchsstimmung auch dafür genutzt wird, neue Kooperationen mit dem ambulanten und stationären Sektor, am besten auf digitalem Wege, auszuloten. Denn bisher agieren diese Systeme nebeneinander und nicht miteinander, was man sich angesichts der knappen Ressource Personal schon längst nicht mehr leisten kann. Wie das Interview mit der ÖGD-Vertreterin Dr. Ute Teichert und dem niedergelassenen Facharzt Dr. Dirk Heinrich zeigt, besteht bei den Beteiligten durchaus Bereitschaft, an einem Strang zu ziehen.
ÖGD, Krankenhaus und Impfen – diese drei Themen standen im Mittelpunkt der ersten Experten-Talks, die Gerechte Gesundheit im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Aufbruch in eine neue Dynamik“ initiiert hat. Die Überschrift soll für Chancen stehen. Chancen darauf, Dinge besser, schneller, anders und neu zu machen. Über die zweite Halbzeit der Veranstaltungsreihe mit den Themen Lieferketten, Diagnostik und Digitalisierung werden wir in der nächsten Ausgabe berichten. Selbiges gilt für das Abschluss-Symposium, bei dem die neuen Gesundheitspolitiker zu den wichtigsten Botschaften der vorangegangenen Experten-Talks Stellung nehmen.
Die Politik ist in der Pandemie damit konfrontiert, dass Priorisierungs- und Verteilungsfragen bisher ungeahnte Dringlichkeit und Öffentlichkeit erfahren haben. Wer wird zuerst geimpft, wie sollen im Zweifelsfall intensivmedizinische Ressourcen priorisiert werden? Diese Herausforderungen haben nicht nur Beschäftigte des Gesundheitswesens und Politiker, sondern auch die breite Öffentlichkeit umgetrieben. Die Politik scheut es oft, sich mit diesen unangenehmen Themen zu beschäftigen. Gerne werden sie ausgelagert. Wohl auch deshalb waren in dieser Pandemie Medizinethiker so gefragt wie noch nie zuvor. Das entbindet die gewählten Volksvertreter allerdings nicht von der Verpflichtung, selbst Farbe zu bekennen.
Die Impfstoffe gegen COVID-19 stehen „in einer historischen Kontinuität des Impfens“, sagt Prof. Eberhard Hildt vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Es habe sich bereits vorher gezeigt, dass Impfen ein „sehr nachhaltiger Ansatz“ ist. Hildt nennt drei Faktoren, die maßgeblich dazu beigetragen haben, die Entwicklung der neuen Impfstoffe zu beschleunigen: die frühzeitige regulatorische Beratung der Firmen mit dem PEI, die Akzeptanz des Rolling-Review-Prozesses für klinische Studien und die internationale Harmonisierung von Studien.
[caption id="attachment_4988" align="aligncenter" width="1200"]Die Entscheidungen für die laufende Impfkampagne basierten hauptsächlich auf Real World Data aus Israel, die laut Hildt „sehr, sehr hilfreich“ sind. Aber auch in Deutschland gebe es klinische Studien, aus denen Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Er betont: „Wir gehen nicht blind in die Zukunft, wir treffen evidenzbasierte Entscheidungen.“
Die Zahlen seien zu Beginn der Impfkampagne sehr gut erfasst gewesen, wirft Prof. Rüdiger von Kries von der Ständigen Impfkommission (STIKO) ein. Doch als die Impfungen in die Praxen verlagert wurden, sei die Datenerhebung schlechter geworden, da vonseiten der niedergelassenen Ärzte Druck ausgeübt worden sei, weniger protokollieren zu müssen. „Da gibt es sicherlich Handlungsbedarf und man würde sich wünschen, dass die Politik da auch langfristige Strukturen etabliert.“ Der Bundesminister solle sich nicht von Ärztelobbys „kleinquatschen lassen“, fordert von Kries.
Auch sein Kollege vom PEI sieht bei der Datengenerierung noch Luft nach oben. Er wünscht sich mehr belastbare Daten für Bewertungen, um frühzeitig Signale erkennen zu können. Um eine Lösung zu finden, müssten alle Player an einem Tisch zusammenkommen.
Durch die Pandemie hat sich die Arbeit der Kommission verändert, berichtet von Kries. „Üblicherweise trifft sich die STIKO zwei- bis dreimal im Jahr, jetzt haben wir Konferenzen im Wochenrhythmus gehabt.“ Das sei viel mehr Arbeit, nicht nur für die Mitglieder, sondern insbesondere für die Geschäftsstelle. Diese sei hochprofessionell, arbeite allerdings am Anschlag. Derzeit werde sie durch Drittmittel finanziert, hier wünscht sich von Kries eine Verstetigung der Finanzierung, um die Geschäftsstelle zu stärken.
Die Politik hat in letzter Zeit viel Druck auf die STIKO ausgeübt, schneller ihre Empfehlungen auszusprechen. „Es scheint diesen Herren das Vertrauen in legitimierte Strukturen egal zu sein“, bemängelt von Kries.
Er plädiert für eine „evidenzbasierte Gesundheits-politik“. Die Unabhängigkeit der STIKO müsse gewährleistet werden, dazu sei die jetzige Struktur optimal. Die Sitzungen seien deshalb so fruchtbar, weil Experten aus verschieden Bereichen zusammensitzen und Evidenz bewerten. Es könne nicht das Ziel sein, „die STIKO in ein Bundesministerium zu verwandeln, das waltungsbefugt für Minister arbeitet und letztendlich eine Propagandaabteilung für die Ministerien darstellt“. Die Ansiedlung am RKI mache jedoch Sinn, um sich mit anderen Gesundheitsakteuren zu vernetzen.
Aus psychologischer Sicht beeinflussen vier Faktoren die Impfbereitschaft eines Menschen: Vertrauen in Sicherheit und Effektivität der Impfung, Einschätzung von COVID-19 als ernsthafte Erkrankung, Abwägen von Vor- und Nachteilen der Impfung, Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft. Aber „Impfbereitschaft führt nicht immer zur Impfung“, berichtet Philipp Sprengholz von der Universität Erfurt bei dem Experten-Talk. Grund dafür seien Barrieren wie Arbeitszeiten, kein fester Hausarzt oder Sprachschwierigkeiten. Der Psychologe plädiert darum dafür, zunächst Barrieren abzubauen und aufzuklären und erst danach mit positiven oder negativen Anreizen zu werben.
Dass die Niedergelassenen nicht von Anfang an in die Impfkampagne eingebunden waren, bemängelt Hausärztin Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth: „Wir haben am Anfang nur zugeschaut.“ Problematisch seien die überbordende Bürokratie und schlechte Kommunikation gewesen. Auch die „fehlende Digitalisierung und Praxisferne der Entscheider“ hätten den Roll-out behindert. Die Medizinerin ist optimistisch, dass der Rückgang der Routine-Impfungen während der Pandemie wieder aufgeholt werden kann. „Ich erlebe umgekehrt eine zunehmende Sensibilisierung der Menschen für das Thema Impfen.“ Große Hoffnungen setzt sie auf den digitalen Impfpass, der Praxen und Patienten entlasten könnte.
[caption id="attachment_5103" align="aligncenter" width="1200"]Eine Corona-Impfpflicht lehnen die Experten ab. „Das werden wir in der STIKO sicher nie fordern“, betont von Kries. Autonomie sei ein hohes Gut. Hildt könnte sich höchstens vorstellen, in einzelnen Bereichen wie Pflegeheimen oder im Gesundheitswesen eine verpflichtende Impfung von den Angestellten zu verlangen. Sprengholz vermutet, dass sich die Menschen in diesem Fall ihre Freiheit an anderer Stelle zurückholen würden und beispielsweise die Influenza-Impfung ausfallen lassen würden.
Weiterführender Link:
Die ca. zweistündige Veranstaltung ist in der Mediathek der virtuellen Veranstaltungsplattform hinterlegt und kann dort, wie alle andere Veranstaltungen der Reihe, nach Registrierung bzw. Anmeldung angesehen werden: https://gerechte-gesundheit-virtuell.de/programm/vk/1-archiv/
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„Wir sind der Ansicht, dass wir eine Überversorgung im stationären Bereich bei zugleich nicht ausreichenden Mitteln haben“, konstatiert Dr. Matthias Bracht, Vorstandsvorsitzender der Allianz kommunaler Großkrankenhäuser (AKG). Er stellt bei der Veranstaltung das von der AKG entwickelte Stufenmodell vor. Damit will der Verband dem „ruinösen Wettbewerb“ der Kliniken um knappe Ressourcen ein Ende setzen. Das Modell sieht eine Aufgliederung der Krankenhauslandschaft in drei Bereiche vor: die Basisversorgung, die erweiterte Versorgung und die umfassende Versorgung. So soll sichergestellt werden, dass nicht mehr alle Häuser alles machen. Bracht fordert: „Wir müssen den Krankenhäusern unterschiedliche Versorgungsrollen zuweisen.“
Zugleich müsse der Eindruck verhindert werden, dass das Stufenmodell zwischen wichtigen und unwichtigen Kliniken unterscheide. „Alle Stufen sind gleich wichtig“, sagt Bracht, denn: „Große Maximalversorger allein werden die flächendeckende Versorgung nicht hinbekommen.“ Nichtsdestotrotz dürfte die Umsetzung des Modells auch Schließungen beinhalten. Angesichts der zu beobachtenden Fallzahlrückgänge würden in Zukunft jedoch ohnehin Standorte wegfallen, betont Bracht. Was im Moment passiere – dass Krankenhäuser innerhalb eines ungesteuerten Prozesses aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten aufgeben müssten –, sei in jedem Fall die schlechtere Variante.
Unterstützung für ihre Pläne erfährt die AKG vonseiten der Kassen. So plädiert etwa Dr. Jürgen Malzahn, Leiter der Abteilung stationäre Versorgung beim AOK-Bundesverband, ebenfalls für „eine klare Zuweisung differenzierter Versorgungsaufträge“. Dies sei notwendig, um den Spezialisierungsgrad und mit ihm die Qualität in der Versorgung anzuheben.
Inmitten eines umfassenden Umstrukturierungsprozesses befindet sich derzeit die nordrhein-westfälische Landesregierung. „NRW hat sich dazu entschlossen, nicht weiter abzuwarten und seine Gestaltungsmöglichkeiten wahrzunehmen“, sagt Ulrich Langenberg, Gruppenleiter Krankenhaus im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Konkret bedeutet das: Das Land will die Krankenhausplanung grundsätzlich neu denken. Anstelle der Bettenzahl soll in Zukunft die Fallzahl zur entscheidenden Planungsgröße werden. Dafür werden übergeordnete medizinische Leistungsbereiche definiert und unterteilt in spezielle Leistungsgruppen, für die wiederum bestimmte Qualitätsvorgaben als Zugangsvoraussetzung für die Krankenhäuser festgelegt werden, erläutert Langenberg. „Diese Leistungsgruppen ermöglichen es uns, ganz differenziert Versorgungsaufträge zu vergeben.“
Angesprochen auf eine mögliche Integration des AKG-Stufenmodells tritt Langenberg vorsorglich auf die Bremse: Alles gehe nur schrittweise. „Wir können nicht wie auf einem Spielbrett alle Krankenhäuser zur Seite räumen und dann mit drei Farben neu aufbauen.“ Eine Entwicklung in Richtung einer gestuften Versorgung hält der vormalige Geschäftsführende Arzt der Ärztekammer Nordrhein dennoch für denkbar. Dafür müsse jedoch auch das Fallpauschalen-System angegangen werden. „Wir wünschen uns alle, dass die Vergütungsstrukturen so weiterentwickelt werden, dass man von einer soliden Grundversorgung auch sehr gut leben kann.“ Bis es so weit sei, müssten jedoch auch ländliche Krankenhäuser ein breiteres Portfolio anbieten können. Wie Gesundheitszentren sich in die regionale Versorgungsstruktur einpassen lassen, erläutert Hans-Dieter Nolting vom IGES-Institut auf der Veranstaltung. Krankenhaus könne nicht isoliert von der ambulanten Primärversorgung gedacht werden. Er spricht sich dafür aus, Gesundheitszentren als eigenständige kooperative und multiprofessionelle Versorgungsform im Sozialgesetzbuch V zu verankern. In einem Stufenmodell könnten kleine Grundversorger in Gesundheitszentren aufgehen.
Eine stärkere Regionalisierung der Versorgungsstruk-turen befürwortet Krankenhauskenner Prof. Boris Augurzky, Leiter des Kompetenzbereichs Gesundheit am RWI Essen. Er meint: „Wir haben nicht die Mittel, weiter Ineffizienzen durchzufinanzieren.“ Die durch die Corona-Pandemie hervorgerufene Dynamik und Entscheidungsfreude müsse man sich daher zunutze machen. Insbesondere auf die kleineren Häuser könnten größere Veränderungen zukommen.
Augurzky plädiert dafür, sie in Kooperation mit den niedergelassenen Ärzten der Region zu integrierten Versorgungszentren weiterzuentwickeln. Das Angebot dieser Zentren sollte vermehrt auch ambulante Leistungen umfassen, während größere Regionalversorger als Koordinatoren dienen und im Austausch mit Spezial- und überregionalen Maximalversorgern stehen. Die digitale Vernetzung zwischen allen Versorgungsebenen müsse zudem verbessert werden, um auch telemedizinische Angebote in die Fläche zu bringen.
Ähnlich wie Langenberg unterstreicht Augurzky den Handlungsbedarf bei der Vergütung. Er schlägt vor, die bestehenden Fallpauschalen um Vorhaltepauschalen zu ergänzen. Auf diese Art könnte sichergestellt werden, dass wichtige Grundversorgung wie zum Beispiel die Geburtshilfe auch dort wirtschaftlich erbracht werden kann, wo sie sich nach derzeitiger DRG-Systematik allein nicht rechnet.
Gesundheitsämter stehen in Zeiten von Corona im Zentrum des Geschehens. Doch sie leisten viel mehr als nur Infektionsschutz und müssen auch für kommende Herausforderungen gewappnet sein. Denn die nächsten Krisen sind schon da. Der Gesundheitswissenschaftler und Mediziner Prof. Helmut Brand nennt auf der Online-Veranstaltung „Öffentlicher Gesundheitsdienst – Aufbruch wohin?“ die Antimicrobial resistance (AMR) und den Klimawandel, die den Public-Health-Sektor „noch stärker als die Epidemie“ fordern werden. Hinzu kommen „Dauerbrenner“ wie soziale und gesundheitliche Ungleichheit sowie der demografische Wandel.
Angesichts dieser Herausforderungen meint er: „Deutschland braucht ein Virchow-Institut“ – eine Einrichtung, die Public Health und ÖGD strukturiert und einen Brückenschlag zwischen Bund und Ländern, Forschung und Praxis, den Landesinstituten und Landesgesundheitsämtern leistet. Angesiedelt werden könnte es am Robert Koch-Institut oder an einem möglichen Bundesgesundheitsamt.
Brand stellt zudem fest, dass das Thema im Bundestagswahlkampf durchaus eine Rolle spielte. „Alle wollen den ÖGD stärken“, hält er fest. Den Startschuss dafür lieferte allerdings die noch amtierende Bundesregierung mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Diesen bezeichnet Dr. Ute Teichert als „historische Chance“ und als „Novum“. Für die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes ist es aber nur ein erster Aufschlag, notwendig sei eine Verstetigung. „Wir brauchen einen ÖGD-Pakt 2.0“, wünscht sich die Medizinerin. Zwar seien durch die jetzigen Maßnahmen 5.000 Stellen zugesagt, notwendig seien aber mindestens 10.000, nennt sie ein Beispiel. Doch es geht nicht nur um Personal. So wie Brand wünscht sie sich eine neue Struktur auf Bundes- und Landesebene zum Beispiel durch ein Zentrum Öffentliche Gesundheit sowie eine flächendeckende Einrichtung von Landesgesundheitsämtern. Mit diesen und anderen Fragen beschäftige sich bereits der Expertenbeirat, der im Zuge des ÖGD-Pakts ins Leben gerufen worden ist. Teichert wünscht sich zudem, dass man über ambulant und stationär hinausdenkt, die ÖGD-Säule immer stärker wird.
Aber wird der ÖGD so attraktiv, dass er mit Krankenhaus und Praxis konkurrieren kann? „Im Medizinbereich haben wir den großen Wettbewerb der Kräfte“, meint Brand. „Da ist die Frage, ob der ÖGD da mithalten kann.“ Dr. Frank Renken, Leiter des Gesundheitsamtes in Dortmund, sieht allerdings keine Konkurrenzsituation – zumindest nicht zwischen ÖGD und Niedergelassenen. „Wenn ich in meinem Gesundheitsamt Ärztinnen oder Ärzte suche, suche ich niemanden, der sich gleichzeitig in einer Praxis bewirbt“, betont er. „Ich suche Ärztinnen und Ärzte, die über den Tellerrand der Individualmedizin hinausschauen.“ Und das Gesundheitsamt benötige nicht nur Ärzte, auch Public-Health-Experten, Soziologen oder Biologen sind gefragt, betont er. „Wir haben mehrere multiprofessionelle Teams.“ Die Aufgabenbreite der Gesundheitsämter gehe weit über das rein Medizinische hinaus. Den ÖGD-Pakt begrüßt er ebenfalls, wünscht sich aber wie seine Vorredner eine weitergehende Förderung und Strukturierung, gerade für die künftige Arbeit. Die sieht er in der Prävention und in der Vernetzung mit Trägern und Organisationen in den Kommunen. „Untrennbar damit verbunden ist die Gesundheitsberichterstattung.“ Monitoring und Bedarfserhebungen seien unerlässlich. Auch auf der akademischen Seite müsse sich noch viel tun. „Wir haben keine einzige Fakultät in Deutschland, die uns vertritt.“
Für Prof. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands, ist die Prävention eine Schlüsselaufgabe des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Er könne ein wichtiger Pfeiler im Kampf gegen die „sozialbedingten Ungleichheiten“ werden. Die Verminderung dieser dürfe nicht alleinige Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bleiben, wünscht sich der Gesundheitswissenschaftler. Der dazu passende Paragraf 20 im Sozialgesetzbuch V bedürfe einer Novellierung. „Die Vermehrung von präventiven Aktivitäten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und die GKV ist nicht die Gesamtgesellschaft.“ Er und andere Gesundheitswissenschaftler wünschen sich, dass die Nationale Präventionskonferenz keine reine „Kassenveranstaltung“ bleibe, sondern sich auch den Kommunen öffne. „Wir fordern eine viel stärkere koordinierende Rolle des Gesundheitsamtes“, sagt er. Man müsse an gemeinsame Ursachen – Mangel an Teilhabe und Mangel an individuellen Gesundheitsressourcen – von Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder COPD herangehen. „Sie sind Bestandteil und Treiber der sozialbedingten Ungleichheiten“.
[caption id="attachment_5004" align="aligncenter" width="800"]
Die Politik hat in der Pandemie erkannt, dass der ÖGD gestärkt werden muss und einen Pakt für ihn geschlossen, der unter anderem 5.000 zusätzliche Stellen vorsieht. Warum entscheiden sich Mediziner für eine Arbeit auf dem Amt?
Teichert: Man entscheidet sich nicht für eine Arbeit auf dem Amt, sondern für die Arbeit am Menschen. Der ÖGD hat ein breites Spektrum an verschiedenen Aufgaben. Für Ärztinnen ist es ganz besonders interessant, weil man die Facharztbezeichnung Öffentliches Gesundheitswesen erwerben kann. Das Schöne am ÖGD ist: Sie sind in der Prävention tätig, Sie haben mit allen Altersgruppen zu tun, direkt nach der Geburt bis zum Tod – und alles dazwischen. Sie arbeiten an allen breiten Themenfeldern aus der Medizin. Außerdem sind Sie immer auf dem Laufenden, bekommen die neuesten Entwicklungen mit, um entscheiden zu können, ob es sinnvoll ist, diese anzuwenden oder nicht. Es gibt nichts Spannenderes in der Medizin.
Hat Sie das überzeugt, Herr Dr. Heinrich, gehen Sie jetzt auch zum ÖGD?
Heinrich: Nein, aber Frau Teichert hat schon recht: Der Öffentliche Gesundheitsdienst und auch die Tätigkeit für ihn werden allgemein unterschätzt. Die breite Öffentlichkeit hat schon gar keine Kenntnisse darüber, aber auch in Ärztinnen- und Ärztekreisen ist wenig Wissen vorhanden. Sie haben es ja eben mit Ihrer Frage provokant formuliert: Wollen Sie aufs Amt – das ist das Image, das damit einhergeht. Aber wir haben alle in der Pandemie gesehen, dass der ÖGD viel mehr machen müsste. Das ist kein Vorwurf an die Kolleginnen und Kollegen, die dort arbeiten, sondern er ist eben über viele Jahre kleingespart worden. Auch aus einer politischen Unterschätzung heraus. Und deswegen konnte der ÖGD nicht die Aufgaben in der Breite erfüllen, die die Pandemie erfordert.
Frau Dr. Teichert, können wir es uns leisten, einen aufgestockten öffentlichen Gesundheitsdienst für die nächste Pandemie vorzuhalten oder welche Aufgaben soll der ÖGD übernehmen, bis es wieder brennt?
Teichert: Öffentliche Gesundheit ist deutlich mehr als Pandemiebekämpfung. Wir sind an ganz vielen Stellen zuständig. Die Tatsache, dass Sie das Wasser, das aus dem Wasserhahn kommt, trinken können, verdanken Sie der Kontrolle der Gesundheitsämter, die für die Trinkwasserüberwachung zuständig sind. Sie sind auch an Schulen, Kitas und anderen Gemeinschaftseinrichtungen unterwegs. Sie sind in Umweltfragen aktiv und schreiben Gutachten. Die Gesundheitsämter leisten aufsuchende Hilfe für Personengruppen, die nicht vom normalen System erfasst werden. Ich könnte Ihnen noch ganz viele andere Beispiele nennen. All das ist in der Pandemie liegen geblieben, weil es in den Gesundheitsämtern nicht genügend Personal gibt, um diese Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen. Das heißt, selbst wenn wir jetzt unter dem Eindruck von Corona aufstocken und mehr Personal bekommen, werden diese zusätzlichen Kräfte auch später in einer Zeit ohne Pandemie mehr als genügend zu tun haben. Die meisten Aufgaben bei den Ämtern, die dort zum Wohle der Bevölkerung erfüllt werden sollten, bleiben derzeit einfach liegen.
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Mit dem ÖGD ist ein sehr heterogenes Bild verbunden. Gemeint sind in erster Linie die örtlichen Gesundheitsämter, die Sache der Länder und der Kommunen sind. Lässt sich sagen, wo der ÖGD am besten funktioniert und ausgestattet ist?
Teichert: Eigentlich ist er grundsätzlich nicht gut ausgestattet, das ist auf allen Ebenen der Fall. Sie haben Recht, die Strukturen werden in den verschiedenen Landesgesetzen festgelegt und deswegen unterscheiden sich diese von Bundesland zu Bundesland. Auch die Aufgabenbereiche sind etwas unterschiedlich zugeschnitten. In den Ländern gibt es nicht genügend Stellen, wir haben außerdem nicht genügend Labormöglichkeiten. Im Bund gibt es keine Entsprechung für öffentliche Gesundheit. Wir haben vorwiegend auf kommunaler Ebene die Gesundheitsämter und auch die sind personell nicht ausreichend ausgestattet.
Sie sprachen von den Laborplätzen. Stellen diese eine Nahtstelle zur ambulanten Medizin dar
Teichert: Es wäre gut, wenn die Gesundheitsämter flächendeckend Labore hätten, mit denen sie zusammenarbeiten und auf die sie zurückgreifen könnten. Nicht nur für Erregernachweise, sondern auch für Umweltanalysen, Trinkwasser etc. Wir haben natürlich Referenzlabore und nationale Referenzzentren, da gibt es ein ganzes Netzwerk. Insgesamt handelt es sich um eine wichtige Schnittstelle, die noch genauer betrachtet werden sollte. Die Notwendigkeit dafür können Sie auch daran erkennen, dass die digitale Labormeldung für SARS-CoV-2 erst zum 1. Januar dieses Jahres in Betrieb genommen wurde. Dabei handelt es sich um die bisher einzige Schnittstelle, die digital funktioniert.
Herr Dr. Heinrich, welche Berührungspunkte gibt es zwischen Vertragsärzten und dem öffentlichen Gesundheitsdienst?
Heinrich: Angefangen von meldepflichtigen Krankheiten bis hin zu Hygienebegehungen in Arztpraxen und OP-Zentren gibt es immer wieder Berührungspunkte und jetzt in der Pandemie natürlich noch viel mehr. Ich möchte aber kurz darauf eingehen, was Frau Dr. Teichert angesprochen hat: dass Stellen nicht besetzt sind und dass es zu wenig Personal gibt. Rund 5.000 Stellen schaffen zu wollen, ist zwar richtig, aber am Ende des Tages müssen wir realistisch betrachten, ob wir diese Menschen überhaupt bekommen werden. Wir konkurrieren mittlerweile alle – und damit meine ich den niedergelassenen Bereich, Krankenhäuser sowie Öffentlichen Gesundheitsdienst – um die gleichen Kollegen, die mit dem Studium fertig werden. Das gilt auch für anderes medizinisches Personal, wenn ich beispielsweise an die medizinischen Fachangestellten und an das Pflegepersonal denke. Wir haben von allem nicht genug. Auch wenn man einen solchen Pakt schließt, was sicherlich richtig ist und sich gut anhört, so habe ich dennoch große Zweifel, ob die Ankündigungen mit Inhalt gefüllt werden können.
Was muss getan werden?
Heinrich: Bis heute haben sich weder die Bundesregierung noch die Landesregierungen dazu durchringen können, effektiv mehr Studienplätze für Medizin einzurichten. Selbst wenn diese eingerichtet werden, würde es noch Jahre dauern, bis diese Kolleginnen und Kollegen in der Praxis, im Krankenhaus oder im ÖGD ankommen. Wenn das nicht dringend passiert, sind das alles schöne Pläne, von denen ich nicht glaube, dass sie sich realisieren lassen.
Frau Dr. Teichert, was sagen Sie dazu? Sind die 5.000 neuen Stellen nur Makulatur?
Teichert: Ich glaube nicht, dass es nur Makulatur ist. Aber Herr Dr. Heinrich spricht wesentliche Punkte an. Das größte Hindernis, das es im Arztbereich gibt, ist die unterschiedliche Bezahlung: Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst verdienen deutlich weniger als zum Beispiel im Krankenhaus. Da kann man gar nicht mehr von Konkurrenz sprechen. Verdienst hat auch mit Wertschätzung zu tun. Bei sehr geringen Verdienstmöglichkeiten überlegen viele, ob sie eine Tätigkeit im ÖGD überhaupt in Erwägung ziehen sollen. Das ist ein ganz, ganz großer Hemmschuh. Deshalb muss bei den Tarifverhandlungen dringend etwas passieren.
Stichwort Studienplätze?
Teichert: Ich stimme hundertprozentig zu, dass wir bei den Studienplätzen anfangen müssen. Das ist natürlich nicht etwas, was die 5.000 Stellen betrifft, denn diese sind ja schon für die nächsten fünf Jahre vorgesehen. Studierende bekommen wir nicht in fünf Jahren so weit. Dabei handelt es sich um einen weiteren Hebel, den man unbedingt noch umlegen muss – wie viele andere auch. Es kommen verschiedene Faktoren zusammen. Aber ich begrüße es, dass erst einmal mit diesen 5.000 Stellen angefangen wird, was im Moment auch passiert. Es laufen bereits sehr aktive Bemühungen, Personal einzustellen.
Ist es angesichts immer knapper werdender Personalressourcen an der Zeit, über strukturelle Veränderungen und Kooperationsformen nachzudenken, bevor sich die verschiedenen Teilbereiche das Personal abwerben?
Teichert: Wir müssen die Gesundheitsversorgung insgesamt noch einmal angucken und von dem Kästchendenken wegkommen, nach dem Motto: Jeder ist in seinem Bereich. Wir müssen die Gesundheitsversorgung sektorenübergreifend und regional denken. Den Öffentlichen Gesundheitsdienst sehe ich in einer wichtigen Funktion im Versorgungsbereich, gerade in Gebieten, die strukturell nicht so gut mit ärztlichen Kollegen ausgestattet sind. Bei Impfberatungen, U-Untersuchungen etc. kann man im Sinne einer allgemeinmedizinischen Versorgung mit Sicherheit über Kooperationen nachdenken. Dafür müsste aber unser System verändert werden. Noch sind die Systeme völlig voneinander getrennt – öffentliche Gesundheit funktioniert ganz anders als die ambulante und stationäre Versorgung.
Herr Dr. Heinrich, ist damit für Sie eine rote Linie überschritten? Die von Frau Dr. Teichert genannten Leistungsbereiche stehen im EBM und werden von den Vertragsärzten abgedeckt.
Heinrich: Das wäre für mich keine rote Linie. Es ist völlig richtig, darüber nachzudenken, ob die Sektorengrenzen zwischen ambulant und stationär und auch in Richtung Öffentlicher Gesundheitsdienst richtig sind oder ob wir sie nicht abbauen müssen. Wir sind sehr dafür, diese Grenzen deutlich abzubauen. Dabei muss man sich Folgendes überlegen: Haben wir irgendwo Ressourcen, die man anders einsetzen kann? Haben wir Aufgaben, die wir möglicherweise nicht mehr in dem Maße wahrnehmen müssen, wie es momentan geschieht? In Deutschland wird noch vieles stationär behandelt, was ambulant gemacht werden könnte. Das würde, wenn man es ganz konsequent durchdenkt, Personal freisetzen, das dringend in allen anderen Bereichen gebraucht wird. Das Entscheidende ist, zu überlegen, wo die Ressourcen sind, die durch eine andere und bessere Aufgabenverteilung freigesetzt werden könnten. Ganz abgesehen natürlich von der Frage der Digitalisierung, die auch helfen kann.
Den Ärzten wird vorgeworfen...
Heinrich: ... digitalisierungsfeindlich zu sein – was der größte Unsinn ist. Ich habe in meiner Praxis drei Monate nach Niederlassung, im Oktober 1996, alles auf papierlos umgestellt. Das ist viele, viele Jahre her. Im Krankenhaus hat man noch weitere 20 Jahre in der Visite die großen Charts mit sich herumgetragen. Auch in dieser Hinsicht besteht die Möglichkeit, Ressourcen zu heben. Aber die Politik ist dazu nicht in der Lage. Man versucht zwar mit Druck, das bei den Niedergelassenen hinzubekommen. Aber Frau Dr. Teichert kann Ihnen sicherlich gleich beschreiben, was in den letzten zwei Jahren an Digitalschub im öffentlichen Gesundheitswesen passiert ist.
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Zu dem Thema kommen wir jetzt. Sie gehören aber sicher zur Avantgarde, was die Digitalisierung angeht, Herr Dr. Heinrich, und können nicht für alle Praxen sprechen. Frau Dr. Teichert, wie sieht es bei Ihnen in den letzten eineinhalb Jahren der Pandemie aus? Ist SORMAS das Gelbe vom Ei und hoffen Sie auf die Digitalisierung, um sich mit den Niedergelassenen kurzzuschließen?
Teichert: Das wäre eine tolle Vision. In Schleswig-Holstein habe ich ein Modell von der Kassenärztlichen Vereinigung für das Kontaktpersonen-Management gesehen, bei dem die niedergelassenen Kollegen, die Kollegen von den Krankenhäusern und die von den Gesundheitsämtern angeschlossen waren. Leider hat es sich nicht durchgesetzt und ist meines Wissens als Modellprojekt in Schleswig-Holstein geblieben. Die Gesundheitsämter haben insgesamt einen Digitalisierungsschub mitgemacht oder machen ihn derzeit noch mit. Ein wesentlicher Schritt war, dass seit Januar endlich die Labormeldungen auf dem digitalen Weg kommen. Aber es gibt noch viel zu tun.
Zum Beispiel?
Teichert: Die Gesundheitsämter sind untereinander noch nicht vernetzt, können keine Daten auf digitalem Weg austauschen, weil die Schnittstellen fehlen. SORMAS ist ein tolles Programm für das Kontaktpersonen-Management. Momentan nutzt es rund ein Drittel aller Gesundheitsämter in Deutschland aktiv. Aber bei den anderen Ämtern besteht in dieser Hinsicht noch eine Lücke. Jetzt sprechen wir aber nur vom Kontaktpersonen-Management, bei allen anderen Aufgabenbereichen ist an Digitalisierung noch überhaupt nicht gedacht.
Wann ist der ÖGD so ausgestattet, dass er wirklich digital „mitspielen“ kann?
Teichert: Das wird sicher noch dauern. Im Moment wird gerade erst erfasst, wie die Strukturen sind. Da es keine Vorgaben gibt, entscheidet jedes Amt selbst, wie es sich in der IT aufstellt und mit wem es wie kommuniziert.
Außerdem sind sie an die Struktur der Verwaltung angebunden, da können die Ämter manchmal gar nichts machen angesichts der Vorgaben, die vor Ort gelten. Solange es kein einheitliches System gibt, wird es schwierig werden, dass sie überhaupt miteinander ins Gespräch kommen.
Heinrich: Genauso lange werden wir weiter die Befunde an das Gesundheitsamt faxen – wie zur Steinzeit, jetzt allerdings mit Voice-over-IP und damit nicht mehr sicher. Das muss man sich einmal vorstellen: Im Jahr 2021 faxen wir mit dem Gesundheitsamt über nicht mehr sichere Leitungen.
Herr Dr. Heinrich, wie bekommt man das geheilt? Lassen Sie uns doch ein wenig mutiger denken. In der Pandemie haben wir gesehen, dass Dinge gehen, die vorher nie geklappt haben. Soll der ÖGD zum Beispiel zur gematik mit an den Tisch?
Dr. Heinrich: Das Problem ist ja noch viel tiefgreifender. Frau Dr. Teichert hat es sehr schön dargestellt: Sie haben 16 Bundesländer und über 300 Gesundheitsämter, die bei den Kreisen angedockt sind. Der Verwaltungschef sagt: „Wir haben aber das Programm und wir machen das so, wie wir es hier immer gemacht haben.“ Das ist wie ein gordischer Knoten, den Sie in diesem Fall nur von oben nach unten durchschlagen können und nicht von unten nach oben. Sie müssen eine Struktur einziehen, ausgehen muss das vom Bundesgesundheitsministerium, welches diese Aufgabe wahrnimmt. Dann muss der Prozess von oben nach unten durchdekliniert werden, und zwar ganz brutal. Die Verwaltung muss sich verbiegen mit ihren Systemen und nicht Frau Dr. Teichert mit ihren Kollegen.
Das war eine Ansage. Frau Dr. Teichert, was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?
Dr. Teichert: Gesundheitsdaten müssen geschützt werden, nicht nur von den Gesundheitsämtern, sondern im gesamten System. Das bedeutet natürlich, dass die Gesundheitsämter einen Anschluss an die Telematik-Infrastruktur bekommen. Auch zur elektronischen Patientenakte brauchen sie einen Zugang. Ein System, mit dem wir allgemein geschützte Gesundheitsdaten transportieren, muss vorgegeben werden. Auf alle Befindlichkeiten kann nicht Rücksicht genommen werden, weil es eine zu große Vielfalt gibt. Wir brauchen ein zentrales System, dem sich alle anschließen können.
Frau Dr. Teichert, Herr Dr. Heinrich, vielen Dank für das Gespräch, in dem wenig Streit steckte, stattdessen waren viele Gemeinsamkeiten zu entdecken.
Ab wann ist eine Rendite nicht mehr in Ordnung? Diese Frage zu beantworten, sei „nicht trivial“, warnt Moderator Prof. Andreas Beivers, Gesundheitsökonom an der Hochschule Fresenius, gleich zu Beginn des apoBank-Talks mit Politikern und Ärzten. Wenige Sätze später ist Beivers sogar schon beim Unmöglichen: Die Frage nach einer anständigen Rendite werde man „nie beantworten können“. Wenn Erträge allerdings erzielt werden, sollten sie analog zum Leitbild des ehrbaren Kaufmanns wenigstens dem kollektiven Nutzen zugutekommen.
Fast zwangsläufig geraten da die privaten Krankenhausträger ins Visier von Dr. Wolfgang Albers, Berliner Gesundheitspolitiker (Die Linke). Es sei eine „Dreistigkeit“, mit der sich die Anteilseigner der privaten Einrichtungen am Gesundheitssystem bedienten, sagt er. Dazu komme, dass die Renditen auf Kosten der Belegschaft erwirtschaftet werden. Denn die Fallpauschalen sehen für die Krankenhäuser keine Gewinnmargen vor. „Die Personalkosten sind die Stellschrauben, mit denen im DRG-System Geld verdient werden kann“, so Albers.
Laut Beivers trifft der Zwang zum Überschusserwirtschaften aber nicht nur die privaten, sondern auch die übrigen Krankenhausträger. Grund dafür seien die fehlenden Investitionszahlungen aus den Ländern. Was hier fehle, müssten die Kliniken selbst aus dem Betrieb herausholen. FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann hält deswegen die duale Krankenhausfinanzierung für dringend reformbedürftig. Sie funktioniere schon seit Jahrzehnten nicht. Er wie Albers fordern deshalb gleichermaßen, bei den Krankenhäusern über eine andere Form der Finanzierung nachzudenken.
„Warum müssen sich Krankenhäuser rechnen? Wir sollten als Gesellschaft doch eigentlich über leere Kliniken froh sein“, sagt Albers. Eine Frage, die sich Sven Supper, niedergelassener Kinderarzt am Bodensee, während seiner Zeit als Oberarzt auch gestellt hat. Als Praxisinhaber ist er einer Honorierung über pay for performance nicht abgeneigt. „Das wäre für mich ein Anreiz für qualitativ gute Arbeit.“ Vor allem für mehr Zeit und Empathie für Patienten müsste es mehr Honorar geben. Als Selbstständiger macht er zudem darauf aufmerksam, dass die wichtigen Lohnsteigerungen für die Medizinischen Fachangestellten im EBM berücksichtigt werden müssten. Dafür gebe es für niedergelassene Vertragsärzte keine Gegenfinanzierung.
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Er betont, dass der G-BA im September 2019 nicht leichtfertig den Beschluss gefasst habe, die NIPT-Trisomie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufzunehmen. Die Beweggründe stellt Hecken noch einmal dar: Zum einen gehörten seit 1975 die invasiven, mit Fehlgeburts-Risiko behafteten Verfahren wie Fruchtwasseruntersuchung und Plazenta-Biopsie zum GKV-Leistungskatalog. Zum anderen sei der nichtinvasive Bluttest, der keine Fehlgeburten auslöse, seit 2012 zugelassen. Er stehe „in der Versorgung zur Verfügung auf eigene Kosten“, so Hecken. „Frauen, die es sich leisten können, zahlen den Test selbst, während die, die nicht die finanziellen Mittel haben, sich und das Kind den Risiken aussetzen müssen bei den invasiven Methoden.“
Damit die NIPT-Trisomie Kassenleistung werden kann, hat der G-BA einer Versicherteninformation zu dem Thema zugestimmt, die von den Ärzten bei der Aufklärung und Beratung mit eingesetzt werden muss. Als ethisch nicht vertretbares Massenscreening sei die NIPT-Trisomie nicht gedacht, betont Hecken. Sie dürfe als Kassenleistung nur in begründeten Einzelfällen und nach ärztlicher Beratung durchgeführt werden. Allein eine statistisch erhöhte Wahrscheinlichkeit für Trisomie reiche nicht aus
Abgelehnt hat der G-BA im Übrigen einen Antrag der Patientenvertreter, Schwangeren zusätzlich zu den spezifischen NIPT-Trisomie-Aufklärungsbögen auch noch generelle Informationen zu anderen Möglichkeiten genetischer Pränataltests auszuhändigen. Diese seien zwar „supergut“, so Josef Hecken. Sie verunsicherten jedoch mehr, als dass sie nützten. Man werde aber für „größtmögliche Verbreitung sorgen“.
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Bei den Personen handelt es sich um Alfred Schittenhelm, Alfred Schwenkenbecher, Hans Dietlen, Siegfried Koller und Georg Schaltenbrand. „Sie haben bewusst Kollegen, anderen Mitgliedern, unserer Fachgesellschaft oder einfach anderen Menschen aufgrund ihrer Herkunft geschadet, begründet Lerch die Entscheidung. Von zwei weiteren Ehrenmitgliedern, Gustav von Bergmann und Felix Lommel, distanziert sich der DGIM-Vorstand. In diesen Fällen bestehe noch weiterer Forschungsbedarf, heißt es auf der Pressekonferenz.
Vor den Medienvertretern weist DGIM-Generalsekretär Prof. Georg Ertl darauf hin, dass die flächendeckende Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit bei den Fachgesellschaften erst in den 2000er-Jahren begonnen habe. Die Psychiater und Kinderärzte seien früher dabei gewesen – vielleicht weil die Verbrechen offenkundiger gewesen seien. Ertl spricht von einem kollektiven Vergessen und Verdrängen von Verantwortung. Ein Beispiel von der DGIM: Noch 1982 erschien ein Band über 100 Jahre Eröffnungsreden der DGIM-Vorsitzenden und Kongresspräsidenten. „Alle Verweise auf das NS-Regime, auf die neue deutsche Heilkunde, die Himmler propagiert hatte, sowie alle Grußadressen an Adolf Hitler wurden einfach herausredigiert“, berichtet Lerch.
Mittlerweile wird die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit vorangetrieben – zu einem Zeitpunkt, an dem die Betroffenen nicht mehr am Leben sind.
Weiterführender Link:
Um mit ihrem Arzt in einen Dialog auf Augenhöhe treten zu können, brauchen Patienten vor allem eines: ausreichende und richtige Information. „Gesundheitskompetenz ist die Grundlage von Empowerment“, unterstreicht Prof. Doris Schaeffer vom Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung der Universität Bielefeld. Im Ergebnisbericht ihres zweiten deutschen Health Literacy Survey (HLS-GER 2) kommt Schaeffer allerdings zu einem ernüchternden Befund: „Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland hat sich in den letzten sieben Jahren (seit der HLS-GER 1, Anm. d. Red.) verschlechtert.“ 58,8 Prozent weisen demnach nur eine geringe Kompetenz auf. Probleme bereitet den Menschen vor allem die Beurteilung gefundener Informationen.
Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, sieht die etablierten Online-Anbieter in der Pflicht und appelliert: „Wir müssen über Nutzen und Schaden in Zahlen informieren.“ Als Negativ-Beispiel führt er das Mammographie-Screening an, dessen Nutzen von Patientinnen gerade in Deutschland stark überschätzt werde. Während Dr. Klaus Koch, Chefredakteur von gesundheitsinformation.de, dem Informationsportal des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, bei der Wissensvermittlung vor allem auf Evidenzbasierung setzt, bringt NetDoktor-Chefredakteur Jens Richter noch einen weiteren Aspekt ins Spiel. Er sagt: „Die Qualität ist dann groß, wenn möglichst viele Suchanfragen beantwortet werden.“ Genau dort hake es etwa bei der Etablierung des Portals gesund.bund durch das Bundesgesundheitsministerium.
Gesundheitskompetenzforscherin Schaeffer mahnt unterdessen an, auch diejenigen nicht aus den Augen zu verlieren, die bei Gesundheitsfragen nicht als Erstes Google konsultieren, sondern vor allem auf die Kompetenz ihrer Ärzte vertrauen. Letztere seien oft nicht befähigt, ihr Wissen auch Patienten zu vermitteln. „Die didaktische Qualität spielt in der ärztlichen Ausbildung eine zu geringe Rolle“, bemängelt Schaeffer.
[post_title] => Gesundheitskompetenz stärken, aber wie? [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => gesundheitskompetenz-staerken-aber-wie [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-11-15 11:13:13 [post_modified_gmt] => 2021-11-15 10:13:13 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4913 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4954 [menu_order] => 100 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [193] => WP_Post Object ( [ID] => 4957 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-11-11 17:43:12 [post_date_gmt] => 2021-11-11 16:43:12 [post_content] =>„Kinder haben das Pandemiegeschehen zu keiner Zeit so beeinflusst wie die Erwachsenen“, sagt Prof. Tobias Tenenbaum, erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie. Die Kategorien Geimpft/Genesen/Getestet seien unpassend für die Altersgruppe. Zwar nähmen immer mehr Jugendliche die Impfung wahr, ein Herdenschutz könne jedoch nicht erreicht werden. Testungen von Kindern wurden in der Vergangenheit nur sporadisch durchgeführt, viele erkranken ohne Symptome. Sie können somit keinen Genesenenstatus nachweisen. Sensitivität und Spezifität von Antigentests sind bei Kindern deutlich schlechter als bei Erwachsenen.
Brigitte Strahwald von der Universität München kritisiert: „Es braucht für alles in dieser Pandemie mehr Daten, gerade aus dem Public-Health-Bereich.“ Rückblickend hätte man die Maßnahmen in Schulen besser dokumentieren sollen, um zu sehen, welchen Effekt sie haben. Es gebe mehrere Versuche, Cluster-randomisierte Studien an Schulen durchzuführen. Dies sei aber unter anderem aus Mangel an Akzeptanz der Beteiligten gescheitert.
Dario Schramm, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, weist darauf hin, dass die Probleme, die während des letzten Lockdowns entstanden seien, bestehen blieben. Die mangelnde Bewegung habe körperliche Auswirkungen, betreffe aber auch die Stressverarbeitung. „Viele Jugendliche suchen Hilfs- und Therapieangebote, was extrem schwierig geworden ist.“
Dass die sekundären Krankheitsfolgen den Jugendlichen mehr zusetzen als die Erkrankung selbst, bestätigt auch eine aktuelle Auswertung von Versichertendaten der DAK Gesundheit. Demnach wurden 2020 in den Krankenhäusern 60 Prozent mehr Kinder aufgrund einer Adipositas behandelt als im Vorjahr. Die Zahl junger Patienten mit starkem Untergewicht stieg um mehr als ein Drittel. Essstörungen wie Magersucht und Bulimie nahmen um fast zehn Prozent zu. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Deshalb müssen wir die speziellen gesundheitlichen Auswirkungen sehr ernst nehmen und darauf reagieren“, sagt DAK-Chef Andreas Storm. Er fordert nach der Bundestagswahl kurzfristig einen Aktionsplan Kindergesundheit, der auf die Situation in Familien, Kitas, Schulen und Vereinen eingehen müsse.
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Für die Studie gaben knapp 500 Menschen mit HIV in Interviews Auskunft. Fast 1.000 HIV-positive Menschen haben zudem einen Online-Fragebogen ausgefüllt. In Fokusgruppen wurden die Ergebnisse vertieft. Einige Resultate: Die meisten Menschen in Deutschland leben gut mit ihrer HIV-Infektion – in der Stichprobe der Online-Befragung bejahen 90 Prozent diese Aussage. Dank der guten Therapiemöglichkeiten fühlen sich drei Viertel der Befragten gesundheitlich nicht oder nur wenig eingeschränkt. 95 Prozent berichten von mindestens einer diskriminierenden Erfahrung in den letzten zwölf Monaten aufgrund von HIV. Besonders häufig kommt Diskriminierung nach wie vor im Gesundheitswesen vor. 56 Prozent der online Befragten machten in den letzten zwölf Monaten mindestens eine negative Erfahrung. Eine Konsequenz: Ein Viertel der Befragten legt seinen HIV-Status nicht mehr immer offen.
Eine weitere Studie zeigt, dass die Stigmatisierung von Lungenkrebs Patienten davon abhalten kann, sich behandeln zu lassen. „Lungenkrebs ist mit einem spezifischen sozialen Stigma behaftet, weil mit ihm Zigarettenkonsum assoziiert wird. Er wird häufig als eine Raucherkrankheit betrachtet, die selbst verschuldet und vermeidbar ist“, so die Professorinnen Laura Grigolon, Universität Mannheim, und Laura Lasio, McGill Universität in Montreal. Einer Untersuchung der Global Lung Cancer Coalition aus dem Jahr 2010 in Kanada zufolge räumten 22 Prozent der Befragten ein, dass sie weniger Sympathie für Lungenkrebspatienten empfinden als für andere Krebspatienten. In den USA ist Lungenkrebs für 32 Prozent der Krebstoten verantwortlich, doch auf diese Krebsart werden nur zehn Prozent der Forschungsgelder verwendet, teilen die Wissenschaft lerinnen mit.
Verglichen mit Patienten, die von Krebsarten mit ähnlichen Überlebenschancen betroffen sind, werden Lungenkrebs-Kranke deutlich seltener behandelt, berichten Grigolon und Lasio. Die Behandlungsquote liege bei Lungenkrebs-Patienten bei rund 25 Prozent, bei Dickdarmkrebs bei etwa 60 Prozent. Die Forscherinnen analysierten Verwaltungsdaten von Patienten im fortgeschrittenen Krankheitsstadium in der kanadischen Provinz Ontario über einen Zeitraum von zehn Jahren. Die Ergebnisse lieferten überzeugende Beweise, dass weniger Patienten aufgrund der Stigmatisierung behandelt werden. Das wiederum bremse die Verbreitung innovativer Behandlungen und setze geringere Anreize für Investitionen in Forschung und Entwicklung, meinen Grigolon und Lasio.
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Viele Zugangsproblematiken liegen auf anderen Ebenen begründet, wie die von Mitgliedstaaten zu verantwortenden Erstattungsfragen. Dort gebe es keine Einflussmöglichkeiten der Kommission oder der EU, betont Dr. Matthias Wilken vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. „Das heißt, man versucht jetzt mit den Tools, die man hat, Probleme zu lösen, die auf anderen Ebenen gelöst werden müssten.“ Das könne nicht funktionieren. Wilken nennt als Alternative ein Modell mit stärkerer Solidarität: Wirtschaftlich stärkere Länder bezahlten für die ärmeren Mitgliedstaaten mit. Wilken ist allerdings skeptisch: „Ob man sich in Deutschland für die Bedingungen in Rumänien interessiert, ob das am Ende eine Lösung sein kann, ich weiß es nicht.“ Sicher ist er sich dagegen, dass es definitiv nicht gehe, sich beim Preis am schwächsten EU-Mitglied zu orientieren.
Patientenvertreter Dr. Martin Danner betont in seinem Vortrag, dass die Unternehmen bei seltenen Erkrankungen angesichts der geringen Zahl von Betroffenen bei der Forschung „ganz massiv“ auf die Netzwerke der Patientenorganisationen angewiesen sind. Nachholbedarf sieht er bei der partizipativen Forschung. Als Beispiele für die Einbeziehung von Betroffenen nennt er: Patienten sollten bereits bei Ausrichtung der Forschungspipeline gefragt werden, wo Unmet Medical Need bestehe. Weitere Fragen an Patientenorganisationen könnten lauten: Welche Teilpopulationen sollten bei Auflegung von Studiendesigns in den Blick genommen werden? Wie ist die Situation von Probanden in Studien? Welche flankierenden Informationen werden benötigt, wenn das Arzneimittel auf den Markt kommen soll – Stichwort laienverständliche Packungsbeilage. Es gebe ein ganz breites Feld der Partizipation in der Forschung, ein Feld, „wo viele Unternehmen noch besser werden können und müssen“, so der Geschäftsführer der BAG Selbsthilfe.
Bei der Frage, wie mehr und nachhaltigere Evidenz generiert werden kann, blickt PD Dr. Stefan Lange auf den Zeitraum vor der Zulassung. Sinnvollerweise sollte eine Therapie bereits zu dem Zeitpunkt, wenn sie in der Pipeline ist, in Rahmen von Registern eingesetzt und betrachtet werden. Auf diese Weise könnte sie schon frühzeitig mit anderen Therapieansätzen verglichen werden. „Nach der Zulassung ist es sehr, sehr spät und eigentlich überflüssig spät, man könnte das sehr viel früher machen“, sagt der stellvertretende Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.
[post_title] => Orphan Drugs: Zugangsdrama in Europa [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => orphan-drugs-zugangsdrama-in-europa [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-11-15 11:10:46 [post_modified_gmt] => 2021-11-15 10:10:46 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4913 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4964 [menu_order] => 130 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [196] => WP_Post Object ( [ID] => 4967 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-11-11 17:43:34 [post_date_gmt] => 2021-11-11 16:43:34 [post_content] =>Anlass für die BÄK-Veranstaltung ist das 25-jährige Jubiläum der ZEKO, der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten. Woopen geht dort auf den wachsenden Bedarf an ethischen Einordnungen ein. Es werden immer mehr Erkenntnisse generiert, „die wollen eingeordnet werden“, sagt sie. Was ist zum Beispiel ein Embryoid und wie geht man damit um? Bei den existenziellen Fragen am Lebensanfang und -ende gebe es mehr Eingriffsmöglichkeiten, Stichwort Genom-Editierung. Aber auch für die Zeit dazwischen braucht es der ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates zufolge Konzepte. „Der Hirntod ist etwas, was es in der Natur nicht gibt, das haben wir künstlich hergestellt – also müssen wir auch die Regeln dafür schaffen, wie wir mit Menschen in diesem Zustand umgehen wollen.“
[caption id="attachment_5053" align="aligncenter" width="1200"]Die Ethik-Landschaft hat sich laut Woopen in den letzten Jahren zunehmend professionalisiert und vernetzt. Die wertvollen Ergebnisse dessen begrüßt sie, hält aber die „inflationäre Verwendung des Wortes Ethik für irgendwelche Gremien“ für schädlich. Damit werde verschleiert, dass es bei diesen oft gar nicht primär um Ethik, sondern lediglich um Genehmigungsverfahren gehe. Die Ethik werde zu einer Art Vollzugsdisziplin bis hin zum Feigenblatt. Und weitergedacht: Wird die Ethik zur Genehmigungsdisziplin, besteht die Gefahr, dass sie als Blockade und als Verhinderung für Innovationen wahrgenommen wird, argumentiert die Ärztin. „Richtig betrieben ist Ethik das Gegenteil, sie fördert Rahmenbedingungen, in denen sich Innovationen nachhaltig entfalten können.“
Den Begriff des Feigenblattes hat vorher bereits der ZEKO-Vorsitzende Prof. Jochen Taupitz verwendet.
Er stellt die Frage, ob Ethikkommissionen ein normatives Feigenblatt in einer zunehmend pluralistischen und vielleicht gerade deshalb zunehmend ethisierten Gesellschaft seien. Er fährt fort: „Wer die Verantwortungen für die eigenen Entscheidungen scheut, überträgt sie einer Ethikkommission.“ Für den Juristen stellen etwa die PID-Kommissionen nichts anderes dar als die Verweigerung des Bundestages, selbst Entscheidungen zu treffen.
Ganz anders die ZEKO. Taupitz betont die Unabhängigkeit des Gremiums, eine einseitige Vertretung berufspolitischer oder ärztlicher Interessen finde nicht statt. „Die Ärzteschaft ist die einzige Berufsgruppe, die mit der ZEKO über ein eigenes gesellschaftsorientiertes und zugleich binnenorientiertes Sprachrohr verfügt“, stellt er heraus. Das Thema, dass die Kommission offenbar am meisten umtreibt, ist die Behandlung von nicht-einwilligungsfähigen Patienten und die Forschung mit Nicht-Einwilligungsfähigen. Insgesamt sechs Stellungnahmen hat sie zu diesem Komplex verfasst. Die Themenfindung wird in Zukunft nicht einfacher werden. „Griffige und angemessen zu bearbeitende Themen“ seien zunehmend schwer zu finden, sagt Taupitz, und zwar auch in Konkurrenz zu anderen Kommissionen. Das sei eine Herausforderung.
[post_title] => Ethik-Boom in der Pandemie [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => ethik-boom-in-der-pandemie [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-11-15 11:11:14 [post_modified_gmt] => 2021-11-15 10:11:14 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4913 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4967 [menu_order] => 140 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [197] => WP_Post Object ( [ID] => 4642 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-08-06 15:32:14 [post_date_gmt] => 2021-08-06 13:32:14 [post_content] => [post_title] => Ausgabe 56 | August 2021 [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => ausgabe-56-august-2021 [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-08-06 17:54:25 [post_modified_gmt] => 2021-08-06 15:54:25 [post_content_filtered] => [post_parent] => 0 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4642 [menu_order] => 8820 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [198] => WP_Post Object ( [ID] => 4644 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-08-06 15:32:30 [post_date_gmt] => 2021-08-06 13:32:30 [post_content] => [post_title] => Inhaltsverzeichnis [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => inhaltsverzeichnis [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-08-06 15:32:30 [post_modified_gmt] => 2021-08-06 13:32:30 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4642 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4644 [menu_order] => 10 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [199] => WP_Post Object ( [ID] => 4646 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-08-06 15:32:37 [post_date_gmt] => 2021-08-06 13:32:37 [post_content] =>Die Medizin bekommt eine neue Dimension: Es geht nicht mehr nur ums Heilen, sondern auch darum, Krankheiten zu verhindern, bevor sie ausbrechen. Das ist das Grundprinzip von Disease Interception. Dabei gelingt es Ärzten, mithilfe von Biomarkern die Entwicklung einer Krankheit nachzuweisen, noch bevor der Patient überhaupt Symptome hat. Das ist die eine Voraussetzung. Das zeitige Aufspüren ermöglicht eine frühzeitige Therapie, durch die die Erkrankung unterbrochen und das symptomatische Stadium gar nicht erst erreicht wird. Die zweite Voraussetzung für eine erfolgreiche Disease Interception besteht darin, dass wirksame Therapieansätze existieren. Ist das alles noch Zukunftsmusik oder stecken bereits konkrete Anwendungsfälle dahinter?
[caption id="attachment_4743" align="aligncenter" width="1200"]„Das aktuell diskutierte Konzept Disease Interception ist auf der einen Seite noch Vision, auf der anderen Seite ist aber klar zu erkennen, dass es anfängt, Realität zu werden“, sagt Dr. Jasper zu Putlitz. Er ist Arzt, ehemals Kliniker und jetzt Industrieexperte in Frankfurt am Main und beschäftigt sich mit der Zukunft der Medizin. In der Forschung weltweit wird bereits intensiv nach Ansätzen gesucht, Anzeichen für Krankheiten möglichst früh mittels Biomarkern zu entdecken und zu therapieren – in der Hoffnung, dass sie erst gar nicht ausbrechen, im Idealfall sogar schon geheilt werden können, bevor sie Symptome entwickeln.
[caption id="attachment_4745" align="alignright" width="647"]Indikationen, in denen Ärzte, Wissenschaftler und Pharmafirmen Chancen für eine Disease Interception sehen, gibt es einige. Besonders geeignet für diese neue Art der individualisierten und personalisierten Medizin sind Krankheiten, die sich über Jahre mit Vorstufen entwickeln. Dazu gehören beispielsweise Krebs, rheumatoide Arthritis oder auch psychiatrische Erkrankungen (siehe Infokasten weiter unten).
Baldige Lösungen könnte es bei Erkrankungen geben, „bei denen wir die molekularen Ursachen der Entstehung kennen, aber noch Probleme in der Umsetzung haben“, sagt Prof. Christof von Kalle, der die Professur auf Lebenszeit für Klinisch-Translationale Wissenschaften am Berlin Institute of Health und der Charité innehat und das gemeinsame Studienzentrum leitet. „Fortschritte in der molekularen Medizin haben uns ermutigt, so etwas wie Disease Interception zu denken und uns damit zu beschäftigen“, sagt von Kalle.
Befördert wird der Vorstoß in die neue Dimension zusätzlich durch die Digitalisierung. Die Technik hilft, den menschlichen Bauplan und die Zusammenhänge zwischen Erbanlagen und Umwelteinflüssen besser zu verstehen. Genom-, Proteom- und Mikrobiomanalysen werden dank Computern einfacher und schneller. Künstliche Intelligenz und Algorithmen unterstützen bei der Auswertung unterschiedlichster, teils unvorstellbar großer Datenmengen und liefern Mustererkennungen, die Ärzten Hinweise geben, wo mögliche Ansatzpunkte für eine Frühintervention liegen können. Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf etwa führt zurzeit zusammen mit dem Universitätsspital Zürich eine Ganzgenomsequenzierung von 9.000 Probanden durch, um über diese Bioproben neue Optionen zur Prävention, Diagnostik und Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln.
Disease Interception weckt viele Hoffnungen, wirft aber auch grundsätzliche Fragen auf. Zum Beispiel: Wenn eine Krankheit noch gar nicht symptomatisch ist, müssen die Krankenversicherungen Disease-Interception-Maßnahmen überhaupt zahlen? Und wenn ja: Wie sicher muss die Prognose sein, dass die Krankheit ausbrechen wird? Biomarker, die mit hundertprozentiger Sicherheit das Auftreten einer Krankheit voraussagen können, wird es so schnell nicht geben. Denn bei den meisten Erkrankungen spielen nicht nur die körperliche Prädisposition, sondern auch weitere Faktoren wie Umwelteinflüsse oder Lebensstil eine wichtige Rolle bei der Entstehung. Bei Disease Interception wird es eine elementare Frage sein, ab welcher Wahrscheinlichkeit „Patienten“ unter Beobachtung gesetzt werden, um dann zum richtigen Zeitpunkt – im „Interception Window“ – mit der frühzeitigen Behandlung zu beginnen. Ein weiteres Thema, das nicht vernachlässigt werden darf, ist das Recht auf Nichtwissen.
Die Krankenkassen haben das Thema als Zukunftstrend entdeckt, meint Franz Knieps. Der Vorstand des BKK Dachverbands rechnet in den nächsten drei bis fünf Jahren mit Disease-Interception-Behandlungen. Allerdings seien die bisherigen Rahmenbedingungen im SGB V an vielen Stellen – im Leistungsrecht, in den Erstattungs- und Bepreisungsfragen – überhaupt nicht darauf vorbereitet. Knieps geht sogar so weit zu fragen, „ob es heute überhaupt zulässig wäre, Arzneimittel im Rahmen von Disease Interception einzusetzen“. Bislang gebe es nämlich eine Begrenzung der Arzneimittel auf die Behandlung akuter oder chronischer Erkrankungen – und somit nicht für den Einsatz in der Prävention. Weiterentwicklungsbedarf sieht der Kassenexperte außerdem bei der Nutzenbewertung.
Auch die Medizinethikerin Prof. Alena Buyx hat sich mit Disease Interception beschäftigt. Bereits 2013 hat der Deutsche Ethiktrat eine ausführliche Stellungnahme zur „Zukunft der genetischen Diagnostik“ veröffentlicht. Das Thema ist seitdem immer komplexer geworden, meint die Vorsitzende des Gremiums. Sie sieht enormes Potenzial für die Medizin. „Aber wir müssen verstehen, dass es hier um neue Formen von Wissen und Verständnis von Krankheitsrisikofaktoren geht, mit denen wir lernen müssen umzugehen.“ Buyx denkt bei Disease Interception über ganz neue Berufe nach, um Patienten durch das Dickicht zu bringen. Anstatt Ärzte damit zu überlasten, hält sie zusätzliche Hilfsberufe wie etwa den Health Information Consultant für sinnvoll.
Neue Berufe wären sinnvoll – und möglicherweise auch eine neue gesetzliche Norm? Letzteres hält der Sozialrechtler Prof. Stefan Huster für überlegenswert. Wie Buyx beschäftigt auch er sich bereits seit einigen Jahren mit Disease Interception. Anlass dafür ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur prophylaktischen Masektomie gewesen (siehe Infokasten).
Bei dem Projekt ging es unter anderem um die Frage, wer die prophylaktische Masektomie bezahlt. Bei dem Krankheitsbegriff ein „Riesenproblem“, sagt Huster. Bevor dieser immer weiter aufgeweicht werde, hält er es für sinnvoller, bei Fällen wie dem erblichen Brustkrebs oder eben für Disease Interception einen „eigenen Tatbestand, eine eigene Norm“ zu schaffen. Die Norm müsste dann wiederum untergesetzlich weiter konkretisiert werden. Diese Aufgabe sieht der Rechtswissenschaftler von der Ruhr Universität Bochum beim Gemeinsamen Bundesausschuss.
Festzuhalten bleibt, dass es Erkenntnisse darüber, ob Disease Interception wirkt und somit nützlich ist, erst nach Jahren und Jahrzehnten geben wird – wenn Ärzte sicher sagen können, dass der Ausbruch einer Krankheit verhindert wurde. Eine „Welt der Gesunden“ erwartet Dr. Jasper zu Putlitz allerdings nicht. „Wir werden gesünder sein, aber eine komplette Gesundheit wird es nicht geben.“ Auch wenn chronische Krankheiten eines Tages vielleicht heilbar seien, gebe es noch viele andere Erkrankungen, zum Beispiel Infektionskrankheiten, mit denen die Menschen weiterhin leben müssen.
Beunruhigend ist der Gedanke, dass Disease Interception eine Welt der Kranken schaffen könnte. Anlagen zu Gesundheitsstörungen können mit der feinsten Technik schließlich bei jedem gefunden werden, sagt Christof von Kalle. „Wenn man den Genotyp hochauflösend betrachtet, dann hat jeder von uns irgendwelche Makel.“ Das berge die Gefahr von Überdiagnosen und -therapie, dass also Maßnahmen eingeleitet werden, die Patienten eher schaden als nützen. Von Kalle hält deshalb ein generelles Screening der Bevölkerung nicht für sinnvoll. Disease Interception sollte nur bei Risikopatienten, etwa mit familiärer Disposition, zum Einsatz kommen. „Ein Allheilmittel wird Disease Interception nicht sein. Aber es ist toll, dass so etwas gedacht und entwickelt wird“.
Ein konkretes Praxisbeispiel ist Knochenmarkkrebs, das Multiple Myelom. Bei dieser Krebsform gibt es in der Regel über Jahre hinweg Vorstufen der Erkrankung, die sich zunächst noch gutartig verhalten. Hier wird derzeit intensiv erforscht, welche Biomarker eine Vorhersage über das tatsächliche Ausbrechen der Erkrankung ermöglichen, berichtet Prof. Marc-Steffen Raab vom Universitätsklinikum Heidelberg. Das Multiple Myelom sei derzeit zwar gut behandelbar, aber lebenslimitierend und nicht heilbar. Hier biete Disease Interception möglichweise eine Chance, „durch frühzeitiges Auffangen der Erkrankungsentstehung eine Heilung zu erreichen, ohne dass es zum Ausbruch kommt“, sagt Raab. Erste klinische Ergebnisse aus internationalen Studien erwiesen sich als vielversprechend.
[caption id="attachment_4840" align="alignright" width="800"]Angelina Jolie und die prophylaktische Masektomie
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Bei dem Eingriff handelt es sich um eine prophylaktische Entfernung des Brustdrüsengewebes, um das Brustkrebsrisiko von BRCA-Genmutations-Trägerinnen erheblich zu senken. Bekannt wurde die prophylatische Masektomie durch die Schauspielerin
Angelina Jolie, die ihre Operation öffentlich gemacht hat. Dieser Eingriff gehört aber streng genommen nicht zur Disease Interception, denn: In diesem Fall wird eine genetische Veranlagung zum Krebs festgestellt, die Krankheit befindet sich aber noch nicht im Entstehungsprozess. Daher spricht man von risikoadaptierter Prävention.
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[caption id="attachment_4754" align="aligncenter" width="1200"]
Das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) hat nicht nur einen zu langen Namen, sondern wurde auch mit vielen, ebenso unterschiedlichen wie kontroversen, Inhalten beladen. Vermutlich ist der Passus zur Tabakentwöhnung, der es noch per Änderungsantrag ins Gesetz geschafft hat, deswegen nahezu untergegangen. Das GVWG sieht nämlich vor, dass die Versorgung mit Arzneimitteln zur Tabakentwöhnung künftig zulasten der GKV unter definierten Bedingungen erfolgen kann.
Eine wichtige Rolle kommt dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zu: Er legt fest, welche Arzneimittel und unter welchen Voraussetzungen diese zur Tabakentwöhnung im Rahmen von evidenzbasierten Programmen verordnet werden können. Außerdem bestimmt er, welche Verfahren angewendet werden sollen, um eine bestehende starke Tabakabhängigkeit zu bestimmen. Und: Der Ausschuss legt die Anforderungen an die evidenzbasierten Programme zur Tabakentwöhnung fest – wie etwa Dauer der Intervention, Qualifikation des Personals und Qualitätssicherung. Wichtig zu wissen: Alle Programme, bei denen es sich nicht um ein Präventionsprogramm gemäß §20 SGB V handelt, sind keine GKV-Leistung. Im Falle einer positiven G-BA-Bewertung müssten sie in den Leistungskatalog aufgenommen werden, heißt es aus Expertenkreisen. Spannend ist daran, dass durch diese Hintertür auch die nicht-medikamentöse Tabakentwöhnungstherapie in die Regelversorgung gelangen dürfte.
Bisher hat der Gesetzgeber Arzneimittel zur Raucherentwöhnung von der Erstattungsfähigkeit ausgeschlossen. Sie werden in Paragraph 34 SGB V zur Kategorie der Lifestyle-Medikamente gerechnet, in die auch Mittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion oder Appetitzügler gehören und bei der eine „Erhöhung der Lebensqualität“ im Vordergrund steht.
Diese Regelung ist schon seit Langem umstritten, zuletzt hatte die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen bei den Beratungen zum Bevölkerungsschutzgesetz II beantragt, den Passus zu streichen. Einige der Argumente gegen den Ausschluss aus der Verordnungsfähigkeit haben Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und Bundesärztekammer (BÄK) im Dezember in einem Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zusammengefasst. Darin konstatieren sie, dass die von den Kassen angebotenen Nichtraucherkurse von den Versicherten kaum genutzt werden und die Kurse als Präventionsangebot für manifest erkrankte Raucher kein geeignetes Behandlungsangebot darstellten. Sie verweisen auf die vom Bundesgesundheitsministerium beauftragte DEBRA-Studie, wonach 20 Prozent der Rauchenden mindestens einmal pro Jahr versuchten, das Rauchen aufzugeben, 87 Prozent der Ausstiegswilligen bedienten sich dabei allerdings wissenschaftlich ungeeigneter Methoden, sodass bereits im ersten halben Jahr wieder 90 Prozent von ihnen rückfällig werden. Dabei stünden „hochwirksame Medikamente zur Tabakentwöhnung“ längst zur Verfügung, heißt es in dem Brief. BÄK und KBV verweisen auf eine Cochrane-Analyse, wonach in Gesundheitssystemen, in denen Patienten die Kosten zur Tabakentwöhnung erstattet bekommen, die Abstinenzraten nach sechs Monaten um mehr als 70 Prozent erhöht seien.
Aus gesundheitsökonomischer Perspektive argumentieren die Ärzteorganisationen außerdem, dass die Behandlung der COPD bei Patienten des leichtesten Schweregrades GOLD 1 die Kassen jährlich 2.600 Euro koste, während sich die medikamentösen Entwöhnungskosten pro Patient und Jahr auf bis zu 300 Euro beliefen.
„Rauchende beim Rauchstopp unterstützen und Kostenübernahme der Behandlung der Tabakabhängigkeit gewährleisten“ lautet eine der zehn Maßnahmen, die in der im Mai vorgestellten „Strategie für ein tabakfreies Deutschland 2040“ enthalten sind. Getragen wird diese von einem breiten Bündnis von Gesundheits- und zivilgesellschaftlichen Organisationen, dazu gehören auch viele medizinische Fachgesellschaften sowie
die Deutsche Krebshilfe und das Deutsche Krebsforschungszentrum.
Als erste Maßnahme für ein tabakfreies Land wird in der Strategie genannt: die Tabaksteuern jedes Jahr deutlich erhöhen. Dass diese Forderung zuerst genannt wird, kommt nicht von ungefähr, denn Tabaksteuererhöhungen gelten als die effektivste Maßnahme, um Rauchende zu motivieren, mit dem Rauchen aufzuhören, sowie Kinder und Jugendliche davon abzuhalten, überhaupt zu beginnen. Diese Ansicht wird von vielen Experten und Institutionen, etwa der WHO, vertreten. Bei einer öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses im Mai dieses Jahres machen Mediziner darauf aufmerksam, dass die im geplanten Tabaksteuermodernisierungsgesetz vorgesehenen Steuererhöhungen zu gering ausfallen, um eine abschreckende Wirkung zu entfalten.
Der Gesetzentwurf, der im Juni vom Bundesrat abgesegnet wurde, sieht neben einer Besteuerung von Ersatzprodukten zur Zigarette wie beispielsweise die E-Zigarette eine von 2022 bis 2026 vorgenommene, „regelmäßige, moderate Erhöhung der Tarife für Zigaretten und Feinschnitt“ vor, informiert das Bundesfinanzministerium. Das DKFZ übt daran deutliche Kritik. In seiner Stellungnahme erinnert das Zentrum im Frühjahr an eines der Ziele des Gesetzes, nämlich ein Gleichgewicht zwischen konstanten Steuereinnahmen und den Zielen der öffentlichen Gesundheit. Dieses Gleichgewicht erreiche der Gesetzentwurf allerdings nicht, er habe lediglich die Generierung von Steuereinnahmen zum Ziel und „verschenkt das große Potenzial, deutliche Steuererhöhungen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung bei gleichzeitigem Anstieg der Steuereinnahmen einzusetzen“, betonen die Krebsexperten.
Weniger kritisch als das DKFZ reagiert die Deutsche Krebsgesellschaft auf das Gesetz. Ihrer Ansicht nach stellt es einen „Schritt in die richtige Richtung“ dar. Indes moniert die Gesellschaft, dass das parlamentarische Verfahren im Bundestag allein als finanzpolitisches Thema diskutiert wurde. „Trotz der Relevanz des Gesetzes für die Tabakprävention ist der Ausschuss für Gesundheit nicht bei Anhörungen einbezogen.“ Allerdings soll es innerhalb der CDU/CSU-Fraktion intensive Diskussionen zwischen den Finanz- und Gesundheitspolitikern gegeben haben. Daher konnte letztlich auch innerhalb der Fraktion erst kurz vor der finalen Sitzung des Finanzausschusses eine Einigung erzielt werden: Es findet sich eine ergänzende Erklärung, dass aus den Tabaksteuermehreinnahmen 500 Millionen Euro für Präventionsmaßnahmen in den Haushalt eingestellt werden sollen.
An dem Ringen hinter den Kulissen wird deutlich, dass der Anspruch von „Health in all Policies“ im politischen Tagesgeschäft meist noch sehr schwergängig umzusetzen ist. Wie realistisch ist vor diesem Hintergrund das im „Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung“ angestrebte „rauchfreie Europa“?
In dem Papier ist nachzulesen, dass bis zum Jahr 2040 weniger als fünf Prozent der Bevölkerung gegenüber derzeit etwa 25 Prozent Tabak konsumieren sollten. „Als Zwischenziel sollte die Zielsetzung der WHO erreicht werden, den Tabakkonsum bis 2025 um 30 Prozent gegenüber 2010 zu senken.“ Das entspricht einer Prävalenz des Rauchens in der EU von etwa 20 Prozent. Hierzulande beträgt derzeit laut DEBRA-Studie die Prävalenz aktueller Raucherinnen und Raucher 27,5 Prozent (Stand Januar/2021). Luft nach oben gibt es da noch reichlich. Abzuwarten bleibt, welche Wirkung die jüngsten Aktivitäten des Gesetzgebers haben werden.
Vermeidbare Krebserkrankungen
In der Nationalen Dekade gegen Krebs wird als ein Ziel formuliert, den Anteil vermeidbarer Krebserkrankungen an den Gesamtkrebserkrankungen um zehn Prozent zu senken. Der aktuelle Status quo: Infolge einer raucherspezifischen Erkrankung wurden in Deutschland im Jahr 2019 insgesamt 458 000 Patientinnen und Patienten im Krankenhaus behandelt, davon waren 57 Prozent Männer. Dem Statistischen Bundesamt zufolge ist damit die Zahl solcher vollstationärer Behandlungen im Vergleich zu 2010 um 18 Prozent gestiegen. 211.300 dieser Fälle waren auf einen Lungen- und Bronchial-, Kehlkopf- oder Luftröhrenkrebs zurückzuführen, 246.700 auf eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Die behandelten Patientinnen und Patienten waren im Durchschnitt 67,3 Jahre (Krebsdiagnosen) beziehungsweise 70,5 Jahre (COPD) alt.
Verpflichtungen und Umsetzungen
Deutschland hat das Rahmenabkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs von 2003 unterzeichnet. Damit wurde die Verpflichtung eingegangen, den Zugang zu bezahlbaren Behandlungen der Tabakabhängigkeit „einschließlich pharmazeutischer Produkte“ zu erleichtern. „Zu diesen Produkten und deren Bestandteilen können Medikamente, Produkte zur Verabreichung von Medikamenten und Diagnostika, soweit zutreffend, gehören“, heißt es in dem Abkommen. Dieser Verpflichtung ist Deutschland jetzt mit dem GVWG nachgekommen.
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Weiterführender Link:
Rahmenabkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs:https://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/fctc/FCTC_deutsche_Uebersetzung.pdf
Ab dem Wintersemester 2021/2022 wird sich an der Universität Bielefeld Prof. Sabine Oertelt-Prigione um den Aufbau der Arbeitsgruppe Geschlechtersensible Medizin kümmern. Die Internistin leitet seit 2017 auch den Lehrstuhl für Gender in Primary and Transmural Care am Radboud University Medical Center in Nijmegen, Niederlande. Sie wird künftig an beiden Standorten forschen und lehren.
Eine von Oertelt-Prigiones ersten Aufgaben ist die Erstellung eines Curriculums. Auf lange Sicht geplant sei, Gendermedizin zum Prüfstoff für die Medizin-Studenten zu machen. Darüber hinaus verfolgt die Professorin das Ziel, geschlechtersensible Medizin flächendeckend zu implementieren. Nicht nur in den Vorlesungen, sondern auch in der Praxis, also in Krankenhäusern und bei den niedergelassenen Ärzten. Translation ist Sabine Oertelt-Prigione wichtig. Erleichtert wird ihr die Arbeit an der Universität dadurch, dass geschlechtersensible Medizin zum Querschnittsthema erhoben wurde. Das sei ein guter Anreizmechanismus, um die neue Disziplin im Bewusstsein aller zu verankern und eine Stufe der Normalität zu erreichen, so die Wissenschaftlerin.
Bisher gibt es in Deutschland nur eine Einrichtung, die sich regulär mit geschlechtersensibler Medizin befasst: das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin, das 2007 an der Berliner Charité gegründet wurde. In Bielefeld gibt es nun also den zweiten Lehrstuhl. In Sachsen-Anhalt kündigte im vergangenen Jahr das Johanniter-Krankenhaus Genthin-Stendal an, zusammen mit der Margarete-Ammon-Stiftung eine Stiftungsprofessur für geschlechtsspezifische Medizin in Magdeburg ins Leben rufen zu wollen. Die Gespräche dazu laufen jedoch noch.
Die Universitäten könnten mehr tun, um der geschlechtersensiblen Medizin mehr Bekanntheit und Aufmerksamkeit zu verschaffen, findet Prof. Vera Regitz-Zagrosek, von 2007 bis 2019 Inhaberin des Charité-Lehrstuhls. Ein vom Bundesbildungsministerium gefördertes Gutachten ergab kürzlich, dass Gendermedizin an den meisten medizinischen Fakultäten ein Nischendasein führt. Bei 70 Prozent von ihnen sei die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen „als unzureichend zu bezeichnen“, schreiben die Autoren.
Am weitesten fortgeschritten bei der Wissensvermittlung sind die Universitäten mit Modell- oder Reformstudiengängen. Ihnen, so das Gutachten, sei die Integration von Gendermedizin in die Curricula am häufigsten gelungen – allerdings auch nur auf „einem niedrigen Niveau von 50 Prozent dieser Fakultäten“. Eine Ausnahme bilden Kardiologie und Pharmakologie: Hier gaben fast alle der befragten 31 Fakultäten an, geschlechtsspezifische Unterschiede zu lehren, 2016 waren es nur fünf Fakultäten gewesen.
Ein bisschen hoffen die Streiter und Streiterinnen für Gendermedizin wie Regitz-Zagrosek, dass Corona dem Thema auf Dauer mehr Aufmerksamkeit bescheren und vor allem die Erkenntnis reifen lassen wird, dass mehr Forschung auf diesem Gebiet dringend notwendig ist. Sars-CoV-2 zeige, dass in der Medizin mehr auf die geschlechtsbedingten Unterschiede bei den Patienten geachtet werden müsse. Denn während das Risiko für schwere und tödliche COVID-19-Verläufe
bei Männern höher ist als bei Frauen, sind fast nur diese nach Impfungen, vor allem mit AstraZenca, von Sinusthrombosen betroffen.
Vor allem im Bereich der Kardiologie gibt es schon viel Wissen über medizinisch bedeutsame Unterschiede zwischen Mann und Frau. Ein Beispiel, das zunehmend auch in der breiten Öffentlichkeit thematisiert wird: der Herzinfarkt, der sich bei Frauen mit ganz anderen Symptomen äußern kann als bei Männern. Während Letztere meist starke Schmerzen oder Druckgefühl im Brustraum auf der linken Seite haben, klagen etwa 20 Prozent der Frauen über Übelkeit oder Erbrechen, Schmerzen im Nacken-, Kiefer- oder Schulterbereich, über Unwohlsein oder plötzliche Erschöpfung und Müdigkeit. Die Folge: Frauen gehen nicht rechtzeitig ins Krankenhaus oder laufen Gefahr, ohne richtige Diagnose wieder nach Hause geschickt zu werden.
Weitere Beispiele: Vorhofflimmern ist bei Frauen öfter mit einem Schlaganfall verbunden. Diabetes erhöht beim weiblichen Geschlecht das Risiko für eine KHK-Erkrankung um das Fünf- bis Siebenfache, bei Männern sind ist „nur“ das Drei- bis Vierfache. Für Blutdruckwerte und Blutfette müsste es je nach Geschlecht unterschiedliche Grenzwerte geben, sagt Vera Regitz-Zagrosek.
Geschlechtersensible Medizin habe nichts mit Frauenheilkunde zu tun, betont die Expertin. Ziel sei es, die Medizin für beide Geschlechter zu verbessern.Schließlich litten auch Männer unter undifferenzierten Diagnosen und Therapien. Osteoporose und Depression werden bei Männern häufig nicht erkannt, weil sie zum einen als typische Frauenkrankheiten gelten, zum anderen die Symptome sich anders äußern. Auch die Behandlung von Brustkrebs beruht bei Männern auf Erfahrungen und Forschungsarbeiten, die bei Frauen gemacht wurden. Aus diesem Grunde, so die Gendermediziner, sei es unter anderem nötig, in der Forschung (auch bei Tierversuchen) nicht nur beide Geschlechter mehr als in der Vergangenheit einzubeziehen, sondern auch die gewonnenen Daten je nach Geschlecht auszuwerten. Das passiere in der Praxis noch viel zu wenig.
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Geschlechtersensible Gesundheitsversorgung
Frauen und Männer werden im Gesundheitssystem nicht gleich versorgt. In einem Fachgespräch der Grünen-Fraktion im Bundestag diskutieren kürzlich Expertinnen, wie die Versorgung von Frauen verbessert werden kann. Aus Sicht von Prof. Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité, braucht es in medizinischer Forschung, Lehre und Praxis sowie den Strukturen des Gesundheitssystems eine „geschlechtersensible Medizin und Gesundheitsversorgung, die die Geschlechterunterschiede in den verschiedenen sozialen Lagen mitdenkt“. In Deutschland sei man noch relativ am Anfang. Das Thema geschlechtersensible Gesundheitsversorgung sei „leider noch lange keine Selbstverständlichkeit“, bestätigt Karen Walkenhorst, Vorständin bei der Techniker Krankenkasse. Einerseits verspreche sich das Gesundheitswesen von der Digitalisierung individualisiertere Behandlungsmöglichkeiten, gleichzeitig negiere man aber selbst eine so grundlegende Kategorie wie Geschlecht. „Ein Widerspruch, den man wirklich nicht logisch erklären kann.“ Man laufe Gefahr, die geschlechtsspezifischen Fehler einfach in die digitale Versorgung zu übertragen und weiterzuentwickeln.
Bereits vor der verheerenden Flutkatastrophe im Juni hat der Klimawandel und dessen Folgen für die menschliche Gesundheit die (gesundheits-)politischen Akteure zunehmend alarmiert. Gesundheitsminister Jens Spahn geht auf das Thema Mitte Juni beim Krankenhausgipfel ein. „Wir müssen mit Blick auf die Versorgung in Krankenhaus und Pflegeheim über Hitze reden“, sagt er. Über das, was sie mit dem menschlichen Körper mache und wie das Gesundheitssystem darauf vorzubereiten sei. Spahn verweist auf erhöhte Todeszahlen im August, die auf Hitze zurückzuführen seien. „Das zeigt, dass es jenseits der Pandemie weitere wichtige Aufgaben für die 20er Jahre gibt.“
Einige Tage zuvor ist ein neues Infoportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung online gegangen. Unter www.klima-mensch-gesundheit.de finden Bürgerinnen und Bürger Informationen, wie sie Hitzebelastungen vorbeugen können. Weitere Themen sollen das Portal künftig noch ergänzen.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen wird den Klimawandel und seine gesundheitlichen Folgen in seinem nächsten Gutachten behandeln, heißt es ebenfalls im Juni auf einem Symposium des Rates. Und auch auf europäischer Ebene gewinnt das Thema an Bedeutung. Derzeit ist beispielsweise auf EU-Ebene eine Stelle im Aufbau, die Daten dazu sammelt, berichtet ein Vertreter des Bundesumweltministeriums im Bundestagsausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.
Viele Daten, Studien und Experteneinschätzungen wurden bereits in der Klimawirkungs- und Risikoanalyse 2021 (KWRA) für Deutschland zusammengestellt. Untersucht werden über 100 Wirkungen des Klimawandels und deren Wechselwirkungen. Bei rund 30 besteht sehr dringender Handlungsbedarf. Die Studie wurde im Auftrag der Bundesregierung durch ein wissenschaftliches Konsortium und unter Einbindung von Expertinnen und Experten aus 25 Bundesbehörden und -institutionen aus neun Ressorts erarbeitet. Der Teilbericht 5 widmet sich Klimarisiken in den Clustern Wirtschaft und Gesundheit. Bei der menschlichen Gesundheit unterscheiden die Experten zwischen indirekten und direkten Folgen. Extremereignisse wie Hitze, Starkwinde oder Starkniederschläge können Körper und Psyche direkt belasten, beispielsweise indem sie zu Beschwerden, schweren Erkrankungen, Verletzungen oder zum Tod führen. Die katastrophalen Ausmaße solcher Extremereignisse haben wir jüngst in Westdeutschland erfahren. Auf vielfältige Weise beeinflussen Wetter und Witterung auch die UV-Strahlung, welche Haut und Augen schädigen kann und Hauptursache von Hautkrebs sein kann, heißt es.
Es sind insbesondere die steigenden Temperaturen, die als klimatischer Einfluss eine wesentliche Rolle für die Gesundheit der Menschen spielen. Hitze belastet das Herz-Kreislaufsystem und kann zu aggressivem Verhalten führen. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass selbst die Suizid-Rate mit zunehmenden Temperaturen ansteigt, warnen die Experten in der Klimawirkungs- und Risikoanalyse.
Alarmierende Zahlen enthält der kürzlich veröffentlichte Versorgungsreport Klima und Gesundheit zu den Folgen steigender Temperaturen. In der vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) vorgestellten Publikation untersucht das Klimaforschungsinstitut MCC, wie viele Krankenhauseinweisungen in den Jahren 2008 bis 2018 auf Hitze zurückzuführen waren. Jeder vierte AOK-Ver-sicherte über 65 Jahre ist demnach überdurchschnittlich gefährdet, an heißen Tagen gesundheitliche Probleme zu bekommen und deshalb ins Krankenhaus zu müssen. An Hitzetagen mit Temperaturen über 30 Grad Celsius kam es hitzebedingt zu drei Prozent mehr Krankenhauseinweisungen in dieser Altersgruppe. Schreitet die Erderwärmung ungebremst voran, könnte sich bis zum Jahr 2100 die Zahl der hitzebedingten Klinikeinweisungen versechsfachen, heißt es in der Analyse.
Mehr und mehr rücken neben den direkten auch die indirekten Folgen des Klimawandels für die menschliche Gesundheit in den Fokus. Erläuternd heißt es in der Klimawirkungs- und Risikoanalyse: „Wenn Krankheitserreger, deren Überträger oder auch allergieverursachende Pflanzen oder Tiere von Wetter oder Witterung profitieren oder die Wirkungen von Schadstoffen und Strahlung verstärkt werden, wird von indirekten Folgen für den Menschen gesprochen.“
Auf solche geht der Präsident des Robert Koch-Instituts, Prof. Lothar Wieler, kürzlich beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) ein. Er berichtet unter anderem von Klimaveränderungen, die Einfluss auf das Vorkommen von Mückenarten haben, die wiederum Tropenkrankheiten übertragen können. Die Tigermücke sei bereits in Gebieten von Deutschland heimisch. Bisher seien noch keine Krankheitsübertragungen über sie bekannt. Die Mücken seien aber theoretisch Vektor – also Überträger – für zum Beispiel Dengue, Zika und Chikungunya. Das Vorkommen von Mücken wird daher beobachtet, es besteht eine Meldepflicht für von Stechmücken übertragenen Erkrankungen, um frühzeitig ein Ausbruchsgeschehen zu erkennen. Bereits seit 2018 findet man hierzulande das West-Nil-Fieber. Einzelne schwer verlaufende Fälle und 2020 einen ersten Todesfall gab es bereits, berichtet der RKI-Präsident. Das Virus sei vermutlich über Vögel hierhergekommen und werde vor allem über die heimische Mücke Culex übertragen.
„Der Klimawandel kann auch die Etablierung solcher Krankheitserreger begünstigen, also nicht nur die der Vektoren“, hebt Wieler hervor. Eine Konsequenz dieser Entwicklung sei, dass Ärztinnen und Ärzte zunehmend differentialdiagnostisch Krankheiten in Erwägung ziehen, „die wir bisher eher nur aus der Reisemedizin kennen“.
Es gibt Stimmen, die von Ärzten angesichts der Klimakrise weit mehr erwarten als ihr diagnostisches Repertoire zu erweitern. Zu ihnen gehört DGIM-Kongresspräsident Prof. Sebastian Schellong. Zwar sieht er den Bereich ärztlicher Verantwortung zunächst auf das Binnenverhältnis Arzt – Patient begrenzt. „Wenn Krankheitskonzepte aber die äußeren Umstände und Lebensverhältnisse als Ursachen benennen, kann es Teil des ärztlichen Auftrags werden, sich auch damit auseinanderzusetzen“ sagt er auf dem Kongress. Mediziner verstehen die zunehmenden Veränderungen der klimatischen Bedingungen als Krankheitsursachen und könnten mit ihrem Expertenwissen darüber aufklären, argumentiert er. Mit Blick auf sogenannte Co-Benefits weist er außerdem darauf hin, dass das Eintreten für eine Lebensstiländerung bei vielen Erkrankungen ohnedies Teil der ärztlichen Beratung sei. Die angeratenen Veränderungen – zum Beispiel bei Ernährung und Bewegung – seien aber qua CO2-Ausstoß in ihrer Gesamtheit auch klimarelevant.
Ärztinnen wie Sylvia Hartmann und Dr. Susanne Balzer, die sich in der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) engagieren, fordern längst, dass die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels als Thema in Lehre und Fortbildung etabliert werden. Erste Schritte in diese Richtung werden bereits unternommen: Die von KLUG organisierte Planetary Health Academy hat bereits mehrfach online eine Vorlesungsreihe zu den Zusammenhängen zwischen Nachhaltigkeit und Gesundheit angeboten. „Bisher waren wir regelmäßig von der hohen Nachfrage nach diesem Thema überrascht“, sagt Hartmann, Gründungsmitglied von KLUG.
Wer sich mit Gesundheit und Klimawandel auseinandersetzt, kommt nicht an dem Umstand vorbei, dass der Gesundheitssektor hierzulande zu den Branchen mit dem größten Ressourcenverbrauch gehört. Speziell Krankenhäuser seien einer der sechs größten Energieverbraucher in der Branche Handel, Dienstleistung und Gewerbe, heißt es in einem Anfang des Jahres publizierten Positionspapier des Bündnisses Junge Ärzte. Sie fordern darin die klima-gerechte Umgestaltung von Gesundheitssystemen. Diese Herausforderung nehmen einige Akteure bereits an. Ein Beispiel: Anlässlich der Vorstellung des Versorgungsreports Klima und Gesundheit kündigt der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, ein Maßnahmenpaket zur Verbesserung des CO2-Fuß-abdrucks an. Es soll in den nächsten drei Jahren umgesetzt werden und reiche von der Umstellung der Stromversorgung auf Grünstrom über das Mobilitätsmanagement bis hin zur Schaffung von mehr Sensibilität für ein klimafreundliches Verhalten in der Belegschaft, so Litsch.
Die Deutsche Röntgengesellschaft und ihr Vorstandsmitglied Dr. Kerstin Westphalen sehen ihr Fachgebiet ebenfalls in der Pflicht, klimabelastende Emissionen zu reduzieren, Ressourcen zu schützen und insgesamt mehr Nachhaltigkeitskonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Aus gutem Grund, denn die in der Radiologie eingesetzten medizintechnischen Großgeräte wie Magnetresonanztomografen oder Computertomografen verbrauchen sehr viel Energie und produzieren große Mengen an klimaschädlichem CO2. „Es gibt bereits einige Kliniken, die sich das Ziel ‚Nullemissionen‘ gesetzt haben und mit wenigen Veränderungen schon viel erreicht haben“, sagt Kerstin Westphalen. Auch im ambulanten Bereich gebe es nachhaltige Praxiskonzepte. „Leider sind solche Beispiele aber noch Einzelfälle.“ Die Fachgesellschaft hat deshalb kürzlich die interne Kommission Nachhaltigkeit@DRG gegründet, deren Sprecherin Westphalen ist. Ähnlich wie bei der AOK wurde ein 10-Punkte-Plan für mehr Nachhaltigkeit verabschiedet, ein Gütesiegel für „Nachhaltige Radiologie“ ist außerdem im Gespräch.
So soll aus Einzelfällen in Zukunft eine Selbstverständlichkeit gemacht werden.
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[caption id="attachment_4868" align="alignleft" width="510"]Gesunde Erde – Gesunde Menschen
„Von der Krise lernen“ lautet das Motto des DGIM-Kongresses. Die Veranstaltung dreht sich nicht nur um die Pandemie-Folgen, sondern setzt prominent die Krise der planetaren Gesundheit auf die Tagesordnung. Auf der begleitenden Pressekonferenz fordert der Arzt und Moderator Eckhard von Hirschhausen (Foto rechts) ein grundlegendes Umdenken: Es müsse neu entdeckt werden, dass die Grundlagen für jede gute Medizin nicht in der Medizin begründet sind, sondern in den physiologischen Voraussetzungen, in den natürlichen Lebensgrundlagen – und die seien massiv bedroht. „Wir brauchen lange vor Medikamenten, Operationen und Krankenhäusern so basale Dinge wie saubere Luft zum Atmen, Wasser, etwas zu essen und erträgliche Außentemperaturen“, sagt von Hirschhausen. All das auf eine Formel gebracht bedeute „one health“, planetary health oder auf gut Deutsch: Gesunde Erde – Gesunde Menschen.
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Weiterführender Link:
„Das Klima ändert sich - so schützen Sie Ihre Gesundheit.“ – Infoportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung:https://www.klima-mensch-gesundheit.de
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Sind die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels bereits in Kliniken und Praxen konkret spürbar? Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen?
Balzer: Die Folgen der Klimakrise sind bereits in der ärztlichen und pflegerischen Versorgung unserer Patientinnen und Patienten spürbar. Am prägnantesten und aktuellsten sicherlich durch zunehmende Hitze. Es gibt mehr, längere und intensivere Hitzeperioden. Im „Lancet Countdown Policy Brief for Germany“ wurde bereits 2019 deutlich gewarnt, dass Gesundheitsrisiken durch die zunehmende Hitze in Deutschland häufiger und schwerwiegender werden. Insbesondere unsere hochbetagten und multimorbiden Patienten sind gefährdet. Der August 2020 beispielsweise hatte Gebietsmittel von 20 Grad Celsius. Es war für Deutschland – nach dem August 2003 – der zweitwärmste August seit 1881 und 3,6 Grad wärmer als die mittleren Augusttemperaturen der internationalen Referenzperiode 1961. Daraufhin kam es zu circa 4.200 hitzebedingten Todesfällen. Hierbei sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die maßgeblich angeführte Todesursache.
Wie wirkt sich das in der Versorgung konkret aus?
Balzer: In der Hausarztpraxis stellt eine Hitzeperiode durch gegebenenfalls vermehrte Hausbesuche und eine intensive Beratung unserer Patienten mit Anpassung der Medikation und Monitoring der Nierenfunktion etc. eine zusätzliche zeitliche Herausforderung dar. Im Krankenhaus führt Hitze über 30 Grad zu circa 3 Prozent mehr Krankenhauseinweisungen bei den über 65-Jährigen. Aber nicht nur Hitze, sondern auch Allergien, welche durch den menschengemachten Klimawandel zunehmen, sind bereits in häufigeren Beratungsanlässen spürbar. Genauso wie eine vermehrte psychische Belastung insbesondere der jüngeren Generation. In der Umfrage „Zukunft! Jugend fragen“ von 2017 wurden 1.000 junge Menschen zwischen 14 und 22 Jahren befragt, wobei jeder Dritte Zukunftsängste angab! Da müssen wir als Ärzte aktiv werden und sowohl unsere Mitmenschen entsprechend beraten als auch politisch darauf hinwirken, dass Klimaschutzmaßnahmen mit aller notwendigen Priorisierung durchgesetzt werden.
Was sind die schwierigsten Herausforderungen, die ein sich wandelndes Klima für Ärztinnen und Ärzte mit sich bringt?
Balzer: Bewusstsein für die Klimakrise schaffen, entsprechend handeln und akut – auch wenn teils mit mehr Treibhausgasemissionen verbunden – Hitzeschutzmaßnahmen für unsere vulnerabelsten Patientinnen und Patienten schaffen: kühle Räume in Pflegeheimen, Krankenhäusern und soweit möglich in Praxen, Begrünung, Verschattung und flächendeckende kommunale Hitzeschutzpläne etablieren.
Wie können sich die Gesundheitsberufe darauf vorbereiten? Wo besteht der drängendste Handlungsbedarf?
Balzer: Es braucht eine rasche Etablierung des Themas in der Lehre und Fortbildungen für alle Gesundheitsberufe. Der Gesundheitssektor in Deutschland sollte sich darüber hinaus auf klare Klimaziele festlegen.
Besteht in der Ärzteschaft Interesse und Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen?
Balzer: Das denke ich schon. Im DGIM Talk Klimawandel und Gesundheit Ende Juni haben sich zumindest 95 Prozent der Beteiligten dafür ausgesprochen, das Thema Klimawandel und Gesundheit weiter zu vertiefen oder Klimaschutz im eigenen Wirkungsfeld zu betreiben. Denn Gesundheit braucht Klimaschutz! Es gibt eine große Anzahl an Kolleginnen und Kollegen, die sich sehr intensiv engagieren und inzwischen gibt es tolles Informationsmaterial für Patienten und auch für Ärzte.
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ZUR PERSON
Dr. Susanne Balzer ist hausärztliche Internistin in Köln. Im April vergangenen Jahres hat sie sich niedergelassen. Balzer ist Mitglied der AG hausärztliche Internisten der DGIM, in der sie das Ressort Klimaschutz betreut. Sie ist über die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) vernetzt und setzt sich für Klimaschutz in der Primärversorgung und die Reduktion von Treibhausgasemissionen in der Arztpraxis ein.
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Wie können sich Krankenhäuser, Pflegeheime & Co. auf den Klimawandel vorbereiten? Jeder für sich allein oder wie können Synergien gehoben werden?
Matthys: Dafür sollten wir uns zunächst fragen, welche Risiken für Krankenhäuser und Pflegeheime der Klimawandel mit sich bringt.
Und welche sind das?
Matthys: Die Hauptrisiken entstehen aus Extremwetterereignissen wie Stürmen und Starkregen, wie wir sie gerade dieser Tage wieder in Deutschland erleben, und aus Hitzewellen. Die Folgen daraus sind vielfältig. Durch Extremwetterereignisse können Betriebsabläufe gestört oder sogar unterbrochen werden, indem zum Beispiel Gebäudeteile beschädigt oder unter Wasser gesetzt und Lieferketten
oder die Energieversorgung unterbrochen werden. Die Folgen von Hitzewellen und dem daraus resultierenden Phänomen des Heat-Island-Effekts in den Städten bedrohen vor allem Gesundheit und Leistungsfähigkeit von Patienten und Personal. Und diese Bedrohung nimmt zu. Schon in den Rekordsommern der vergangenen Jahre stöhnten viele Krankenhäuser über die Belastung durch extreme Hitze. Bis Ende 2100 prognostiziert der Lancet Countdown Report für Deutschland bis zu 30 Hitzewellen pro Jahr und bis 2030 über 30.000 zusätzliche hitzebedingte Todesfälle in Europa. Wir haben uns in dem Webinar „Klimaresiliente Krankenhäuser“ daher vor allem auf Maßnahmen zur Hitzeresilienz konzentriert und bauliche wie verhaltensbasierte Anpassungsmaßnahmen besprochen.
Wie können solche Anpassungsmaßnahmen aussehen?
Matthys: Diese müssen sowohl innerhalb jedes Hauses also auch auf kommunaler und bundesweiter Ebene stattfinden. Jedes Haus muss seine baulichen Gegebenheiten auf Stand bringen. Wie sieht es aus mit außenliegendem Sonnenschutz und der Isolierung der Gebäudehülle? Sind auf dem Gelände ausreichende Verdunstungsflächen und verschattete Aufenthaltsbereiche im Freien vorhanden? Können begrünte Dachflächen oder sogar Grünfassaden geschaffen werden? Sind energie- und ressourcenschonende Kühlsysteme vorhanden? Dazu kommen Möglichkeiten zu verhaltensbasierten Anpassungsmaßnahmen. Diese reichen von internen Schulungen über Patientenmonitoring besonders vulnerabler Gruppen bis hin zur Verlegung von Patienten und veränderten bzw. flexibleren Betriebsabläufen, in denen Aktivitäten mit erhöhter körperlicher Belastung in die Morgen- und Abendstunden verlegt werden.
Welche sind die größten Hürden?
Matthys: Viele Häuser stehen vor der Herausforderung, entsprechende Anpassungsmaßnahmen in die Fassaden oder in die Gebäudekühlung in teilweise veralteten, teilweise sogar denkmalgeschützten Bauten im laufenden Betrieb umzusetzen. Dabei fehlt es an verlässlichen Regelwerken und Daten, welche Maßnahmen sich wie auswirken. Der schlimmste zu erwartende Effekt wäre, dass mit wenig Weitsicht gehandelt wird und stromfressende, außenliegende Klimageräte an den Fassaden angebracht werden, die wiederum noch mehr zum Klimawandel beitragen.
Besteht bei Bauherren und Trägern ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, bestehende oder neue Bauten an klimatische Änderungen anzupassen?
Matthys: Ich würde sagen, das Bewusstsein wächst. Die Hitzesommer der vergangenen Jahre sind nicht ohne Effekt an den Bauherren vorbeigegangen und auch die öffentliche Wahrnehmung der Problematik ist ja in den letzten Jahren gewachsen. Inzwischen sehen wir in den Ausschreibungen zu neuen Bauvorhaben immer öfter das Wort „klimaresilient“ auftauchen und an vielen größeren Häusern gibt es inzwischen einen Klimamanager, der nicht nur für die oben beschriebenen baulichen und verhaltensbasierten Maßnahmen, sondern auch zum Beispiel für klimafreundliche Warenkreisläufe und Abfallmanagement zuständig ist. Das Bundesumweltministerium hat zudem seit 2020 mit dem Förderprogramm „Klimaanpassung in sozialen Einrichtungen“ einen Fördertopf geöffnet, der Krankenhäuser und Pflegeheime bei Beratung, Investitionen und auch Schulungsmaßnahmen unterstützt. Dieses Programm wird sehr gut angenommen, was deutlich macht, dass das Bewusstsein und der Bedarf auf jeden Fall vorhanden sind.
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ZUR PERSON
Die Architektin Stefanie Matthys war unter anderem wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin im Fachgebiet „Entwerfen von Krankenhäusern und Bauten des Gesundheitswesens“ von Prof. Christine Nickl-Weller. Dort initiierte sie diverse Forschungsprojekte, Tagungen und Workshops zu „Healing Architecture“. 2014 trat Matthys in die Nickl & Partner Architekten AG ein. Seit 2017 ist sie Geschäftsführerin des European Network Architecture for Health.
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Längst gebe es klare Vorgaben für die Registrierung klinischer Studien und die zeitnahe Veröffentlichung der Ergebnisse, betont Cochrane Deutschland und verweist auf die EU-Verordnung 536/2014 vom 16. April 2014. Doch laut der Webseite „EU Trials Tracker“ seien derzeit die Ergebnisse für 4.046 von 13.563 – also fast 30 Prozent – registrierten europäischen Arzneimittelstudien überfällig. Laut den in der EU geltenden Vorgaben für die Transparenz solcher Studien sollen die Ergebnisse innerhalb eines Jahres nach Abschluss einer Studie veröffentlicht werden. „Durch eine verspätete Veröffentlichung entstehen Lücken in der Evidenzbasis zu wichtigen medizinischen Fragestellungen, die es Ärzten und Gesundheitsbehörden schwerer machen zu beurteilen, wie sicher und wirksam Medikamente sind“, erläutert Cochrane Deutschland. Das verlangsame letztlich den medizinischen Fortschritt und gefährde Patienten. Die Organisation sieht die nationalen Zulassungsbehörden in der Pflicht: Sie sollen dafür sorgen, dass Pharmaunternehmen, Universitäten und Krankenhäuser die Ergebnisse klinischer Studien fristgerecht veröffentlichen. Doch viele Behörden unternehmen nur wenig, um die Einhaltung geltender Vorgaben durchzusetzen.
In einem offenen Brief werden die Heads of Medicines Agencies (HMA), ein Zusammenschluss der nationalen Arzneimittel-Zulassungsbehörden in der EU, aufgefordert, von den nationalen Behörden der EU folgende Mindeststandards einzufordern: Erstens Kontaktaufnahme zu allen Sponsoren von abgeschlossenen Studien, für die Ergebnisse überfällig sind. Zweitens soll im Rahmen sogenannter Pharmakovigilanz-Inspektionen durch die Behörden bei Studiensponsoren die Einhaltung der Regeln zur Offenlegung von Studienergebnissen überprüft werden. Drittens wird eine systematische Überprüfung des Abschlussstatus aller klinischen Studien angemahnt.
„Wenn Studienergebnisse der Wissenschaft nicht zeitnah zur Verfügung gestellt werden, ist eine gute evidenzbasierte Gesundheitsversorgung kaum möglich. Letztlich gefährdet dies ganz konkret kranke Menschen“, kommentiert Jörg Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland.
Die Referentinnen sind sich einig: Therapeuten haben das Fachwissen sowie die Erfahrung in Beratung und Anleitung, die zur Vermittlung von Gesundheitskompetenz benötigt werden. Ein weiterer Faktor: Im Vergleich zu Medizinern oder Pharmazeuten haben Therapeuten deutlich mehr Zeit, „um in Beziehung zu treten und uns auseinanderzusetzen“, sagt Ergotherapeutin Eva Denysiuk, Vorständin des Council of Occupational Therapists for the European Countries. Da Gesundheitskompetenz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, brauche es Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den therapeutischen Professionen, so die einhellige Forderung der Runde. In der Ausbildung und im Studium komme das Thema Gesundheitskompetenz noch viel zu kurz, berichtet Corinna Wirner. Die Physiotherapeutin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gemeinsam mit ihren Kollegen hat sie Lehrpläne für Physiotherapeuten untersucht. Ergebnis: Nur einer von 27 beinhaltet das Thema Gesundheitskompetenz. Gleichzeitig wollen 61 Prozent der von ihnen befragten Physiotherapeuten darüber in der Ausbildung lernen. „Es ist Interesse da. Das sollte man nutzen und darauf eingehen“, sagt Wirner. Außerdem fordert sie, die von den Therapeuten erbrachte Beratung zur Gesundheitskompetenz müsse als Leistung im Heilmittelkatalog vergütet werden.
Denysiuk ist überzeugt, dass die starke Lebenswelt- und Klientenorientierung der Ergotherapeuten die „Grundlage für Gesundheitskompetenz“ sind. Die Berufsgruppe mache im Rahmen ihrer Therapie Gesundheitsinformationen erlebbar. Dazu gehörten Beratung und Umweltanpassung, aber eben auch den Patienten beizubringen, erhaltene Informationen anzuwenden. Ergotherapeuten helfen Menschen mit chronischen Erkrankungen, ihren Gesundheitszustand zu managen. „Dann wird häufig gesundheitskompetentes Handeln der Behandlungsauftrag“, sagt Denysiuk.
In der Sprachtherapie geht es um Sprache und kommunikative Kompetenzen. Beides sind für die Logopädin Lucie Hilscher „Voraussetzungen für eine adäquate Gesundheitskompetenz“. Durch ihre Tätigkeit hätten Logopäden Kontakt zu vulnerablen Zielgruppen, der für andere Leistungserbringer oft nur schwer herzustellen sei. Eine große Hürde ist für Hilscher allerdings, dass „Gesundheitsfachkräfte meist nicht in der Lage sind, die Gesundheitskompetenz ihrer Patientinnen und Patienten richtig zu bestimmen und sogar in den meisten Fällen die Fähigkeiten überschätzen“. Das sei für Patienten fatal.
Das beim BfArM angesiedelte Forschungsdatenzentrum soll aktuelle Daten für die Forschung und die Gesundheitsplanung zur Verfügung stellen. Das bisherige Informationssystem Versorgungsdaten des DIMDI enthält Angaben aus dem Morbi-RSA. Im Datenkörper enthalten seien zwar versichertenbezogene Information zu stationären und ambulanten Leistungen inklusive Diagnosen sowie Angaben zu Arzneimitteln. Es fehlten aber Angaben zur Behandlung über EBM oder OPS-Codes, es gebe keine detaillierten Kostendaten und letztlich auch keine Angaben zu Symptom- und Laborwerten, so Brandes. Eine große Hürde für die Forschung stellte bislang auch der strukturbedingte Verzug von vier Jahren dar.
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[caption id="attachment_4806" align="aligncenter" width="1200"]Das neue Verfahren ist losgelöst vom Morbi-RSA. Die Krankenkassen liefern die Daten an den GKV-Spitzenverband, der Datensammelstelle ist. Ein deutlich geringerer Zeitverzug ist die Folge. Außerdem sollen künftig detaillierte Kostendaten verfügbar sein, auch Hebammenleistungen, Heil- und Hilfsmittel seien dann im Datenumfang enthalten, erläutert Brandes. Sie spricht von einem „großen Datenschatz“. Ende 2022 sollen erstmalig Angaben des neuen Datenkranzes mit dem neuen Datenumfang an das Zentrum für die aktuellen Berichtsjahre übermittelt werden.
Grundsätzlich sei es für die Nutzer möglich, die Ergebnismengen mit weiteren Datenkörpern zu verknüpfen. Interessant wird es ab 2023, wenn die Möglichkeit besteht, Daten aus der elektronischen Patientenakte an das Forschungsdatenzentrum zu übermitteln. Versicherte geben in diesem Fall freiwillig und einwilligungsbasiert Daten an das Zentrum für Forschungszwecke frei. Zunächst geht es um strukturierte Daten – etwa aus dem Impf- oder dem Mutterpass. Das Ganze soll aber stufenweise erweitert werden, langfristig geht es um Verlinkungen z.B. mit dem Krebsregister.
Die moderne Medizin ist datengetrieben, daran besteht kein Zweifel, doch in der Bevölkerung bestehen noch Unsicherheiten und Zurückhaltung. Eine aktuelle repräsentative Umfrage von YouGov im Auftrag der Siemens Betriebskrankenkasse zeigt, dass nur 39 Prozent der Befragten dem Einsatz von Algorithmen in der Medizin positiv gegenüberstehen. Die repräsentative Studie „Daten in der Medizin“ von Statista und Roche offenbart, dass bei den Deutschen überwiegend nur oberflächliche Kenntnisse von Datenanwendungen im Gesundheitswesen vorhanden sind. Eine positivere Wahrnehmung gibt es bei Entwicklungen mit persönlichem Nutzen. Eine langfristige Speicherung der Daten z.B. zu Vorerkrankungen zur besseren Einordnung aktueller Erkrankungen wird von 74 Prozent der Befragten als Vorteil angesehen. 64 Prozent betrachten die Verwendung der Behandlungsdaten anderer Patienten zur Weiterentwicklung von Therapien als vorteilhaft.
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„Um ein optimales Nutzen-Schaden-Verhältnis zu erreichen, sollte die Häufigkeit der Untersuchungen neben dem Alter auch an das individuelle Risikoprofil der Frauen angepasst werden“, sagt Prof. Michael Schlander, Leiter Gesundheitsökonomie am DKFZ. Dass ein solches „risikobasiertes“ Brustkrebs-Screening auch ökonomisch eine gangbare Alternative sein könnte, konnten die Wissenschaftler des Zentrums mit einer systematischen Literaturauswertung zeigen. Zehn in der aktuellen Arbeit ausgewertete Studien unterschieden sich hinsichtlich der Risikofaktoren, die sie berücksichtigen. Am häufigsten wurden neben dem Alter die Brustdichte, familiäre Risiken, frühere gutartige Brusterkrankung, reproduktive Faktoren, Lebensstilfaktoren, genetische Risikoprofile (SNPs) sowie die Wahrscheinlichkeit einer Mutation in den „Brustkrebsgenen“ BRAC1 und 2 zur Risikostratifizierung genutzt. Die DKFZ-Forscher verglichen die Kosteneffektivität. Das Ergebnis: Programme, bei denen Frauen mit geringen Risiken seltener, Hochrisiko-Frauen aber häufiger untersucht wurden, erwiesen sich gegenüber einem rein altersbasierten Screening (oder gar keinem Screening) als kosteneffektiver. Das bedeutet, dass bei gleichen Kosten das risikobasierte Screening einen höheren gesundheitlichen Gewinn erzielen kann – bezogen auf die Gruppe aller gescreenten Frauen.
„Ein personalisiertes Screening erschien in unserer Auswertung als wirtschaftlich effiziente Alternative zu einem rein altersbasierten Brustkrebs-Screening“, erklärt Schlander. Der Gesundheitsökonom schränkt allerdings ein, dass aufgrund der Heterogenität der ausgewerteten Einzelstudien eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich sei. So haben beispielsweise einige der Einzelstudien die Kosten für die Bestimmung der individuellen Risikofaktoren der Frauen nicht berücksichtigt. Studienleiter Dr. Shah Alam Khan ergänzt: „Bevor das altersbasierte Screening durch eine andere Methode ersetzt wird, sind weitere Untersuchungen notwendig.“ Dabei sollten auch neue Technologien miteinbezogen werden, wie etwa die 3-D-Mammographie oder spezielle MRT-Untersuchungsverfahren.•
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Eine Besonderheit von mTOMADY ist, dass das Geld, das auf das Gesundheitskonto geladen wurde, ausschließlich für Gesundheitsdienstleistungen nutzbar ist. So ist sichergestellt, dass die Nutzer ein finanzielles Polster ansparen, das in prekären Situationen aufgrund von Krankheiten oder Unfällen Leben retten kann. Zusätzlich ist es möglich, eine Krankenversicherung über die Plattform abzuschließen. Ebenso können Spenden auf eine digitale Plattform eingezahlt werden, von denen alle Mitglieder von mTOMADY profitieren.
Aktuell arbeitet das Gesundheitsministerium von Madagaskar zusammen mit der Initiative daran, das Gesundheitsportemonnaie zu einem integralen Bestandteil der Gesundheitsversorgung des Landes weiterzuentwickeln. Angefangen hat mTOMADY mit der Unterstützung von schwangeren Frauen im zentralen Hochland. „In Madagaskar herrscht eine hohe Mutter- und Säuglingssterblichkeit, und nur wenige Geburten werden professionell durchgeführt“, begründet Julius Emmrich diese Wahl. Mittlerweile steht mTOMADY auch anderen Patientengruppen zur Verfügung. Außerdem sind Emmrich und Knauß dabei, mehrere Krankenkassen in Madagaskar in das System zu integrieren. Auch in Ghana und Uganda soll das digitale Gesundheitsportemonnaie eingeführt werden.
Emmrich und Knauß sind seit 2019 Teilnehmer des BIH Charité Digital Clinician Scientist-Programms, das ihnen ermöglicht, während der Facharztweiterbildung zum Neurologen mTOMADY zu entwickeln. Der Digital Health Accelerator des BIH förderte das Projekt von Juli 2018 bis Dezember 2020 mit rund einer Million Euro.
Das Papier mit dem Titel „Mehr Ökonomie wagen“ beschreibt das Dilemma leistungsfähiger Gesundheitssysteme: Je mehr aufgrund von medizinischem und technischem Fortschritt möglich sei, desto stärker werde der Finanzierungsdruck und desto bedeutender eine effiziente Ressourcenallokation. Die Pandemie habe das Potenzial, die Akteure aus tradierten Strukturen und Denkmustern zu lösen. Angesichts der sich abzeichnenden Verknappung finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen und dem daraus resultierenden Handlungsdruck wird eine sinnvoll ausgerichtete Ökonomie empfohlen, um Herausforderungen zu bewältigen und Impulse für eine Versorgung zu liefern, die sich tatsächlich am Outcome Gesundheit orientiere. „Lediglich eher ‘einfältige‘ Leistungskürzungen werden nicht genügen, es sind politische Reformen gefragt, die eine sinnvolle Allokation von Ressourcen in den Vordergrund stellen“, konstatieren die Autoren.
Als zukunftsorientierte ökonomische Ansätze werden Value-based Health Care und Population Care in dem Papier genannt. Bei letzterem kann die Verantwortung für die Gesundheit bestimmter Populationen auf unterschiedliche Akteure übertragen werden. Value-based Health Care wird der Ansatz genannt, die Vergütung der Leistungserbringer nicht an der Menge der erbrachten Leistungen, sondern an den Behandlungsergebnissen auszurichten. Als leitendes Prinzip wird die Qualitätsverbesserung empfohlen; dieses sollte auch als ethisches Gebot und Teil des Solidarprinzips verstanden werden. Den Autoren zufolge kann ein solcher Kulturwandel nicht nur top-down gesteuert werden. Alle Akteure sollten sich auf die Suche nach zukunftsfähigen Versorgungsansätzen begeben.
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1. Messen, Vergleichen und Nutzen von Daten fördert die Qualität
Ökonomie schaffe Transparenz und befähige zu informierten Wahlentscheidungen, etwa durch Erhebung und Veröffentlichung aufbereiteter Versorgungsdaten zu Leistungserbringern und sektorenübergreifenden Behandlungsverläufen. Erwähnt wird auch der Einsatz von Real World Evidenz sowie Kennzahlen über Krankenkassen und -versicherungen.
2. Innovationen brauchen Handlungsspielräume und Leitplanken
Ökonomie setze auf den Abbau von Barrieren und Spielräume als Stimuli. Angemahnt werden verlässliche Leitplanken, die Förderung von unternehmerischem Handeln sowie eine kontinuierliche Strukturbereinigung mit Markt-
zugang und -austritt.
3. Veränderungen müssen vom Menschen her gedacht werden
Verhaltensökonomische Ansätze erzielten große Wirkungen durch Versorgungsmodelle, die sich an Lebenswelten orientieren. Das Honorieren von Qualität wird in diesem Zusammenhang ebenso genannt wie die Übernahme von Verantwortung für die Gesundheit von Patienten zu fördern.
Weiterführender Link:
Strategiepapier des BMC: https://www.bmcev.de/mehr-oekonomie-wagen/
[post_title] => Das Dilemma leistungsfähiger Gesundheitssysteme [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => das-dilemma-leistungsfaehiger-gesundheitssysteme [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-08-11 11:52:14 [post_modified_gmt] => 2021-08-11 09:52:14 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4642 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4709 [menu_order] => 130 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [211] => WP_Post Object ( [ID] => 4713 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-08-06 15:34:00 [post_date_gmt] => 2021-08-06 13:34:00 [post_content] =>.
Um für zukünftige Krisen gewappnet zu sein gilt es, konsequent Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Ziel kann es nicht sein, dass das Gesundheitswesen in den Vor-Corona-Zustand zurückkehrt. Gefragt ist eine kontinuierliche Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen. Resilienzforscher nennen das den „bounce forward“, bei dem das System nach einer Krise leistungsfähiger und langlebiger ist als zuvor.
Wie gelingt der „bounce forward“ beim Thema Impfen, wie im Krankenhaussektor und wie im Öffentlichen Gesundheitsdienst? Und wie sieht es bei Lieferketten, Diagnostik und Digitalisierung aus? Über diese Themen debattieren Herausgeberin Lisa Braun und Chefredakteurin Antje Hoppe online mit namhaften Experten. Bei einem Abschlusssymposium werden die Pandemie-Lehren zusammengefasst und mit den frisch gewählten Gesundheitspolitikern diskutiert.
Alle Leserinnen und Leser von Gerechte Gesundheit sind zur Veranstaltungsreihe, die von den Funding-Partnern der Initiative ermöglicht wird, herzlich eingeladen.
Themenübersicht der Veranstaltungsreihe
• Impfen – vom Mauerblümchen zum Heilsbringer
• Krankenhaus – neue Ansprüche und Konzepte
• Öffentlicher Gesundheitsdienst – Aufbruch wohin?
• Lieferketten – globale Märkte, lokale Folgen
• Diagnostika – neue Wertschätzung für Tests & Co.
• Digitalisierung – erlauben, was nutzt?
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Weiterführender Link:
Details und Link zur Registrierunghttps://gerechte-gesundheit-virtuell.de/registrierung/
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„Das AMNOG erfüllt seinen Zweck“, bringt der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken seine Bilanz zur AMNOG-Dekade pragmatisch auf den Punkt. Das Verfahren erziele verlässlich jährliche Einsparvolumina von über drei Milliarden Euro, für 2020 seien sogar 3,9 Milliarden prognostiziert. Auch die Qualität der eingereichten Dossiers habe sich kontinuierlich verbessert. „In kaum einem anderen Verfahren werden so viele klinische Daten der Öffentlichkeit vorgestellt und so Transparenz hergestellt“, lobt er. Transparenz sei neben der Kostendämpfung der zweite wichtige Zweck des AMNOG.
Um die Finanzierbarkeit innovativer und hochpreisiger Therapien auch zukünftig sicherzustellen und eine „offene Rationierung zu vermeiden“, schlägt Hecken eine bedeutsame Modifizierung des AMNOG vor: die Rückwirkung des Erstattungsbetrags zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung durch den G-BA. Man sollte offen sein für eine Diskussion, ab wann der Erstattungsbetrag gilt, appelliert er. „Diejenigen, die darüber nicht nachdenken, denken stattdessen heimlich über die vierte Hürde nach, denn die bringt viel mehr“. Einen Vorstoß in Sachen rückwirkender Erstattungsbetrag hat zuletzt im vergangenen Jahr der AOK-Bundesverband unternommen.
Als „Zeitzeuge und Aufsicht“ zieht bei der Veranstaltung auch Thomas Müller, Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium und zuvor Abteilungsleiter im G-BA, Bilanz zum AMNOG. Er erinnert sich etwa an die allererste Bewertung des G-BA, über die eine Woche lang bis zu zehn Stunden täglich gebrütet wurde: der Wirkstoff Ticagrelor. „Aus meiner heutigen Sicht eine krasse Fehlbewertung“, räumt Müller ein. Auch die Entscheidung zu den Gliptinen hält er im Nachhinein für falsch, denn diese hätten einen „ganz erheblichen Fortschritt in der Therapie des Diabetes“ gebracht. In der Gesamtschau erkennt er allerdings kaum wesentliche Fehlentscheidungen und Abweichungen und stellt die nationale wie internationale Akzeptanz des Verfahrens hervor. Müller glaubt sogar, dass der AMNOG-Ansatz den des NICE global mittlerweile überflügelt habe.
Wie Hecken geht auch Müller auf das Thema Arzneimittelkosten und -ausgaben ein. Er warnt vor einer populistischen und moralischen Debatte; ansonsten seien Patienten mittelfristig die Leidtragenden. Es gehe darum, über das AMNOG die richtigen Anreize zu setzen. Gänzlich ausklammern will Müller die Ausgabendiskussion allerdings nicht. Spielraum sieht er offenbar bei den Kombinationstherapien. Außerdem hält er bei den second oder third best einer Indikation das Erstattungsniveau des Erstinventors für nicht unbedingt notwendig.
Mit der Frage nach dem angemessenen Preis setzt sich auch die Schiedsstelle des Verfahrens auseinander. Bei Streitfällen zu Arzneimitteln ohne Zusatznutzen stehen meistens verfahrensrechtliche Streitereien im Mittelpunkt, meint ihr Vorsitzender Prof. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum, im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit. Er ist verwundert, dass nach zehn Jahren AMNOG immer noch vielfältiger Klärungsbedarf besteht. Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen stellt die Monetarisierung des Zusatznutzens eine große Herausforderung dar. Auch europäische Preise bieten da nur wenig Orientierungshilfe, meint Huster, denn Hersteller und GKV-Spitzenverband präsentierten dazu häufig widersprüchliches Zahlenmaterial. Husters Vorgänger Prof. Jürgen Wasem hat während seiner Zeit als Schiedsstellenvorsitzender gesagt: „Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für den Zusatznutzen angeht.“ Ähnlich sieht es Huster. Auch er würde klare Kriterien dafür, was der medizinische Zusatznutzen wert ist, für sehr hilfreich erachten.
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Wie unabhängig ist der G-BA?
Der Gesundheitsökonom und Autor des AMNOG- Reports, Prof. Wolfgang Greiner, hakt bei der Veranstaltung nach: Das Gesundheitswesen werde in eine schwierige finanzielle Lage geraten – wie unabhängig kann der Gemeinsame Bundesausschuss in einer solchen Situation sein? G-BA-Chef Hecken stellt klar: „Wir müssen unabhängig von der finanziellen Situation faire, wissenschaftliche, evidenzbasierte Bewertungen abgeben.“ Die Bewertungen und Ergebnisse dürften nicht Dinge künstlich schlecht machen, die gut seien. Aber man müsse sich um konstruktive Ideen zu größeren Einspareffekten, die die Evidenz nicht berühren, bemühen. „Nur deshalb äußere ich mich zur Finanzierung“, betont der unparteiische Vorsitzende.
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„Es reicht nicht, dass einfach etwas da ist“
Mehrere Dossiers zum AMNOG liegen auf Müllers Schreibtisch, z.B. eine Überarbeitung der EU-Regulation zu Orphans und pädiatrischen Arzneimitteln – was direkt zu den Orphan-Privilegien im AMNOG-Prozess führt. Diese hält Müller für notwendig, aber im Interesse der Patienten müsse auch bei Orphan Drugs eine strenge Bewertung des Zusatznutzens erfolgen. „Es reicht nicht, dass einfach etwas da ist.“ Stichwort EU-HTA: „Wir schützen das, was wir in Deutschland mit dem G-BA haben, auf jeden Fall“, verspricht Müller. Die rote Linie sei, wenn Errungenschaften und Systemnutzen des hiesigen Verfahrens für eine etwas diffuse europäische Harmonisierung aufgegeben werden. Offen zeigt er sich jedoch für eine Harmonisierung von Teilschritten des HTA-Prozesses.
Der Begriff Resilienz leitet sich vom lateinischen Verb resilire ab, was „zurückspringen“ oder „abprallen“ bedeutet. Im Wortsinn bedeutet Resilienz die Fähigkeit zurückzuspringen, das heißt nach Belastungen oder Störungen in das Ausgangsstadium zurückzukehren, erläutert Resilienzforscher Dr. Florian Roth vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung.
[caption id="attachment_4558" align="aligncenter" width="1200"]In der Psychologie bezeichnet Resilienz die psychische Widerstandsfähigkeit in schwierigen Situationen und Krisen. In der Physik und den Ingenieurswissenschaften ist Resilienz ein Maß, um die Widerstandsfähigkeit von Materialien und Strukturen zu bewerten. „Doch wir können Resilienz-Konzepte auch nutzen, um ganze Systeme und deren Verhalten gegenüber Schocks und Störungen zu analysieren“, führt Roth aus. Je schneller das betroffene System seine normale Funktionsweise zurückerlange, desto resilienter sei es. Der Resilienzexperte nennt das die Fähigkeit zum „bounce back“.
[caption id="attachment_4559" align="alignnone" width="308"]
Für ungleich spannender hält Roth jedoch den „bounce forward“ als erweiterten Resilienzbegriff. Dabei stehe die Fähigkeit im Zentrum, langfristig zu überleben und zu prosperieren. Ziel sei daher nicht notwendigerweise die Rückkehr in den Systemzustand vor einem Schockereignis, sondern eine kontinuierliche Anpassung unter sich verändernden Umweltbedingungen. „Durch diese Anpassung an neue Bedingungen wird der bounce forward möglich, bei dem das System nach einer Krise leistungsfähiger und langlebiger ist als davor“, erläutert Roth.
Auch das European Observatory on Health Systems und Policies definiert Resilienz als Fähigkeit eines Gesundheitssystems, sich auf einen Schock vorzubereiten, damit umzugehen und von dem Ereignis zu lernen. Ein Schock wird wiederum als plötzlicher und extremer Wandel verstanden, der Auswirkungen auf das Gesundheitssystem habe. Es dürfe nach der Krise nicht nur darum gehen, sich lediglich von den Herausforderungen zu erholen. Es gelte, sich außerdem auf zukünftige Schocks vorzubereiten. Dies werde oft vernachlässigt, wenn die Gesundheitssysteme wieder zu einer Post-Schock-Normalität zurückgekehrt seien, mahnen die Experten.
Nicht von ungefähr steht bei zwei umfangreichen Projekten, bei denen es um Lehren aus der Pandemie geht, Resilienz im Mittelpunkt des Interesses. Das Projekt der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) „Resilienz und Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens in Krisenzeiten“ startete im Juli 2020. Ein zentrales Anliegen der Expertengruppe ist es, Lehren aus der Corona-Pandemie zu ziehen und Empfehlungen für ein widerstandsfähigeres Gesundheitssystem zu geben. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Gesundheit. Ziel aller nationalen Anstrengungen innerhalb Europas muss es den Experten zufolge sein, die gesamteuropäische Resilienz mit Blick auch auf globale Zusammenhänge zu stärken. Die Belastungsgrenzen und strukturellen Ausrichtungen der Gesundheitssysteme seien innerhalb der EU, aber auch innerhalb Deutschlands divers. Entsprechend wichtig sei die Koordination und Kooperation aller beteiligten Behörden, Institutionen und weiterer Akteure auf lokaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene.
Prof. Prof. Thomas Lenarz von der Medizinischen Hochschule Hannover sagt: „Die Versorgungsstrukturen bestimmen über die Belastungsgrenzen in einer Krisensituation. Sie sollten modernisiert und ausgebaut werden.“
Zum Beispiel brauche es mehr medizinische Versorgungszentren und ambulante OP-Zentren. Sie ermöglichten es in und nach Gesundheitskrisen, Erkrankte oder Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen bestmöglich und schnellstmöglich zu behandeln. Notwendig sind laut Lenarz auch bessere Reserven von Medizintechnik für Diagnose und Therapie, von Labor- und Testkapazitäten und von Arzneimitteln und Impfstoffen. „Wir empfehlen ein europaweites, einheitliches und verpflichtendes elektronischen Meldesystem für Arzneimittel und Medizinprodukte.“
acatech-Präsident Karl-Heinz Streibich fordert einen ersten Datenraum im Gesundheitsbereich, um die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent zu nutzen. „Wir brauchen einen Datenraum, der den Austausch von Informationen in Echtzeit erlaubt und die vertrauensvolle Verarbeitung ermöglicht.“ Die Expertengruppe empfiehlt dafür eine europäische Datenraum-Architektur mit einheitlichen Standards. Diese bildet die Basis für die digitale Vernetzung der nationalen Gesundheitssysteme, im Krisenfall können Informationen europaweit konsolidiert und genutzt werden – denn eine Pandemie kennt keine Ländergrenzen.
Die London School of Economics, das Weltwirtschaftsforum und AstraZeneca haben sich unterdessen für eine Partnerschaft für Resilienz und Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen – Partnership for Health System Sustainability and Resilience – zusammengeschlossen.
Deren Ziel ist es, einen entscheidenden Beitrag zur langfristigen Sicherung und Verbesserung der globalen Gesundheit zu leisten. In der Pilotphase des Projekts von August 2020 bis Januar 2021 wurde ein von Experten entwickelter Rahmen verwendet, um die Resilienz und Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme in acht Pilotländern zu messen: Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Großbritannien, Polen, Russland und Vietnam. Für jedes Land wurden die Ergebnisse in einem Bericht publiziert, der außerdem Fallstudien sowie Empfehlungen enthält.
Das deutsche Gesundheitssystem wurde von Prof. Greiner, Universität Bielefeld, auf Resilienz und Nachhaltigkeit abgeklopft. Die Liste seiner Reformvorschläge ist lang. Als eine deutliche Schwäche, die in der Pandemie offenbar wurde, bezeichnet der Gesundheitsökonom die „jahrelange Unterfinanzierung und Vernachlässigung der kommunalen Gesundheitsämter“.
Gegenüber der Presseagentur Gesundheit macht er außerdem deutlich, dass die gut vorbereiteten Pandemiepläne nur teilweise in der Realität umgesetzt werden konnten – insbesondere was die Vorhaltung von Ressourcen angeht. „Hier wird nach Abschluss der Krise noch eine umfassende Evaluation nötig sein, wie die Vorbereitungen auf die nächste Pandemie noch besser gestaltet werden können“, sagt Greiner. In seiner Analyse hat er in allen Bereichen des Gesundheitssystems Handlungsbedarf festgestellt, um Nachhaltigkeit und Resilienz zu fördern. Für die Pandemiebekämpfung und die Steigerung der Resilienz – während und nach der Pandemie – ist eine erneute Priorisierung der lokalen Gesundheitsämter unabdingbar. Auch im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen muss Deutschland dringend aufholen.
Die Aufholjagd hat in dieser Legislaturperiode begonnen.
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Was ist ein „shock circle“?
Das European Observatory on Health Systems und Policies unterscheidet vier Stadien des „shock circle“
• Phase 1: Bereitschaft
Diese sei davon abhängig, wie anfällig und verletzbar das System für unterschiedliche Unruhen ist.
• Phase 2: Beginn des Schocks und Alarm
Der Fokus liegt auf einer rechtzeitigen Identifikation des Beginns und der Art des Schocks.
• Phase 3: Auswirkungen des Schocks sowie Management
Das System absorbiert den Schock und passt sich – wo notwendig – an, um sicherzustellen, dass die Ziele des Versorgungssystems weiterhin erreicht werden.
• Phase 4: Erholung und Lernen
Eine Rückkehr zu einer Art von Normalität findet statt, dennoch können Veränderungen als Folge des Schocks bestehen bleiben.
Weiterführende Links:
Zum Projekt der acatech: http://www.acatech.de/resilienz-gesundheitswesen
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[caption id="attachment_4578" align="aligncenter" width="1200"]Diese Wissenslücken will der Forschungsverbund CancerCOVID schließen, in dem Ethiker, Onkologen und Versorgungsforscher zusammenarbeiten. Zunächst werden Versorgungsdaten aus den Monaten März und April 2020 im Vergleich zu den Vorjahren ausgewertet. Dazu gehören pseudonymisierte GKV-Routinedaten der AOK Plus in Sachsen. Hier werden die Daten zur Früherkennung, Diagnose und Behandlung von Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs analysiert und mit der Versorgung von Patienten mit Typ-2-Diabetes und koronarer Herzkrankheit verglichen. Zum anderen werden, um das Ausmaß der Ressourcenallokation während der Pandemie beurteilen zu können, Datenerhebungen in Tumornetzwerken zur Behandlung von Darmkrebs vorgenommen und Registerstudien ausgewertet.
Danach sollen die Informationen mit Experten aus der Krebsmedizin sowie weiteren Vertretern aus dem Gesundheitswesen und mit der Politik diskutiert werden. Im Fokus stehen dabei mögliche Konsequenzen für eine begründete Prioritätensetzung in der Krebsmedizin, die in Handlungsempfehlungen münden sollen. Sie sollen nach Angaben von Schildmann dazu dienen, in Ausnahmesituationen wie der Corona-Pandemie die akute, aber auch psycho-soziale Versorgung von Krebspatienten zu gewährleisten. Das Projekt wird mit rund 400.000 Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
Eine Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Deutschen Krebshilfe und der Deutschen Krankenhausgesellschaft hat gezeigt, dass es während der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 zu erheblichen Einschränkungen im Bereich der Nachsorge und bei der psychoonkologischen beziehungsweise der nichtärztlichen Beratung kam. Auch in anderen Bereichen berichteten Comprehensive Cancer Centers (CCC), die für die Studie befragt wurden, von zumindest temporären Funktions- und Kapazitätseinschränkungen. Insgesamt aber, so das Ergebnis, haben sich für Patienten, die innerhalb der CCC betreut wurden, „keine anhaltenden, bedrohlichen Einschränkungen in der onkologischen Akutversorgung, das heißt bei der Diagnostik und der Primärtherapie“, ergeben. „Dennoch kam es zu Verzögerungen und Veränderungen bei der Abklärung und Therapie, was für betroffene Patienten eine zusätzliche psychische Belastung darstellen und – zumindest bei langen Intervallen – auch zu einem Fortschreiten der Erkrankung führen kann.“
Ob sich die beobachteten Veränderungen nachteilig auf die Behandlungsergebnisse im Sinne von Überlebensprognosen auswirken, könne erst in einigen Jahren erfasst werden. Auch aussagekräftige Analysen zur Stadienverteilung, um etwaige Auswirkungen einer verzögerten Diagnosestellung zu quantifizieren, seien aufgrund des Zeitverzugs bei der bevölkerungsbezogenen Krebsregistrierung erst mit einer Latenz von mindestens zwei Jahren zu erwarten.
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Darmkrebsvorsorge – Prioritäten richtig gesetzt?
Tests auf verborgenes Blut im Stuhl sind zentraler Bestandteil der Darmkrebsvorsorge. Im europäischen Vergleich hinkt Deutschland bei den Teilnahmeraten weit hinterher. Bislang nehmen nur etwa 10 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen das Testangebot wahr.
„Es wird allerhöchste Zeit, dass wir das Einladungsverfahren flächendeckend verbessern“, fordert Prof. Hermann Brenner vom DKFZ. Bisher muss der Test in der Arztpraxis besorgt, zu Hause durchgeführt und wieder in der Praxis abgeben werden, schließlich kann man bei einem erneuten Termin das Ergebnis abfragen. „Zu viele Hürden“, findet Brenner.
Einer Studienauswertung des DKFZ zufolge lässt sich die Teilnehmerrate um bis zu 20 Prozentpunkte steigern, wenn den Berechtigten der Test per Post ins Haus geschickt wird. Eine Vorankündigung der Zusendung verbessert die Teilnahmerate um weitere drei bis elf Prozentpunkte, ein Erinnerungsschreiben per Brief oder E-Mail um neun bis 16 Prozentpunkte. Kombinationen von wirksamen Maßnahmen können die Teilnahmeraten teilweise noch weiter steigern – auf über 64 Prozent. Mit diesen relativ einfachen Maßnahmen könnten deutlich mehr Menschen zur Darmkrebsfrüherkennung motiviert werden, hält der DKFZ-Vorstandsvorsitzende Prof. Michael Baumann fest. „Das wäre ein wichtiger erster Schritt für eine bessere Darmkrebsprävention und kann für viele Menschen einen Gewinn an Lebensjahren bedeuten.“
Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland hat kürzlich ein Konzept zur Weiterentwicklung der Beratungsinstitution vorgelegt. Im Prinzip geht es darin um dreierlei: Erstens Verstetigung, denn derzeit ist gesetzlich festgelegt, dass die UPD alle sieben Jahre per Vergabeverfahren neu ausgeschrieben wird. Damit besteht die Gefahr, dass zum Ende der Laufzeit Beratungskompetenz und -erfahrung verloren gehen, sagt UPD-Geschäftsführer Thorben Krumwiede bei einem Pressegespräch. Er strebt außerdem eine andere Form der Finanzierung an – „frei von Partikularinteressen“, wie es in dem Konzept heißt. Die bisherige Finanzierung durch den GKV-Spitzenverband gilt als einseitig und hinderlich für die Beratung und Zusammenarbeit. Drittens soll die Beratung der UPD weiterentwickelt werden. Krumwiede denkt an Webinare, Chats und eine Kontaktaufnahme via elektronischer Patientenakte (ePA) ohne Medienbrüche.
Ob, wie und wann sich die Politik auf eine Weiterentwicklung der UPD verständigen wird, ist derzeit noch unklar. Als die Presseagentur Gesundheit kürzlich bei Politikern nachfragte, war das Stimmungsbild bei Union und SPD uneinheitlich. Dieses Zögern kommt nicht gut an. Kritik kommt etwa vom VdK bei einer Anhörung zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) Mitte April. Die Reform sollte genutzt werden, um die UPD in eine dauerhafte, solide Form zu überführen. Eine unabhängige UPD hat im Februar auch die BAG Selbsthilfe verlangt.
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„Menschen irren durch das System“
Detaillierten Aufschluss über ihre Beratungsleistung gibt die UPD in ihrem jährlich erscheinenden Monitor, der auch als Seismograf für mögliche Verwerfungen im Gesundheitswesen gelesen werden kann. Im Monitor 2019 lautete ein Fokus-Thema beispielsweise „Menschen mit unklaren Beschwerden irren durch das System“. Im vergangenen Jahr kritisierte die UPD unter anderem, dass hilfsbedürftige Ratsuchende von ihrer Krankenkasse angewiesen werden, sich selbst um die Organisation einer Haushaltshilfe zu kümmern – trotz eindeutig anderslautender Bestimmungen.
Etwas verwunderlich ist es schon, dass die Politik bei der UPD-Reform noch zaudert, steht doch das Thema Gesundheitskompetenz derzeit politisch hoch im Kurs - zumindest als Lippenbekenntnis. Die Frage, ob es gelungen sei, diesem Politikfeld in der politischen Agenda einen festen Platz einzuräumen, hat die Sprecherin des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz, Prof. Doris Schaeffer, auf einer Veranstaltung im Februar klar bejaht. Zur Erinnerung: 2017 hat der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe neben einem Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz zusammen mit den Spitzen der Selbstverwaltung des deutschen Gesundheitswesens die „Allianz für Gesundheitskompetenz“ ins Leben gerufen. Zu den Partnern gehören unter anderem die Bundesärztekammer, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der GKV-Spitzenverband, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und einige mehr. Sie alle haben sich dazu verpflichtet, neue Projekte für eine bessere Gesundheitskompetenz zu entwickeln (siehe Infokasten). Dabei geht es um mehr allgemeine Gesundheitsbildung, um besser verständliche und zugleich wissenschaftlich fundierte Gesundheitsinformationen, vor allem auch im Internet, und um eine bessere Kommunikation zwischen Ärzten, den Gesundheitsberufen und Patienten.
An Allianzen und Aktionsplänen mangelt es somit nicht. Umso paradoxer, dass sich die Gesundheitskompetenz hierzulande in den letzten sechs Jahren verschlechtert hat. Das zumindest konstatiert Schaeffer, als sie Ende Januar das Ergebnis der zweiten internationalen Health Literacy Studie auf dem Cochrane Deutschland Symposium präsentiert. Demnach sehen sich rund 60 Prozent der Befragten im Umgang mit Gesundheitsinformationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt, nur 15 Prozent wird eine exzellente Gesundheitskompetenz attestiert. Knackpunkt ist vor allem die Beurteilung solcher Informationen, zwei Drittel der Teilnehmer haben damit Probleme. Von dem gesundheitspolitischen Leitbild mündiger Bürgerinnen und Bürger, die Ärztinnen und Ärzten und den Fachkräften im Gesundheitswesen als „Experten ihrer selbst“ gut informiert gegenübertreten und Entscheidungen auf dieser Basis gemeinsam mit ihnen treffen, ist man noch immer weit entfernt.
Das Bundesgesundheitsministerium setzt derzeit vor allem auf ein nationales Gesundheitsportal, um die Kompetenz der Patienten zur verbessern. Unumstritten ist dieses allerdings nicht – unter anderem wegen einer Kooperation mit Google. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags haben bemängelt, das Portal könne gegen die Pressefreiheit verstoßen. „Eine Kooperation mit Google, die faktisch zur Monopolstellung eines solchen Portals führen würde, könnte dagegen einen ungerechtfertigten Verstoß gegen die Pressefreiheit und insbesondere gegen das Gebot der Staatsferne bedeuten“, heißt es in dem Gutachten. Darin wird außerdem die Frage gestellt, ob besagtes Portal überhaupt notwendig sei. „Es gibt bereits ein spezielles Aufklärungsportal des BMG, nämlich die BzGA.“ Die Wissenschaftler verweisen außerdem auf seriöse private Portale. Denkt man beispielsweise an die Informationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, an den Krebsinformationsdienst sowie das Angebot „Was hab ich“, erscheint die im Gutachten aufgeworfene Frage überaus berechtigt.
Auffällig ist, dass bei den meisten Initiativen die navigierende Kompetenz unterbelichtet bleibt. Vielleicht weil es dann ans Eingemachte geht, an ein System, das an vielen Stellen überaus reformbedürftig ist und von echter Patientenorientierung oft sehr weit entfernt. Nicht nur für vulnerable Gruppen ist die Orientierung im Versorgungssystem eine Herausforderung. Viele Patienten finden sich im Labyrinth des Gesundheitssystems nur schwer zurecht, kritisiert der VdK bei der GVWG-Anhörung. Schwer verständliche Qualitätsberichte, eine immer noch verwirrend organisierte Notfallversorgung und dergleichen mehr zeigen, dass Lotsen dringend benötigt werden – zumindest so lange, bis eine tatsächliche Patientenorientierung des Systems kein naives Wunschdenken mehr ist. Nicht unterschätzt werden darf dabei, dass die zunehmende Digitalisierung den Bedarf für Assistenz und Unterstützung noch vergrößern dürfte. Wird das nicht mitgedacht, dürfte der digitale Wandel des Gesundheitswesens kaum mehr als ein Strohfeuer bleiben.
„Menschen irren durch das System“
Detaillierten Aufschluss über ihre Beratungsleistung gibt die UPD in ihrem jährlich erscheinenden Monitor, der auch als Seismograf für mögliche Verwerfungen im Gesundheitswesen gelesen werden kann. Im Monitor 2019 lautete ein Fokus-Thema beispielsweise „Menschen mit unklaren Beschwerden irren durch das System“. Im vergangenen Jahr kritisierte die UPD unter anderem, dass hilfsbedürftige Ratsuchende von ihrer Krankenkasse angewiesen werden, sich selbst um die Organisation einer Haushaltshilfe zu kümmern – trotz eindeutig anderslautender Bestimmungen.
Nachgefragt bei der DKG: Allianz für Gesundheitskompetenz – was macht die Deutsche Krankenhausgesellschaft?
Die DKG ist an folgenden Projekten der Allianz für Gesundheitskompetenz beteiligt:
1) Gesundheitskompetente Organisationen
Hier soll ein bis 2022 wissenschaftlich zu entwickelnder Methodenkoffer u. a. in Krankenhäusern erprobt werden.
2) Programm: Shared-Decision-Making im Krankenhaus – In einem Modellprogramm sollen die Wirksamkeit sowie die Voraussetzungen, Erfolgsfaktoren und Hemmnisse an fünf teilnehmenden Kliniken in Deutschland untersucht werden.
3) Kommunikationskompetenz von Gesundheitsfachberufen als Bestandteil der Fort- und Weiterbildung
4) Zudem war die DKG an der Ausrichtung eines Symposiums beteiligt, bei dem Models of Good Practice vorgestellt wurden.
Nachgefragt bei der KBV: Allianz für Gesundheitskompetenz – was macht die KBV?
1) Abfrage zur Gesundheitskompetenz in der KBV-Versichertenbefragung
2) Konferenz zum Thema Gesundheitskompetenz
Vertreter aus Wissenschaft, Gesundheitswesen und Politik tauschten sich über bestmögliche Ansätze aus, der Bevölkerung mehr Gesundheitskompetenz zu vermitteln.
3) Gesundheitskompetenz in der Notfallversorgung
Die KBV hat Informationsmaterialien zur gezielten Nutzung der verschiedenen Angebote entwickelt. Die 116117 wurde zum innovativen Patientenservice ausgebaut, das Angebot geht inzwischen weit über die Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes hinaus.
4) Patienteninformationen und Instrumente zur Bewertung der Qualität von Patienteninformationen über das ÄZQ
Das ÄZQ erstellt Patienteninformationen zu häufigen Krankheitsbildern, zunehmend auch in Fremdsprachen und in leichter Sprache. Die KBV hat in ihrem Qualitätszirkel-Konzept die Module „Arzt-Patienten-Kommunikation“ und „Methoden und Instrumente der Evidenzbasierten Medizin – evidenzbasierte Patienteninformationen“ aufgenommen. Im KBV Qualitätsmanagementverfahren QEP sind zwischenzeitlich die Qualitätsziele „Erkrankungsspezifische Information, Beratung und Schulung“ und „Eigenverantwortung und Mitwirkung der Patienten“ eingeflossen.
Das deutsche Gesundheitswesen wird häufig als eines der besten der Welt gepriesen. Aber finden sich die Patienten darin zurecht oder stehen Sektorengrenzen etc. einer echten Patientenzentrierung im Weg?
Krumwiede: Das deutsche Gesundheitswesen ist sicherlich sehr leistungsfähig. Ob es in jeder Hinsicht wirklich Weltklasse-Format hat, kann und will ich nicht abschließend beurteilen. Als Patientenberatung erleben wir jedenfalls tagtäglich, auf welche Schwierigkeiten Patientinnen und Patienten und auch deren Angehörige stoßen. Genau da setzt dann unsere Arbeit an. Wir informieren und beraten individuell, um so für Ratsuchende, die sich an uns wenden, die „Nutzung“ unseres komplexen Gesundheitswesens zu erleichtern. Mit unserer Arbeit wollen wir die Gesundheitskompetenz derjenigen, die sich bei uns melden, stärken.
Was genau verstehen Sie unter Stärkung der Gesundheitskompetenz?
Krumwiede: Darunter verstehen wir, dass mehr Menschen in Deutschland in der Lage sein sollen, auf der Basis verlässlicher Gesundheitsinformation eigenständig die für sie passenden Entscheidungen zu treffen. Das setzt immer auch voraus, dass die Menschen Informationen nicht nur verstehen, sondern für sich bewerten und in persönliche Entscheidungen übersetzen können. Unsere Beratung kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Mit Blick auf die angesprochenen Sektorengrenzen können wir vielfach eine Lotsenfunktion übernehmen. Denn wir stellen immer wieder fest: Die Probleme beginnen für viele Menschen schon beim Zugang zum Gesundheitswesen, also der Frage: Wie finde ich für mein Problem den richtigen Arzt/die richtige Ärztin, die bestmögliche Behandlung oder die passende Klinik? Unsere Beratung versteht sich dabei häufig in dem Sinne als Türöffner. Neben dieser individuellen Ebene der Unterstützung und Begleitung ist uns auch die Rückmeldung ans System wichtig.
Warum?
Krumwiede: Weil wir durch unsere Beratung in Erfahrung bringen, wo es in unserem Gesundheitswesen an Patientenorientierung mangelt, können wir den Akteuren des Gesundheitswesens aufzeigen, was verbessert werden sollte. Mit Blick auf Sektorengrenzen zeigt sich mangelnde Patientenorientierung etwa beim eigentlich gesetzlich geregelten Entlassmanagement, um nur ein Beispiel zu nennen. Bei der Anschlussversorgung kommt es immer wieder zu Lücken und Angehörige berichten etwa häufig von den Schwierigkeiten, nach einem Krankenhausaufenthalt kurzfristig einen Platz in einer Pflegeeinrichtung organisieren zu müssen. Auf dem Weg zu einem wirklich patientenzentrierten Gesundheitswesen gibt es offensichtlich noch erhebliches Verbesserungspotenzial!
Sie haben das Leistungsgeschehen der GKV als blinden Fleck bezeichnet. Was meinen Sie damit und wie lässt sich Licht ins Dunkel bringen?
Krumwiede: Aus der Versichertenperspektive erscheint die Art und Weise, ob und wie Krankenkassen Leistungen erbringen, oft wenig transparent. Dabei sind gesetzlich nachvollziehbare Entscheidungswege vorgesehen. Versicherte sollen wissen, auf welchen Grundlagen ihre Kasse entscheidet – und sie sollen unkompliziert in der Lage sein, gegen eine – aus ihrer Sicht – falsche Entscheidung Widerspruch einzulegen. Viele Ratsuchende erleben in der Praxis zahlreiche Hürden und ein Verhalten der Krankenkassen, das selten patientenorientiert und viel zu häufig sogar rechtlich unzulässig oder zumindest sehr fragwürdig erscheint.
Können Sie das konkretisieren?
Krumwiede: Versicherte erhalten immer wieder Zwischeninformationen von ihren Krankenkassen, die den Eindruck erwecken, über einen Leistungsantrag sei bereits entschieden und der Antrag abgelehnt worden. Vielfach lassen Krankenkassen auch die Rechtsbehelfsbelehrungen weg, die, vereinfacht gesagt, wichtige Hinweise enthalten, wie Versicherte sich gegen eine aus ihrer Sicht falsche Entscheidung zur Wehr setzen können. Im Ergebnis werden die Versicherten verunsichert und lassen sich entmutigen, anstatt auf ihrem guten Recht zu bestehen. Seit Jahren nehmen Beratungen zum Thema Leistungsansprüche in unserer Beratung den Spitzenplatz ein. Viel zu viele dieser Beratungen drehen sich darum, dass Versicherte den Weg zur Leistungsgewährung als Hürdenlauf erleben. Spiegelbildlich zur mangelnden Transparenz bei der Leistungsgewährung im Einzelfall können sich Versicherte heute auch übergreifend kein wirklich klares Urteil über die Leistungsbereitschaft von Krankenkassen bilden.
Was fehlt?
Krumwiede: Es fehlen schlicht Vergleichsmöglichkeiten, wie Krankenkassen bei der Gewährung von Leistungen agieren. Im Wettbewerb der gesetzlichen Kassen spielen die Beitragshöhe und Kriterien wie Bonusprogramme oder Satzungsleistungen eine zentrale Rolle; die Qualität der Krankenkassen kann dagegen kaum beurteilt werden. Um „Licht ins Dunkel“ der Leistungsgewährung zu bringen, müsste es für die Versicherten entsprechend einfach nachvollziehbare und vergleichbare Übersichten zu Ablehnungs- und Gewährungsquoten und Bearbeitungszeiten von Leistungsanträgen geben. So könnten die Versicherten besser erkennen, ob ihre Krankenkasse in den Bereichen stark ist, auf die es ihnen besonders ankommt. Allgemeine Transparenz würde also auch die individuelle Entscheidungsfindung gut unterstützen. Einige Kassen haben damit begonnen, mehr Transparenz zu schaffen. Das befürworten wir! Doch sinnvoll wird diese Form von Leistungstransparenz erst richtig, wenn alle mitziehen.
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ZUR PERSON
Thorben Krumwiede ist seit 2016 Geschäftsführer der UPD. Nach einem Studium der Betriebswirtschaft begann Krumwiede seine berufliche Laufbahn 2003 beim AOK Bundesverband Bonn, wo er als Projektmanager im Geschäftsbereich Change Management tätig war. Weitere Stationen waren im Versorgungsmanagement der AOK Rheinland-Hamburg, als Leiter Produktmanagement bei der Anycare GmbH und als Leiter des Malteser Service Centers bei der Malteser Hilfsdienst gGmbH in Köln. © pag, Fiolka
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Die SBK engagiert sich seit Jahren für mehr Transparenz. Welche Hürden verhindern, dass Patienten mehr über Leistungen und Qualität der GKV erfahren?
Demmler: Heute fußen Krankenkassenvergleiche fast ausnahmslos auf dem Vergleich des Zusatzbeitrags sowie einiger weniger meist eher theoretischen Leistungen. Diese Art des Krankenkassenvergleichs ist für die Versicherten für die Wahl der passenden Krankenkasse – wenn überhaupt – nur von minimalem Wert. Denn was für den Versicherten zählt, ist doch die Frage, wie kundenzentriert eine Krankenkasse
agiert und vor allem, ob sie im Leistungsfall zuverlässig einspringt. Derartige Fragestellungen können nur durch die Versicherten selbst beantwortet werden. Die Erfahrungen der Versicherten müssen daher der zentrale Baustein einer Transparenzinitiative werden, die auf die Qualität der gesetzlichen Krankenkassen fokussiert. Dafür setzt sich die SBK seit Jahren ein. Basis für diese Qualitätstransparenz wäre eine über alle Krankenkassen einheitliche und verpflichtende Kundenbefragung, deren Ergebnisse dann in vergleichbarer Form veröffentlicht werden müssen. Um dies zu erreichen, muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, die bisher fehlen.
Gibt es weitere Hürden?
Demmler: Eine weitere Hürde für mehr Transparenz über die Krankenkassenqualität ist das Fehlen einer Veröffentlichungspflicht von Qualitätsindikatoren. Als solche Indikatoren eignen sich zum Beispiel die Anzahl der Widersprüche oder auch die Anzahl der Beschwerden, die bei der Krankenkasse selbst oder bei unabhängigen Stellen wie der UPD eingehen. Einige Krankenkassen veröffentlichen solche Qualitätsindikatoren bereits auf freiwilliger Basis. Diese lassen sich bisher jedoch nicht untereinander vergleichen, da auch hier der einheitliche Rahmen, wie diese Zahlen zu dokumentieren und zu veröffentlichen sind, fehlt. Zusammenfassend kann man festhalten: Die wichtigste Hürde, die es auf dem Weg zu echter Qualitätstransparenz zu überwinden gilt, ist eine Veröffentlichungspflicht. Dafür brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen.
Initiativen für mehr Gesundheitskompetenz gibt es einige. Kommt dabei die Systemkompetenz zu kurz? Parallelstrukturen etwa in der Notfallversorgung lassen die Versicherten verwirrt zurück.
Demmler: Nach meiner Überzeugung sollte unser Fokus darauf liegen, ein Gesundheitssystem zu schaffen, in dem man sich auch ohne Weiterbildung leicht zurechtfindet. Die dringend notwendige Weiterentwicklung des sektoralen Systems muss auch die „Nutzerfreundlichkeit“ der Strukturen unter die Lupe nehmen und reformieren. Die ePA sowie die Telematikinfrastruktur, die den Austausch von Daten über sektorale Grenzen hinweg und vor allem auch mit dem Patienten oder der Patientin selbst deutlich erleichtern werden, werden einen wichtigen Beitrag zur Verringerung von Komplexität im System leisten. Eine mindestens ebenso wichtige Rolle für die Förderung von Gesundheits-(System-)Kompetenz spielen individuelle Beratungsrechte der Krankenkassen.
Warum?
Demmler: Krankenkassen sind wichtige Begleiter von Patientinnen und Patienten insbesondere dann, wenn sie in komplexen Leistungsfällen Rat suchen. Um dieser Rolle umfassend im Sinne der Versicherten gerecht zu werden, benötigen die Krankenkassen aber noch weitreichendere proaktive Beratungsrechte und aktuelle Diagnosedaten. Denn der Schlüssel für einen wirksamen Gesundheitskompetenzaufbau liegt darin, die Versicherten im richtigen Moment mit zur individuellen Situation passenden Informationen zu erreichen. Ziel einer solchen intelligenten gegebenenfalls KI-gestützten Beratung ist es, dem Patienten oder der Patientin die Behandlungsalternativen sowie deren Chancen und Risiken verständlich aufzuzeigen, sodass er oder sie eine selbstbestimmte und informierte Entscheidung über den individuell besten Weg treffen kann. Anlasslose Kompetenzschulungen wie ein generischer „IT-Führerschein“ oder „So-funktioniert-App-XY-Schulungen“ bringen dagegen nicht viel – sowieso sollte man eine App nicht schulen müssen. Ist sie nicht selbsterklärend, funktioniert sie nicht.
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ZUR PERSON
Dr. Gertrud Demmler ist Vorständin bei der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK). Sie ist seit 1998 bei der SBK. Vor ihrem Wechsel zur Kasse sammelte sie unter anderem Erfahrungen im Gebiet der Krankenhausfinanzierung an der Universität der Bundeswehr in München sowie als Referentin für Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Europa bei der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern. Gertrud Demmler promovierte in Volkswirtschaft an der Universität der Bundeswehr in München. © pag, Fiolka
Es gibt seit einigen Jahren eine Allianz für mehr Gesundheitskompetenz und einen nationalen Aktionsplan. Erkennen Sie bei der Kompetenz von Bürgerinnen und Bürgern Fortschritte?
Dierks: Gesundheitskompetenz ist inzwischen ein „gesellschaftsfähiges“ Thema, das im Zusammenhang mit zahlreichen Initiativen, Projekten und Interventionen genutzt wird. Dies könnte man, wohlwollend betrachtet, als Fortschritt bezeichnen, und dabei unterstellen, dass diese Aktivitäten hoffentlich in der Summe mehr sind als ein neues, modernes Etikett, sondern tatsächlich Maßnahmen, die auf Wissen und Kompetenzerhöhung fokussieren.
Das klingt etwas desillusioniert…
Dierks: Tatsächlich sehe ich wenig Fortschritte bei der Umsetzung der Erkenntnis, dass Gesundheitskompetenz von Menschen vor allem davon abhängt, wie das Gesundheitssystem insgesamt, die verantwortlichen Institutionen und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die gesundheitsbezogenen Fähigkeiten ihrer Adressaten aktiv unterstützen. Hier braucht es mehr Konzepte, und sicher auch Anreize für eine organisationale Gesundheitskompetenzförderung, wie sie auch im Nationalen Aktionsplan und im Positionspapier des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz gefordert werden.
Wie sieht es konkret bei der Allianz aus?
Dierks: Auch die Allianz für mehr Gesundheitskompetenz ist bislang hinter den Erwartungen zurückgeblieben, klare Konzepte für die angekündigte Integration von Gesundheitskompetenz in die Aus-, Fort- und Weiterbildung und eine Stärkung der organisationalen Gesundheitskompetenz sind nicht erkennbar. Erfreulich ist jedoch, dass das bei der Gründung 2017 angekündigte Nationale Gesundheitsportal inzwischen gestartet ist, auch wenn die Kooperation mit anderen evidenz-basierten Gesundheitsportalen noch nicht abschließend geklärt ist. Zukünftig ist hier sicher auch eine Weiterentwicklung über die reine Informationsvermittlung hinaus zu diskutieren. Im Zusammenhang mit dem Nationalen Gesundheitsportal wurde im Übrigen deutlich, wie sehr inzwischen Gesundheitsinformationen als Ware begriffen werden. Dies belegen die Bemühungen großer Verlage, die aus meiner Sicht durchaus sinnvolle Initiative des Gesundheitsministers, gute Informationsseiten im Google-Ranking prominent zu platzieren, über den Klageweg zu stoppen. Um also Menschen zu befähigen, mit den An- und Zumutungen der digitalen Gesundheitswelt umzugehen, hat ja der Gesetzgeber reagiert und die Krankenkassen definitiv verpflichtet, Leistungen zur Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz zu entwickeln und für ihre Versicherten anzubieten. Allerdings ist der § 20k SGB V eindeutig auf die Stärkung der individuellen Kompetenzen der Menschen ausgelegt. Der explizite Gedanke, dass die Organisationen selbst Anpassungen ihrer Struktur, ihrer Angebote und in ihrem Kontakt mit den Versicherten vornehmen und ihre Anstrengungen auf die Förderung der Gesundheitskompetenz ausrichten müssten, unterbleibt zunächst (noch), auch wäre durchaus eine Ausweitung einer solchen Strategie auf andere Organisationen denkbar.
Hat sich die Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger verbessert?
Dierks: Gemessen an den Ergebnissen des Zweiten Health Literacy Survey Germany, die das Forscherteam an der Universität Bielefeld in 2020 vergleichend zu ihrer Erhebung 2014 vorgestellt hat, leider eher nein, im Gegenteil, die aus den Selbsteinschätzungen der Befragten deutlich gewordenen Einschätzungen, wie gut sie sich im Gesundheitswesen zurechtfinden, hat sich verschlechtert. Relevant ist dabei vor allem die Erkenntnis, dass besonders im Bereich der Krankheitsbewältigung und bei der Beurteilung von Gesundheitsfragen die Unsicherheit der Menschen erkennbar angestiegen ist.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Dierks: Für die Entwicklung gibt es keine pauschale Erklärung. Ist es die Pandemiesituation, die besonders deutlich macht, wie wichtig vertrauenswürdige Informationen sind und wie schwer es oft auch gut Gebildeten fällt, sich zurechtzufinden? Ist es gerade die Vielfalt der Informationen, sind es immer noch intransparente Qualitätskriterien und eine sich mehr und mehr ausdifferenzierende Beratungs- und Unterstützungsvielfalt? Oder, durchaus wahrscheinlich, ein sich unter ökonomischem Druck und schwierigen Rahmenbedingungen veränderndes Kommunikations- und Informationsverhalten der Professionellen im Gesundheitswesen? Leider gibt es (noch) keinen Königsweg, wie es wirklich gelingen kann, alle Menschen im Umgang mit ihrer Gesundheit adäquat zu unterstützen und die Strukturen der gesundheitlichen Versorgung darauf auszurichten.
ZUR PERSON
Prof. Marie-Luise Dierks leitet an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) den Forschungsschwerpunkt Patientenorientierung und Gesundheitsbildung sowie den Masterstudiengang Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen. 2007 übernahm sie die Leitung der ersten deutschen Patientenuniversität an der MHH. Dierks habilitierte sich zum Thema „Empowerment und die Nutzer des deutschen Gesundheitswesens“. © pag, Fiolka
Deutschland brauche jetzt eine Public-Health-Strategie, um die gesundheitlichen Folgen der Pandemie abzufangen und die gesellschaftlichen Abwehrkräfte für zukünftige Pandemien zu stärken, argumentiert das Forum. Ein handlungsfähiges Public-Health-System fördere das Vertrauen der Bevölkerung in öffentliche Institutionen und sei grundlegende Voraussetzung dafür, allen Menschen ein Leben in bestmöglicher Gesundheit zu ermöglichen. „Die Pandemie legt schmerzlich offen, dass alle Lebensbereiche davon abhängen, dass unser Public-Health-System funktioniert“, betont Prof. Nico Dragano vom Universitätsklinikum Düsseldorf.
[caption id="attachment_4523" align="aligncenter" width="10728"]Die Autoren der Strategie konstatieren, dass Deutschland zwar ein gut etabliertes Versorgungssystem habe – „ein Public-Health-System fehlt dagegen“. Ein systematischer Ansatz zur Sicherung und Förderung der Gesundheit auf Bevölkerungsebene sei dringend notwendig. Dieser Befund gelte nicht nur für den gesundheitlichen Ausnahmezustand einer Pandemie.
In dem Papier wird eine übergeordnete, generische, nationale Krisenplanung und ein gut vorbereitetes, klar strukturiertes Krisenmanagementsystem verlangt, um Gesundheitsgefahren zu vermeiden oder zumindest frühzeitig erkennen zu können. Für die Bewältigung von Gesundheitskrisen müssten Strukturen, Organisationen und Zuständigkeiten auf kommunaler, Länder- und nationaler Ebene eindeutig bestimmt, die behördliche Risiko- und Krisenkommunikation abgestimmt sowie der Lage angepasst und zielgruppenspezifisch ausgerichtet sein.
Die Eckpunkte umfassen auch die Surveillance – „solide Datengrundlagen schaffen und nutzen“, lautet die Marschrichtung. Um Problemlagen zu identifizieren und Public-Health-Maßnahmen zu planen, sei eine kontinuierliche und systematische Erhebung, Analyse, Interpretation sowie Berichterstattung von gesundheitsbezogenen Daten notwendig. „Hierfür bedarf es eines Konzepts für eine nationale Public-Health-Surveillance, die auch die Länder- und kommunale Ebene umfasst“. Auch Daten aus anderen Politikbereichen, zum Beispiel Sozialindikatoren und Umweltdaten, sollten integriert werden, fordern die Autoren.
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Weiterführender Link:
Die Eckpunkte der Strategie wurden über vier Jahre in einem partizipativen Prozess erarbeitet.
Link zu den Eckpunkten: https://zukunftsforum-public-health.de/eckpunkte-einer-public-health-strategie-fuer-deutschland-erschienen/
Ende April läuft nach drei Jahren das vom BKK Dachverband unterstützte und vom Gemeinsamen Bundesausschuss mit 700.000 Euro geförderte Innovationsprojekt „Inno RD“ aus. Es hat konkrete
Ansatzpunkte für eine Reform ermittelt.
Eine Patientenbefragung im Rahmen des Projektes ergab, dass elf Prozent der Befragten den für sie gefahrenen Rettungsdiensteinsatz im Rückblick als nicht dringlich einstufen. Insgesamt, sagt Projektleiter Dr. Enno Swart von der Universität Magdeburg, bestehe bei bis zu 20 Prozent der Fälle Optimierungsbedarf. Diese „nennenswerte Fehlversorgung“ zeige, dass die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes reflektierter als bisher erfolgen müsse. Dafür sei es nötig, die Gesundheitskompetenz der Menschen zu steigern.
Um unnötige Fahrten in Kliniken zu vermeiden, plädieren die Projektteilnehmer dafür, den Notfallsanitätern ohne anwesenden Notarzt mehr Spielraum bei der Einschätzung des Handlungsbedarfs vor Ort zu geben. Das gelte ebenso für die Auswahl der geeigneten „Anschlussversorgung“: Muss der Patient überhaupt in die Klinik oder reicht nicht auch die Weiterleitung an eine Praxis? Dafür, sagt Enno Swart, sei es nötig, die ambulante Weiterversorgung und die Ausbildung der Sanitäter zu stärken. Empfohlen wird auch die Etablierung eines Telenotarztes, den die Rettungskräfte zu Rate ziehen können, sowie die Erlaubnis, in die elektronische Patientenakte zu schauen.
Das Innovationsfondsprojekt sieht noch weitere Handlungsfelder: „Die Notfallversorgung beginnt nicht in der Leitstelle und hört nicht im Krankenhaus auf“, sagt Prof. Bernt-Peter Robra, Sozialmediziner am Universitätsklinikum Magdeburg. Sinnvoll seien mobile Not-Pflegedienste, die etwa Menschen in der Nacht helfen könnten, einen verloren gegangenen Katheter zu ersetzen. Denn auch solche Fälle, die nicht dringlich seien, führten dazu, dass der Rettungsdienst alarmiert werde, so Robra. Für den Rettungsdienst müssten zudem die gleichen Regeln gelten wie für andere medizinische Dienstleister, etwa hinsichtlich der Qualitätssicherung. Eine Integration in das Sozialgesetzbuch und in die G-BA-Richtlinienkompetenz sei erstrebenswert. „Das wäre ein Gewinn an Versorgungsqualität und kein Verlust für die zuständigen Länder“, findet Robra.
Konsortialführer von „Inno_RD“ ist die Uni Magdeburg. Zu den Partnern gehören neben dem BKK Dachverband das Universitätsklinikum Magdeburg, das Deutsche Rote Kreuz und die Universität Oldenburg.
[post_title] => Notfallversorgung – mehr als gemeinsamer Tresen [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => notfallversorgung-mehr-als-gemeinsamer-tresen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-05-14 12:11:28 [post_modified_gmt] => 2021-05-14 10:11:28 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4473 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4492 [menu_order] => 100 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [223] => WP_Post Object ( [ID] => 4494 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-05-12 14:29:00 [post_date_gmt] => 2021-05-12 12:29:00 [post_content] =>In der Ärzteschaft sei der ökonomische Druck enorm, konstatiert Ullmann, der selbst Mediziner ist. Von der Politik werde dieser Druck noch vergrößert. Der Gedanke, dass Gesundheit lediglich ein Kostenfaktor ist, sei ein Fehldenken und müsse verändert werden, fordert Ullmann. Allerdings verweist er auch darauf, dass im Gesundheitswesen eine Milliarde Euro pro Tag ausgegeben werden. „Da könnten wir effektiver sein“, findet er und bringt unter anderem Netzwerkstrukturen ins Spiel.
Einig ist man sich auf der Tagung, dass die Sektorengrenzen eine effektive Zusammenarbeit oft verhindern. „Interaktion ist ein ganz zentrales Thema, damit Patienten nicht gegen eine Wand laufen, wenn sie in die Klinik hineingehen oder aus ihr herauskommen“, unterstreicht der niedergelassene Onkologe Dr. Ingo Tamm. Der Versuch der Politik, die Sektorengrenzen mittels der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) zu überwinden, ist für ihn jedoch nicht geglückt. Die ASV sei sehr starr, man könne dann nur mit jenen Versorgern zusammenarbeiten, mit denen man einen Vertrag abgeschlossen habe.
„Die Wirklichkeit ist aber, dass man als Praxis ganz viele Zuweiser hat, ambulante und stationäre.“ Tamms diplomatisches Fazit zum ersten Anlauf der ASV lautet daher: nicht überall ein Erfolgsmodell.
Von der Politik will Tamm, der am Kurfürstendamm in Berlin eine onkologische Schwerpunktpraxis betreibt, wissen, wie die „MVZisierung“ gesehen wird. Diese werde nicht nur von Kliniken betrieben. Hinter ihnen stünden in der Onkologie zum Großteil finanzstarke Holdings – „wie nimmt das die Politik wahr?“ Für die Grünen-Politikerin Kirsten Kappert-Gonther sind die Medizinischen Versorgungszentren eine enorme Bereicherung der Versorgungslandschaft. Wenn Private Equity Fonds in diese Versorgung gehen, sei das weder grundsätzlich gut noch grundsätzlich schlecht. Einerseits gebe es viele Liquiditätsmittel, die investiert werden wollen, und andererseits bestehe im medizinischen Bereich mit den teuren Apparaturen und hohen Vorhaltekosten ein Bedarf an Investitionen. Für Kappert-Gonther lautet die entscheidende Frage, wie diese Synergien genutzt werden können – ohne dass die ärztliche Therapiefreiheit eingeschränkt wird. „Es gibt nicht gutes oder schlechtes Geld, sondern wir müssen gucken, wie wir für die Strukturen von MVZ, Ärztenetzen etc. politisch einen Rahmen setzen, der die ärztliche Therapiefreiheit sicherstellt und Transparenz gewährleistet.“ Bei Letzterem sieht sie dringenden Handlungsbedarf, denn man wisse zum Teil nicht, welche Trägerstrukturen in der Versorgungslandschaft eine Rolle spielen. Ausgeschlossen werden müsse, dass ärztliche Leistung, Materialien, Geräte, Wartungen, Ersatzteile etc. in einer Hand liegen.
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[post_title] => „MVZisierung“ mit Therapiefreiheit und Transparenz [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => mvzisierung-mit-therapiefreiheit-und-transparenz [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-05-14 12:15:06 [post_modified_gmt] => 2021-05-14 10:15:06 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4473 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4494 [menu_order] => 110 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [224] => WP_Post Object ( [ID] => 4496 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-05-12 14:29:10 [post_date_gmt] => 2021-05-12 12:29:10 [post_content] =>
Das Ziel von ESCAPE: ein integrierter und patientenzentrierter Ansatz. Das multidisziplinäre Projektteam wird daher individuelle Behandlungspläne erstellen, die auf die Bedürfnisse und Vorlieben der einzelnen Patienten zugeschnitten sind. Unterstützt wird es dabei von einer maßgeschneiderten digitale Gesundheitsplattform, die vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnologie entwickelt wird. Die Plattform und regelmäßige telefonische Unterstützung sollen Patienten und pflegende Angehörige in die Lage versetzen, individuelle Prioritäten für ihre Behandlungen zu setzen, um ihre Lebensqualität so weit wie möglich zu verbessern.
Die Studie konzentriert sich auf Patientinnen und Patienten mit chronischer Herzschwäche, psychischer Belastung und mindestens zwei weiteren körperlichen Begleiterkrankungen. Die Ergebnisse des neuen Ansatzes werden mit der aktuellen Patientenversorgung verglichen. Die Wissenschaftler wollen so herausfinden, welcher Ansatz zu der besten gesundheitsbezogenen Lebensqualität führt. Für Prof. Christoph Herrmann-Lingen, Universitätsmedizin Göttingen, hat ESCAPE das Potenzial, die Art und Weise, wie multimorbide ältere Patienten behandelt werden, „grundlegend zu verändern“. Er ist überzeugt, dass der Ansatz des Projektes, der gleichermaßen körperliche und psychische Krankheitsaspekte ins Auge fasst, eine effektivere und zugleich kostengünstige Behandlung ermögliche, die außerdem zu einer besseren Lebensqualität führt.
ESCAPE steht für „Evaluation of patient-centred biopsychosocial blendend collaborative care path-way for the treatment of multi-morbid elderly patients”. In dem Projekt haben sich internationale Expertinnen und Experten aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Irland, Italien, Litauen, Schweden und Ungarn zusammengeschlossen. Das Team besteht aus Allgemein- und Krankenhausärzten sowie Experten aus Psychologie, Gesundheitsökonomie und Digitalisierung von Gesundheitssystemen sowie aus Vertretern von Patienten und pflegenden Angehörigen. Gefördert wird das Projekt mit 6,1 Millionen Euro durch das Programm „Horizon 2020“ der Europäischen Union. Es ist am 1. April 2021 gestartet und hat eine Laufzeit von 4,5 Jahren.
Der Präsident des Bundesamtes, Armin Schuster, hat mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) kürzlich einen Acht-Punkte-Plan vorgestellt. Es geht darum, wie die Rolle des Amtes nachhaltig gestärkt werden kann, auch und gerade im Bereich gesundheitlicher Bevölkerungsschutz.
Vorgesehen ist, dass das BBK das Bundesgesundheitsministerium bei der Aufstellung der Nationalen Reserve Gesundheitsschutz unterstützt, in deren Rahmen bundesweit an verschiedenen Standorten wichtige Materialien wie Schutzkleidung, Masken, Beatmungsgeräte und Medikamente für zukünftige Pandemien vorgehalten werden sollen. Zudem soll es den Auf- und Ausbau nationaler Reserven insgesamt unterstützen und zentral monitoren. Die eigene Bevorratung mit Sanitätsmitteln will das BBK zudem „stark ausweiten“, erläutert Schuster im Rahmen einer Experten-Diskussion der Grünen-Bundestagsfraktion.
Neben der materiellen soll demnach auch die personelle Reserve aufgestockt werden. Dafür will Schuster die Ausbildung von Pflegehilfskräften wieder aufnehmen und mehr Ersthelfer schulen. Er betont: „Es braucht eine Stelle, die sich um die Spontanhelfer kümmert.“ Diese Stelle müsse das BBK sein. Von dort könnten Helfer weitervermittelt werden, so Schuster. Dafür soll unter anderem eine webbasierte Plattform geschaffen werden, die die regionalen Angebote und Ansprechpartner aufführt, um die Schwelle zur Aufnahme eines ehrenamtlichen Engagements für Bürger zu reduzieren.
[caption id="attachment_4623" align="alignleft" width="800"]
Profitieren soll davon neben den zahlreichen Hilfsorganisationen auch der Öffentliche Gesundheitsdienst, der aktuell bereits vielerorts auf Hilfskräfte angewiesen ist. Diese seien jedoch schwierig zu organisieren, erläutert Dr. Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. So sei es bisher nicht gelungen, die diesbezüglichen Anstrengungen zu bündeln, stattdessen „wuselt jeder vor sich hin und versucht, allein etwas aufzubauen“, so Teichert. Alle drei bis sechs Monate müssten die Gesundheitsämter zudem neue Hilfskräfte einarbeiten.
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[post_title] => Mehr materielle und personelle Reserven für Bevölkerungsschutz [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => mehr-materielle-und-personelle-reserven-fuer-bevoelkerungsschutz [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-05-14 13:07:16 [post_modified_gmt] => 2021-05-14 11:07:16 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4473 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4498 [menu_order] => 130 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [226] => WP_Post Object ( [ID] => 4500 [post_author] => 3 [post_date] => 2021-05-12 14:29:26 [post_date_gmt] => 2021-05-12 12:29:26 [post_content] =>Für den Bioethiker Christoph Rehmann-Sutter liegt die Tragik der Triage darin, dass jede Handlungsoption mit einem Unrecht verbunden ist – Triage sei demnach ein Verfahren der Schadensbegrenzung. Besonders umstritten sei zum einen die Relevanz voraussichtlich geretteter Lebenszeit und zum anderen die Frage einer subtilen Diskriminierung – etwa von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen – durch das Kriterium der Erfolgsaussicht der Behandlung. Dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen sind, wurde allerdings bei einer Aktualisierung der klinisch-ethischen Triage-Empfehlungen mehrerer Fachgesellschaften 2020 klargestellt.
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[caption id="attachment_4537" align="aligncenter" width="1200"]Die Strafrechtswissenschaftlerin Tatjana Hörnle hält bei der Veranstaltung des Ethikrates fest, dass es insbesondere im Fall der Ex-post-Triage, wenn bei einem Patienten A eine bereits eingeleitete Behandlung abgebrochen wird, um einen Patienten B zu versorgen, für ärztliche Entscheider keine Rechtssicherheit gebe. Sie plädiert dafür, in einem Gesetz klarzustellen, dass auch eine mit sachgerechten Auswahlkriterien erfolgende Ex-post-Triage nicht strafbar sei. Der Gesetzgeber müsse zwar nicht, dürfe aber positive Auswahlkriterien definieren. Auch der Medizinrechtler Oliver Tolmein fordert eine gesetzliche Regelung. Er ist dagegen, die Erfolgsaussichten zum maßgeblichen Kriterium bei der Zuteilung lebensrettender medizinischer Ressourcen zu machen.
Demgegenüber führt der Notfallmediziner Markus Wehler aus, dass es bei den medizinischen Behandlungsentscheidungen darum gehe, so viele Menschen wie möglich zu retten und die verfügbaren Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Es gebe standardisierte, validierte Prognosesysteme, mit denen Entscheidungen dokumentierbar, nachvollziehbar und transparent seien. Diese würden nicht mehr von einzelnen Ärzten, sondern immer im Team getroffen.
Ein weiteres Thema ist die „graue“ Triage: vorgelagerte Priorisierungsentscheidungen zum Beispiel beim Zugang zur Intensivstation, die im Verdacht stehen, intransparent und dadurch missbrauchsanfällig zu sein. Verlangt wird, den großen Anteil von Patientinnen und Patienten, die außerhalb der Intensivstationen an oder mit Covid-19 verstorben sind, öffentlich zu thematisieren.
Seit Pandemiebeginn wird über Triage diskutiert. Der Ethikrat hat im März vergangenen Jahres eine erste Bewertung vorgenommen. Der Gesundheitsausschuss des Bundestages befasste sich bereits zweimal damit. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht 2020 entschieden, dass die Bundesregierung kein Gremium einrichten müsse, das die Triage in Krankenhäusern vorläufig verbindlich regelt. Die Frage, ob der Gesetzgeber generell dazu verpflichtet sei, Vorgaben dazu zu machen, welche Patienten im Falle knapper Intensivbetten vorrangig zu behandeln sind, würden die Richter weiter prüfen, hieß es.
Die Ausgaben wären damit 14,3 Milliarden Euro oder 3,5 Prozent höher als im Jahr zuvor. Derzeit sei es jedoch schwierig, einen „coronaspezifischen Anteil“ an den geschätzten Gesundheitsausgaben zu ermitteln. Zu den wenigen Ausnahmen zählen die knapp 1,6 Milliarden Euro aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds, die teilweise durch den Bund erstattet werden. Diese Ausgaben beinhalten Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser für freigehaltene Betten (700 Millionen Euro), Kosten für Schutzmasken nach der Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung (491 Millionen Euro) sowie für Tests im Sinne der Coronavirus-Testverordnung (286 Millionen Euro).
Weitere coronaspezifische Ausgaben fallen für Tests an, die im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung durchgeführt wurden (419 Millionen Euro), sowie für Erstattungen für außerordentliche Aufwendungen in der Pflege (731 Millionen Euro). Ausgleichszahlungen für pandemiebedingte Einnahmeausfälle beispielsweise der Krankenhäuser sind nicht in der Gesundheitsausgabenrechnung verbucht, da diese Ausgleichszahlungen definitorisch nicht als gesundheitsrelevant gelten. Für sie wurden im Jahr 2020 aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds 10,6 Milliarden Euro aufgewendet und größtenteils durch den Bund erstattet.
Neben diesen vorläufigen Schätzungen gibt das Statistische Bundesamt auch die endgültigen Zahlen für die Gesundheitsausgaben 2019 bekannt. Diese belaufen sich auf 410,8 Milliarden Euro – knapp fünf Prozent mehr als im vorangegangenen Jahr – und überschreiten damit erstmals die 400-Milliarden-Euro-Marke. Mit 56,7 Prozent ist die gesetzliche Krankenversicherung auch 2019 größter Ausgabenträger im Gesundheitswesen. Es folgen die privaten Haushalte und Organisationen ohne Erwerbszweck mit 13,3 Prozent sowie die soziale Pflegeversicherung mit 10,3 Prozent. Auf die private Krankenversicherung entfallen 8,4 Prozent der Gesundheitsausgaben.
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Dass über Endpunkte häufig gestritten wird, kommt nicht von ungefähr, denn HTA-Institutionen haben darauf eine andere Sicht als Zulassungsbehörden oder auch Ärzte und Patienten in einer individuellen Behandlungssituation. Während bei der Zulassung auf Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit geschaut wird, wägt der G-BA Nutzen und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung einer besseren Versorgungsqualität ab. Die Folge: Was für Zulassungsbehörden oder Ärzte ein sinnvoller Endpunkt sein kann, gilt für den G-BA nicht notwendigerweise als patientenrelevant.
Konkreten Verbesserungsbedarf hat kürzlich der medizinische Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) beim Fachsymposium Onkologie Ende vergangenen Jahres angemeldet. Prof. Bernhard Wörmann sagt dort: „Ich glaube, dass noch mehr als bisher die Reduktion von Nebenwirkungen bei gleicher Wirksamkeit ein valider Endpunkt sein muss“ – gerade wenn es zunehmend in derselben Substanzklasse bis zu sechs Präparate gebe, die etwa gleich wirksam seien.
Parallel zu den Auseinandersetzungen über bereits etablierte Endpunkte hat eine Diskussion über eine neue Generation von Endpunkten begonnen. Bei dem Symposium betont der Direktor des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Prof. Karl Broich: „Wir bewegen uns als Zulassungsbehörde bei den Endpunkten in der Onkologie sehr stark.“ Neben dem Gesamtüberleben, dem härtesten Endpunkt, der am liebsten gesehen werde, und dem progressionsfreien Überleben, das schon lange als Alternative bekannt sei, stellt er weitere Endpunkte vor. So etwa das eventfreie Überleben (Event-free Survival, EFS) im kurativen Setting, hierzu gebe es viele Erfahrungen mit der akuten myeloischen Leukämie. Ähnliches gelte für das krankheitsfreie Überleben (Disease-free Survival, DFS) im adjuvanten Setting, bezogen beispielsweise auf Brustkrebs oder Kolorektalkarzinom. Ferner entwickelten sich die Regulatoren bei vielen Blutkrebserkrankungen weiter, bei denen die minimale Resterkrankung (Minimal Residual Disease, MRD) angesehen werde. Auch das metastasenfreie Überleben (Metastase Free Survival, MFS) sei beim Prostatakarzinom ein anerkannter Endpunkt. Anders sieht es Broich zufolge bei der Objective Response Rate aus. Bei einigen Verfahren sei diese anerkannt, bei anderen abschlägig beurteilt worden.
In puncto Biomarker stehe man noch ganz am Anfang, meint der BfArM-Präsident weiter, auf diesem Gebiet sei noch viel Entwicklungsarbeit nötig. Er prophezeit, dass die Digitalisierungsentwicklung und die größeren Datenmengen, die mittlerweile bearbeitet werden könnten, die regulatorische Welt „dramatisch“ verändern werden.
Die Sichtweise des G-BA auf Endpunkte 2.0 stellt auf dem Onkologie-Symposium Dr. Uwe Vosgerau vor. Er leitet das Team Onkologie der Arzneimittelabteilung des Ausschusses. Vosgerau stellt klar: „Wenn wir bei der Zulassung und der Nutzenbewertung immer öfter mit frühen Datenschnitten aus noch laufenden Studien konfrontiert sind, dann gewinnen Endpunkte wie rezidivfreies oder krankheitsfreies Überleben, ereignisfreies Überleben, das metastasenfreie Überleben oder auch die Zeit bis zur ersten Folgetherapie eine zunehmende Bedeutung.“
[caption id="attachment_4330" align="alignright" width="500"]Bewegung beim Thema Endpunkte deutet auch der unparteiische Vorsitzende des Gremiums, Prof. Josef Hecken, in einem Interview mit der Presseagentur Gesundheit an. „Möglicherweise könnte die Verlangsamung des Krankheitsverlaufs, des Progresses, oder ein kombinierter Endpunkt, der Progress und Lebensqualität betrachtet, doch patientenrelevant sein – auch wenn sich dieser Parameter in zehn Prozent der Fälle nicht in ein verlängertes Gesamtüberleben übersetzt“, sagt er. Dabei denkt Hecken auch die europäische HTA-Perspektive mit, denn wenn gewisse Endpunkte vom NICE, von den Franzosen und auch den Italienern anerkannt würden, aber in der deutschen Methodik nicht vorgesehen seien, „dann sollte man sich darüber zumindest Gedanken machen“. Der Jurist weist darauf hin, dass der Kompromissvorschlag, den die Bundesregierung eingebracht habe, die Harmonisierung der Endpunkte und deren Wertigkeit bei den europäischen HTAs als wichtiges Kriterium ansehe. Kurzum: „Wenn wir Progress als Endpunkt anerkennen, geht die Welt davon auch nicht unter.“
Auch bei der Beteiligung von betroffenen Patienten tut sich offenbar etwas, zum Beispiel bei der Konzeption klinischer Studien. Der Patientenaktivistin Eva Schumacher-Wulf zufolge wird dabei die Expertise von Betroffenen mehr und mehr gefragt – gleichwohl gebe es aber noch viel Luft nach oben. Als konkrete Verbesserungsvorschläge nennt die Chefredakteurin des Brustkebsmagazins „Mamma Mia!“ unter anderem: Patientenvertreter sollten von Anfang an in der Konzeptionsphase eingebunden werden. Außerdem seien die Experten in eigener Sache an interdisziplinären Beratungsgremien zu beteiligen, anstatt sie separat tagen zu lassen. „Die Zeit der Katzentische und Feigenblattfunktionen sollte der Vergangenheit angehören.“
Eine weitere Baustelle sind die Lebensqualitätsdaten. Schumacher-Wulf begrüßt, dass diese zunehmend erhoben und bei der Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses berücksichtigt werden. Allerdings ließen die verwendeten Tools zu wünschen übrig. Auch spiegelten die Fragebögen häufig nicht die Lebenswirklichkeit der Patienten wider. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die Charité-Ärztin Prof. Diana Lüftner. „Es macht nicht sehr viel Sinn, einer 78-jährigen Frau, die verwitwet ist, 20 Fragen zur Sexualität zu stellen. Das füllt sie nicht aus.“ Solche Drop-Outs könnten den ganzen Fragebogen nicht mehr auswertbar machen, erläutert sie auf einer Veranstaltung im Jahr 2019. An der mangelnden Aktualität der Bögen hat sich auch aktuell nichts geändert. Nach wie vor seien sie wirklich skurril, sagt Lüftner in einem Interview mit der Presseagentur Gesundheit Ende 2020. „Dass sie uns von den Patienten nicht wie ein nasser Lappen um die Ohren geschlagen werden, ist nur dem Umstand geschuldet, dass sie geduldig mit uns sind, es uns nicht nachtragen.“ Die Bögen seien größtenteils 20 bis 30 Jahre alt. Sie zu aktualisieren sei eine Mammutaufgabe – noch dazu eine, mit der man in der Forschung keine großen Meriten gewinnt, meint Lüftner, denn: „Von der Community wird diese Forschung nicht höchstwertig angesehen.“
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Bedarf besteht, die Zahl der außerklinischen Ethikberatungen steigt und dennoch konstatiert PD Dr. Carola Seifart mit Blick auf den aktuellen Stand der Implementierung: „Es gibt reichlich Probleme.“ Die Ärztin und Bioethikerin weist unter anderem darauf hin, dass eine einheitliche Qualität nicht gewährleistet sei.
Seifart ist Expertin für ambulante Ethikberatung bei der Akademie für Ethik in der Medizin und Mitentwicklerin eines Curriculums für ambulante Ethikberatung in Hessen, auf dessen Grundlage sich Ethikberater zertifizieren lassen können. Diese Zertifizierung ist allerdings, genau wie andere Curricula in dem Bereich, freiwillig. Ethikberater dürfen sich also auch jene nennen, die über keine Zertifizierung oder vergleichbare Qualifikationen verfügen. Aus Sicht von Seifart birgt das Gefahren, denn: „Unqualifizierte Ethikberatung sorgt dafür, dass Ethikberatung an Boden verliert.“
In ihrer Stellungnahme definiert die ZEKO Gütekriterien für die ambulante Ethikberatung. Neben einer angemessenen Qualifikation der Berater spricht sich die Kommission für die persönliche Einbeziehung der Patienten sowie eine multiprofessionelle Ausrichtung der Beratung aus. Außerdem solle die Entscheidungsunterstützung aus allen Bereichen des Versorgungssystems angefragt werden können – also ausdrücklich nicht nur von Ärzten. Nicht zuletzt benötige die Ethikberatung eine angemessene Finanzierung.
Wie Letzteres gelingen kann, ist nach Ansicht der ZEKO allerdings noch eine „offene Frage“. Viele Träger von Beratungsprojekten – meist regionale Palliativnetzwerke, Vereine oder Landes- und Bezirksärztekammern – verfügen über geringe finanzielle Mittel. „Nur etwa ein Viertel der Berater erhält eine Aufwandsentschädigung oder gar ein Honorar“, schreibt Seifart in einem Beitrag für das Hessische Ärzteblatt. Das habe eine Umfrage der AEM im Vorfeld einer Tagung ergeben, bei der im Jahr 2019 Ethikberater aus ganz Deutschland zusammenkamen. Die ZEKO fordert eine völlig neue Finanzierungsgrundlage. „Aktuelle und lokale finanzielle Unterstützung durch Vereine oder Spenden sind zwar eine wichtige Hilfe, sie können jedoch eine auf Dauer angelegte, qualitätsgesicherte außerklinische Ethikberatung nicht gewährleisten“, heißt es in der Stellungnahme.
Unzureichende finanzielle Mittel beeinträchtigen auch das Beratungsprojekt im Landkreis Marburg-Biedenkopf in Mittelhessen, berichtet Kornelia Götze, die Projektleiterin der dort seit 2016 tätigen Regionalgruppe des Vereins Ambulante Ethikberatung in Hessen. Sie und ihre acht Mitstreiter sind ehrenamtlich engagiert. „Es bleibt also sehr wenig Zeit, um die Ethikberatung so zu etablieren, wie wir uns das wünschen würden, damit sie bei den Menschen ankommt“, sagt Götze, die am Universitätsklinikum Düsseldorf zu „Advance Care Planning“ forscht. Um die Ethikberatung zu etablieren wäre vor allem mehr Öffentlichkeitsarbeit notwendig, erklärt sie.
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Die mangelnde öffentliche Präsenz gilt als einer der Hauptgründe dafür, dass die Ethikberatung vielerorts bislang wenig in Anspruch genommen wird. So auch in Marburg-Biedenkopf. Im Schnitt falle innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten gerade mal eine Fallberatung an, berichtet Götze. Hinzu kämen einige telefonische Anfragen. „Ich empfinde das als sehr wenig, weil ich in meinem Arbeitsalltag sehr viel mehr Bedarf bei Pflegenden und Angehörigen sehe“, sagt Götze. Zumal die Rückmeldungen nach einer Beratung in der Regel positiv seien. „Die Menschen, zu denen wir gehen, sind immer sehr dankbar dafür.“ Allerdings: „Man muss sie immer erst auf die Idee bringen.“
Eine weitere Hürde ist die Logistik, erläutert Carola Seifart. Anders als im Krankenhaus, wo alle an einer Behandlung Beteiligten unter einem Dach zusammenarbeiten, gibt es im ambulanten Bereich weniger geregelten Austausch zwischen den einzelnen Akteuren. Die Wege sind weiter, die Vernetzung schlechter. Der Aufwand, Patienten, Ärzte, Pflegekräfte, Betreuer und Angehörige zeitgleich zu einer Beratung zusammenzubringen, ist immens. Hinzu kommen laut Seifart Berührungsängste bei einigen Beteiligten.
Götze bestätigt diesen Befund. Bei manchen Ärzten und Betreuern würde die Ethikberatung Bedenken hervorrufen, dass ihnen etwas weggenommen würde. „Wir legen ja in einer Beratung das komplette Geschehen auf den Tisch“, erläutert sie. „Denn nur so kann man eine gute Entscheidung treffen.“ Dass man bei ethischen Fragen Hilfe von externen Beratern in Anspruch nehmen kann, sei für viele generell etwas Neues. „Die meisten Menschen arbeiten lange in diesem Feld und sind es gewöhnt, die Aufgaben selbst zu lösen, gerade die etablierten Hausärzte und Hausärztinnen“, so Götze.
Möglicherweise könnte ein niedrigschwelligeres Angebot die ambulante Ethikberatung attraktiver machen. Das unterstreicht die Untersuchung der erwähnten Göttinger und Würzburger Wissenschaftler. Sie befragten Hausärzte nicht nur zur Häufigkeit ethischer Konflikte, sondern auch zu ihren Wünschen an eine ambulante Ethikberatung. Eine Beratung in herkömmlicher Form wünschten sich nur rund 30 Prozent der Befragten. Demgegenüber konnten sich mehr als 80 Prozent für eine Ethikberatung per Telefon begeistern. Zeit- und Organisationsaufwand schrecken Interessierte offenbar ab. Auch die ZEKO plädiert dafür, ungenutzte Potenziale abseits der Präsenzformate zu nutzen: Video- und Telekonferenzen ermöglichten es, „Ethikberatung über weite räumliche Distanzen sowie in dünn besiedelten ländlichen Gebieten ohne Zeitverlust anzubieten.“
In Marburg-Biedenkopf kündigen sich bereits Veränderungen in diese Richtung an: Die telefonische Beratung will Kornelia Götze mit ihrem Team ausbauen, allerdings nur für weniger zeitintensive Einzelberatungen. Videokonferenzen für größere Runden werden ebenfalls diskutiert, tangieren jedoch einen sensiblen Bereich: „Das Problem für mich ist, dass Ethikberatungen häufig emotional sind, wenn es um Leben und Tod geht“, sagt Götze. „Und genau dieser Aspekt kann dabei verloren gehen.“
Frau Götze, warum braucht es Ethikberatung im ambulanten Bereich?
Götze: Weil es in diesem Bereich kaum Strukturen gibt, die die Player im Alltag zusammenbringen. Ärzte und Pflege sind häufig auf sich allein gestellt. Im Krankenhaus gibt es Visiten, Kollegen treffen sich auf dem Flur. Im ambulanten Bereich ist das deutlich schwieriger zu organisieren. Hinzu kommt, dass mit der Intensivpflege, der 24-Stunden-Versorgung und Beatmung zu Hause ein ganzer Bereich ausgelagert wurde.
Wer fragt die Beratung an?
Götze: Das ist bunt gemischt: Es sind sowohl Angehörige und Patientinnen als auch Pflegende oder Ärzte. Auch Pflegeheime und Einrichtungen der Eingliederungshilfe haben sich an uns gewendet. Bei den Anfragen, die uns erreichen, wird aber nicht immer eine Ethikberatung benötigt. Manche wollen sich einfach über ihren Arzt beschweren. Dafür sind wir nicht die richtige Stelle. Ebenso wenn es Versorgungsprobleme gibt, weil jemand schwer krank ist. Es ist gar nicht so häufig, dass am Ende tatsächlich eine ethische Fragestellung überbleibt. Im Schnitt finden 0,5 Fallberatungen im Monat statt, also sechs im Jahr.
Könnte eine bessere finanzielle Ausstattung die Inanspruchnahme erhöhen?
Götze: Ich würde mir wünschen, dass die Stunden, die wir reinstecken, um die Ethikberatung durchzuführen, auch vergütet werden. Denn das ist eine hochprofessionelle Arbeit. Ich glaube, dass sich mit mehr Ressourcen die Probleme, die wir haben, tatsächlich lösen ließen, dass also die Inanspruchnahme steigen würde, weil es den Leuten einfach präsenter wäre.
Was tun Sie bisher, um Ihr Angebot bekannt zu machen?
Götze: Wir sind zum Beispiel bei unserer Gesundheitskonferenz im Landkreis und den Betreuern und Betreuerinnen am Gesundheitsamt präsent. Bei der Gesundheitskonferenz sind Vereine, Pflegedienste, Palliativteams und viele weitere Akteure, man kann Kontakte knüpfen. Außerdem haben wir sehr viele Flyer gedruckt und gerade im Rahmen von Covid-19 noch einmal an alle Pflegeeinrichtungen verteilt.
ZUR PERSON
Kornelia Götze ist ehrenamtliche Leiterin der Regionalgruppe Marburg-Biedenkopf des Vereins Ambulante Ethikberatung in Hessen. In ihrem Hauptjob forscht die Allgemeinmedizinerin an der Universität Düsseldorf zum Thema „Advance Care Planning“.
Einen richtig dramatischen, bitteren Mangel kennen hierzulande bislang vor allem jene rund 9.000 Menschen, die auf der Warteliste für ein Spenderorgan stehen. Die Rationierung der Nieren, Herzen, Lungen etc. erfolgt nach etablierten Kriterien, die nicht hinterfragt werden. Erfreulich ist nebenbei bemerkt, dass hierzulande offenbar die Zahl der Organspender in 2020 trotz Pandemie stabil geblieben ist.
Das Thema Mangel schleicht sich darüber hinaus in dieser Legislatur zunehmend als Dauerzustand in Form von Liefer- bzw. Versorgungsengpässen von Arzneimitteln ein. Durch Corona gestörte Lieferketten verstärken die Problematik. Gegenmaßnahmen, deren Wirksamkeit sich noch beweisen muss, hat die große Koalition mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz ergriffen. Arznei als Mangelware hat es zwar in die eine oder andere Schlagzeile geschafft, verharrt aber in den Publikumsmedien weiter als Nischenthema.
Bei Corona hingegen geht es von Anfang an um Knappheit: Zuerst wurde um Beatmungsgeräte gebangt. Derzeit wird die Kapazität an Intensivbetten ängstlich beobachtet, wobei die entscheidendere Frage uns zur nächsten Ressourcenknappheit führt: ausreichend Fachpersonal, um die Patienten adäquat zu versorgen. Der Begriff Triage wird dabei ängstlich vermieden. Dabei weisen Experten wie der Medizinrechtsanwalt Dr. Tobias Witte darauf hin, dass in manchen Krankenhäusern bereits „Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen“ werden müssen – allerdings vermeide es die Geschäftsführung, das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Die im Frühjahr formulierten Empfehlungen von Fachgesellschaften für jene Ärzte, die im schlimmsten Fall darüber entscheiden müssen, welcher Patient eine Behandlung erhält und welcher nicht, reichen nach Ansicht des Juristen nicht aus. „Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte“, argumentiert er im Interview.
Neben den Krankenhäusern, die mit ihren Ressourcen teilweise gefährlich nah am Limit sind, sorgt derzeit insbesondere der Mangel an Impfstoff für täglich neue Schlagzeilen. Lässt man das politische Schwarze-Peter-Spiel beiseite, so bleibt im Kern die Notwendigkeit und Herausforderung, eine Rangfolge festzulegen – zu priorisieren. Im Unterschied zur Organspende sind davon allerdings nicht einige Tausend Patienten, sondern alle Menschen betroffen. Der Mangel ist für alle spürbar. Eine transparente Priorisierungskultur in der Gesundheitsversorgung gibt es hierzulande nicht, stattdessen das politische Glaubensbekenntnis, dass alles für alle reicht. Jetzt reicht der Impfstoff jedoch definitiv erst einmal nicht.
Was die konkrete Priorisierung betrifft, fühlen sich derzeit vor allem zwei Gruppen benachteiligt: die niedergelassenen Ärzte sowie Behinderte. Inklusionsaktivist Raul Krauthausen kritisiert etwa, dass Behinderte oder chronisch Kranke, die nicht in einer Einrichtung, sondern zu Hause leben, vergessen worden seien. Als riskant kritisiert etwa der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, dass Niedergelassene in der Impfverordnung nicht mit der höchsten Priorität eingestuft worden sind. Ähnliches monieren etwa die ambulanten Operateure.
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Mehrere Juristen haben dagegen mit der Verordnung an sich Probleme. Ihre Kritik lautet: Die durch eine Verordnung festgelegte Corona-Impfpriorisierung hätte eigentlich ein Gesetz sein müssen. Medizinrechtsanwalt Witte, der zu „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ promoviert hat, vermisst eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Ähnlich klingt es kürzlich bei einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Dort stellt der Rechtswissenschaftler Prof. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, klar: Die grundsätzliche Frage nach einer Impfpriorisierung sei Aufgabe des Gesetzgebers, denn „es geht um die Zuteilung von Lebenschancen. In den nächsten Monaten werden Menschen nur deshalb sterben, weil für sie noch kein Impfstoff zur Verfügung stand“. Juristin Dr. Andrea Kießling, Ruhr-Universität Bochum, hält die Verordnung aus dem BMG für verfassungswidrig. „Das führt dazu, dass Einzelne natürlich klagen können“, sagt sie bei der Anhörung. Prof. Anna Leisner-Egensperger, ebenfalls Rechtswissenschaftlerin, vertritt dagegen eine andere Auffassung. Der Bundestag müsse regeln, dass priorisiert wird, welche Ziele eine Priorisierung zu verfolgen hat und die möglichen Priorisierungskriterien. „Dann muss die Aufstellung weiterer Priorisierungskriterien, einschließlich deren Rangfolge, verfassungsrechtlich zwingend an den Bundesgesundheitsminister delegiert werden.“ Allerdings vermisst die Professorin von der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine eindeutige Rechtsgrundlage.
Diese juristischen Fragen scheinen lösbar zu sein – „einfach die Rechtsverordnung des Ministeriums nehmen, sie als Gesetzentwurf einbringen und das Problem ist in wenigen Tagen gelöst“, lautet beispielsweise Kingreens pragmatischer Vorschlag. Ungleich schwieriger ist derzeit abzuschätzen, wie die kollektive Mangelerfahrung der Bürger die Wahrnehmung des Gesundheitssystems langfristig beeinflussen wird. Dabei handelt es sich um ein System, das für Außenstehende schwer zu durchschauen ist und in dem implizite Priorisierungsfragen nur hinter verschlossenen Türen diskutiert werden. Möglich, dass das nicht länger hingenommen wird und kritische Nachfragen zunehmen. Die in den kommenden Jahren notwendig werdenden Einsparungen dürften eine solche Entwicklung begünstigen.
Triage: Viele offene Fragen
Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hat sich Mitte Dezember mit Triage befasst. Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Alena Buyx, warnt insbesondere vor Ex-post-Triage, bei der eine laufende Behandlung zugunsten eines neuen Patienten mit besserer Prognose abgebrochen wird. Dies sei ethisch eine „ungeheuerliche Tragik“. Dr. Wiebke Pühler von der Bundesärztekammer weist darauf hin, dass die Prioritätensetzung während der Behandlung von Patienten immer Bestandteil ärztlicher Entscheidungen sei. Ärzte müssten Prioritäten setzen und könnten das auch. Sie mahnt, in der Pandemie sollten wegen einer möglichen Unterversorgung nicht nur die Intensivmedizin und Covid-19-Patienten in den Blick genommen werden, sondern alle medizinischen Bereiche – auch die ambulanten. Prof. Uwe Janssens von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin hebt mit Blick auf Triage-Entscheidungen die Rechtsunsicherheit für Ärzte hervor, diese sei „unerträglich“. Auch der Jurist Stephan Rixen, ebenfalls Mitglied im Deutschen Ethikrat, kritisiert viele ungeklärte Fragen bezüglich der Triage. Er appelliert, die Diskriminierung bestimmter Patientengruppen müsse unbedingt ausgeschlossen werden.
Bei den Autoren handelt es sich um die Krankenhausexperten Prof. Boris Augurzky (RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung) und Prof. Reinhard Busse (Technische Universität Berlin), Prof. Ferdinand Gerlach, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats (SVR) Gesundheit, und die Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin Prof. Gabriele Meyer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Das Papier wurde im Auftrag des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg), der Bertelsmann Stiftung und der Robert Bosch Stiftung angefertigt.
Barmer-Vorstandsvorsitzender Prof. Christoph Straub hält bei der Vorstellung der Empfehlungen fest, dass sich der ambulante Sektor in der ersten Welle der Corona-Pandemie bewährt habe. Es gelte, dieses System weiter zu stärken. Videobehandlungen und die Krankschreibung per Telefon sollten „zumindest in geeigneten Fällen als Teil der Routineversorgung dauerhaft verstetigt werden“, heißt es im Papier. Dem versucht in Teilen das Bundesgesundheitsministerium nachzukommen. Im geplanten Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz ist eine Ausweitung der Videobehandlungen auf bis zu 30 Prozent pro Quartal vorgesehen.
Auch ein Home-Telemonitoring von besonderen Patientengruppen könnte zunehmend in das Aufgabengebiet der Vertragsärzte fallen. Dazu „sollten schnellstmöglich entsprechende infrastrukturelle und Abrechnungsvoraus-setzungen geschaffen werden“, so die Autoren. Nach Busses Auffassung „muss der ambulante Sektor in Zentren übergehen“. Das gehe auch mit längeren Öffnungszeiten einher. Busse denkt dabei an zwölf Stunden.
Die Autoren machen sich außerdem für eine stärkere Verzahnung und Überwindung der Sektoren stark. Die Fallpauschalen dürften nicht mehr das Maß aller Dinge sein. Augurzky schlägt stattdessen regionale Gesundheitsbudgets und Vorhaltefinanzierungen vor, die das DRG-System ergänzen sollen. Notwendig seien aber eine Zentralisierung und Spezialisierung der Kliniklandschaft. „Auch in ,normalen‘ Zeiten ist es wichtig, dass nur die Krankenhäuser Patient:innen behandeln, die über die entsprechende technische Ausstattung und personelle Expertise verfügen. Für gute Behandlungsergebnisse ist nicht die Nähe, sondern die Ausstattung der Krankenhausstandorte ausschlaggebend“, schreiben die Autoren.
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Dass die Politik den ÖGD mit dem „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“ fördern will, begrüßt Gerlach. Im Papier wird empfohlen, dass sich der Öffentliche Gesundheitsdienst auch anderen akademischen Disziplinen wie etwa den Sozialwissenschaften öffnen müsse. Außerdem fehle ihm derzeit eine wissenschaftliche Basis – Gerlach hält fest, dass es keine Fachgesellschaft gibt – sowie keine Koordination auf Landes- oder Bundesebene. „Eine Stärkung des ÖGD trägt […] dazu bei, dass auch mittel- bis langfristig Fragen der öffentlichen Gesundheit als Querschnittsthemen in andere Bereiche getragen werden und das Prinzip ,Health in all Policies‘ gestärkt wird“, heißt es im Richtungspapier.
Für die heilkundliche Übertragung gewisser Aufgaben auf Pflegeberufe in der Primärversorgung macht sich Meyer stark. Besonders in ländlichen Regionen, in denen die ambulante Versorgung quasi nicht mehr vorhanden ist. Der Gesetzgeber habe bereits vorgelegt. „Wir müssen einfach die Modelle mit Leben füllen“, fordert Meyer. „Wenn eine Pflegefachkraft, die eine Expertise in der Wundversorgung hat, heute noch den Facharzt bitten muss, ein Rezept auszufüllen, und ihm sagt, was dort draufzustehen hat, dann ist das eine Sollbruchstelle, die wir jetzt unbedingt überwinden müssen.“
All diese Visionen lassen sich nach Meinung der Autoren mit Nutzung der digitalen Möglichkeiten besser verwirklichen. Straub wünscht sich, dass Ressourcen und Kapazitäten dadurch gemonitort werden können. Als Beispiel nennt er das Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Zudem sei die Datengenerierung immens wichtig für die Versorgungsforschung.
Das Thema Datensicherheit und Datenschutz spricht Gerlach an. Beides hätte in Deutschland „einen wesentlich höheren Stellenwert als der Nutzen“. Es sei fahrlässig und ethisch bedenklich, wenn man Daten missbrauche. Aber es sei genauso fahrlässig und ethisch bedenklich, wenn man vorhandene Daten nicht bestmöglich nutze. Seine Devise: „Daten teilen heißt besser heilen.“
Das Papier löst beim Verband der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands und beim Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands Kritik aus. Beide sehen in dem Richtungspapier „eine Fortsetzung der immer neuen Versuche, die flächendeckende Krankenhausversorgung in Deutschland nachhaltig zu beschädigen und die Klinikversorgung auf wenige Großkrankenhäuser zu konzentrieren. Das haben andere Länder in Europa getan und sind damit deutlich schlechter durch die erste Pandemiewelle gekommen als Deutschland“.
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Weite Teile der deutschen Bevölkerung dürften im Zuge der Pandemie das erste Mal mit Mangel und Priorisierung im Gesundheitswesen konfrontiert sein, wie es ansonsten eigentlich nur Personen erleben, die auf ein Spenderorgan warten. Was macht das mit einer Überflussgesellschaft? Glauben Sie beispielsweise, dass davon die Zahlungsbereitschaft für neue Arzneimittel beeinflusst wird?
Prof. Birnbacher: Das hängt unter anderem davon ab, für welche Erkrankungen die neuen Arzneimittel gedacht sind und wie weit man sich durch sie individuell bedroht fühlt. Solange die neuen Arzneimittel der Behandlung ausgesprochen seltener Erkrankungen oder zum Lebenserhalt um eine relativ kurze Frist am Lebensende dienen, wird die Zahlungsbereitschaft begrenzt bleiben. Bei einer höheren Wahrscheinlichkeit, selbst betroffen zu sein, ist die Bereitschaft deutlich höher. Interessanterweise scheinen sich ja gegenwärtig auch Gentechnik-Gegner wenig daran zu stören, dass die wirksamsten Corona-Impfstoffe nicht nur gentechnisch hergestellt werden, sondern ein unmittelbares Resultat der Genforschung sind.
Gegenwärtig müssen Priorisierungsentscheidungen getroffen werden, z.B. über Rangfolgen beim Impfen oder bei Operationen. Findet dabei aus ethischer Sicht eine transparente Güterabwägung statt, die nachvollziehbar kommuniziert wird?
Prof. Birnbacher: Im Unterschied zu anderen Ländern wird eine offene Diskussion über Priorisierung in Deutschland immer noch gescheut. Die daraus folgende Intransparenz – sei es der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses, sei es der medizinischen Fachgesellschaften oder der gesetzlichen Versicherungen – ist einer Demokratie eigentlich nicht würdig. Priorisierungen lassen sich nicht im Namen der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Medizin begründen, sondern immer nur unter Berufung auf ethische Grundsätze. Da diese häufig kontrovers sind, müssen sie in einer Demokratie öffentlich diskutiert werden. Ich verbuche es als zumindest einen Schritt in die richtige Richtung, dass bei den für die eventuelle Triage bei der Behandlung schwerer Corona-Fälle unter Federführung der DIVI verfassten Richtlinien der einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften unter anderem auch die Akademie für Ethik in der Medizin einbezogen worden ist, bei den Priorisierungsempfehlungen der Impfkommission des Robert Koch-Instituts die Leopoldina und der Deutsche Ethikrat. Für die Zukunft wäre allerdings eine gesetzliche Grundlage wünschenswert.
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Haben Sie den Eindruck, dass im Zuge der Pandemie der öffentliche Stellenwert von medizinethischen Erwägungen gestiegen ist? Der deutsche Ethikrat ist derzeit ja ziemlich präsent in den Nachrichten.
Prof. Birnbacher: In Krisensituationen, mit denen niemand gerechnet hat und in denen unter Zeitdruck schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden müssen, werden ethische Fragen, die ansonsten in Seminaren mehr oder weniger hypothetisch diskutiert werden, auf einen Schlag akut. Das galt vor einigen Jahren – in kleinerem Maßstab – für die Frage der Verteilungskriterien für Lebertransplantate angesichts verschiedener Missbräuche, das gilt gegenwärtig – in größerem Maßstab – für die Frage der gerechten Verteilung von Intensivbetten und Impfstoffen und für die Frage eines möglichen Impfzwangs. Der Deutsche Ethikrat hat dabei wie viele andere Beratungskommissionen die nicht unwichtige Funktion, die Verantwortung für Entscheidungen dieser Größenordnung auf mehrere Schultern zu verteilen, auch wenn die letzte Verantwortung selbstverständlich bei den politischen Institutionen verbleibt.
Zur Person
Prof. Dieter Birnbacher, Leopoldina-Mitglied und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, ist Philosoph mit Schwerpunkt Ethik. Er war unter anderem Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Birnbacher forscht unter anderem zu ethischen und anthropologischen Grundlagen- und Anwendungsproblemen der modernen Medizin: Organtransplantation, Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe, Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitssystem, Stammzellforschung sowie Gentechnik.
Sie haben sich vor acht Jahren in Ihrer Dissertation mit „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall“ beschäftigt. Wie gerecht geht es zu in der aktuellen Pandemie, insbesondere bezogen auf die Ressourcenallokation im Gesundheitswesen?
Dr. Tobias Witte: Gerechtigkeit ist natürlich ein sehr abstrakter Begriff mit vielen Facetten. Rechtsphilosophisch wird die Gleichheit nicht selten als Kern der Gerechtigkeit bezeichnet. Wenn wir die gleiche Behandlung von Umständen, die im Wesentlichen gleich sind, als Gleichheit definieren, dann ist zumindest wahrzunehmen, dass diese Form gerechter Verteilung von den beteiligten Akteuren im Gesundheitswesen angestrebt und vielfach auch erzielt wird.
Aber?
Dr. Tobias Witte: Bei knappen Ressourcen ist dies natürlich nicht immer möglich. Ich weiß aus meiner Arbeit als Fachanwalt für Medizinrecht, der eine Vielzahl an Ärzten berät, dass in manchen Krankenhäusern bereits Triage-ähnliche Entscheidungen getroffen werden müssen und dass die Geschäftsführung vorgibt, dabei bloß nicht das Wort „Triage“ in den Mund zu nehmen. Es stellt sich also die Frage, wann eine Zuteilung knapper Güter wie beispielsweise Intensivbetten gerecht ist – und dazu muss man Ziele und Kriterien bilden, die unserer Rechtsordnung standhalten. Die Maximierung der Überlebendenzahl ist ein solches zulässiges Ziel. Was viele jedoch als ungerecht empfinden, ist die gleichzeitige Intransparenz der Entscheidungen. Dies zeigt das obige Beispiel. Auch, wenn Ärzte und Pfleger bei Allokationsentscheidungen bestrebt sind, gerecht zu agieren, entstehen Ungerechtigkeitsempfindungen, da häufig nicht klar kommuniziert wird – und werden kann –, warum eine bestimmte Zuordnung erfolgt und eine andere nicht.
Mit steigenden Fallzahlen steigt die Sorge vor Triage-Entscheidungen in den Kliniken. Sind die deutschen Krankenhäuser mit den klinisch-ethischen Empfehlungen von Fachgesellschaften darauf ausreichend und rechtssicher vorbereitet?
Dr. Tobias Witte: Gerade auch die Intensivmediziner sind, dies ist meine Überzeugung, hierzulande fachlich exzellent aufgestellt, sodass bei Entscheidungen darüber, wie eine Triage zu erfolgen hat, die medizinischen Aspekte lege artis erfolgen werden. Triage kann im Notfall ja nur jemand anwenden, der die Kriterien – zumeist die Dringlichkeit und Erfolgsaussicht der Behandlung – fachlich anwenden kann. Aber es gibt eben nicht nur medizinische Vorgaben, sondern auch ethische und rechtliche. Aber es gibt kein Gesetz.
Inwiefern stellt das ein Problem dar?
Dr. Tobias Witte: Die Empfehlungen von Fachgesellschaften sind unverbindlich und im Übrigen auch stellenweise widersprüchlich. Ein Pneumologe aus Hamburg mag, auch auf Grundlage der Vorgaben seines Verbands, völlig anders entscheiden als ein Anästhesist aus München, der andere Empfehlungen las. Dies kann vor dem Hintergrund der anzustrebenden Gleichbehandlung nicht sein; rechtssicher ist das nicht. Je genauer ausgestaltet und je stärker demokratisch fundiert hier also die Vorgaben werden – was nur über eine gesetzliche Grundlage geschehen kann –, desto stärker entlastet man auch die Ärzte. Deren ohnehin schwerer Job in der Pandemie wird einfacher, wenn sie verlässliche Regeln haben, die auch einer späteren gerichtlichen Überprüfung des ärztlichen Handelns standhalten.
Sie haben sich mit der verfassungskonformen Verteilung lebensnotwendiger Impfstoffe im Hinblick auf die Priorisierung von Bevölkerungsgruppen und die Kostentragung auseinandergesetzt. Ist das gegenwärtige Vorgehen bezogen auf Priorisierung und Kosten verfassungskonform? Wo sehen Sie ggf. Nachholbedarf?
Dr. Tobias Witte: Die von der STIKO aufgestellten Kriterien für die Priorisierung der zu impfenden Gruppen sind sicherlich medizinisch und ethisch zulässig und, gerade auch vor dem Hintergrund der konkreten epidemiologischen Anforderungen des Sars-CoV-2-Virus, sinnvoll. Es sind jedoch nur Empfehlungen, die sodann rechtlich ihren Niederschlag in der Impfverordnung des Gesundheitsministeriums gefunden haben. Ein Parlamentsgesetz ist das nicht. Daher erachten viele Rechtswissenschaftler, unter anderem auch ehemalige Verfassungsrichter, die aktuelle Verteilungsregelung für nicht verfassungskonform.
Teilen Sie diese Einschätzung?
Dr. Tobias Witte: Dies ist auch meine Ansicht: Was fehlt, ist eine parlamentarische Debatte über die Zuteilung und die Verabschiedung eines Bundesgesetzes zur Impfkampagne und Impfstoffzuteilung. Diese Impfkampagne wird das Leben jedes einzelnen Menschen in Deutschland auf die eine oder andere Weise beeinflussen. Das ist wesentlich – und wesentliche Entscheidungen, so auch eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, muss der Gesetzgeber treffen. Als Ergebnis einer demokratischen, also parlamentarischen Entscheidungsfindung. Dies ist hier nicht geschehen. Dies muss nachgeholt werden, was im Übrigen auch die Impfakzeptanz in der Bevölkerung erhöhen könnte.
[caption id="attachment_4435" align="alignleft" width="500"]Zur Person
Dr. Tobias Witte arbeitet als Fachanwalt für Medizinrecht bei der Kanzlei für Wirtschaft und Medizin. Er ist zertifizierter Datenschutzbeauftragter und Justiziar des Berufsverbandes der niedergelassenen Kinderchirurgen Deutschlands. Seine Promotion schrieb er vor einigen Jahren über: „Recht und Gerechtigkeit im Pandemiefall – Bevorratung, Verteilung und Kosten knapper Arzneimittel im Falle eines Seuchenausbruchs“. Darin beschäftigt er sich mit der Frage, ob die deutsche Rechtsordnung auf Pandemien vorbereitet ist.
Fast ein Jahr lagen die Verhandlungen in der Europäischen Union auf Eis, vor allem wegen Corona. Die Pause hat die Fronten aber offenbar nicht verhärtet, sondern eher die Kompromissbereitschaft gefördert. Das Bundesgesundheitsministerium jedenfalls ist optimistisch: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft habe basierend auf den Vorarbeiten der vorigen Ratspräsidentschaften (Bulgarien, Österreich, Rumänien, Finnland, Kroatien) erstmalig einen Gesamttext für eine Health-Technology-Assessment (HTA)-Verordnung vorgelegt. Dieser wurde Ende November auf Arbeitsebene in einer Ratsarbeitsgruppe diskutiert. „Das Echo der anderen Mitgliedstaaten fiel insgesamt positiv aus, sodass nunmehr eine realistische Möglichkeit besteht, das sehr komplexe Regelungsvorhaben in absehbarer Zeit und innerhalb der Triopräsidentschaft zusammen mit Portugal und Slowenien abzuschließen“, teilt das Ministerium mit. Peter Liese, Abgeordneter des Europäischen Parlamentes, rechnet im Frühjahr mit einer Einigung im Rat. Dann könnten endlich die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament, das der Verordnung zustimmen muss, starten. Zur Vorgeschichte: 2018 hatte die EU-Kommission einen Vorschlag für ein EU-HTA vorgelegt, gegen den sich jedoch heftiger Widerstand regte. Vor allem jene Mitgliedstaaten, die wie Deutschland über ein etabliertes HTA-Verfahren verfügen, lehnten den Kommissionsentwurf ab. Ihre Forderung: Auf nationale Besonderheiten des Gesundheitssystems müsse Rücksicht genommen werden. Streit entbrannte zudem darüber, ob alle neu zugelassenen Arzneimittel oder nur eine Auswahl das EU-HTA durchlaufen sollen. Oder wie die Bewertungen überhaupt zustande kommen: mittels Mehrheitsentscheid oder zwingend nur im Konsens?
Der neue Verordnungsentwurf atmet viel Kompromiss. So soll das EU-HTA erst einmal schrittweise eingeführt werden. Im Fokus eines „joint clinical assessments“ stehen demnach zunächst Therapien gegen Krebs. Im zweiten Schritt werden dann Orphan Drugs und ATMPs in das Verfahren mit aufgenommen. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung ist geplant, neue Arzneimittel in das EU-HTA aufzunehmen, welche die Indikationen AIDS, neurodegenerative Erkrankungen, Diabetes, Autoimmunerkrankungen und andere Immunschwächen sowie Viruserkrankungen betreffen. Nach acht Jahren schließlich sollen alle anderen „medicinal products“ einbezogen werden. Grundsätzlich, so sieht es der Entwurf vor, ist bei der Entscheidung über die Bewertung Konsens vorgesehen. Ausdrücklich wird auch betont, dass den Mitgliedstaaten eigene Zusatznutzen-Bewertungen im „Kontext ihres spezifischen Gesundheitssystems“ freistehen.
Die Corona-Pandemie ist für Bund und Länder auch in rechtlicher Hinsicht eine Herausforderung, auf die sie in Rekordzeit reagieren müssen. Rechtsexpertinnen und -experten der Universität Passau wollen Optionen für ein zusammenhängendes Regelwerk aufzeigen und Vorschläge für einen umfassenden Rechtsrahmen für den Fall eines Gesundheitsnotstands wie der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Pandemie entwickeln. Die Frage einer Notstandsgesetzgebung wird in der juristischen Fachwelt in längeren zeitlichen Abständen immer wieder diskutiert. Ein einheitliches kohärentes Regelwerk, speziell für den Gesundheitsnotstand, existiert bisher aber weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung nehmen Juristinnen und Juristen im Team von Prof. Hans-Georg Dederer im Projekt LegEmerge die Rolle des parlamentarischen Gesetzgebers auf beiden Ebenen unter die Lupe.
Sie beschäftigen sich konkret mit folgenden Fragen: Welche Regelungen muss der parlamentarische Gesetzgeber selbst treffen? In welchem Umfang darf dabei die Exekutive ermächtigt werden, durch (Not-)Verordnungen parlamentsgesetzliche Vorschriften zu ändern, zu ergänzen, zu suspendieren oder aufzuheben? In diesem Zusammenhang werden sowohl die Vor- als auch die Nachteile von (mehr) Zentralisierung einerseits und (mehr) Föderalisierung andererseits untersucht. Ein weiterer Schwerpunkt des Projekts liegt auf den mit den staatlichen Pandemiemaßnahmen einhergehenden Beschränkungen der individuellen Grundrechte. Die staatlichen Maßnahmen sollen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit schützen, greifen dadurch aber zugleich in eine Vielzahl anderer Grundrechte ein. Lassen sich diese Eingriffe rechtfertigen, sind sie insbesondere verhältnismäßig? Welchen Grad an Bestimmtheit und Regelungsdichte muss die gesetzliche Eingriffsgrundlage haben? Welche Rolle spielt dabei das Vorsorgeprinzip? Welchen Spielraum hat der Staat bei der Schaffung eines rechtlichen Rahmens in einem solchen Fall? Dies wollen die Wissenschaftler vertieft an der Triage-Problematik untersuchen.
Weiterführender Link:
BMBF: Meldung vom 26.10.2020: Gesetzgebung im Gesundheitsnotstand
Zwei Ansätze zur Nutzung von Gesundheitsdaten stellt Prof. Christiane Wendehorst, Co-Sprecherin der Datenethikkommission der Bundesregierung, vor. Der derzeitige Ansatz setze hohe formulare und prozedurale Anforderungen für jegliche Nutzung voraus. Die Korridore für eine generell ohne Einwilligung zulässige Datennutzung oder für jene, bei denen der Patient ein Widerspruchsrecht hat, seien schmal. Beim größten Teil handele es sich um „Datennutzung, die durch Einwilligung gerechtfertigt werden kann“. Der Bereich, in dem Datennutzung per se nicht erlaubt ist und für den Versicherte auch gar keine Einwilligung geben können („Blacklist“), sei sehr klein.
Eine zweite Variante lässt der Expertin zufolge mehr Spielraum: Rechtlich zulässige Datennutzung sollte demnach zum größten Teil auch ohne hohe formulare Anforderungen gestattet sein. Diese sollen dann gelten, wenn ohnehin Widerspruch vonseiten des Versicherten möglich oder Einwilligung nötig ist. Daneben müsste es aber eine breitere „Blacklist“ geben.
Ein Code of Conduct für Gesundheitsdaten steht auf der To-do-Liste der Europäischen Kommission, lässt Claire Bury wissen. Sie ist stellvertretende Chefin der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittel der Kommission. „Dieser Kodex wird die rechtliche Basis dafür liefern, wie Gesundheitsdaten verarbeitet werden dürfen“, sagt Bury. Dabei solle es sich um ein auf der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) basierendes konsertiertes Regelwerk handeln, das festlegt, wie Vertreter von Gesundheitsberufen und der Industrie mit den Daten umgehen sollen. Vorgesehen seien beispielsweise Pseudonymisierung und Anonymisierung der Informationen.
Die DSGVO erscheint derzeit aber als Hürde und Grundlage zugleich, denn sie werde innerhalb der EU und selbst innerhalb des föderalen Deutschlands unterschiedlich ausgelegt, sagt Dr. Gottfried Ludewig, Abteilungsleiter Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheitsministerium (BMG). „Deshalb ist dieser Code of Conduct so entscheidend.“
Der gemeinsame europäische Gesundheitsdatenraum soll 2025 stehen. Geplant ist, dass alle EU-Bürger ihre digitalen Patientendaten nutzen können, wenn sie sich zum Beispiel im EU-Ausland ärztlich behandeln lassen, nennt Bury ein Beispiel. Voraussetzung dafür sei die semantische Interoperabilität, die Daten müssten maschinenlesbar gemacht werden, sagt Ludwig. Es müsse verhindert werden, dass „in Frankreich ein medizinisches Faktum anders definiert wird als in Deutschland“. TK-Vorstandsvorsitzender Dr. Jens Baas hält einen gemeinsamen europäischen Gesundheitsdatenraum schon aus Wettbewerbsgründen für höchst relevant, um sich gegen die Konkurrenz aus den USA oder China zu behaupten. Große Player wie Google und Amazon – und nicht nur die – hätten erkannt, dass Gesundheit ein sehr lukrativer Markt ist. Er glaubt, dass diese Gesundheitsprodukte entwickeln, welche die Versorgung der Patienten verbessern. „Wir werden sie aber mit unseren Daten bezahlen müssen“, mahnt er. „Deswegen ist es wichtig, dass wir in Europa alternative Angebote aufsetzen.“
Fast 20 Jahre sind zwischen dem ersten Frauengesundheitsbericht, der 2001 vom Bundesfamilienministerium herausgegeben wurde, und dem aktuellen des RKI vergangen. Im Unterschied zu damals ist es den Krankenkassen aber mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben, geschlechtsspezifische Besonderheiten bei ihren Leistungen zu beachten. RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler betont anlässlich der Veröffentlichung, dass eine geschlechtersensible Berichterstattung die Akteure des Gesundheitswesens dabei unterstützt, „eine frauengerechte Prävention und Gesundheitsversorgung umzusetzen.“
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Zum Thema gynäkologische Erkrankungen wie Endometriose, Myome und Gebärmuttersenkung hält der Report beispielsweise fest, dass dafür „nur wenige Daten zu Häufigkeit, Einflussfaktoren und Versorgung“ zur Verfügung stünden. „Die Behandlung sollte sich an den individuellen Beschwerden und Bedürfnissen der Betroffenen orientieren.“ Eine Voraussetzung dafür sei eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Arzt und Frau.
Unterdessen kommt eine Studie des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB), der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin und der Berliner Charité zu dem Ergebnis, dass Genderaspekte im Medizinstudium viel zu wenig berücksichtigt werden. „Soweit es die Humanmedizin betrifft, ist die Vermittlung von geschlechtersensiblem Wissen an den Universitäten leider absolut unzureichend“, sagt Prof. Gabriele Kaczmarczyk, DÄB-Vizepräsidentin und eine der Autorinnen des Projekts. Demnach werden Studierende an 70 Prozent der Fakultäten nur punktuell in einzelnen Lehrveranstaltungen über die Auswirkungen von Geschlecht auf Krankheiten, Symptome und Therapien unterrichtet. Die strukturelle curriculare Integration von geschlechtersensiblen Aspekten sei noch nicht weit genug fortgeschritten, heißt es in dem Bericht. Verbesserungsbedarf sehen die Autorinnen außerdem bei der Prüfungsrelevanz, der Evaluation und Qualitätssicherung des vermittelten Wissens sowie der nachhaltigen Integration von geschlechterbezogenen Forschungsergebnissen in die Lehre. Als maßgebliche Barrieren für die Integration seien häufig eine mangelnde Bereitschaft beziehungsweise ein geringes Problembewusstsein sowie die fehlende Qualifizierung der Lehrkräfte genannt worden. Genderaspekte würden außerdem in den Fach- und Lehrbüchern nicht systematisch berücksichtigt. Kaczmarczyk fordert darum, neue Professuren für Gendermedizin zu schaffen.
Laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) haben 2020 in Deutschland 913 Menschen nach dem Tod ein oder mehrere Organe gespendet. Das entspricht 11,0 Spendern pro eine Million Einwohner. Damit liegen die Zahlen in etwa auf dem Niveau von 2019 (932 Organspender; 11,2 Spender pro Million Einwohner).
Die DSO nennt mehrere Gründe dafür, dass Organspende und Transplantationen hierzulande ohne große Einbrüche fortgeführt werden konnten. Einer davon sei das Engagement der Kliniken. Dieses lasse sich auch an der Zahl der organspendebezogenen Kontakte ablesen – also der Fälle, in denen sich die Entnahmekrankenhäuser an die DSO gewendet haben, um über eine mögliche Organspende zu sprechen. Diese Kontakte haben 2020 im Vergleich zu 2019 um 2,5 Prozent zugenommen und lagen bei 3.099 (2019: 3.023). Für Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der DSO, ist das ein „wichtiges Zeichen“.
Außerdem verweist die Stiftung auf das im April 2019 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende. Die beschlossenen Maßnahmen hätten bewirkt, dass sich in den Kliniken die Voraussetzungen für das Erkennen und Melden möglicher Organspender verbesserten. Insbesondere die Rolle der Transplantationsbeauftragten sei gestärkt worden.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Gewebetransplantation (DGFG) hat die Jahreszahlen 2020 veröffentlicht: 3.029-mal stimmten Spender beziehungsweise Angehörige im vergangenen Jahr der Spende von Geweben wie Augenhornhaut und Herzklappen zu. Trotz eines Spendeneinbruchs während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr konnte das „hohe Spendenniveau aus dem Vorjahr“ gehalten werden, so die Fachgesellschaft. Insgesamt vermittelte die DGFG 6.268 Gewebetransplantate deutschlandweit.
„Unser Ziel ist es, strukturierte digitale Leitlinien zu generieren“, sagt Prof. Ina Kopp, Leiterin des AWMF-Instituts für Medizinisches Wissensmanagement. Die Arbeitsgemeinschaft setzt derzeit ein umfassendes Konzept zur Digitalisierung des Leitlinienwissens um. Am Ende soll es auch Arbeitserleichterungen für Leitlinienautoren geben.
Erste konkrete Lösungen hat die AWMF bereits vorgestellt. „Diese Startlösungen umfassen Templates für die einheitliche Erstellung von Leitlinien, die Option zur Erprobung eines bereits vorhandenen Portals für die digitale Leitlinienerstellung und – vor allem – das AWMF-Portal Interessenerklärung Online zur digitalen Darlegung von Interessen und zum Umgang mit Interessenkonflikten“, erläutert Kopp. Letzteres bezeichnet sie als nationale und internationale Innovation.
Unterdessen hat die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) eine neue Kommission „Digitale Transformation in der Inneren Medizin“ gegründet. Diese soll Ärzte vermehrt in digitale Transformationsprozesse einbeziehen. Dabei sollen Probleme, die im Zusammenhang mit neuen Technologien entstehen, frühzeitig thematisiert, Lösungen konsentiert mitgestaltet und Chancen genutzt werden. Der neuen Kommission steht DGIM-Vorstandsmitglied Prof. Claus Vogelmeier aus Marburg vor. Ihr gehören die Vorsitzenden von fünf ebenfalls neu eingerichteten Arbeitsgruppen der DGIM an, deren Themen die Kommission kanalisiert und steuert. Die Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit digitalen Gesundheitsanwendungen, digitaler Versorgungsforschung, Künstlicher Intelligenz in der Inneren Medizin, Telemedizin sowie digitaler Transformation in Lehre, Forschung, Aus- und Weiterbildung.
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben darf es nicht nur auf dem Papier geben“, betont Katrin Helling-Plahr, als sie mit ihren beiden Mitstreitern den Entwurf eines Suizidhilfegesetzes bei der Bundespressekonferenz vorstellt. Derzeit bestehe erhebliche Rechtsunsicherheit. Anfang 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das seit 2015 bestehende Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt. Die Begründung der Karlsruher Richter: Das Verbot verletze das Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben..
Auch der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich derzeit intensiv mit dem Thema Sterbehilfe. Im Oktober vergangenen Jahres hat er auf einer Veranstaltung das „Recht auf Selbsttötung?“ erörtert. Bei einer Anhörung im Dezember wurde das Spektrum des Suizidbegehrens exemplarisch an ausgesuchten Lebenslagen näher beleuchtet. Konkret hat der Rat Aspekte der Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen, im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und im Kontext palliativer Versorgung in den Blick genommen sowie die Selbsttötung als Form der Lebensbilanzierung. Anlässlich der Anhörung bekräftigt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) ihre kritische Haltung gegenüber der ärztlichen Suizidbeihilfe als Aufgabe der Palliativversorgung. Die Suizidbeihilfe könne keine Aufgabe der Hospiz- und Palliativversorgung, ein Add-On, sein, sagt DGP-Präsident Prof. Lukas Radbruch.
Wie unterschiedlich das Thema Sterbehilfe nicht nur innerhalb der Ärzteschaft, sondern auch innerhalb der Fachgesellschaft selbst eingeschätzt wird, hat kürzlich das in der ARD gezeigte Stück „Gott“ von Ferdinand von Schirach offenbart. In einem offenen Brief monieren Radbruch sowie 16 weitere Unterzeichner unter anderem, dass die Rolle des Ärztekammervertreters „ein wenig aus der Zeit gefallen“ sei. Sie betonen, dass die Zulassung des assistierten Suizids weder Suizidraten senke noch harte Suizide verhindere. Aussagen wie diese bleiben nicht ohne Widerspruch. In einer Replik auf den Brief kritisieren 27 Personen, unter ihnen der Notfallmediziner Michael de Ridder und der Jurist Prof. Reinhard Merkel, nachweisbar unwahre oder verzerrende Aussagen – etwa in Bezug auf sinkende Suizidraten oder auf die Verhinderung von harten Suiziden. Zur Darstellung des Kammervertreters merken sie an, dass exakt die Argumente des Arztes in dem Stück von realen Vertretern der Ärzteschaft während der letzten Jahre vorgebracht wurden. Namentlich wird an den ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, Prof. Frank Ulrich Montgomery, erinnert.
Pflege wird schnell zur Vollzeitbeschäftigung, wenn man nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, sagt die SPD-Gesundheitspolitikerin Martina Stamm-Fibich bei der Vorstellung der Umfrage. Sie fordert mehr Flexibilisierung in der Arbeitswelt. Die Erhöhung des Pflegegeldes, die zum Juli geplant ist, sei ein Erfolg. Viele gute Maßnahmen würden jedoch durch übermäßige Bürokratie zur Belastung, die Bearbeitung dauere Monate. Zudem möchte Stamm-Fibich professionelle emotionale Unterstützung für Menschen, die familiäre Pflegearbeit übernehmen.
Die Umfrage bestätigt: Wird ein Familienmitglied mit einer schweren oder chronischen Krankheit diagnostiziert, bedeutet das für die Angehörigen mentalen Stress (90 Prozent), zeitliche Beanspruchung (60 Prozent), körperlichen Stress (54 Prozent) und finanzielle Beanspruchung (41 Prozent). Die eigene Erkrankung bzw. die Erkrankung eines Familienmitglieds haben 60 Prozent der Familien vor große Herausforderungen gestellt, bei 28 Prozent waren die Herausforderungen geringer. Egal wie groß die Herausforderungen, die meisten Befragten berichten, dass sie den Zusammenhalt in der Familie positiv beeinflusst haben.
Für die meisten Befragten nimmt Familie einen hohen Stellenwert ein. Sie ist in Zeiten einer chronischen oder schweren Erkrankung ein Ort, der Sicherheit und Geborgenheit gibt (76 Prozent) und unverzichtbar, um mit der Erkrankung umzugehen (62 Prozent). Gleichzeit sind die Angehörigen für fast jeden zweiten chronisch Kranken eine Bürde: Viele haben Angst davor, zur Last zu fallen oder nicht mehr wie bisher für die Familie sorgen zu können.
Die Unterstützung von Familie und Lebenspartner gibt viel Kraft, um durch die Therapien zu kommen, berichtet Susann Sommerfeld, die zweimal mit Brustkrebs diagnostiziert wurde. „Verständnis schafft Nähe“, sagt sie. Kommunikation sei sehr wichtig. Viele Betroffene wüssten jedoch nicht, wie sie offen mit ihrer Familie reden können und viele Familien seien nicht bereit, sich zu ändern. „Da muss man als Person sehr, sehr stark sein.“ Familie könne einen großen Einfluss auf das Befinden der einzelnen Personen haben, bestätigt MS-Patientin Britta Lovski. Bezüglich der Therapieentscheidung habe sie mehr mit dem Arzt gesprochen, ansonsten binde sie ihre Familie aber in ihren Alltag mit der Krankheit ein. Insbesondere zum Thema Nebenwirkungen habe sie aufgeklärt, „damit die Familie weiß, was auf sie zukommt“.
Etwa 250 Personen haben daran teilgenommen, 65 Prozent von ihnen sind seit Jahren chronisch oder schwer erkrankt, bei 9 Prozent wurde vor Kurzem eine chronische oder schwere Krankheit diagnostiziert und 26 Prozent haben selbst keine schwere Erkrankung.
[post_title] => Der zweite Patient [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => der-zweite-patient [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2021-02-16 13:38:57 [post_modified_gmt] => 2021-02-16 12:38:57 [post_content_filtered] => [post_parent] => 4088 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=4157 [menu_order] => 150 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [244] => WP_Post Object ( [ID] => 3756 [post_author] => 3 [post_date] => 2020-11-19 14:22:33 [post_date_gmt] => 2020-11-19 13:22:33 [post_content] => [post_title] => Ausgabe 53 | November 2020 [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => ausgabe-53-november-2020 [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2020-11-23 12:16:29 [post_modified_gmt] => 2020-11-23 11:16:29 [post_content_filtered] => [post_parent] => 0 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=3756 [menu_order] => 8850 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [245] => WP_Post Object ( [ID] => 3944 [post_author] => 3 [post_date] => 2020-11-19 15:23:56 [post_date_gmt] => 2020-11-19 14:23:56 [post_content] => [post_title] => Inhaltsverzeichnis [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => inhaltsverzeichnis [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2020-11-19 15:23:56 [post_modified_gmt] => 2020-11-19 14:23:56 [post_content_filtered] => [post_parent] => 3756 [guid] => https://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=3944 [menu_order] => 10 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [246] => WP_Post Object ( [ID] => 3762 [post_author] => 3 [post_date] => 2020-11-19 14:23:19 [post_date_gmt] => 2020-11-19 13:23:19 [post_content] =>Auf der DOG-Veranstaltung im Oktober sind Fehlentwicklungen in der Augenheilkunde durch die zunehmende Ökonomisierung ein Schwerpunktthema. „Rettet die Medizin! Arzt-sein zwischen Patientenwohl und Wirtschaftlichkeit“, lautet der Titel der Keynote-Lecture von Prof. Peter Pramstaller. „Wir Ärzte müssen uns zum Wohl der Patienten und unserer nachfolgenden augenärztlichen Generationen dem Wirtschaftlichkeitsstreben entgegenstellen, wo es zu Verwerfungen führt“, sagt sein Kollege Hans Hoerauf, Direktor der Augenklinik der Universitätsmedizin Göttingen.
Die Fallpauschalen im Krankenhaus gelten gemeinhin als Treiber der Ökonomisierung, werden teils synonym damit verwendet. Allerdings ist in das DRG-System in jüngster Zeit Bewegung gekommen. Die Pflegepersonalkosten sind seit diesem Jahr aus den DRGs ausgegliedert. Der GKV-Spitzenverband bezeichnet das als „die nachhaltigste Veränderung im DRG-System seit seiner Einführung“. Dabei soll es offenbar nicht bleiben. Denn auch wenn es das Thema kürzlich nicht auf die Agenda der Gesundheitsministerkonferenz geschafft hat, so ist es doch im Bundestag sehr präsent.
Bei einer Anhörung zum Krankenhauszukunftsgesetz regen kürzlich Experten im Gesundheitsausschuss Änderungen am Abrechnungssystem des Krankenhauswesens an. „Wir sprechen uns nicht dafür aus, das DRG-System in Gänze abzuschaffen“, betont Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Aber die Grundfinanzierung der Häuser müsse gesichert sein, um die Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg, Universität Hamburg, empfiehlt, „künftig mit Vorhaltepauschalen für bestimmte Fachabteilungen, geknüpft an enge Voraussetzungen, zu arbeiten“. Prof. Boris Augurzky, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, warnt vor einer kompletten Abschaffung des DRG-Systems. Es müssten aber „Modelle zu Regionalbudgets weiter ausgearbeitet und vor allem in ausgewählten Pilotregionen praktisch erprobt werden“.
Vorschläge zur Weiterentwicklung des DRG-Systems hat Schreyögg zuvor in einem Gutachten zur bedarfsgerechten Gestaltung der Krankenhausvergütung vorgestellt, das er mit Ricarda Milstein, Universität Hamburg, im Auftrag der Techniker Krankenkasse verfasst hat. „Eine Finanzierung von Vorhaltekosten für Strukturen der Leistungserbringung, beispielsweise für seltene Erkrankungen, Notfälle und die Grundversorgung auf dem Land, reduziert den finanziellen Druck von Krankenhäusern, ihre Strukturen über eine Fallzahlausweitung querfinanzieren zu müssen“, lautet ein Vorschlag der Autoren. Und eine Anpassung der Vergütung an exogene Kostenfaktoren, die nicht der Kontrolle des Krankenhauses unterliegen, sowie an Versorgungsstufen, die unterschiedliche Kostenstrukturen mit sich bringen, erhöhe die Fairness des Vergütungssystems. Außerdem entlaste es Krankenhäuser finanziell, die für ihre ungünstigen Kostenstrukturen nicht verantwortlich seien.
[caption id="attachment_4013" align="aligncenter" width="1000"]Bei der Haushaltsdebatte im Bundestag kurze Zeit später verdichten sich die Anzeichen, dass die Politik die Botschaften verstanden hat. „Wir brauchen ein gestuftes Versorgungssystem und darauf aufbauend ein Fallpauschalensystem“, das auch Vorhaltekosten berücksichtigen könne, sagt Karin Maag (CDU) und kündigt an: „Wir werden es liefern.“ Dr. Edgar Franke (SPD) erkennt ebenfalls Reformbedarf: „Die Fallpauschalen haben in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass mehr operiert wurde, als eigentlich notwendig war und das nur, um Einnahmen zu erzielen, um mehr Geld zu verdienen.“ Auch beim jüngsten Krankenhausgipfel der Deutschen Krankenhausgesellschaft zeigt sich Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) offen für Änderungen am Fallpauschalensystem.
Änderungen ja, gänzlich abschaffen wohl eher nicht – das dürfte der politische Kurs sein. Denn erst im Sommer hat der Minister bei einer Veranstaltung der Robert-Bosch-Stiftung zwar eingeräumt, dass die DRGs nicht perfekt seien. Mit Verweis auf gleichzeitige Überversorgung insbesondere in den Ballungsgebieten und Unterversorgung in anderen Regionen stellt er jedoch klar: „Solange es keine bedarfsgerechte Versorgung gibt, ist die Idee, einfach Strukturen zu finanzieren, nicht richtig“. Er will einen nicht effizienten Ressourceneinsatz verhindern, vor der Diskussion über ein neues Vergütungssystem seien Strukturveränderungen im stationären Bereich notwendig.
Dass es zu einer solch grundsätzlichen Strukturreform noch in dieser Legislatur kommt, ist jedoch unwahrscheinlich. Vielleicht sind die politischen Gestalter aber gar nicht so unglücklich darüber, dass Corona die Reformagenda gehörig durcheinandergebracht hat. Denn das Thema ist ein undankbares, findet beispielsweise Rudolf Mintrop, Vorsitzender der Geschäftsführung des Klinikums Dortmund. Die Klinken seien hierzulande aufgerieben zwischen den Zuständigkeitsebenen Bund, Länder, Kommunen und Selbstverwaltung und geteilt in Non-Profit- und For-Profit-Kliniken. Es gebe eine Vielzahl von Vorstellungen. „Deswegen ist der Krankenhausbereich so vernachlässigt, zerklüftet und politisch unsexy”, findet der Klinikmanager.
Solange aber eine grundlegende Strukturreform nicht angegangen wird, bringt eine Weiterentwicklung des DRG-Systems nur wenig. Das ist in einem Thesenpapier von Leopoldina-Wissenschaftlern nachzulesen, das zwar schon einige Jährchen auf dem Buckel hat, aber die gegenwärtige Situation noch immer zutreffend beschreibt. Darin postulieren Gesundheitsökonomen, Juristen und Ärzte, dass eine Weiterentwicklung des DRG-Systems allein nicht ausreiche, um die ökonomischen Fehlentwicklungen zu beheben – wenn gleichzeitig der politische Wille fehle, die Krankenhausstruktur grundlegend zu verändern. Und weiter: Die politischen Entscheidungsträger müssten die Bedingungen so gestalten, dass es für alle Akteure – auch aus ökonomischer Sicht – sinnvoll ist, sich nachhaltig auf das Patientenwohl zu verhalten. Die Experten fordern einen tatsächlichen Qualitätswettbewerb unter einer geringeren, aber besser ausgestalteten Anzahl von Krankenhäusern. Die politische Zurückhaltung bei der Gestaltung des Krankenhauswesens führe nur dazu, dass „die Probleme über die DRGs auf die praktische Arbeitsebene nach unten durchgereicht werden“. Daraus resultierten die bekannten Probleme wie Arbeitsverdichtung, Unzufriedenheit der Mitarbeiter, Personalmangel etc.
Festzuhalten ist daher, dass es bei der Kritik an einer Ökonomisierung nicht darum gehen sollte, Medizin und Ökonomie gegeneinander auszuspielen. Medizin kann es nicht in einem ökonomiefreien Raum geben. Vielmehr stehen dahinter ungelöste Strukturfragen, vor denen sich die Politik noch immer drückt.
Bundesrechnungshof zeichnet düsteres Bild
Der Bundesrechnungshof regt für die Krankenhausversorgung eine Grundgesetzänderung an. Dadurch könnten Finanzierungs- und Planungsverantwortung wieder zusammengeführt werden. In dem Bericht „über die Prüfung der Krankenhausfinanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung“ sieht die Behörde das duale Finanzierungssystem als gescheitert an. „Die Länder entscheiden nach der gesetzlichen Systematik alleinverantwortlich über Standorte und Schwerpunkte der Versorgung. Ihrer Finanzierungsverantwortung kommen sie indes nicht nach, große Teile der investiven Kosten werden zweckwidrig aus Mitteln der GKV-Beitragsgemeinschaft bestritten“, lautet die Lagebeschreibung. Finanzierungs- und Planungsverantwortung sollten in eine Hand gelegt werden. „Dies schließt eine Änderung grundgesetzlicher Bestimmungen notwendigerweise ein“, heißt es. Generell zeichnet der Bundesrechnungshof ein düsteres Bild der derzeitigen Krankenhauslandschaft in Deutschland: „40 Prozent der Krankenhäuser verzeichnen Verluste, für über ein Zehntel besteht erhöhte Insolvenzgefahr.“ Der Ab- und Umbau von Kapazitäten sowie die Schließungen von Häusern oder Abteilungen verlaufe ungesteuert. „Es besteht keine übergreifende Zielsetzung zwischen Bund und Ländern, wie die Versorgungsstrukturen weiterentwickelt werden sollen.“
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Die Hälfte der Ratsmitglieder kommt auf Basis risikoethischer Abwägungen zu dem Ergebnis, dass bei günstiger Entwicklung der naturwissenschaftlich-medizinischen Voraussetzungen mindestens eine stufenweise, anlassbezogen wie bereichsspezifisch ansetzende Einführung einer Immunitätsbescheinigung unter bestimmten Bedingungen sinnvoll wäre. Teilweise wird auch ein weiter reichender Einsatz für verantwortbar erachtet. Für die andere Hälfte der Mitglieder führen praktische, ethische und rechtliche Gründe zu einer Ablehnung des Einsatzes von staatlich kontrol-lierten Immunitätsbescheinigungen – selbst dann, wenn Unsicherheiten mit Blick auf den Sachstand in Zukunft nicht länger bestünden. Lesen Sie im Folgenden ein Pro und Contra der beiden Ratsmitglieder Prof. Judith Simon und Prof. Friedrich Gethmann.
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[caption id="attachment_3821" align="alignright" width="500"]Aus Sicht der Befürworter einer an Bedingungen geknüpften Zulassung von Immunitätsausweisen besteht bezüglich der Erforschung von Covid-19 und seiner medizinischen Effekte eine so hohe Dynamik, dass der Exekutive vorsorglich normative Orientierungen an die Hand gegeben werden sollten, nach denen im Falle einer günstigeren Evidenzlage zu verfahren ist. Dem liegen vor allem folgende Überlegungen zugrunde:
I: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und risikoethische Erwägungen verlangen, dass grundgesetzlich garantierte Freiheiten, die pandemiebedingt eingeschränkt werden, so weit wie möglich dem Bürger zurückgegeben werden. Das bedeutet, dass unter Umständen Risiken hinzunehmen sind, wie sie auch sonst im klinisch-medizinischen Kontext und in vielen anderen Lebensbereichen akzeptiert werden. Hier wie in anderen Lebensbereichen ist ein Null-Risiko eine Illusion, die rationales Handeln konterkariert.
II: Die gebotene Abwägung von Risiken und Chancen spricht im Rahmen eines gestuften Vorgehens dafür, Immunitätsnachweise mindestens anlass- und bereichsbezogen in bestimmten, gesetzlich zu regelnden Fällen zu verwenden, beispielsweise:
- zur Wahrung der Interessen von Personen, die Covid-19-assoziiert besonders vulnerabel sind;
- zur Ausübung von Berufen, deren Ausübung eine räumliche oder physische Nähe zu anderen Personen voraussetzt.
III: Zu gewährleisten ist eine im Lichte der medizinischen Erkenntnisse zur Dauer einer Immunität vertretbar begrenzte Gültigkeit einer Immunitätsbescheinigung. Die gesetzliche Regelung der Immunitätsbescheinigungen sollte befristet erfolgen.
IV: Immunitätsbescheinigungen können nicht nur die Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen bewirken, sondern umgekehrt im Interesse des Gemeinwohls zu besonderen Verpflichtungen bei der Pandemiebekämpfung führen. Allerdings dürfen Immunitätsbescheinigungen grundsätzlich nur auf Basis freiwilliger Entscheidungen angestrebt werden.
V: Hinsichtlich des Bedenkens, die Gewährung von Immunitätsnachweisen werde von manchen als Privilegierung betrachtet, die konvers als Diskriminierung erfahren werden könnte, ist zu bemerken, dass die Rückgewähr von Freiheitsrechten auch unter Pandemiebedingungen eine Schuldigkeit des Staates ist, die – im Unterschied beispielsweise zu ermessensbestimmten Zuwendungen – mit den Kategorien von Privilegierung und Diskriminierung nicht adäquat erfasst wird. Auch die Metapher von der „Spaltung der Gesellschaft“ ist hier fehl am Platze; so wie die Beschränkung der Fahrerlaubnis auf Führerscheinbesitzer eine gerechtfertigte Restriktion im Interesse aller (auch der Nicht-Führerscheinbesitzer) ist, dient ein Immunitätsausweis der gesundheitlichen Sicherheit aller Bürger.
VI: Zu den Risiken der Einführung von Immunitätsnachweisen gehören Probleme des Missbrauchs beispielsweise durch gezielte Selbstinfektion, um auf diese Weise in den Besitz eines Immunitätsnachweises zu kommen, darüber hinaus auch Betrugsmöglichkeiten vieler Art. Wie in anderen Lebenskontexten auch ist solchen Problemen regulatorisch (Ordnungsrecht, Strafrecht) entgegenzutreten.
Mit einem Teil der zwölf Ethikratsmitglieder unterstütze ich auch die ergänzende Positionierung, dass unter der Bedingung kluger Regulierung und sorgfältiger, fortlaufender Kontrolle eine umfassende Verwendung (ohne Einschränkung auf bestimmte Handlungskontexte) von Immunitätsbescheinigungen verantwortbar ist. Die Unvermeidbarkeit von Ungewissheit im Pandemie-Kontext darf so wenig wie in anderen Lebensbereichen die Notwendigkeit, Freiheitsbeschränkungen zurückzunehmen, infrage stellen. Die Beweislast liegt grundsätzlich aufseiten des freiheitsbeschränkenden Staates und nicht des freiheitsbegehrenden Bürgers.
Ferner halte ich es mit einem Teil der Ratsmitglieder schon jetzt für erwägenswert, eine nach heutiger Erkenntnis – nach überstandener Erkrankung – bestehende erhöhte Abwehrkraft gegen SARS-CoV-2 zu nutzen, um im Rahmen eines qualitätsgesicherten und freiwilligen Verfahrens von Covid-19 genesene Personen bevorzugt an Positionen mit höherem Infektionsrisiko einzusetzen.
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[caption id="attachment_3822" align="alignright" width="550"]Immunitätsbescheinigungen, welche im Kontext der Covid-19-Pandemie individuelle Freiheiten einräumen oder besondere Pflichten etablieren könnten, sind aus wissenschaftlichen, ethischen und praktischen Gründen abzulehnen. Zunächst erscheint es mit Blick auf die aktuelle wissenschaftliche Erkenntnislage unwahrscheinlich, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu einer hinreichend lange anhaltenden und verlässlichen Immunität bei allen, auch asymptomatisch Infizierten, führt.
Bei der ethischen Bewertung müssen individuelle Rechte und Pflichten ins Verhältnis gesetzt werden zu Fragen der gerechten Verteilung von Be- und Entlastungen. Bei einer Koppelung von Rechten oder Pflichten an den Status der Immunität sind ungerechte Verteilungen in zwei Richtungen möglich: Einerseits, wenn Personen ohne Immunitätsnachweis Möglichkeiten verwehrt würden (z.B. der Besuch einer Ausbildungsstätte). Andererseits, wenn Personen mit Immunitätsbescheinigung für bestimmte Tätigkeiten besonders in die Pflicht genommen würden (z.B. in Medizin und Pflege, Reinigung, Verkauf, Kitas oder Schulen). Hierbei ist insbesondere auf die Gefahr einer Verstärkung bestehender Benachteiligungen sowie die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft hinzuweisen.
Es gibt nur einen Bereich, in dem ein hinreichend sicherer Nachweis von Immunität zur individuellen Rückgewähr von Freiheit genutzt werden dürfte: zugunsten besonders vulnerabler Gruppen, etwa in Einrichtungen der Alten- oder Behindertenhilfe. Da diese Personengruppen erheblich unter strengen Isolationsmaßnahmen zu leiden haben, sollten nahestehende Personen, aber auch Seelsorger oder Hospizdienste – auf Grundlage gesicherter Kenntnis über ihre Immunität und Nichtinfektiosität – von bestimmten Auflagen befreit werden. Hierfür ist allerdings keine staatliche Immunitätsbescheinigung erforderlich. Ausreichend wäre eine Vorschrift im Immunitätsschutzgesetz, mit der Ärzte ermächtigt würden, die Immunität und Nichtinfektiosität für diese Personengruppe auf der Basis eines hinreichend aktuellen – bereits derzeit zur Verfügung stehenden – PCR-Tests oder aber eines – möglicherweise in Zukunft zur Verfügung stehenden – hinreichend zuverlässigen Antikörper-Tests zu bescheinigen.
Weiterhin gibt es praktische Aspekte, die gegen die Einführung von Immunitätsbescheinigungen sprechen. Trotz steigender Fallzahlen ist es aufgrund der geringen Dauer einer möglichen Immunität illusorisch anzunehmen, dass der Einsatz von Immunitätsbescheinigungen einen relevanten Effekt auf die Erholung der Wirtschaft oder die Versorgungslage im Sozial- und Gesundheitssystem hätte. Immunitätsbescheinigungen würden zudem Fehlanreize setzen, welche die derzeitige Pandemie-Schutz-Strategie konterkarieren könnten. So könnten sich Personen, etwa aus wirtschaftlicher Not oder um sich individuelle Vorteile zu sichern, mutwillig Infektionsrisiken aussetzen. Gerade in Arbeitsfeldern mit prekären Arbeitsbedingungen und/oder besonderen Infektionsrisiken wäre dies eine gleichermaßen gefährliche wie ungerechte Konsequenz. Weiterhin ist vor Erosionseffekten zu warnen, die vor allem ein breiter Einsatz freiheitsgewährleistender Immunitätsbescheinigungen in Bezug auf die Bereitschaft haben kann, sich an die allgemeinen Infektionsschutzmaßnahmen zu halten. Die genannten, mit der Einführung einer Immunitätsbescheinigung verbundenen Probleme stellen auch eine große Herausforderung für einen angemessenen Rechtsrahmen dar, beispielsweise in Bezug auf Missbrauchsgefahren, des Datenschutzes sowie des Arbeitsrechts.
Vor dem Hintergrund der ungewissen Erfolgsaussichten und der im Gesundheitsbereich nicht nur aus ökonomischer Sicht begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel, erscheint es nicht verantwortungsvoll, erhebliche Ressourcen in die Etablierung und gesetzliche Verankerung von Immunitätsbescheinigungen – einem Instrument mit beschränktem Nutzen und hohen Nebenwirkungen – zu investieren, wenn diese Mittel auch für erfolgsversprechendere Maßnahmen verwendet werden könnten.
Auf einer Tagung im Februar beschreibt der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, den Trend: Immer öfter kommen neue Arzneimittel auf den Markt, die zum Zeitpunkt ihrer Zulassung über eine schwache Evidenz verfügten, aber sehr viel kosteten. In der Krebsbehandlung addierten sich die Kosten sogar, weil Therapien oft miteinander kombiniert werden. Wasem sieht dadurch die Balance von Medikamentenzugang einerseits und Kostenkontrolle andererseits gefährdet. Er regt eine Diskussion zur sogenannten „vierten Hürde“ an. Diese würde bedeuten: Arzneimittel werden nicht mehr automatisch nach der Zulassung von der GKV erstattet. Erst nach der Preisverhandlung zwischen Kassen und Industrie hätten Patienten einen Leistungsanspruch.
„Deutsche GKV-Patienten haben im EU-Vergleich sehr rasch Zugriff auf neue Medikamente. Dies ist auch Ergebnis des Verzichts auf eine vierte Hürde. Das AMNOG hat diese Wertentscheidung für einen raschen Zugang unter Inkaufnahme von ggfs. zu hohen Preisen getroffen.
Daran würde ich nicht rütteln wollen. Fraglich ist aber, ob der frei gesetzte Einstandspreis ein ganzes Jahr gelten muss. Ich könnte mir vorstellen, dass der verhandelte Erstattungsbetrag rückwirkend zum Zeitpunkt des G-BA-Beschlusses über die Nutzenbewertung greift. Da wir nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 voraussichtlich vor dem Zwang erheblicher Kostendämpfung stehen werden, könnte dadurch auch ein Beitrag zur Ausgabenbegrenzung geleistet werden. Wegen der nahezu unausweichlich auf uns zukommenden Referenzpreis-Thematik aus den USA sollten wir dies mit einem Übergang zu vertraulichen Rabatten bei Beibehalten des beim Launch gesetzten Listenpreises verbinden.“
Bei der Techniker Krankenkasse haben die neuen Arzneimittel des Jahres 2017 im folgenden Jahr einen Ausgabenanstieg von sieben Prozent verursacht – dabei lag die Menge der verordneten Packungen rund 55 Prozent unter der des Vorjahres. Der durchschnittliche Preis pro Packung stieg im Vergleich zum Vorjahr um knapp 140 Prozent auf 3.066 Euro. Hauptverantwortlich für diesen enormen Kostenanstieg seien neben Spinraza fünf Arzneimittel, deren Kosten pro Packung im fünfstelligen Bereich liegen. Der TK-Vorstandsvorsitzende Dr. Jens Baas stellt bei der Vorstellung des Innovationsreports die Frage nach einem angemessenen Preis. Der Umstand, dass all diese kostenintensiven Arzneimittel der Behandlung schwerer Erkrankungen dienten, mache die Preisdiskussion auch zu einer „ethischen Debatte“. Er verlangt für die Preisbildung messbare und transparente Kriterien und nennt konkret: eine Beurteilung des „medical need“, Versorgungssicherheit sowie europäische Forschungsstandorte. Auf Basis dieser Kriterien könne die Sozialversicherung dann Preisobergrenzen festlegen.
„Seit Jahren verzeichnen wir stark steigende Preise für neue Arzneimittel. Mit Blick auf die extremen Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Frage drängender denn je, wie wir das System finanzierbar halten, damit sich die Versichertengemeinschaft den medizinischen Fortschritt in Form von guten Innovationen leisten kann. Medizinischer Fortschritt kann dabei jedoch nicht die alleinige Rechtfertigung sein, Preise willkürlich in die Höhe zu treiben. Um angemessene Preise verhandeln zu können, brauchen wir politische Rahmenbedingungen und objektivierbare Kriterien, anhand derer für alle Seiten faire Preisgrenzen zu ziehen sind.“
Der im Herbst veröffentlichte Arzneiverordnungs-Report (AVR) moniert einen „kontinuierlichen Ausgabenboom“ bei Arzneimitteln. Trotz jährlicher Einsparungen von 16,8 Milliarden Euro durch gesetzliche Maßnahmen seien die Ausgaben im vergangenen Jahr um 5,4 Prozent auf 43,4 Milliarden Euro angestiegen. Dafür machen die AVR-Herausgeber Prof. Wolf-Dieter Ludwig und Prof. Ulrich Schwabe insbesondere neue hochpreisige patentgeschützte Arzneimittel verantwortlich. Neben Onkologika (8,2 Milliarden Euro, +13,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) zeigten sich auch bei Immunsuppressiva, Antithrombotika und Dermatika überdurchschnittliche Zunahmen. Aber: Es hapere auch an effektiven Marktregulierungsmechanismen nach Ablauf des Patentschutzes. Biosimilars seien hierzulande wesentlich teurer als in anderen Ländern, Gleiches gelte für patentfreie Nichtbiologika aus der Gruppe der Krebsmedikamente. Ferner kritisieren die Herausgeber eine schleppende Umsetzung des deutschen Festbetragssystems.
Der AMNOG-Report 2020 der DAK widmet sich umfänglich dem zehnjährigen Jubiläum des Verfahrens. Er enthält unter anderem eine Befragung von 45 Experten aus Krankenkassen, Verbänden, Kassenärztlichen Vereinigungen und Industrie. Demnach bewerten 70 Prozent aller Befragten das AMNOG mit der Schulnote „gut“. Die großen Streitthemen sind vor allem Mischpreise, Endpunkte sowie die Preisfestsetzung im ersten Jahr. Als verbesserungswürdig werden genannt: Preisverhandlungen (32 Prozent), Bewertungssystematik (25 Prozent), Orphan Drugs sowie die Kommunikation (jeweils zwölf Prozent). Bei der Vorstellung des Reports stellt DAK-Chef Andreas Storm die Frage, wie taufrisch das AMNOG-Verfahren überhaupt noch sei. Weitere Anregungen des Vorstandsvorsitzenden der Kasse: Ist eine Erweiterung insbesondere für hochpreisige Arzneimittel notwendig? Sollten wir von der Nutzen- zu einer Kosten-Nutzen-Betrachtung kommen?
„Durch die absehbare Zunahme von neuartigen, früh eingesetzten und sehr hochpreisigen Medikamenten wird sich der Arzneimittelmarkt in den kommenden Jahren grundlegend verändern. Daher muss sich auch unser Verständnis von Zugang, Evidenzgenerierung und Erstattung weiterentwickeln. Unabhängig von bestimmten Wirkstoffvorschlägen ist es wünschenswert, dass die beteiligten Akteure sowie der Gesetzgeber kooperativ und mutig an der Fortentwicklung des bewährten Nutzenbewertungsverfahrens arbeiten. Ich bin sicher, dass in diesem Zusammenhang die Frage der Bezahlbarkeit stärker in den Fokus rücken wird. Wichtig ist mir dabei, dass eine Debatte auf gesamtgesellschaftlicher Ebene möglich ist, die auch schwierige ethische Fragestellungen nicht auslässt.“
Bei einer Diskussionsrunde der Barmer zum Umgang mit hochpreisigen Arzneimitteln nennt Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, kürzlich folgende Zahlen: Die durchschnittlichen Gesamtkosten für die Behandlung hätten sich bei neuen Wirkstoffen von 2011 bis 2019 vervierfacht (von 40.000 auf 152.300 Euro). Allerdings werde ein Großteil der neuen Wirkstoffe inzwischen für relativ kleine Patientengruppen gemacht, meint der Gesundheitsökonom. 40 Prozent der neuen Arzneimittel hätten eine Zielgruppe, die unter 1.000 Patienten liege. „Innovationen können grundsätzlich nicht günstig sein“, sagt Dr. Hagen Pfundner, Vorstand Roche Pharma AG, bei der Diskussion. Die Impfstoffentwicklung gegen Corona verdeutliche das hohe Investitionsrisiko: Von den rund 140 Projekten würden nur bis zu fünf übrig bleiben, der Rest bleibe auf der Strecke. „Bei Preisen zahlen Sie nicht im vollen Umfang die Forschungs-, Entwicklungs- oder Produktionskosten, sondern die Gedankenleistung, das Intellectual Property.“ Starre Grenzwerte für den Preis neuer Arzneimittel lehnt der Medizinethiker Prof. Georg Marckmann zwar ab, aber Signalgrenzwerte für das Kosten-Effektivitäts-Verhältnis kann er sich durchaus vorstellen. Werden diese überschritten, müsse es dafür gute Gründe geben, verlangt er, etwa dass es sich um schwerwiegende oder vernachlässigte Krankheiten handelt. Um über verschiedene Bereiche hinweg vergleichen zu können, müsste dieses Verhältnis in Kosten pro QALY (qualitätsgewichtetem Lebensjahr) angegeben werden.
In der Höhe des Grenzwertes für das Kosten-Effektivitäts-müsste sich die Zahlungsbereitschaft für Gesundheitsgüter in einem Land wiederspiegeln. Insofern wäre es in Deutschland beispielsweise angemessen, wenn der Grenzwert vom Bundesministerium für Gesundheit vorgegeben würde, in enger Abstimmung mit den für die GKV zuständigen Institutionen wie Gemeinsamer Bundesausschuss und IQWiG. Wenn ein Medikament mit dem vom Pharmaunternehmen vorgeschlagenen Preis deutlich über dem Kosten-Effektivitäts-Grenzwert liegt, kann man dies als gewichtiges Argument in den Preisverhandlungen nutzen.
Im Herbst haben gleich drei Ministerien – das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI) – eine Roadmap zur Initiative „Daten für Gesundheit“ veröffentlicht. Folgende Ziele werden darin postuliert: Die wissenschaftsbasierte Auswertung gesundheitsrelevanter Daten soll die Patientenversorgung verbessern, der medizinische Fortschritt soll vorangetrieben werden und – last but not least – geht es den drei Ressorts darum, die Innovationskraft des Standorts Deutschland zu steigern.
Diese Initiative ist nur eine von vielen, die dem digitalen Wandel den Weg bereiten soll. Die Bundesregierung hat die engere Vernetzung von Patientenversorgung und Gesundheitsforschung bei der Nutzung von digitalen Gesundheitsdaten zu einer ihrer zwölf Missionen in der Hightech-Strategie 2025 erklärt. Außerdem werden in der Roadmap genannt: die Umsetzungsstrategie Digitalisierung, die Datenstrategie sowie die Strategie Künstliche Intelligenz und die Blockchain-Strategie der Bundesregierung. Hinzu kommen die Digitalstrategie „Gestaltung der digitalen Zukunft Europas“ und die Europäische Datenstrategie (European Strategy for Data) der Europäischen Kommission.
Auch auf der Ebene der Gesetzgebung ist das BMG sehr aktiv, etwa mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz und dem Patientendaten-Schutzgesetz. Gegenwärtig wird ein drittes Digitalisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Wichtige Impulse werden darüber hinaus mit der BMBF-unterstützten Medizininformatik-Initiative, dem geplanten Forschungsdatenzentrum, das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angesiedelt werden soll, und der nationalen Forschungsdateninfrastruktur gesetzt. Außerdem arbeiten der Health Innovation Hub des BMG, die Gematik, der Digitalverband Bitkom und der Bundesverband Gesundheits-IT gerade im offenen Prozess an der Fortsetzung ihres Strategiepapiers „Interoperabilität 2025“.
Die Vielzahl an Strategien, Gesetzen und Initiativen zeigt die Komplexität des Themas. Viel tut sich – endlich auch an Stellen, an denen lange Zeit Blockade auf der Tagesordnung stand, wie bei der Gematik. Dennoch ist der Befund in einem Gutachten mehrerer Wissenschaftler, das kürzlich veröffentlicht wurde, noch immer ziemlich ernüchternd: „Für eine Nachnutzung seitens der medizinischen Forschung interessante und relevante Daten sind im Gesundheitssystem vielfach vorhanden, aber verteilt über viele Akteure und Institutionen und zudem rechtlich und technisch nur sehr begrenzt verfügbar und verknüpfbar.“
Das Gutachten im Auftrag des BMG haben unter anderem PD Dr. Sven Zenker und Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF), verfasst. Sie sind davon überzeugt, dass eine Datenspende für die sekundäre Datennutzung im Unterschied zum jetzigen Verfahren die Qualität, Fairness und Effizienz der Gesundheitsversorgung und der medizinischen Forschung stark fördern könnte. Die Idee ist nicht neu. Auch der Deutsche Ethikrat und Forschungs- und Digitalpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben sich mit dem Thema befasst (siehe Infokasten).
„Mit Daten Leben retten“
Parallel zum Gesetzgebungsverfahren des Patientendaten-Schutzgesetzes haben Gesundheits-, Forschungs- und Digitalpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ende Mai ein Positionspapier verfasst. Der Titel lautet „Mit Daten Leben retten: Für eine bessere Patientenversorgung durch Digitalisierung und Gesundheitsforschung“. Sie können sich unter anderem „perspektivisch“ vorstellen, dass in Deutschland ansässige forschende Unternehmen der Gesundheitswirtschaft in den Kreis der Antragsberechtigten für das Forschungsdatenzentrum aufgenommen werden. Darüber hinaus machen sie sich für eine verlässliche Infrastruktur stark, in der Datenflüsse zwischen Patienten, Versorgung und Forschung koordiniert werden. Den Unionspolitikern schwebt eine zentrale nationale Instanz nach Vorbild des US-amerikanischen „Office of the National Coordinator for Health Information Technology“ vor.
Zenker und Semler plädieren bei der Datenspende für ein einfach auszuübendes Widerspruchsmodell (opt-out). Besonders wichtig ist ihnen: Die Spende sollte zeitlich und räumlich vom Kontext einer medizinischen Behandlung entkoppelt und stattdessen im normalen Alltagsleben verankert werden. „Die Akutversorgung ist ein ungünstiger Zeitpunkt, um sich mit einer längeren Aufklärung zu Forschungsprojekten zu befassen – insbesondere, wenn diese komplexe Fragestellungen verfolgen oder infrastrukturell angelegt sind“, sagt Semler. Die Bürger sollten besser angesprochen werden, bevor sie in eine medizinische Notsituation kommen. „Denn eine informierte Entscheidung fällt leichter, wenn man sie mit relativ freiem Kopf fällen kann“, argumentiert Zenker.
Der ärztliche Leiter der Stabsstelle Medizinisch-Wissenschaftliche Technologieentwicklung und -koordination am Universitätsklinikum Bonn nennt noch einen weiteren Grund für eine breite Bürgerbeteiligung: die deutliche Selektionsverzerrung. Zum Beispiel können nur die Patienten der Universitätsmedizin befragt werden, die zum Zeitpunkt der Aufnahme noch ansprechbar und einwilligungsfähig sind, sodass bestimmte Krankheitsbilder und schwere Verläufe systematisch von der Datennutzung ausgeschlossen werden. Es geht den Wissenschaftlern also darum, ein Informationsangebot außerhalb des Akutkontextes zu schaffen. „Für mehr Datennutzung brauchen wir mehr Akzeptanz, mehr Akzeptanz geschieht durch mehr Patientenautonomie und die Patientenautonomie steigern wir nicht durch eine Vielzahl immer länger werdender Informations- und Einwilligungsunterlagen“, sagt Semler. Solche Prozesse sollten sinnvoll organisiert werden, das bedeutet: leistbar für die eine Seite sowie verständlich, überschaubar und beurteilbar für die andere Seite – die Bürger bzw. Patienten. Für Semler macht das Ganze nur dann Sinn, wenn man aus dem Projektzusammenhang hinausgeht. „Damit brauche ich einen neuen Akteur, der die grundsätzliche Spende verwaltet.“
Eine solche projektübergreifende Entität, wie Semler es nennt, sollte völlig unabhängig von derzeit laufenden Verfahren gedacht werden. „Würde man neue Anforderungen zur Datenspende beispielsweise schon jetzt an die ePA-Einführung richten, wäre damit das Projekt überfrachtet“, befürchtet der Experte. Es handelt sich ohnehin um eine langfristige Idee, die Strukturen von morgen vorausdenken soll. Die politische Debatte dazu beginnt gerade erst. Die Autoren des Gutachtens haben mit Patientenorganisationen wie der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe und dem Aktionsbündnis Patientensicherheit einen Workshop veranstaltet. Geplant sind jetzt Gespräche mit Abgeordneten. Fest steht nämlich, dass sich die ehrgeizigen Pläne der Wissenschaftler im derzeitigen Rechtsrahmen nicht verwirklichen lassen. Ein langer Atem ist gefragt. Aber vielleicht ist es ja genau dieser Paradigmenwechsel, den das hiesige System so dringend benötigt.
Souveräner Umgang mit Gesundheitsdaten
Auch das BMBF fördert das Thema Datenspende: Die Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang mit Gesundheitsdaten stehen im Zentrum eines neuen Forschungsprojekts, das von Informatikerinnen und Informatikern der Freien Universität Berlin koordiniert wird. Ziel des Forschungsvorhabens „WerteRadar – Gesundheitsdaten souverän spenden“ ist es, eine integrative und interaktive Software zur reflektierten Weitergabe von Gesundheitsdaten zu konzipieren, zu evaluieren und umzusetzen. Gefördert wird WerteRadar vom BMBF mit rund 480.000 Euro, die Laufzeit beträgt drei Jahre.
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Können Sie anhand eines Beispiels erläutern, was Patienten konkret von den Datenintegrationszentren haben, die im Rahmen der Medizininformatik-Initiative an den universitätsmedizinischen Standorten eingerichtet wurden?
Winkler: Einen direkten persönlichen Nutzen gibt es zunächst nicht. Die Medizininformatik-Initiative dient der Forschung. Dahinter steckt die Idee, die vielen klinischen Daten, die in den verschiedenen Datenbanken der Kliniken und Arztpraxen liegen, nutzbar zu machen. Die Auswertungen können helfen, die Qualität der Versorgung zu verbessern, aber auch ganz neue Fragestellungen in der Forschung zu beantworten.
Bei HiGHmed arbeiten Sie zu den ethischen Aspekten des Projekts. Welche ethischen Fragen sind denn bei der datenbasierten Versorgung und Forschung vorrangig zu klären?
Winkler: Zuerst einmal ist es wichtig, Patientinnen und Patienten genau zu erklären, welche Intention mit der Nutzung der Daten verfolgt wird, zu welchem Zweck wir diese Daten benötigen. Damit ist eine gute Aufklärung die erste ethische Herausforderung, weil man zum Zeitpunkt der Aufklärung noch nicht spezifisch sagen kann, in welche Projekte die Daten genau gehen und wo genau der Nutzen entsteht. Wir müssen vielmehr die Infrastruktur erklären, am besten mit einem konkreten Beispiel wie diesem: Wenn ein Forscher herausfinden will, ob bei Bauchspeicheldrüsenkrebs ein Zusammenhang mit Bluthochdruck besteht, dann stellt er eine Anfrage an die Medizininformatik-Initiative. Dort initiiert man eine grobe Suche, wie viele Patientendatensätze zu der Fragestellung vorliegen und im nächsten Schritt kann der Forscher dann einen Antrag auf Nutzung der verschlüsselten Datensätze stellen. Es muss klare Regeln geben, wer Zugriff hat, dass nur diese Forschungsfrage bearbeitet wird und die Daten danach gelöscht werden. Kurz: Zu den ethischen Herausforderungen gehört die Aufklärung der Patienten, der gerechte Zugang für alle Forscher, klare Kriterien, nach denen sie Zugang zu den Daten haben, und eine gute Aufsicht über das Ganze mit Berichtswesen, darüber, was denn am Ende als Nutzen herauskommt.
Welche Konflikte ergeben sich zwischen Personalisierter und Big-Data-Medizin einerseits und den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin andererseits? Und wie lassen sich diese im Sinne des Patienten lösen?
[caption id="attachment_3795" align="alignright" width="500"]Winkler: Personalisiert klingt immer etwas irreführend, als wenn jede einzelne Person ihre eigene Medizin erhält. Tatsächlich beruht die stratifizierte Medizin, die hier gemeint ist, auf Biomarkern, die Patientenkohorten besser definieren. Deshalb werden die Patientengruppen immer kleiner, große Studien lassen sich nicht mehr durchführen.
Was ist die Konsequenz dessen?
Winkler: Damit verlassen wir den Goldstandard der großen randomisierten Studie. Die beiden Dinge werden gegenübergestellt, als wäre die individualisierte Medizin eine Abkehr von der evidenzbasierten Medizin. In Wirklichkeit ist es eine Weiterentwicklung, die aufgrund des Fortschritts der Erkenntnis und der Möglichkeiten, die Krankheit des Einzelnen besser zu charakterisieren, auch eine Weiterentwicklung unserer Systematik und Methodik bezüglich eines gut abgesicherten Nutzens erfordert. Der Nutzennachweis muss auch weiter der Standard sein.
Sind Patienten auch in diesen ganzen Prozess involviert?
Winkler: Ja. Ein Schwerpunkt ist die sogenannte Stakeholder-Beteiligung und Partizipation von Patienten – sowohl auf nationaler Ebene als auch im Rahmen von unseren medizinischen Schwerpunktprojekten im Rahmen des HiGHMed-Konsortiums. Wir haben drei Standorte dafür: Göttingen, Berlin und Heidelberg. Gerade in Göttingen wird unter der Leitung von Frau Prof. Silke Schicktanz untersucht, wie Patienten strukturell beteiligt werden können, also sowohl in den Entscheidungsgremien als auch bei der Bereitstellung von Daten beispielsweise im kardiologischen Anwendungsbereich, wo Patienten durch die App schon bei der Datengenerierung miteinbezogen sind.
Wie erleben Sie die Bereitschaft, Daten zur Verfügung zu stellen?
Winkler: Insgesamt ist die bei Krebspatienten recht hoch, aber man muss je nach Bedürfnis unterschiedliche Intensitäten und Beteiligungsformen anbieten. Einige Patienten sind mit ihrer Krankheit beschäftigt. Aber es gibt viele Patienten, die sagen, man müsste eigentlich mehr mit den Daten forschen, die sie bereitstellen. Keiner möchte keine Forschung.
Was ist HiGHmed?
Das Konsortium HiGHmed bündelt und integriert im Rahmen der Medizininformatik-Initiative Kompeten- zen von acht Universitätskliniken und medizinischen Fakultäten sowie weiteren Partnern aus Wissenschaft und Industrie. Das Ziel: innovative Informationsinfrastrukturen entwickeln und so einen schnelleren Transfer von Ergebnissen aus der Forschung in die klinische Praxis ermöglichen. Die Partner arbeiten organisations- und institutionsübergreifend zusammen, um einen Verbund von Datenintegrationszentren aufzubauen. Anhand von drei klinischen Use Cases sollen die Zentren demonstrieren, wie Daten, Infor- mationen und Wissen aus Krankenversorgung sowie klinischer und biomedizinischer Forschung zum Wohle von Patienten über die Grenzen von Stand- orten hinweg verknüpft werden können.
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• Use Case Onkologie: Gezieltere Krebsbehandlung durch übergreifenden Wissensaustausch
• Use Case Kardiologie: Früherkennung und Vermeidung von Krankheitsschüben bei Langzeit-Verläufen
• Use Case Infektionskontrolle: Krankenhausinfektionen verstehen, vorhersehen und verhindern
Alle Selektivverträge und Verträge der hausarztzentrierten Versorgung hat das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) in einer Liste auf seiner Internetseite veröffentlicht. Damit kommt das Amt einer Regelung aus dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz nach. Die Vertragstransparenzstelle soll die Datengrundlagen für den Risikostrukturausgleich sichern. Zugleich will das BAS Transparenz über die Verträge der Krankenkassen für Versicherte, Aufsichtsbehörden und die interessierte Fachöffentlichkeit schaffen. BAS-Präsident Frank Plate spricht von einem wichtigen Schritt für einen „fairen und transparenten Wettbewerb“ zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Das Verzeichnis soll im kommenden Jahr um weitere Angaben ergänzt werden – unter anderem wird die Art der beteiligten Leistungserbringer genannt.
Unterdessen kritisiert der Bundesverband Managed Care (BMC) die „sehr restriktive“ Prüfpraxis von IV-Verträgen durch das BAS. Innovationen und neue Denkansätze würden dadurch im Keim erstickt, schreibt der Verband in seiner Stellungnahme zum geplanten Versorgungsverbesserungsgesetz. Es sieht unter anderem vor, dass auch nicht-ärztliche Leistungserbringer an besonderen Versorgungsaufträgen beteiligt werden können. Auch regional begrenzte Versorgungsinnovationen werden ermöglicht. Vorgesehen ist ferner, dass der Nachweis der Wirtschaftlichkeit von Selektivverträgen innerhalb von vier Jahren entfällt. Und: Versicherungsübergreifende Versorgungsformen und eine Beteiligung an Versorgungsinnovationen anderer Träger, z.B. kommunaler Einrichtungen der Sozial- und Jugendhilfe, werden ermöglicht. Insgesamt begrüßt der BMC diese Reformen, kritisiert aber grundsätzlich, dass keine Anreize für die Skalierung erfolgreicher Projekte bestehen.
Zumindest an Denkanstößen für innovative Versorgungsformen scheint derzeit kein Mangel zu herrschen: Der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) hat 136 Ideenskizzen im Bereich neue Versorgungsformen erhalten. Antragsteller sind Universitäten, Krankenhäuser und Krankenkassen. Im Vergleich zu den früher eingereichten vollständigen Anträgen erhielt der Ausschuss deutlich mehr Skizzen. G-BA-Chef Prof. Josef Hecken führt die große Resonanz auf das neue zweistufige Verfahren zurück, das der Gesetzgeber im vergangenen Jahr eingeführt hat.
Weiterführender Link:
https://www.bundesamtsozialesicherung.de/de/vertragstransparenzstelle
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Im Fokus des Reports steht der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Gesundheit. Dafür befragte das WIdO Anfang des Jahres 2.500 Arbeitnehmer zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz sowie zu gesundheitlichen Beschwerden. Demnach weisen Arbeitnehmer, die ihre Führungskraft als ungerecht empfinden, im Durchschnitt 15 Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr auf. Diejenigen, die ihre Führungskraft als fair einstufen, kommen dagegen lediglich auf 12,7 Tage. Zudem erscheinen erstere häufiger entgegen dem Rat eines Arztes bei der Arbeit. „Gefühlte Ungerechtigkeit bringt dabei insbesondere emotionale Irritationen und psychosomatische Beschwerden mit sich“, erläutert Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO und Mitherausgeber des Fehlzeiten-Reports. Doch auch körperliche Leiden wie Rücken- und Gelenkbeschwerden, Kopfschmerzen, Atemwegserkrankungen und Herz-Kreislauf-Beschwerden treten wesentlich häufiger auf, wenn sich Arbeitnehmer ungerecht behandelt fühlen. „Das war für uns überraschend“, räumt Schröder ein. Im Mittel über alle Beschwerden klagen Arbeitnehmer, die sich von ihrer Führungskraft unfair behandelt fühlen, etwa viermal so oft über gesundheitliche Probleme wie diejenigen, die die Behandlung als fair empfinden.
Für Mitherausgeber Prof. Bernhard Badura, Gesundheitswissenschaftler von der Universität Bielefeld, steht angesichts dieser Ergebnisse fest, „dass wir in Deutschland Dinge grundsätzlich in Zukunft anders machen müssen als bisher“. Badura beklagt vor allem „überkommene Vorstellungen von Führung“ und „Kulturen des Misstrauens und der Angst in Unternehmen“. Dies schade den Beschäftigten und der Volkswirtschaft gleichermaßen. Führungskräfte müssten heute nicht nur über fachliche, sondern vor allem über soziale Kompetenz verfügen.
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Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat im Oktober beschlossen: Auch eine kinder- und jugendmedizinische Fachabteilung in Krankenhäusern gilt künftig als Kriterium für den Sicherstellungszuschlag. „Insgesamt können in dünn besiedelten Gebieten so bis zu 59 Standorte im Falle eines Defizits des Krankenhauses unterstützt werden“, erklärt Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des G-BA. Bisher gelten nur Innere Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe oder Gynäkologie als basisversorgungsrelevante Leistungen eines Krankenhauses, um die finanzielle Sonderhilfe zu bekommen. Durch das geplante Versorgungsverbesserungsgesetz könnten die Sicherstellungszuschläge für die Kinder- und Jugendmedizin bereits 2021 ihre Wirkung entfalten, sagt Hecken. Zusätzlich erhielten künftig – einschließlich der Kinder- und Jugendmedizin – rund 140 Kliniken in dünn besiedelten Gebieten unabhängig von einem Defizit zudem noch eine pauschale Förderung von jährlich 400.000 bis 800.000 Euro.
Eine flächendeckende pädiatrische Versorgung sieht der G-BA in Gefahr, wenn durch die Schließung eines Krankenhauses für zusätzlich 800 Menschen unter 18 Jahren Fahrzeiten mit dem Auto von mehr als 40 Minuten zur nächsten Klinik notwendig sind. Ein strukturell bedingter geringer Versorgungsbedarf liegt laut G-BA in einer Region vor, wenn die durchschnittliche Einwohnerdichte von unter 18-Jährigen unter 22 Menschen je Quadratkilometer im Einzugsbereich des Krankenhauses sinkt. Über diese Zahl herrscht zunächst Dissens zwischen den entscheidenden Bänken im G-BA. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft wollte ursprünglich 27 Kinder und Jugendliche als Grenze, der GKV-Spitzenverband 16.
Erst kürzlich hat die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin in einer Petition an den Bundestag gefordert, „die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen in der medizinischen Versorgung zu beenden“. Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Deutschland (BVKJ) warnte vor einer drohenden Versorgungsverschlechterung – sowohl ambulant als auch stationär. Flächendeckend mangele es bereits heute an Kinder- und Jugendmedizinern. Der Verband spricht von langen Wartezeiten in den Praxen. Und viele Kinderkliniken könnten aufgrund von strukturellen Defiziten nicht wirtschaftlich arbeiten und seien daher akut gefährdet. „Diese Situation wird sich in den kommenden Jahren noch dramatisch verschärfen“, meinte BVKJ-Vorsitzender Dr. Thomas Fischbach.
Auch bei der pflegerischen Versorgung von Kindern liegt einiges im Argen: Bereits im vergangenen Jahr hat das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler (ABAHF) an die Bundesregierung appelliert, die Versorgung intensivpflegebedürftiger Kinder schnellstmöglich zu normalisieren. Der Zustand der Intensivpflege auf kinderkardiologischen und kinderherzchirurgischen Intensivstationen sei „dramatisch und höchst besorgniserregend“. Von mehreren Kinderherzzentren in Deutschland werde berichtet, dass im Schnitt 30 Prozent der Betten wegen Pflegekräftemangels gesperrt sind. Grund für den Pflegekräftemangel sei insbesondere die bereits vor Jahren erfolgte Reduzierung von Ausbildungsplätzen in der Kinderkrankenpflege, die sich aktuell im klinischen Alltag massiv auswirke.
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Nach Abschluss der Akutbehandlung sind viele Schwerverletzte noch nicht fit genug, um die Vorgaben der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur Rehabilitationsfähigkeit zu erfüllen, berichtet der stellvertretende DGOU-Präsident Prof. Michael Raschke. Diese beinhalten, dass ein Patient selbständig essen und sich anziehen kann. „Bei vielen Schwerverletzten ist das so kurz nach dem Unfallereignis nicht realistisch“, sagt Raschke. Nur 15 Prozent der Patienten können direkt nach der Behandlung ihre Reha beginnen.
Viele andere Patienten könnten die Vorgaben erst nach drei bis sechs Monaten erfüllen. Sie begeben sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in häusliche Pflege oder Kurzzeitpflege. Damit entstehe eine Phase des Stillstands, in der Schwerverletzte in ihrem Genesungsprozess zurückgeworfen werden. „Diese Patienten fallen in ein Reha-Loch“, beklagt Raschke. Sie erhielten zweimal wöchentlich 30 Minuten Physiotherapie, was nicht genug sei.
Bundesweit gibt es etwa 1.100 Rehabilitationseinrichtungen, diese seien jedoch meist auf standardisierte Reha nach nicht akuten OPs ausgerichtet. Die Betreuung von Schwerverletzten sei wesentlich komplexer. „Wie kann beispielsweise eine Entlastung des linken Beins an Unterarm-Gehstützen realisiert werden, wenn gleichzeitig der rechte Oberarm gebrochen ist?“, fragt Raschke. Um eine kontinuierliche Rehabilitation zu ermöglichen, haben die Verbände ein Sechs-Phasen-Modell zur Traumarehabilitation entwickelt. Durch Frührehabilitation während der Akutbehandlung und Postakute Rehabilitation soll das Reha-Loch zukünftig vermieden werden. An Traumarehabilitationszentren werden besondere Anforderungen gestellt, um Patienten zu behandeln, welche die Kriterien der DRV noch nicht erfüllen.
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Bei einer Veranstaltung von Pro Generika thematisiert Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Abhängigkeit von China und anderen asiatischen Ländern bei der Wirkstoffproduktion. Wohin diese führen könne, habe man zu Beginn der Corona-Krise „schmerzhaft“ bei den Medizinprodukten erlebt. Geprüft werden soll daher, wie Versorgung und Produktion in Europa wieder angereizt werden können. Allerdings warnt Spahn vor einer Strategie nach dem Motto „europe first“ – insbesondere angesichts der starken Exportabhängigkeit der hiesigen Wirtschaft. Der Minister will eine mögliche europäische Produktion deshalb auf die „wirklich wichtigen“ Arzneimittel beschränken. In einem ersten Schritt müssten diese auf europäischer Ebene definiert werden. Von der Arzneimittelstrategie der EU-Kommission, die demnächst vorliegen soll, erwartet Spahn weitere Impulse zur Versorgungssicherung. Für das erste Halbjahr 2021 kündigt er „erste Entscheidungen auf europäischer Ebene“ an.
Im Auftrag von Pro Generika hat die Unternehmensberatung MundiCare 554 für die Versorgung in Deutschland benötigte generische Arzneimittelwirkstoffe analysiert. Knapp zwei Drittel (63 Prozent) aller Herstellerzulassungen (CEP) für diese Wirkstoffe liegen laut Studienautor Dr. Andreas Meiser mittlerweile bei asiatischen Herstellern, der europäische Anteil beträgt 33 Prozent. Vor 20 Jahren betrug das Verhältnis noch 59:31 Prozent – zugunsten von Europa. „Europa hat unglaublich viel Wirkstoffproduktion abgegeben“, kritisiert Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika. Zwar ist der Studie zufolge auch hierzulande die Zahl der Hersteller und der Zulassungen weiter gestiegen, jedoch langsamer als in Asien. Vor allem Indien und China können ein „extrem starkes Wachstum“ vorweisen, erläutert Meiser. Besonders hoch ist der Anteil asiatischer Hersteller bei neu zugelassenen Wirkstoffen. Eine Detailanalyse der Studie zeigt: Die europäischen Hersteller haben sich vor allem auf „kleinvolumige, komplexe Wirkstoffe“ spezialisiert, während bei den großvolumigen meist asiatische Hersteller den europäischen Bedarf decken. Meiser betont jedoch: „Die Kapazitäten und das Knowhow für eine Erhöhung der europäischen Produktion sind vorhanden.“ Gründe für die Verlagerung seien vor allem hoher Kostendruck und ungleiche regulatorische Rahmenbedingungen.
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Christoph Stoller, Präsident des europäischen Generika-Verbandes Medicines for Europe, fordert, die Abwärtsspirale bei den Preisen für Generika zu stoppen. Neben dem Preis sollten weitere Kriterien bei der Vergabe von Aufträgen berücksichtigt werden – etwa mehrere Wirkstoffquellen sowie Umweltfaktoren. Europapolitiker Tiemo Wölken (SPD) hält die Einführung „europäischer Leitlinien für Ausschreibungen“ für geboten. Spahn findet dagegen, die Unternehmen hätten selbst ihren Anteil, indem sie den Krankenkassen von sich aus extrem hohe Rabatte anböten, um Marktanteile zu gewinnen. Er sagt: „Die Politik allein hat uns da nicht reingeführt. Und sie wird uns da auch nicht allein wieder rausführen.“ Nichtsdestotrotz habe man bereits begonnen, Probleme bei Rabattverträgen zu adressieren – etwa im Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung und dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz.
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„Ohne klaren Zeitrahmen und Überprüfungsmechanismen zur Erfolgsmessung ist die neue Strategie der Bundesregierung nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, kritisiert der FDP-Bundestagsabgeordnete Prof. Andrew Ullmann. Die angekündigte Überprüfung zur Halbzeit sei zwar erfreulich, aber die Konkretisierung fehle. Der Gesundheitspolitiker schlägt unter anderem einen Überprüfungsausschuss vor. Dieser sei vom Unterausschuss globale Gesundheit des Deutschen Bundestages zu beauftragen.
Neben der Verbesserung der internationalen Gesundheitssicherheit ist es ein wesentliches Ziel der Strategie, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu stärken. „Wir brauchen eine WHO, die Gesundheitsgefahren global vorbeugen und im Notfall schnell handeln kann“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Deutschland macht sich unter anderem dafür stark, die WHO-Beiträge substanziell zu erhöhen, „auch um den Bereich des WHO-Notfallprogramms zur Vorbereitung und Reaktion auf Gesundheitskrisen zu stärken“, heißt es in der Strategie. Dort ist auch von einer Fokussierung auf Kernaufgaben die Rede. Eine weitere Institution, auf die in dem Papier ein Fokus gelegt wird, ist das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Ferner werden mit der Strategie die Ziele und Prioritäten der Bundesregierung an neue Herausforderungen wie die Corona-Pandemie und den Klimawandel angepasst und weiterentwickelt.
Weiterhin kündigt die Regierung an, ihr Engagement bei Antibiotikaresistenzen fortzuführen. Betont wird: Deren Entstehung und Ausbreitung könne nur sektorübergreifend erfolgen, „wie im Rahmen der Tripartite Initiative von WHO, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) sowie der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE)“.
Zum Hintergrund
Die Strategie wird an die Stelle des im Jahr 2013 verabschiedeten Konzeptes zur globalen Gesundheitspolitik treten, mit dem die Bundesregierung erstmals den deutschen Beitrag in diesem Politikfeld definierte. Der Prozess der Strategieentwicklung hatte im Juni 2018 offiziell begonnen.
Weiterführender Link
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/GlobaleGesundheitsstrategie_Web.pdf
Alle vier Jahre erhebt das Bundesamt für Statistik im Rahmen des Mikrozensus Angaben zur Krankenversicherung der Befragten. Im August teilt die Behörde mit, dass im vergangenen Jahr 143.000 Bürger über keine Krankenversicherung verfügten – trotz der zehn Jahre zuvor eingeführten Versicherungspflicht. Diese Zahl ruft umgehend Politiker von Linke und SPD auf den Plan, denn vier Jahre zuvor waren es noch 79.000 Personen gewesen. Die Zahl derjenigen, die im Krankheitsfall nur unzureichend geschützt sind, hat sich demnach fast verdoppelt. SPD-Politikerin Bärbel Bas fordert daraufhin eine „Clearingstelle“, die Betroffenen helfen solle, ihren Versicherungsstatus zu klären, sowie einen Fonds, der in der Zwischenzeit die Behandlungskosten trage. Einen Monat später korrigiert allerdings das Bundesamt seine Angaben: Tatsächlich sei die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung zwischen 2015 und 2019 auf 61.000 zurückgegangen. Experten gehen jedoch von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. „Mein Eindruck ist, dass diese Zahl zu niedrig ist“, sagt etwa Yvonne Vollmer von der Verbraucherzentrale Hamburg. So bleiben zum Beispiel Wohnungslose bei der Haushaltsbefragung außen vor.
Der offiziellen Statistik zufolge sind fast zwei Drittel der Betroffenen Männer, besonders oft handelt es sich um Selbstständige und mithelfende Familienangehörige sowie Nichterwerbspersonen. Die meisten Betroffenen seien jedoch schon vor langer Zeit – meist aufgrund von Beitragsrückständen – aus der Versicherung ausgeschieden und lebten seither ohne den Schutz. Nach heutiger Gesetzeslage ist eine Kündigung wegen ausbleibender Beiträge nicht mehr möglich. Die Angst vor extrem hohen Schulden sei einer der Hauptgründe dafür, dass Menschen nicht mehr in die Versicherung zurückkehrten, sagt Vollmer. 2013 schaffte die Politik mit dem Beitragsschuldengesetz kurzzeitig die Möglichkeit für einen Schuldenschnitt. Seither müssen neu Versicherte die versäumten Beiträge beziehungsweise Prämien zumindest in Teilen nachzahlen – hinzu kommen die regulären monatlichen Zahlungen, die gerade in der PKV hoch ausfallen können. „Allein die Kosten für den Basistarif überschreiten oft die geringen Einkünfte“, so Vollmer. Viele Betroffene fürchteten, abhängig von staatlichen Leistungen zu werden.
Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Prof. Claudia Schmidtke weist darauf hin, dass Krankenkassen verpflichtet sind, ehemalige Versicherte wieder aufzunehmen. „Es besteht zudem in der Regel die Möglichkeit, Ratenzahlungen zu vereinbaren oder in Härtefällen Beiträge zu stunden“, sagt sie. Damit will sich Bas nicht zufriedengeben. Es brauche „weitere Regelungen, um die Behandlung von Menschen ohne Krankenversicherung sicherzustellen“. Auch an ihrer Forderung nach einer bundesweiten Clearingstelle und einem Fonds zur Übernahme der Behandlungskosten hält sie trotz korrigierter Zahlen fest.
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Zum Hintergrund: Die Robert Bosch Stiftung hat vor zwei Jahren die Initiative „Neustart!“ begonnen.
Bereits erschienen ist der Bürgerreport 2019. Er bündelt die Ergebnisse von fünf Bürgerdialogen, an denen im vergangenen Mai in verschiedenen Städten rund 400 zufällig ausgewählte Bürger teilnahmen. Der Report enthält über 500 Reformideen.
Parallel dazu diskutieren Experten in verschiedenen Think Labs – Denk-Laboren – über ein zukünftiges Gesundheitssystem. Ein konkretes Thema lautet beispielsweise Ressourcenallokation.
Lesen Sie im folgenden die Fragen der Bürgerbotschafter an den Minister.
Prävention und Gesundheitskompetenz sollten so früh wie möglich etabliert werden – am besten schon in Kindergärten und Schulen. Welche konkreten Konzepte verfolgen Sie, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu etablieren und umzusetzen?
Grundsätzlich unterstützt Spahn, dass sich Kinder in der Schule oder noch früher in den Kitas mit Gesundheit auseinandersetzen. Aber er warnt davor, die Bildungs-institutionen zu überfrachten: „Wir dürfen die Schule nicht alles lösen lassen, was gesellschaftlich nicht mehr klappt.“ Die Krankenkassen seien zur stärkeren regionalen Zusammenarbeit verpflichtet worden. Der Minister will, dass sie zusammen mit den Kommunen und Landkreisen Konzepte für die Schulen erarbeiten. Als konkrete Themen nennt er Ernährung, aber auch Impfen und Zahnuntersuchungen. „Da möchte ich die Kassen als aktive Spieler sehen – auch finanziell aktiv.“ Allerdings müsse auch eine Grenze definiert werden, um welche Aufgaben sich die Bildungsinstitutionen kümmern – Beispiel Sportunterricht – und was die Krankenkassen mit guten Kooperationen beitragen können.
Der wirtschaftliche Druck auf medizinische Einrichtungen führt dazu, dass die Mitarbeiter nur wenig Zeit für die Patienten haben. Wie kann über eine erhöhte Sprechstundenzahl und eine besser vergütete sprechende Medizin ausreichend Zeit für Kommunikation mit den Patienten gewährleistet werden?
Der Minister teilt das grundsätzliche Anliegen. In den vergangenen Jahren sei die sprechende Medizin bereits stärker in den Fokus gelangt. Aber: „Es ist nicht so einfach, das in den Vergütungsstrukturen, wie wir sie kennen – und deshalb muss man sie dann auch schrittweise überarbeiten – abzubilden.“ Bei der konkreten Finanzierung der sprechenden Medizin sieht der Politiker eine Verpflichtung zum Umschichten: von technischen Leistungen wie Labor und Großgeräten hin zur Kommunikation. Das Schwierige daran sei insbesondere die Nachvollziehbarkeit, denn „20 Minuten Gespräch nachzuvollziehen, ist schwieriger als eine Ultraschallaufnahme“. Spahn erwähnt, dass aus diesem Grund bei der Vergütung der Hausärzte viel mit Pauschalen gearbeitet werde, aber auch diese seien nicht unumstritten.
Die Bürgerbotschafter fordern medizinische Primärversorgungszentren in Stadtteilen und Gemeinden mit klarer Lotsenfunktion, um eine Versorgung aus einer Hand sicherzustellen. Sie sollen interdisziplinär arbeiten und Zugang für jeden ermöglichen. Wie kann es gelingen, sie auch in Deutschland zu etablieren?
„Die rechtliche Grundlage wäre da“, antwortet Spahn. Eine grundsätzliche Zustimmung gebe es auch. Benötigt werden vor allem diejenigen, die solche Modelle vor Ort umsetzen. Zwar gibt es dem Politiker zufolge mehrere derartige Initiativen in Deutschland – beispielhaft nennt er den Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt –, aber dennoch scheint es für eine regelhafte Umsetzung in der Fläche noch an engagierten Akteuren zu fehlen.
Die Qualität und Geschwindigkeit der medizinischen Versorgung unterscheiden sich zum Teil deutlich zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Wie können Infrastruktur und Hilfsfristen im ländlichen Raum verbessert, wie Gemeinden und Kommunen stärker unterstützt werden?
Die Sicherstellung der Versorgung auf dem Land beschäftigt Politik schon seit Längerem. Dabei habe man festgestellt, so Spahn, dass es nicht allein eine Geldfrage sei. „Sie könnten als Hausarzt in Mecklenburg-Vorpommern ziemlich gut verdienen, aber trotzdem lassen sich nur wenige überzeugen, dort hinzugehen.“ Es gehe eben um die Lebensbedingungen insgesamt in strukturschwachen Regionen. Die Politik habe sich bemüht, die Rahmenbedingungen der Versorgung daran anzupassen; als Stichwörter nennt Spahn medizinische Versorgungszentren und Hausbesuche durch nichtmedizinisches Personal. Das Problem bleibe jedoch: „Sie müssen Leute haben, die es auch wollen.“ Er bekennt, das Problem sei noch nicht abschließend gelöst.
Die Bürgerbotschafter kritisieren Fehlentwicklungen in Kliniken als Folge des DRG-Systems. Können die Länder, die sich weitgehend aus der Investitionsfinanzierung zurückgezogen haben, den Sicherstellungauftrag erfüllen? Dürfen zweckbestimmte GKV-Beiträge als Gewinne in private Taschen fließen?
Die Frage, ob private Krankenhausbetreiber Gewinn machen dürfen, beantwortet der Minister mit zwei Gegenfragen: Darf der Apotheker, der niedergelassene Arzt, die Physiotherapiepraxis Gewinne mit GKV-Geldern machen? Sollen unternehmerische Risiken honoriert werden oder soll am Ende alles staatlich sein? Stichwort DRGs: Spahn weist darauf hin, dass die Pflege seit diesem Jahr aus den Fallpauschalen ausgegliedert wurde, da zu ihren Lasten gespart wurde, um Investitionen zu finanzieren. Er räumt ein, dass die DRGs nicht perfekt seien, verweist aber auf gleichzeitige Überversorgung insbesondere in den Ballungsgebieten und Unterversorgung in anderen Regionen. „Solange es keine bedarfsgerechte Versorgung gibt, ist die Idee, einfach Strukturen zu finanzieren, nicht richtig“, lautet seine Argumentation. Einen nicht effizienten Ressourceneinsatz will Spahn verhindern, deshalb verlangt er vor der Diskussion über ein neues Vergütungssystem Strukturveränderungen im stationären Bereich. Diese seien in den ostdeutschen Bundesländern zum Teil schon wesentlich weiter fortgeschritten als im Westen, merkt er an.
Die Bürgerbotschafter berichten von Unverständnis über die hohe Anzahl gesetzlicher Krankenkassen und darüber, dass Besserverdienende und Beamte nicht solidarisch in die GKV einzahlen. Wie kann die Gruppe der privilegierten Versicherten stärker in die Pflicht für die Gemeinschaft genommen werden?
Es muss nicht mehr gesetzliche Krankenkassen als nötig geben, aber genügend für einen Wettbewerb unter ihnen, meint Spahn. Für ihn ist der Wettbewerb zwischen den Kassen Voraussetzung für deren Serviceorientierung sowie Kunden- und Versichertenfreundlichkeit. Früher habe es über 1.200 Kassen gegeben, mittlerweile seien es rund 100. Die kleinen seien nicht per se die teuren. Der Politiker stellt außerdem klar, dass nicht alle Privatversicherten privilegiert seien. In der PKV seien nicht nur „die Gesunden, Schönen und Reichen“, sondern beispielsweise auch kleine Selbstständige und Solo-Selbstständige: „Kioskbesitzer und Taxifahrer, die sich wegen der hohen Mindestbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung privat versichert haben und ein Problem bekommen, wenn die Beiträge im Alter steigen.“ Somit stellten sich soziale Fragen nicht nur zwischen GKV und PKV, sondern auch innerhalb des privaten Versicherungssystems. Insgesamt hält Spahn die Debatte zu GKV, PKV, Bürgerversicherung und Co. für so festgefahren, dass er sich an dieser Stelle sogar ausdrücklich einen Neustart wünscht.
Ob es einen solchen geben wird, ist mehr als ungewiss. Aber vielleicht werden auf den Bürgerkonferenzen
der Neustart-Initiative noch unkonventionelle Ideen entwickelt. Eine zweite Runde von Dialogen wird im Herbst stattfinden. Bis 2021 sollen dann die endgültigen Vorschläge für eine nachhaltige Reform des Gesundheitswesens vorliegen.
Weiterführender Link:
https://www.neustart-fuer-gesundheit.de
Herbstzeit ist NUB-Zeit in den Krankenhäusern. Dann müssen sie entscheiden, für welche neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, kurz NUB, sie beim Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) eine Anfrage starten. Nur so haben die Häuser eine Chance, die Innovationen sachgerecht vergütet zu bekommen. Bis zum 31. Oktober ist eine Anfrage für das Folgejahr an das InEK zu stellen.
Das Klinikum München stellt beispielsweise jährlich rund 180 NUB-Anträge. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sind insbesondere für Maximalversorger und Unikliniken relevant: Sie reichen einer Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts zufolge hauptsächlich NUB-Anträge ein. Nachdem die Kliniken die Anträge gestellt haben, ist das InEK am Zug. Bis zum 31. Januar veröffentlicht es seine Prüfergebnisse. Das bedeutet: Jede angefragte Methode bekommt einen Status, der darüber entscheidet, wie es weitergeht. Bei Status zwei ist Endstation, bei Status eins hingegen kann das Krankenhaus ein Entgelt mit den Kassen verhandeln. NUB-Experte Prof. Thomas Kersting findet es problematisch, dass es vom InEK keine Begründung dafür gibt, warum welcher Status verteilt wurde. „Die Entscheidungsgrundlagen sind nicht nachvollziehbar“, sagt der Geschäftsführer des ITC - Institut Takecare.
Hinzu kommt: Für manche neue Methoden scheint es grundsätzlich schwer zu sein, überhaupt den Status eins zu bekommen. Sie fallen durch das Raster. Dies beobachten Kliniken insbesondere bei Antibiotika und molekularer Diagnostik.
So geht das Prozedere weiter: Nach der Bewertung des InEK verhandeln die Kliniken mit den Krankenkassen ein NUB-Entgelt. Allerdings gelingt es den Häusern, nur für knapp 60 Prozent der NUB mit einem Status eins ein Entgelt zu vereinbaren. Das ergab ein Gutachten des Deutschen Krankenhausinstituts im Auftrag des BVMed. Die Kostenträger verweisen unter anderem auf Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), denen zufolge sich keine Evidenz oder kein Potenzial für die Methode ergebe. Auch zu geringe Fallzahlen oder ein fehlender Versorgungsauftrag für die NUB werden von ihnen ins Feld geführt.
Noch unübersichtlicher wird die Situation dadurch, dass ein erfolgreich verhandeltes NUB-Entgelt die Kassen nicht automatisch dazu verpflichtet, dieses auch zu zahlen. Bei der Abrechnungsprüfung darf der MDK prüfen, ob mit dem Einsatz der NUB die gesetzlich geforderte Qualität und Wirtschaftlichkeit der Behandlung eingehalten wurde. Fällt das Ergebnis negativ aus, gibt es kein Geld.
Mit den neuen CAR-T-Zelltherapien wird insbesondere die Behäbigkeit des Verfahrens für die Kliniken zum Problem. Ein Jahr bis 18 Monate kann es dauern, bis das komplette Verfahren durchlaufen ist, informiert Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft. So lange müssen die Kliniken das Geld vorstrecken. Mit Summen von 320.000 Euro für die CAR-T-Zellprodukte plus Behandlungskosten in Vorleistung zu gehen, stellt auch für große Häuser ein erhebliches Finanzierungsrisiko dar. Bei mehreren Patienten kommen schnell Millionenbeträge zusammen. Die Folgen bringt Jens Bussmann, Generalsekretär vom Verband der Deutschen Universitätsklinika, auf den Punkt: „Viele wundern sich, dass es in Deutschland im internationalen Vergleich so wenig Behandlungsfälle mit CAR-T-Zellen gibt. Das liegt daran, weil wir hier eine Finanzierungsunsicherheit haben.“
Der Weg zur kostendeckenden Erstattung eines neuen Arzneimittels ist im Krankenhaus also mitunter ziemlich lang. Dabei spielt auch der Zeitpunkt der Zulassung eine nicht unerhebliche Rolle: Wird das Medikament nach dem 31. Januar zugelassen, kann es bei der aktuellen NUB-Prüfung nicht mehr berücksichtigt werden. Ein Vorab-Antrag, bevor die Zulassung erfolgt ist, ist ebenfalls schwierig. Somit müssen die Klinken bis zur nächsten NUB-Runde im Herbst warten, bis sie für das – inzwischen zugelassene – Medikament eine Anfrage beim InEK starten können. „Wollen wir ein solches Mittel in einer wichtigen Indikation sofort und viel einsetzen, haben wir trotz erfolgter Zulassung im Grunde ein Jahr lang keine Abrechnungsmöglichkeiten“, sagt Prof. Helmut Ostermann vom Klinikum München. In der Zwischenzeit versuchen die Kliniken, die NUB-Lücke mit Einzelkostenübernahmeanträgen bei den Krankenkassen zu überbrücken. Eine Lösung, die aufgrund des Aufwandes nur ein Provisorium darstellen kann, denn die Klinik muss für jeden einzelnen Patienten eine solche Kostenerstattung beantragen. Unbefriedigend ist aus Krankenhaussicht auch, dass in der Regel nur die Medikamenten-Mehrkosten, nicht aber der zusätzliche Behandlungsaufwand übernommen werden. Dennoch geht es manchmal nicht anders. Denn die Zeit, den Ablauf des NUB-Verfahrens abzuwarten, haben zum Beispiel Krebspatienten nicht.
Mehrere Akteure haben das Problem erkannt und Reformvorschläge vorgestellt. Im Herbst 2019 fordert der Verband der Universitätsklinika (VUD) zusammen mit der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und dem Verband der Ersatzkassen (vdek) speziell für die neuen Gen- und Zelltherapien ein auf Innovationszentren zugeschnittenes NUB-Verfahren: Die sehr teuren und teils mit hohen Risiken verbundenen Therapien sollen nur an wenigen, hoch qualifizierten Innovationszentren vorgenommen werden. Die neuen Behandlungsmethoden können so evaluiert werden, die Innovationen gelangen „nicht ungesteuert in die Patientenversorgung“ und die Kassen hätten keinen Grund, bei der Erstattung „auf die Bremse zu treten“. Das Neue an diesem Spezial-NUB-Verfahren: Die Innovationszentren – Universitätsklinika und Maximal-versorger – bekommen vom Tag der Zulassung an sofort die Kosten für die Therapien erstattet.
Einen etwas umfassenderen Katalog an Vorschlägen hat der VUD zuletzt in einer Stellungnahme zum MDK-Reformgesetz vorgestellt. Danach erhalten die Krankenhäuser ein ganzjähriges NUB-Antragsrecht. Die Kassen werden verpflichtet, bei positiver Anerkennung durch das InEK innerhalb einer gesetzlich vorgeschriebenen Frist – zum Beispiel zwei Monate – mit den Krankenhäusern über die NUB-Entgelte zu verhandeln. Und: Die NUB-Entgelte werden rückwirkend zu dem Zeitpunkt gezahlt, an dem die neue Methode vom InEK den Status eins erhält. Ein „Super-NUB-Verfahren“ hat ebenfalls im vergangenen Jahr DKG-Generalsekretär Bruns ins Spiel gebracht. Der Kern seiner Idee: Bei neuartigen Gen- und Zelltherapien wird das NUB-Prozedere an das AMNOG-Verfahren gekoppelt. „Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses und der im AMNOG-Verfahren gesetzten Frist von sechs Monaten könnten die Kosten der stationären Behandlung unmittelbar erstattet werden“, erläutert er. Nach den Preisverhandlungen würden die Preise entsprechend angepasst.
Unter Experten sind noch weitere Reformvorschläge in der Diskussion – zum Beispiel, dass das InEK seine Status-Vergaben begründen sollte. Gefordert wird auch, dass für NUB, für die in den Vorjahren bereits eine Anfrage positiv beschieden wurde, nicht jedes Jahr erneut ein Antrag gestellt werden muss. Und dass nicht jedes Krankenhaus separat eine Anfrage ans InEK starten muss. Ferner werden stärker zentralisierte Entgeltverhandlungen vorgeschlagen.
Ob und welche Ideen sich die politischen Entscheider zu eigen machen, ist derzeit noch offen.
Weiterführender Link:
Ausführlicher wird das Problem der NUB-Lücke in einer opg-Spezialausgabe der Presseagentur Gesundheit dargestellt. Gerechte Gesundheit richtet außerdem eine Veranstaltung zu dem Thema aus.
https://www.pa-gesundheit.de/pag/opg-spezial-2020-die-nub-luecke.html
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Klar ist schon jetzt: Der Vorschlag von Prof. Thomas Fischer, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof (BGH) und meinungsstarker, oft auch polarisierender Kolumnist von „Spiegel Online“, wird im Bundestag bestimmt keine Gefolgschaft finden. Fischer ist dafür, den im Februar 2020 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Strafrechts-Paragrafen 217 (Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe) nicht zu überarbeiten, sondern auf Nimmerwiedersehen in der Versenkung verschwinden zu lassen. Dann, so Fischer, gelte wieder die Rechtslage, die vorher schon seit 140 Jahren Bestand hatte: Da Suizid nicht bestraft werden kann, ist auch die Beihilfe dazu straflos. „Das kann man so lassen“, sagt Fischer bei einem digitalen Fachgespräch der Heinrich-Böll-Stiftung.
Nichtstun allerdings, wie es der Richter a. D. fordert, kommt für die meisten Abgeordneten und im Übrigen auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht in Betracht. Dieser hat bereits Mitte April 30 Ärztevertreter, Verbände, Organisationen und Juristen angeschrieben mit der Bitte, ihm Vorschläge für eine Neuregelung der Suizidassistenz zu unterbreiten. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) ist wild entschlossen, das Thema Sterbehilfe im jetzigen Herbst auf die Agenda des Bundestages setzen. Und Kirsten Kappert-Gonther, Bundestagsabgeordnete der Grünen, erinnert bei der Veranstaltung der Böll-Stiftung daran, dass die Mehrheit, die 2015 für den einschränkenden Paragrafen 217 StGB stimmte, immer noch vorhanden sei. Das müsse berücksichtigt werden.
„Wir müssen eine Regelung treffen, die den Schutzpflichten für vulnerable Gruppen Rechnung trägt.“ Damit meint Kappert-Gonther vor allem alte, chronisch sowie psychisch kranke oder pflegebedürftige Menschen, „die niemandem zur Last fallen wollen“. Auch müsse verhindert werden, dass sie zu einem Suizid – etwa von Angehörigen – gedrängt werden. „Menschen in Pflege- und Notsituationen müssen Hilfe bekommen, damit sie nicht aus dem Leben scheiden wollen“, so die Grünen-Politikerin. Suizid als Form der Lebensbeendigung dürfe auf keinen Fall zur Normalität werden.
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat es als legitimes Anliegen des Staates bezeichnet, zu verhindern, „dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“. Kirsten Kappert-Gonther wie auch Prof. Steffen Augsberg, Mitglied des Deutschen Ethikrates und Professor für öffentliches Recht an der Uni Gießen, plädieren dafür, Kriterien aufzustellen, mit denen sichergestellt wird, dass eine (straffreie) Sterbehilfe nur bei solchen Menschen erfolgt, deren Entschluss auf einer freien Willensentscheidung beruht und keine Verzweiflungstat ist. „Die Kriterien dafür müssen diskutiert werden“, sagt Augsberg. In Betracht kämen zum Beispiel – wie es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil angedeutet hat – Wartefristen, die Einbeziehung von Psychiatern und Beratungsgespräche. „Unbedingt festzuzurren“ ist nach Ansicht von Augsberg in einem Schutzkonzept zudem, dass Suizidassistenz bei Minderjährigen verboten wird. Ein Recht auf aktive Sterbehilfe für Kinder und Jugendliche wie in Belgien oder in den Niederlanden soll es hierzulande nicht geben. Auch Patientenverfügungen dürfen laut Augsberg nicht ohne Weiteres akzeptiert werden. „Es darf kein Suizid bei jetzt dementen Personen erlaubt werden.“
In den Niederlanden hatte der Fall einer 74-jährigen an Demenz erkrankten Frau für Aufsehen erregt, bei der 2016 – so heißt es in dem Nachbarland – eine Euthanasie durchgeführt worden war, obwohl sie sich dagegen gewehrt hatte. Das höchste Gericht sprach die Ärztin vor Kurzem von Mord frei, weil die Frau einige Jahre zuvor in einer Verfügung bestimmt hatte, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu wollen, wenn sie nicht mehr in der Lage sei, bei ihrem Mann zu wohnen. Sollte Augsbergs Forderung aufgegriffen werden, dürfte eine Diskussion darüber entbrennen, wie verbindlich Patientenverfügungen dann für Angehörige und Ärzte überhaupt noch sein werden und ob diese nachher im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit widerrufen werden können. Die Ansicht darüber gehen unter Juristen weit auseinander.
Für illusorisch hält allerdings Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz die Vorstellung, mit prozeduralen Vorgaben festlegen zu können, welche Entscheidung zur Selbsttötung autonom ist und welche nicht und in welchem Falle demnach Suizid-
assistenz erlaubt ist. Um wenigstens zu verhindern, dass vonseiten professioneller Suizidhelfer, also Sterbe-
hilfeorganisationen, Druck auf vulnerable Gruppen ausgeübt wird, schlägt die Stiftung als schnell umsetzbare Lösung vor, im neuen Paragraf 217 Strafgesetzbuch die mit Gewinnabsicht durchgeführte Förderung der Selbsttötung unter Strafe zu stellen.
Eine tragende Rolle für Ärzte sieht ein weiterer Vorschlag vor, den ein Quartett aus Palliativmedizinern, Medizinrechtlern und Ethikern um Prof. Jochen Taupitz vorgelegt hat. Danach sollen allein Mediziner die Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches prüfen. Und nur sie sowie Angehörige und nahestehende Personen bleiben straffrei, wenn sie Hilfe zur Selbsttötung leisten.Werbung für Hilfe zur Selbsttötung soll verboten werden. Es bleibt anzuwarten, wie es im Herbst mit der Sterbehilfe weitergeht und ob noch in dieser Legislatur eine neue gesetzliche Regelung verabschiedet wird. Experten, unter anderem aus dem Deutschen Ethikrat, warnen vor Schnellschüssen: Mit einem neuen Gesetz, das erneut von den Karlsruher Richtern kassiert wird, dürfte niemanden – am allerwenigsten den Betroffenen – geholfen sein.
Zum Hintergrund: eine Gemengelage von Urteilen
Mit dem Ziel, Sterbehilfeorganisationen Einhalt zu gebieten, hat der Gesetzgeber 2015 im Paragraf 217 Strafgesetzbuch (StGB) die geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe gestellt. Dieses Verbot wurde jedoch im Februar 2020 vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt. Der Grund: Paragraf 217 StGB entleere faktisch die Möglichkeit einer assistierten Selbsttötung und greife dadurch in das Recht ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Ausdrücklich betonen die Richter aber, dass es dem Gesetzgeber nicht untersagt ist, die Suizidhilfe zu regulieren. Er müsse dabei aber sicherstellen, dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, Rechnung getragen wird. Das Gericht sieht ein breites Spektrum an Möglichkeiten für ein Schutzkonzept, etwa gesetzlich festgeschriebene Aufklärungs- und Wartepflichten oder auch Verbote „besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe“.
Nach wie vor ist unklar, wie das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf das Urteil reagieren wird. Ihm liegen über 100 Anträge von Suizidwilligen vor, die eine Erlaubnis zum Erwerb tödlicher Betäubungsmittel haben wollen. Grund dafür ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2017, das im extremen Einzelfall einen Anspruch auf Genehmigung postuliert hat. Das Bundesgesundheitsministerium hat dem BfArM allerdings untersagt, das Urteil umzusetzen. Seitdem werden Anträge (seit 2017 sind fast 200 eingegangen) nicht mehr beschieden. Begründet hat das Ministerium seine Anordnung unter anderem damit, dass das Urteil des BVerfG zu 217 StGB abgewartet werden soll. Auch nach der inzwischen ergangenen Entscheidung bleibt das Ministerium aber dabei, der Behörde positive Bescheide zu verbieten.
Keine Klarheit hat auch die Vorlage des Verwaltungsgerichts (VG) Köln beim Bundesverfassungsgericht gebracht, mit der faktisch das BfArM zur Bescheidung der Anträge verpflichtet werden sollte. Die Vorlage wurde Ende Juni zurückgewiesen – allerdings nur, weil die Begründung des VG nach dem Sterbehilfe-Urteil in den Augen der Verfassungsrichter nicht mehr stichhaltig war. Zur Sache selbst hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht geäußert.
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Eine Revolution in der Behandlung prophezeit die Techniker Krankenkasse (TK), als sie im vergangenen Jahr den Drug-Future-Report präsentiert. Die neuen Gentherapien für die Bluterkrankheit markierten den Beginn einer neuen Ära, heißt es auf der Pressekonferenz. Angesichts des zu erwartenden Innovationsschubes und des damit verbundenen finanziellen Sprengstoffes verlangt der TK-Vorstandsvorsitzende Dr. Jens Baas, das System an zukünftige Gegebenheiten anzupassen. Ein konkreter Vorschlag seitens der Kasse ist etwa der dynamische Evidenzpreis. „Sonst stehen wir in ein paar Jahren vor dem Problem, dass wir reihenweise neue Therapien haben, die durch das System von Zulassung und Erstattung fallen und daher in Deutschland den Patienten nicht zur Verfügung stehen“, warnt der TK-Chef. Den Handlungsdruck sehen auch andere Akteure – zumal wenn künftig nicht mehr wie bisher nur seltene Leiden, sondern auch Volkskrankheiten mit den neuartigen Therapien behandelt werden sollten. Beispiel Blutertherapie: Laut TK wendet die GKV für die aktuelle Standardtherapie derzeit insgesamt etwa 480 Millionen Euro auf. Bei der Einführung der für 2023 erwarteten Gentherapie für diese Krankheit könnten die GKV-Ausgaben auf vier Milliarden Euro steigen. Das wären rund zehn Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben.
In den folgenden Monaten ist es dann insbesondere eine Gentherapie zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie, Zolgensma, die für viel Wirbel sorgt. Neben der Vergabe per Lotterieverfahren ist vor allem der Preis von 1,9 Millionen Euro aufsehenerregend. Wenig überraschend ist daher, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dieses Arzneimittel für die Premiere der Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) auswählt. „Zolgensma hat uns schon in der Vergangenheit vor der Zulassung sehr intensiv beschäftigt und wird uns auch weiterhin beschäftigen“, kommentiert der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken, als das Plenum am 16. Juli für die in Europa frisch zugelassene Gentherapie die Erforderlichkeit einer AbD feststellt.
Diese Datenerhebung im realen Versorgungsalltag wurde mit dem „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ eingeführt. Damit soll die Datenbasis für die Zusatznutzen-Bewertung von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen und von Arzneimitteln mit bedingter Zulassung verbessert werden.
Darüber hinaus hat der Gesetzgeber Anfang des Jahres mit dem „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“ festgelegt, dass für alle ATMPs eine Nutzenbewertung nach Paragraf 35a SGB V durchgeführt und nachfolgend ein Erstattungsbetrag verhandelt wird. Einzige Ausnahme: Knorpelprodukte. Damit ist Schluss mit der Unsicherheit, ob das jeweilige Produkt eine Methodenbewertung oder das AMNOG-Verfahren zu durchlaufen hat. Bleibt allerdings die Frage, ob das AMNOG-Verfahren selbst, das immer wieder als lernendes System gelobt wird, für Gentherapien und Co. noch up to date ist.
Was die Zusatznutzen-Bewertung von ATMPs so verzwickt macht, sind die relativ kleinen Studiengrößen, häufig ohne Vergleichsarm. Hinzu kommen Schwierigkeiten, eine zweckmäßige Vergleichstherapie zu definieren, und nicht zuletzt eine lange Wirkdauer, die sich aber erst im Verlauf beweisen muss. Nicht von ungefähr konstatiert der von der DAK herausgegebene AMNOG-Report 2019, dass die Umsetzung einer nutzenbasierten Preisfindung bei sogenannten one-shot-Therapien mit „hoher Unsicherheit“ verbunden sei.
Noch deutlicher wird Dr. Antje Haas, Abteilungsleiterin Arzneimittel beim GKV-Spitzenverband, in ihrem Beitrag zum AMNOG-Report. Für das Versprechen des Herstellers, dass eine einmalige Anwendung der ATMP zur Heilung führe, fehle der Nachweis, kritisiert sie. Sicher seien nur die enormen Ausgaben für die GKV.
Haas sieht bei den neuartigen Therapien die gängigen Verfahren zur Bewertung des Nutzens und zur Feststellung eines angemessenen Erstattungsbetrages vor neuen Herausforderungen. Reichen ergänzende Instrumente wie die Anwendungsbegleitende Datenerhebung, die sich noch bewähren muss, und erfolgsorientierte Vergütungsmodelle aus, um diese zu bewältigen? Sind sie als Reaktion auf eine Revolutionierung der Behandlung ausreichend, oder ist es in dieser Umbruchphase an der Zeit, die Kosten in die Bewertung mit einzubeziehen, sprich die Kosten-Nutzen-Bewertung aus dem Dornröschen-Schlaf zu erwecken, wie es Gesundheitsökonomen bereits seit Längerem fordern?
Möglich wäre es. Schließlich arbeitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das vor elf Jahren eine reichlich kontroverse Methode für die Kosten-Nutzen-Bewertung veröffentlicht hat, nach eigenen Angaben kontinuierlich an einer Weiterentwicklung und ist auf eine Beauftragung vorbereitet. Auch auf Kassenseite ist man nicht abgeneigt. „ATMPs laden zur Kosten-Nutzen-Bewertung ein“, meint etwa Haas.
Um Kosten-Nutzen-Bewertungen von ATMPs ins Verfahren einzubringen, sei allerdings eine offene Diskussion zwischen G-BA, pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spitzenverband notwendig, mahnt der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld (Lesen Sie dazu das Interview auf Seite 18). Es gehe darum, in welcher Form und vor allem auf welcher Datenbasis Kosten-Nutzen-Bewertungen sinnvoll in die bisherige AMNOG-Systematik als zusätzliche Entscheidungsgrundlage eingebunden werden können. Außerdem fordert er einen erneuerten Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und der maßgeblich tangierten Fachöffentlichkeit – Medizinern, Ökonomen und Ethikern – über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung.
Jenseits von den methodischen Feinheiten einer möglichen Kosten-Nutzen-Bewertung bleibt festzuhalten, dass mit ATMPs die noch immer ungeklärte Grundsatzfrage nach dem gerechten Preis für Therapien neue Brisanz gewinnt. Doch obwohl bereits anlässlich der Zulassung von Sovaldi vor einigen Jahren ausgiebig darüber diskutiert wurde, was Heilung einer Gesellschaft wert sein sollte, sind wir in dieser Frage nicht wesentlich weitergekommen. Allerdings hat sich inzwischen der Fokus der Debatte verschoben, meint Greiner: von der Angemessenheit der Preise hin zu der grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit.
Solche Themen sind für die Politik unbequem, Rationierung lautet der Tabubegriff. Auf einer Veranstaltung der Verbandes Managed Care hat Dr. Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel im Bundesgesundheitsministerium (BMG), vor einiger Zeit deutlich gemacht, dass er nicht daran glaubt, dass eine Kosten-Nutzen-Bewertung dabei hilft, einen richtigen und gerechten Preis für Arzneimitteln zu finden. Es gehe vielmehr darum, einen Ausgleich zu finden, erläutert er – und zwar zwischen einem solidarischen Gesundheitssystem mit Zwangsbeiträgen einerseits und der Aufrechterhaltung von Chancen für einen kontinuierlichen Nachschub an neuen Arzneimitteln andererseits.
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Müller will die Diskussion zu hochpreisigen Arzneimitteln nicht auf die reine Höhe des Preises reduzieren, denn: „Der Preis spielt eine ganz wichtige Rolle, damit zukünftige Generationen von Patienten auch neue Medikamente bekommen“, sagt der BMG-Vertreter und verweist auf notwendige Anreize für Finanzinvestoren.
„Arzneimittel hängen nicht am Baum und müssen einfach nur geernet werden.“ Dafür werde viel Kapital benötigt, das Problem sei jedoch, dass die Kapitallage für Biotech in Europa deutlich schlechter sei als in anderen Ländern. Das wiederum verhindere Innovation in Europa. Die Gefahr: Innovationen werden nur noch aus Drittstaaten eingekauft.
Dieses Szenario lässt sich bei den ATMPs nicht von der Hand weisen. Deutschland gehörte in den Anfängen der Entwicklung zu den Pionierländern. Mittlerweile sieht das ganz anders aus. Der jüngst erschienene Biotech-Report 2020 des vfa bio nennt folgende Studienzahlen: Zwar belegt Deutschland 2018 bei der Zahl der Gentherapien den dritten Platz, liegt aber mit 4,4 Prozent der Studien weit hinter den USA (47,5 Prozent) und China (39,2 Prozent). Selbst auf ganz Europa entfallen zusammengenommen nur 10,4 Prozent der Studien. Ähnlich das Bild bei der CAR-T-Zelltherapie. Hier führt China (231 Studien) vor den USA (163 Studien). Erst dann folgen auf Platz 3 Deutschland, Frankreich und Großbritannien (mit jeweils nur 21 Studien), heißt es im Report. Als Ursache für das schlechte Abschneiden wird neben fehlenden ATMP-Clustern auch eine begrenzte Innovationskultur hierzulande genannt: „Insgesamt besteht so die Gefahr, dass Deutschland zum Importeur medizinischer Innovationen auf dem Gebiet der ATMP wird, ohne eigene wirtschaftliche Vorteile aus deren medizinischem Potenzial zu generieren.“ Um eine „ATMP welcome“-Kultur hierzulande zu etablieren, sollten eine entsprechende Taskforce und ein Deutsches Zentrum der Gesundheitsforschung für ATMP gegründet werden, schlagen die Reportautoren vor.
Keine Taskforce, aber immerhin eine ATMP-Arbeitsgruppe ist im BMG geplant. Ein Anfang immerhin, denn die Herausforderungen, mit denen die neuartigen Therapien das System konfrontieren, sind vielfältig und komplex.
ATMPs in der Zulassung
ATMPs sind Arzneimittel für neuartige Therapien und umfassen Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika sowie biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ist in Deutschland für diese Arzneimittelgruppe zuständig. Seit August besteht eine Meldepflicht beim PEI für jede ATMP-Anwendung. Insbesondere für Patienten mit schweren Krankheiten wurden in letzter Zeit einige Gentherapeutika zugelassen. Im Mai 2020 hatten in der EU zehn ATMP eine zentrale Zulassung, davon sieben Gentherapeutika. Laut Biotech-Report 2020 wurden fünf weitere ATMPs nach der Zulassung vom Markt genommen. Fünf Gnetherapeutika befinden sich derzeit im EU-Zulassungsverfahren (Stand Mai 2020). Für dieses Jahr wird mit insgesamt zehn Zulassungsanträgen gerechnet, für 2021 sogar mit 25.
Ist das AMNOG-Verfahren angemessen auf ATMPs wie Gentherapien und CAR-T-Zelltherapien vorbereitet? Oder reichen neue Instrumente wie die Anwendungsbegleitende Datenerhebung, der Risikopool der Kasse und besondere Erstattungsmodelle als Ergänzungen aus?
Greiner: Grundsätzlich hat sich das AMNOG in den vergangenen zehn Jahren als sehr belastbares, funktionales und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – faires Verfahren etabliert. Der Gesetzgeber und die beteiligten Parteien haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich an verändernde Rahmenbedingungen anzupassen. 22 kleine Anfragen an die Bundesregierung und elf Änderungsgesetze seit Einführung des AMNOG bestätigen das vielfach beschriebene „lernende System“. Insofern denke ich, dass das AMNOG an sich weiterhin das „richtige“ System ist.
Aber?
Greiner: Der Risikopool war ein wichtiges erstes Signal an die Krankenkassen, jedoch keine Lösung für faire Preise neuartiger Therapieoptionen. Für die Preisbildung, die längst nicht mehr nur eine „frühe“ und einmalige Erstattungsbetragsverhandlung ist, benötigt es zukünftig aussagekräftige Versorgungsdaten. In der Frage der Datenverfügbarkeit stellt der Gesetzgeber die Strukturen unter anderem mit dem zuletzt eingeführten Forschungsdatenpool neu auf. Wünschenswert wäre, dass diese Datensätze zukünftig auch für die Preisbildung und Umsetzung alternativer Erstattungsmodelle nutzbar sein werden. Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung soll wiederum die Unsicherheit über den Nutzen bestimmter Arzneimittel reduzieren. Wie gut dies funktionieren und welche Akzeptanz die generierte Evidenz haben wird, die auch nicht frei von Mängeln und Unsicherheit sein wird, werden wir erst in einigen Jahren beantworten können.
Welche Herausforderungen sehen Sie speziell für erfolgsorientierte Vergütungsmodelle? Ein möglicher Kassenwechsel des Versicherten und ein hoher Aufwand für jedes Präparat machen das Modell nicht gerade attraktiv, oder?
Greiner: Der § 130b-Erstattungsbetrag selbst ist, wenn man so will, bereits ein zentraler erfolgsorientierter Vergütungsvertrag. Nur definiert sich der „Erfolg“ hier über den auf Basis früher klinischer Daten antizipierten Nutzen. Dieser ist mit großer Unsicherheit verbunden. Neben positiven Wettbewerbssignalen haben anschließende dezentrale Pay-for-Performance-Verträge den Vorteil, diese Unsicherheit durch Monitoring zu reduzieren. Dies ist bislang auf Gesamt-GKV-Ebene nicht möglich. Zudem lassen sich durch Selektivverträge weitere Einsparungen erzielen. Dies hängt eng an der Bereitschaft pharmazeutischer Unternehmen, weitere Preisnachlässe einzuräumen, wenn entsprechende Rabatte nicht bekannt werden. Vor dem Hintergrund der internationalen Preisreferenzierung ein unter ökonomischen Gesichtspunkten nachvollziehbares Verhalten. Wir beobachten zudem, dass sich bereits heute die Preisbildung verstärkt in nachgelagerte Prozesse verschiebt.
Inwiefern?
Greiner: Bis April 2020 konnten wir für insgesamt 79 nutzenbewertete Arzneimittel weitere Preisnachlässe beobachten, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Bewertungsverfahren standen. Hier ist es wahrscheinlich, dass vertragliche Vereinbarungen oder Staffelungen bzw. Neuverhandlungen gegriffen haben. Zur praktischen Umsetzung benötigen Selektivverträge den Willen der Beteiligten, entsprechende Modelle auch tatsächlich zu realisieren. Therapieerfolgsdefinitionen, die in erwartbaren juristischen Auseinandersetzungen enden, sind nicht sinnvoll. Wir beobachten erste Erstattungsverträge, für die der GKV-Spitzenverband transparent auf solche erfolgsabhängigen Vergütungsbestandteile hinweist. Darin werden eindeutige Kriterien für den Erfolg einer Therapie definiert, die so auch im Versorgungsalltag und auf Basis von Versorgungsdaten abbildbar sind.
Welche Daten werden für die Verträge benötigt?
Greiner: Als Datengrundlage dürften dafür derzeit GKV-Abrechnungsdaten am besten geeignet sein. Apothekenabrechnungsdaten fehlt es an den in der Regel erforderlichen Diagnoseinformationen, in den Morbi-RSA-Daten sind angewendete Prozeduren nicht abgebildet. Ein Fehler wäre es jedoch, diese Vertragsmodelle nun überzustrapazieren. Nicht jede kleine Teilpopulation aus den G-BA-Beschlüssen lässt sich in Versorgungsdaten abbilden.
Derzeit befinden wir uns in einer Umbruchphase, verschiedene Instrumente werden ausprobiert. Wenn Gentherapien nicht nur für Orphans, sondern auch für Volkskrankheiten zugelassen werden, muss diese Testphase vorbei sein. Wie viel Zeit haben Politik und GKV noch, um das System vorzubereiten?
Greiner: Streng genommen befinden wir uns seit sechs Jahren in der von Ihnen beschriebenen Umbruchsphase. Die Diskussion um die Finanzierbarkeit neuer Arzneimittel wird post AMNOG spätestens seit der Markteinführung von Sovaldi im Jahr 2014 kontinuierlich geführt. Nach Hepatitis C waren es neue hochpreisige Onkologika bzw. deren Kombinationstherapien und inzwischen die ATMPs, welche zu einem kontinuierlichen Anstieg der Markteintrittspreise neuer Arzneimittel und auch zu einem Gesamtanstieg der jährlichen Arzneimittelausgaben geführt haben. Dabei hat sich der Fokus der Debatte von der Angemessenheit der Preise bzw. der Funktionalität des Preisbildungsverfahrens „frühe Nutzenbewertung“ inzwischen hin zu der grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit verschoben.
Was bedeutet das angesichts der zu erwartenden Entwicklung der GKV-Finanzen?
Greiner: In den kommenden Jahren stehen wir nun erstmals seit vielen Jahren wieder vor der Situation, dass neben Mengen- und Preis-
effekten auch negative Einnahmeeffekte die Finanzsituation der GKV belasten werden. Die konjunkturellen Folgen der Covid-19-Pandemie werden höchstwahrscheinlich nach der kommenden Wahl Diskussionen über Einspargesetze erforderlich machen.
Halten Sie die Einführung einer vierten Hürde für sinnvoll?
Greiner: Die Erwartungshaltung eines unmittelbaren und uneingeschränkten Zugangs zu neuen innovativen Arzneimitteln ist bei Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern gleichermaßen vorhanden und ethisch sinnvoll. Der Gesetzgeber hat diesen Anspruch in der jüngeren Arzneimittelgesetzgebung wiederholt untermauert. Das AMNOG bewegt sich damit zwangsläufig im Spannungsfeld dieser Erwartungshaltung einerseits und der Sicherstellung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung andererseits. Das AMNOG hat sich in den letzten Jahren allerdings auch deshalb als tragfähiges Konstrukt erwiesen, weil es sich vonseiten aller am Verfahren beteiligten Parteien als lernfähig und anpassbar dargestellt hat. Es ist aus meiner Sicht deshalb erwartbar, dass die Politik möglichst lange an dem Modell des „freien Markteintritts“ festhalten wird. Eine formale vierte Hürde halte ich deshalb ebenso wenig für sinnvoll, wie die kürzlich vorgeschlagenen Obergrenzen für die Jahrestherapiekosten neuer Arzneimittel.
Mit den neuartigen Therapien stellt sich die grundsätzliche Frage, was ein angemessener Preis ist, mit neuer Brisanz. Ist die Kosten-Nutzen-Bewertung für die Ermittlung eines richtigen und gerechten Preises generell geeignet? Und wenn, auch mit der Effizienzgrenzenanalyse des IQWiG?
Greiner: Wir schlagen bereits seit 2015 im AMNOG-Report vor, Informationen aus Kosten-Nutzen-Bewertungen optional ins Verfahren einzubringen. Politisch erscheint eine verpflichtende Kosten-Nutzen-Bewertung als Entscheidungskriterium für die Preisfindung derzeit nicht durchsetzbar. Vielleicht liegt das auch an dem weit verbreiteten Mythos, dass mit einer Kosten-Nutzen-Analyse zwangsläufig die Entscheidung über den Markteintritt verbunden ist, also Rationierung betrieben wird. Diesen Automatismus gibt es aber in keinem Land.
Und wie ist das Stimmungsbild bei den Kostenträgern?
Greiner: Insbesondere vonseiten einiger Kostenträger mehren sich die Stimmen, Daten aus entsprechenden Analysen zumindest fakultativ oder in bestimmten Verfahrenskonstellationen, z. B. ATMPs, in die Verfahren einzubringen. Dazu bedarf es jedoch zweier wichtiger Voraussetzungen: Eine offene Diskussion zwischen G-BA, pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spitzenverband, in welcher Form und vor allem auf welcher Datenbasis Kosten-Nutzen-Bewertungen sinnvoll in die bisherige AMNOG-Systematik als zusätzliche Entscheidungsgrundlage eingebunden werden können. Und natürlich einen erneuerten Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und der maßgeblich tangierten Fachöffentlichkeit, Medizinern, Ökonomen und Ethikern, über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung. Wie mehrfach dargelegt, ist aus methodischen Gründen die Effizienzgrenze für den Markt neuer Arzneimittel zur Ermittlung von Preisobergrenzen nicht geeignet. Da bräuchte es einen Neustart, der sich diesmal an den internationalen Standards für gesundheitsökonomische Analysen orientieren sollte.
Die Politik scheint eher der Ansicht zu sein, dass die Gesellschaft die Frage nach einem gerechten Preis diskutieren muss. Wie lässt sich die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft für neue Therapien, für Heilung ermitteln?
Greiner: Um dies zu beantworten ist zunächst zu klären, wodurch sich die „gesellschaftliche“ Zahlungsbereitschaft definiert. Etabliert ist die Bestimmung der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft aus eine Aggregation der individuellen Zahlungsbereitschaften, was eigene theoretische Probleme aufwirft. Zur Ermittlung der individuellen Zahlungsbereitschaft stehen unterschiedliche Ansätze zur Verfügung. Die Zahlungsbereitschaft kann z.B. indirekt aus dem tatsächlichen Verhalten der Individuen abgeleitet werden, indem beispielsweise aus der Gegenüberstellung von Lohndifferenz und Erhöhung des Sterberisikos eines gefährlicheren Berufes auf die individuelle Bewertung von Leben geschlossen wird. Gebräuchlicher ist die Ermittlung der Zahlungsbereitschaft aus einer direkten Befragung der Individuen, bei der die Befragten hypothetische Sachverhalte monetär bewerten sollen. Allerdings sind mit der Ermittlung individueller Zahlungsbereitschaft auch verschiedene Probleme verbunden.
Zum Beispiel?
Greiner: Da individuelle Zahlungsbereitschaften aufgrund persönlicher Charakteristika stark variieren können, gilt es, einen Selektionsbias möglichst zu vermeiden. Zudem könnten Probanden invalide Angaben machen, da sie mit der Entscheidungssituation überfordert sind oder die Ergebnisse bewusst manipulieren wollen. Auch beziehen Probanden häufig keine Opportunitätskosten in ihre Entscheidungen ein. Anders als zum Beispiel in Großbritannien gibt es in Deutschland aber weder eine Tradition in der gesellschaftlichen Diskussion dieser Fragen noch den politischen Willen dazu.
Weil...
Greiner: ... die Sorge vor impliziter Rationierung zu groß ist. Im Grunde ist es auch nicht notwendig, hier einen festen Wert für eine Obergrenze der Zahlungsbereitschaft zu finden. Es zeigt sich in anderen Ländern, dass allein das Bestehen von Kosten-Nutzen-Überlegungen schon dazu führt, dass sich die Beteiligten der höheren Transparenz bewusst werden und entsprechend rationaler handeln.
Die Politik hat in Deutschland keinen direkten Einfluss auf Arzneimittelpreise, haben wir deshalb hierzulande unpolitische Arzneimittelpreise, im Vergleich zu anderen Ländern?
Greiner: Gesundheitspolitik baut in Deutschland grundlegend auf dem Subsidiaritätsprinzip auf. Der Gesetzgeber hat viele Regulierungskompetenzen – auch in der Preisgestaltung neuer Arzneimittel – aus gutem Grund, nämlich der maßgeblich dort vorhandenen Kompetenz, an die Selbstverwaltung delegiert. Politik setzt dabei die Leitplanken wie zum Beispiel, dass sich Erstattungsbeträge neuer Arzneimittel am tatsächlichen Mehrwert für die Patientinnen und Patienten orientieren sollen. Die damit verbundenen methodischen, ethischen oder ökonomischen Fragestellungen fallen wiederum auf der Ebene der Selbstverwaltung an und sind dort zu diskutieren. Die Idee, Erstattungsbeträge neuer Arzneimittel zwischen den an der Versorgung beteiligten Parteien verhandeln zu lassen, ist auch als Ergebnis politischen Scheiterns, zum Beispiel bei der Einführung einer Positivliste, zu sehen. Heute ist dieses Verfahren ein Erfolgs-modell und Blaupause für Modelle in anderen Ländern.
Zur Person
Prof. Dr. Wolfgang Greiner ist Inhaber des Lehrstuhls für „Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement“ an der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beim Bundesgesundheitsministerium. Er gehört zudem den wissenschaftlichen Beiräten der Techniker Krankenkasse, der DAK sowie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen an. Greiner ist außerdem Vorsitzender des Landesschiedsamtes Niedersachsen für die vertragszahnärztliche Versorgung. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind unter anderem: Evaluation von Gesundheitsleistungen, Lebensqualitätsforschung sowie Health Technology Assessment.
Diese Schmerzpatienten müssten in der jetzigen Situa-tion bestmöglich versorgt werden, hält Dr. Thomas Cegla fest, Tagungspräsident und Vizepräsident der veranstaltenden Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS). Während der Pandemie war der Zugang zu Arztpraxen und Physiotherapeuten allerdings eingeschränkt, viele Menschen scheuten zudem die Besuche. Nun kämen diese Patienten langsam wieder zurück in die Praxen, sagt Cegla. „Bei vielen fangen wir wieder bei Null an.“
Die Versorgungsengpässe in der Schmerzmedizin umreißt DGS-Präsident Dr. Johannes Horlemann mit wenigen, aber aussagekräftigen Zahlen: Auf rund 3,4 Millionen Betroffene kämen nur circa 1.200 ambulante Schmerzmediziner. Notwendig wären mindestens 10.000. Deswegen müssten mehr Schmerzmediziner ausgebildet werden. Zudem sei es notwendig, die Schmerzmedizin in der Bedarfsplanung zu berücksichtigen. Es gibt aber weder eine geregelte Ausbildung noch eine Facharzt-Qualifikation.
Speziell die älteren Schmerzpatienten bräuchten mehr Zeit in der ärztlichen Behandlung, meint Cegla. Ein Problem sei außerdem, dass für diese Gruppe viel zu wenig Daten aus der Forschung vorliegen. Hinzu komme, dass bei Senioren nicht selten Mehrfacherkrankungen auftreten. „Solche Patienten nehmen häufig viele Medikamente ein, die überhaupt nicht aufeinander abgestimmt sind“, sagt Cegla. Er rät, dass Schmerzmediziner mit anderen Fachärzten, aber auch Therapeuten und Apothekern zusammenarbeiten müssten.
„Ein nationaler Aktionsplan Schmerz wäre notwendig, weil damit verschiedene Berufs- und Interessengruppen an einen Tisch gebracht werden“, meint Horlemann. Diesen hält das Bundesgesundheitsministerium allerdings nicht für notwendig, wie aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hervorgeht. Dem widerspricht der FDP-Abgeordnete Prof. Andrew Ullmann vehement: Das Thema müsse endlich in einem nationalen und ressortübergreifenden Aktionsplan angegangen werden. Er verlangt verlässliche Fakten, zu welchem wirtschaftlichen Schaden die vernachlässigte Behandlung von chronischen Schmerzen führe. „Dann muss ressortübergreifend eine Agenda aufgestellt werden, wie chronische Schmerzversorgung effizienter strukturiert werden kann.“
Weiterführender Link:
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion:
https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/210/1921045.pdf
Ärztliche Fachgesellschaften, Krankenkassen und die SPD haben bis zum Schluss eine verbindliche Zuckerreduktion um die Hälfte für Limonaden & Co. gefordert. Geeinigt hat sich die Koalition letztlich auf folgenden Kompromiss: eine freiwillige Zuckerreduktion in Erfrischungsgetränken von 15 Prozent bis 2025.
Im vom Bundestag beschlossenen Koalitionsantrag „Start einer Nationalen Diabetes-Strategie“ wird die Bundesregierung aufgefordert, Prävention und Versorgungsforschung zu Adipositas und Diabetes mellitus voranzutreiben. Adipositas, gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung sollen in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung verstärkt berücksichtigt werden. Laut Antrag ist eine individuelle, multimodale und interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit Adipositas Grad 1 bis 3 in der vertragsärztlichen Versorgung zulasten der Krankenkassen zu ermöglichen. Eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Krankenbehandlung soll sichergestellt werden. Es müsse auch geprüft werden, ob der Gemeinsame Bundesausschuss beauftragt werden soll, eine Richtlinie über die multimodale und interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit einem krankhaften Übergewicht (Grad 1 bis 3) zu beschließen. Viele Fachverbände und Experten begrüßen, dass die Strategie, um die lange und zäh gerungen wurde, endlich verabschiedet wurde – die konkreten Inhalte enttäuschen jedoch viele. Die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten bezeichnet sie als grob unzureichend. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft spricht von einer „Strategie light“.
Im September beginnt die Umsetzung der vom Bundeskabinett beschlossenen Demenzstrategie. Derzeit sind hierzulande 1,6 Millionen Menschen an Demenz erkrankt, 2050 könnte die Zahl bei 2,8 Millionen liegen. Darauf wollen Bundesseniorenministerin Franziska Giffey (SPD), Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) Deutschland vorbereiten. Sie sagen: „Wir brauchen ein neues Bewusstsein in allen Bereichen des Lebens, soziale Unterstützungsnetzwerke vor Ort, gute medizinische Versorgung und erstklassige Forschung.“
Die Strategie umfasst 27 Ziele und rund 160 Maßnahmen. Ärzteschaft, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und weitere Beteiligte sollen ihre Zusammenarbeit in einem „Versorgungspfad“ klarer beschreiben und das Schnittstellenmanagement optimieren. Ein weiteres Stichwort lautet „Demenzsensible Krankenhäuser“, das bedeutet: Die Arbeitsprozesse werden demenzsensibel gestaltet, qualifiziertes Personal erleichtert den Betroffenen unvermeidbare Krankenhausaufenthalte.
Die Bedürfnisse der Patienten werden bei der räumlichen Gestaltung von Kliniken und Pflegeeinrichtungen berücksichtigt. Ein klinisches Demenzforschungsnetzwerk soll verschiedene Institutionen zusammenbringen. Ferner ist ein Netzwerk zur Demenzversorgungsforschung geplant. „Insbesondere sollen wissenschaftliche Erkenntnisse schneller und wirksamer zum Wohle der Betroffenen in die Praxis übertragen werden“, heißt es.
Weiterführende Links:
Link zur Demenzstrategie
https://www.nationale-demenzstrategie.de/fileadmin/nds/pdf/2020-07-01_Nationale_Demenzsstrategie.pdf
Link zur Diabetesstrategie
https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/206/1920619.pdf
Die Arbeitsgruppe „Gesundheitsökonomische Gesamtrechnungen der Länder“ hat außerdem berechnet, dass sich in der sozialen Pflegeversicherung die Ausgaben in diesen zehn Jahren im Mittel der Länder mehr als verdoppelt haben. Sie stiegen im Jahr 2018 auf knapp 40 Milliarden Euro.
Die Gesundheitsausgaben in den Ländern lagen 2018 zwischen 2,9 Milliarden Euro in Bremen und 85,5 Milliarden Euro in Nordrhein-Westfalen. Im Vergleich zum Vorjahr betrug der Anstieg durchschnittlich vier Prozent. Für Sachsen wurde die geringste Zunahme von 2,9 Prozent ermittelt. In Hamburg hingegen war der größte Anstieg mit 4,7 Prozent zu verzeichnen. Die Pro-Kopf-Ausgaben variierten im Jahr 2018 zwischen 4.282 Euro in Bremen und 5.059 Euro in Brandenburg. Der größte Anteil der Gesundheitsausgaben entfiel auf die gesetzliche Krankenversicherung. Deren Anteil an den Gesundheitsausgaben insgesamt lag im Jahr 2018 zwischen 54,1 Prozent in Bayern und Hamburg und 64,2 Prozent in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Betrachtet man den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP), so wurde für 2018 in Hamburg mit 7,2 Prozent der geringste und in Brandenburg mit 17,6 Prozent der höchste Anteil ermittelt.
Weiterführender Link:
http://www.statistikportal.de/de/ggrdl/ergebnisse/gesundheitsausgabenrechnung
Eine Krebserkrankung beeinflusst die wirtschaftliche Situation vieler betroffener Menschen – junger Familien, deren Hauptverdiener erkrankt, Selbstständiger, Einzelverdiener oder Niedriglohnempfänger. Das Einkommen verringert sich, die Ausgaben steigen. Zudem haben Krebspatienten mit zahlreichen bürokratischen Hürden zu kämpfen. Das neunseitige Positionspapier „Krebs und Armut“ beleuchtet systematisch verschiedene Themenfelder wie Erwerbsminderungsrente, Reha und beruflicher Wiedereinstieg. Beispiel Krankengeld: Zunehmend werden Patienten bereits nach kurzer Krankengeldbezugsdauer von ihrer Krankenkasse dazu aufgefordert, eine medizinische Rehabilitation zu beantragen (Rechtsgrundlage: Paragraph 51 SGB V). Die Kasse könne sich damit Erstattungsansprüche gegenüber dem zuständigen Rentenversicherungsträger sichern. „Diese Verfahren werden aus ökonomischen Gründen eingeleitet und können für die Betroffenen mit erheblichen Nachteilen bis hin zur frühzeitigen Berentung verbunden sein“, heißt es in dem Papier. Die Autoren fordern: Für den gesamten Zeitraum einer onkologischen Akutbehandlung, im Bedarfsfall auch der Rehabilitation und der Rekonvaleszenz, muss ein verlässlicher Anspruch auf den Bezug von Krankengeld bestehen.
Sie verlangen außerdem, dass die Erwerbsminderungsrente in angemessener und existenzsichernder Höhe gezahlt wird und bei Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen ohne aufwendiges Verfahren zugänglich ist.
Stichwort Anschlussrehabilitation (Anschlussheilbehandlung): Verfahren und Fristen hierzu müssen den Autoren zufolge auch aufgrund der Weiterentwicklung von medizinischen Behandlungsmethoden harmonisiert werden. Unabhängig von den jeweiligen Leistungsträgern und spezifischen Regelungen in den Bundesländern hätten sich diese an den Bedarfen der Krebspatienten zu orientieren.
Grundsätzlich heißt es in dem Papier, dass eine „zunehmend restriktivere Praxis der Sozialversicherungsträger“ schwer kranke Menschen erheblich belaste, unabhängig vom konkreten Verarmungsrisiko. Ein grundsätzlicher Appell der Krebshilfe und Selbsthilfeorganisationen lautet daher, dass geordnete und nachvollziehbare Verfahrensabläufe zwar wichtig seien – diese hätten sich aber auch an der Realität der Betroffen sowie deren Möglichkeiten und Grenzen zu orientieren.
Weiterführender Link:
https://www.krebshilfe.de/fileadmin/Downloads/PDFs/Stellungnahmen/Deutsche_Krebshilfe_-_Positionspapier_Krebs_und_Armut.pdf
Den Antrag auf einstweilige Anordnung von neun Menschen mit Behinderung hat das Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Seine Entscheidung begründet es damit, dass mit der gewünschten vorläufigen Regelung – dem Einsetzen eines Gremiums durch die Bundesregierung, das die Triage verbindlich regelt – für die Antragsteller nichts gewonnen sei. Eine solche Gruppe, welche die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen festlege, würde die Situation der Beschwerdeführer nicht wesentlich verbessern. Denn abgesehen davon, dass ein solches Gremium „ganz außerordentlich in die Aufgabenverteilung zwischen den Staatsgewalten“ eingreife und ein Legitimationsproblem hätte, hätte es „auch nicht die Kompetenz, verbindliche Regelungen zu verabschieden, auf die es den Beschwerdeführern gerade ankommt“. Zudem entstehe den Antragstellern kein irreversibler Schaden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, sich aber später im Verfahren herausstellt, dass der Gesetzgeber zum Handeln gezwungen ist. „Das zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt erkennbare Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten lassen es in Deutschland nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass hier die gefürchtete Situation der Triage eintritt“, heißt es in einer Pressemitteilung zu dem am 16. Juli ergangenen Beschluss.
Für neun Mandanten und mit Unterstützung der Behindertenrechtsorganisation AbilityWatch hat die Kanzlei Menschen und Rechte aus Hamburg Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Sie verlangt, dass der Staat Kriterien für eine Triage-Entscheidung vorgibt, damit Menschen mit Behinderung aufgrund der Erfolgsaussichten der Behandlung nicht benachteiligt werden.
Durch Eingaben von Versicherten und Leistungserbringern wird das BAS auf „zahlreiche Rechtsprobleme im Verwaltungshandeln von Krankenkassen“ aufmerksam, heißt es im Bericht. Die Eingaben der Versicherten hätten sich mit 3.411 in 2019 auf hohem Niveau stabilisiert. Laut Amt betreffen sie alle wesentlichen Bereiche der Krankenversicherung, besonders hervorgehoben werden: Leistungen, Beitragsbemessung bei Pflicht- und freiwillig Versicherten, rückständige Beiträge (Vollstreckung), Verwaltungsverfahren sowie Mitgliedschaft. Außerdem hätten sich viele Versicherte darüber beschwert, dass ihre Krankenkasse keine Haushaltshilfe gewährt oder finanziert. Gesetzlich Versicherte haben in bestimmten Fällen bei Krankheit Anspruch auf Haushaltshilfe. Zu zahlreichen Eingaben führen auch Probleme beim Krankengeld sowie mit Hilfsmitteln, zum Beispiel Rollstühlen.
[caption id="attachment_3653" align="aligncenter" width="1200"]Apropos Hilfsmittel: Die Umsetzung des Gesetzes zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung war ein Prüfungsschwerpunkt des BAS. Dem Bericht zufolge sind Kassen für ihre Aufgabe, die Qualität der Hilfsmittelversorgung sicherzustellen, „sensibilisiert“. Moniert wird aber, dass es häufig an einer institutionalisierten, kontinuierlichen Überprüfung der Qualität der Leistungserbringung fehle. „Zwar sind die Kassen verpflichtet, Auffälligkeits- und Stichprobenprüfungen durchzuführen, genutzt wird dieses Instrument von ihnen bislang aber nur selten.“
Der Prüfdienst Kranken- und Pflegeversicherung (PDK) des Amtes hat sich außerdem im vergangenen Jahr ausführlich mit sogenannten Satzungsleistungen beschäftigt. Das sind zusätzliche Angebote der Kassen, die über den GKV-Leistungskatalog hinausgehen und von den Kassen intensiv zu Marketingzwecken genutzt werden, erläutert das BAS. Insbesondere die Art, die Dauer und der Umfang der Leistungen sowie Qualitätsanforderungen müssen von den Kassen in ihrer Satzung bestimmt werden. Die Aufsichtsbehörde hat jedoch häufig beanstandet, dass die von ihnen selbst festgelegten Voraussetzungen nicht sorgfältig kon-trolliert werden. Außerdem seien die Kosten nicht auf den korrekten Konten verbucht worden. Satzungsleistungen müssen nämlich aus Eigenmitteln finanziert werden und dürfen nicht von den Zuweisungen des Gesundheitsfonds bezahlt werden.
Last but not least ist dem Bericht zu entnehmen, dass die Digitalisierung mittlerweile auch bei der Sozialversicherung eine wichtige Rolle spielt. „Vieles wird dadurch besser, aber nicht immer unkomplizierter“, hält BAS-Präsident Frank Plate dazu in seinem Vorwort fest.
Weiterführender Link:
https://www.bundesamtsozialesicherung.de/fileadmin/redaktion/allgemeine_dokumente/20200806BAS_Taetigkeitsbericht2019.pdf
Ein momentan komplett abgeschriebenes Thema ist das angestrebte europäische Bewertungsverfahren für neue Gesundheitstechnologien (EU-HTA), ein ewiger Zankapfel. Schon lange wird darum gerungen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte wichtige Impulse setzen. Daraus wird jetzt nichts, denn in der von Corona geprägten Präsidentschaft wurde das Projekt kurzerhand von der Agenda gestrichen. Dieses Schicksal teilen die seltenen Erkrankungen. Auch um die Finanzierung der hiesigen Pflegeversicherung, die dringend reformiert werden müsste, ist es pandemiebedingt mehr als ruhig geworden. Dabei wird die Zeit knapp, denn die Legislatur hat ein konkretes Ablaufdatum, Corona nicht.
Andere Themen haben dagegen ungeahnten Aufwind erhalten: Die Impfstoffentwicklung etwa bewegt die Gemüter wie nie zuvor. Auch Labortests, bisher eine Nischenangelegenheit für Spezialisten, sind in den öffentlichen Fokus gerückt. Lesen Sie im Folgenden, welche Themen plötzlich vom Radar verschwunden sind, welche Schlagzeilen machen und welcher Zoff in die nächste Runde geht.
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[caption id="attachment_3443" align="alignleft" width="1200"]
„Wir wären eigentlich mitten in einer Pflegefinanzierungsdebatte“, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor der Presse Ende April. Diese wäre auch dringend angezeigt, denn der Pflegeversicherung geht die Luft aus. Das angekündigte Reformkonzept für die Finanzierung lässt auf sich warten. Die zu Pflegenden sollen möglichst nicht mit höheren Eigenanteilen belastet werden, Pflegekräfte sollen mehr verdienen – so der einhellige politische Wille. Der GKV-Spitzenverband fordert einen jährlichen Bundeszuschuss von drei Milliarden Euro und eine Investitionskostenübernahme der Pflegeheime durch die Bundesländer.
Wie lange hält die Pflegeversicherung ohne staatliche Unterstützung noch durch?
Prof. Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom: Die Pflegekostenfinanzierung ist eine tickende Zeitbombe. Der Bedarf nach Altenpflegekräften wird wegen der demographischen Entwicklung deutlich zunehmen, bei zugleich eher schrumpfendem Erwerbspersonenpotenzial. Wir müssen Pflege verlässlich besser bezahlen. Auch wenn es wehtut: Wir müssen jetzt die Weichen dafür stellen. Die Problematik haben wir schon zu lange ausgesessen. Und um die Frage klar zu beantworten: Die Zeit drängt. Das Geld in den Pflegekassen reicht nur bis zum Ende der Legislatur.
[caption id="attachment_3383" align="alignleft" width="500"]
Verschobene Prioritäten bei der deutschen EU-Ratspräsidentschaft: Ganz oben steht alles rund um die Pandemiebewältigung. Maßnahmen, die die Souveränität der EU in puncto Arzneimittel und Schutzausrüstung stärken, rücken in den Mittelpunkt, dafür fallen seltene Erkrankungen wohl hinten runter. Thema Krebs: In dem im Mai publizierten „Bundesbericht Forschung und Innovation 2020“ betont die Regierung ihre Absicht, im Rahmen der Präsidentschaft die Krebsforschung auf europäischer Ebene voranzubringen. Der von der Kommission Anfang 2020 angekündigte Masterplan Krebs steht coronabedingt vorerst unter keinem guten Stern.
In der Warteschleife steht der EU-Masterplan zur Bekämpfung von Krebs. Auch die Bemühungen um seltene Erkrankungen werden zurückgeworfen. Was heißt das für die Betroffenen?
Peter Liese, MEP (CDU): Der Masterplan zur Bekämpfung von Krebs ist nach wie vor eine große Priorität für die Europäische Kommission und auch für meine Fraktion. Leider gab es in den letzten Wochen nur begrenzte Tagungsmöglichkeiten im Europäischen Parlament. Auch wenn wir viel gearbeitet haben, war es nicht möglich, den Sonderausschuss zu installieren. Das muss sich aber jetzt schnell ändern. Das Gleiche gilt für die Bemühung, seltene Krankheiten zu bekämpfen. Insgesamt hoffe ich, dass durch die Coronakrise viele Menschen erkennen, wie wichtig europäische Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich ist, und dann kann das am Ende vielleicht sogar für alle Patienten positiv sein.
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Kaum ein Thema hat die Gesundheitspolitik so in Atem gehalten wie die Reform der Notfallversorgung. Der Sachverständigenrat hat dafür weitreichende Vorschläge auf den Tisch gelegt. Es folgten ein Arbeitspapier und zuletzt im Januar ein Referentenentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium. Begleitet wurde das Ganze von hitzigen Debatten über Integrierte Notfallzentren und einen dritten Sektor. Dann blieb es lange ruhig. Mit dem Konjunkturpaket und der darin enthaltenen Investitionsspritze für moderne Notfallkapazitäten kommt wieder Bewegung in die Sache, oder?
Fällt die Notfallreform unter den Tisch oder wird es damit noch etwas vor dem Ende der Legislatur?
Sabine Dittmar, MdB (SPD): Die Reform der Notfallversorgung ist natürlich nicht vom Tisch. Klar ist, dass es Handlungsbedarf gibt, um die Patientenströme besser zu leiten und die indikationsabhängige Versorgung der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Im Augenblick geht es aber in erster Linie darum, die Pandemie zu überwinden. Alle gesetzgeberischen Maßnahmen fokussieren sich darauf. Zudem sind die Gespräche zwischen Bund und Ländern über die Reform der Notfallversorgung noch nicht abgeschlossen, sodass der Entwurf noch keine Kabinettsreife hat. Ich hoffe allerdings, dass wir bald einen abgestimmten Gesetzentwurf vorliegen haben.
Karin Maag, MdB (CDU): Die Reform der Notfallversorgung ist ein zentrales Vorhaben dieser Legislaturperiode, das sowohl im Bundesgesundheitsministerium als auch in unserer Fraktion mit hoher Priorität behandelt wird. Das Gesetz soll dafür sorgen, die bisher weitgehend getrennt organisierten Bereiche der ambulanten, stationären und rettungsdienstlichen Notfallversorgung zu einem integrierten System weiterzuentwickeln. Diese Reform ist überfällig und notwendig, um eine bessere Orientierung für Patienten, kürzere Wartezeiten, einen effizienteren Einsatz von Personal und Geld sowie insgesamt eine höhere Qualität der medizinischen Notfallversorgung zu erreichen. Allerdings erfordert dies ein komplexes Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen und wird nun auch an die Erfahrungen der Pandemie angepasst werden müssen. Ich bleibe dennoch vorsichtig optimistisch, dass es in dieser Legislaturperiode noch umgesetzt wird.
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Seit Jahren streiten die EU-Mitgliedstaaten darüber, wie eine europäische Zusammenarbeit bei der Bewertung neuer Gesundheitstechnologien, namentlich von Arzneimitteln, organisiert werden kann. Die Industrie befürwortet eine Harmonisierung, während Länder wie Deutschland und Frankreich fürchten, dass dabei ihre nationalen Standards unterlaufen werden. Eigentlich sollte EU-HTA bei der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine wichtige Rolle spielen, jetzt ist das Thema gestrichen.
Können wir es uns leisten, EU-HTA weiter auf die lange Bank zu schieben? Wie soll es jetzt weitergehen?
Prof. Josef Hecken, G-BA-Vorsitzender: Ein Mehrwert kann nur entstehen, wenn es klare Regeln für gemeinsame und nationale Bewertungen von zentral zugelassenen Arzneimitteln und Medizinprodukten gibt, um evidenzbasierte Empfehlungen zur Verwendung dieser Technologien auf nationaler Ebene zu treffen. Die Aufbereitung dieser Evidenz muss den Anforderungen der jeweiligen Mitgliedstaaten für eine Entscheidungsfindung genügen. Hierzu ist es jedoch essenziell, dass wissenschaftliche Fragen – beispielsweise in Bezug auf Studienanforderungen, Methodik, Endpunkte oder Surrogatparameter – einheitlich beantwortet werden. Dabei steht das notwendige abschließende Resümee aus dem EuNetHTA-Programm noch aus. Auch wenn der Bundesgesundheitsminister die geänderten Schwerpunkte für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft politisch begründet, so besteht auch aus wissenschaftlich-fachlicher Sicht noch Beratungsbedarf. Wenn es nun noch ein Jahr länger dauert, so kann und sollte diese Zeit sinnvoll genutzt werden.
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Laut Koalitionsvertrag soll Schwarz-Rot „nachhaltige Schritte“ für eine sektorenübergreifende Versorgung einleiten. Tatsächlich wurde eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die vor einem Jahr ein Eckpunkte-Papier veröffentlicht hat. Auch der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten von 2018 „Zukunftsperspektiven einer bedarfsgerechten sektorenübergreifenden Versorgung entwickelt“. Ein Stichwort lautet etwa sektorenübergreifende Versorgungsplanung.
Wird die Regierung das Thema sektorenübergreifende Versorgung noch anpacken?
Prof. Christof von Kalle, Onkologe: Meiner Meinung nach ist eine sektorenübergreifende Versorgung in allererster Linie ein Thema der Informationstransparenz und Informationsflüsse. Diese Bundesregierung, namentlich Minister Spahn, ist sehr offensichtlich intensiv damit befasst, in Sachen sektorenübergreifender ePA mit bisher nie da gewesener Geschwindigkeit voranzukommen, und hat insofern nach meiner Einschätzung einen sehr wesentlichen, wenn nicht den wesentlichsten Schritt für eine Verbesserung der sektorenübergreifenden Versorgung in Deutschland in Angriff genommen.
Welches müssten erste Schritte zur Überwindung der Sektorengrenze sein?
Prof. Christof von Kalle: Die baldige Einführung einer wirklich aussagekräftigen ePA, die alle Bereiche der Gesundheitsversorgung abdeckt: die haus- und fachärztliche Versorgung ebenso wie die durch Krankenhäuser – stationär, teilstationär oder ambulant – sowie die wesentlichen Aspekte wie Pflege und Medikation. Das ist der entscheidende Schritt. In der Pandemie ist deutlich geworden, dass unsere Unfähigkeit, Gesundheitsdaten auszutauschen, auszuwerten, den Patienten mit diesen zu begleiten und die Erkrankung des Patienten ganzheitlich zu verstehen, Menschen das Leben kostet. Es ist uns mit Mühe gelungen, die verfügbaren Betten zu zählen. Auch die Nachauswertung wird vor erheblichen Hindernissen stehen. Diese bestehen vielfach durch einen missverstandenen, verabsolutierten und zersplitterten Datenschutz. Wir dürfen uns diese Unfähigkeit und unsere Untätigkeit nicht länger als Datenschutz schönreden. Datenschutz bedeutet Patientenschutz, und das bedeutet in erster Linie einmal, dass Patienten über alle Sektorengrenzen hinweg Anspruch auf eine für ihr eigenes Wohlergehen optimale Auswertung ihrer Daten haben. Dabei ist die Datensicherheit von herausragender Bedeutung.
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Neue Akzente bei der Leitlinienarbeit sieht das Digitale-Versorgung-Gesetz vor: Zum einen soll die Erstellung oder Aktualisierung kompletter Leitlinien über Mittel des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert werden. Zum anderen kommt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit ins Boot: Es soll im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums Evidenzrecherchen zu einzelnen klinisch relevanten Fragestellungen in Leitlinien übernehmen.
Wann wird es konkret mit der neuen Leitlinienarbeit oder ist das Verfahren gegenwärtig on hold?
Von der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die die Leitlinienarbeit koordiniert, ist zu hören, dass die Verfahrensabstimmung im vollen Gange sei (ein ausführlicher Bericht folgt in einer der nächsten Ausgaben). Das IQWiG teilt mit: „Aktuell läuft die Abstimmung zwischen der AWMF und dem Ministerium, zu welcher Fragestellung wir aktiv werden sollen. Wir rechnen damit, im Juli den ersten Auftrag zu erhalten.“
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Stichwort AMNOG-Prozess: Insbesondere für die Nutzenbewertung von Orphan Drugs kann der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) vom Hersteller eine anwendungsbegleitende Datenerhebung (AbD) verlangen, um Evidenzlücken zu schließen. Die Diskussion über Fallstricke und Vorteile des mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung eingeführten Instruments blieb 2019 zunächst etwas theoretisch – bis das IQWiG zum Jahresanfang einen Report zur Generierung und Auswertung versorgungsnaher Daten vorlegt. Noch konkreter wird es, als der G-BA-Chef Prof. Josef Hecken ankündigt, dass die Gentherapie Zolgensma die Ehre des ersten Durchlaufs habe. Das Präparat ist nun in der EU zugelassen.
Wie ist der aktuelle Stand? Wie geht es mit Zolgensma weiter?
Prof. Josef Hecken: Derzeit werden vom G-BA die Verfahrensregeln für eine AbD erarbeitet, um eine Grundlage für die Erstellung von Konzepten zur anwendungsbegleitenden Datenerhebung zu schaffen. An der Erstellung eines Konzeptes zur AbD sollen alle relevanten Beteiligten, unter anderem auch Registerbetreiber, beteiligt werden. Wir wissen, dass der Hersteller von Zolgensma mit den Zulassungsbehörden zur grundsätzlichen Frage einer weiteren Datenerhebung im Rahmen der bedingten Zulassung in Kontakt steht. Dies halten wir für sehr sinnvoll. Nähere Informationen zu den Inhalten haben wir jedoch nicht, da der G-BA in diese Gespräche nicht eingebunden ist. Mit Markteintritt von Zolgensma in Deutschland wird der pharmazeutische Unternehmer dem G-BA sein Dossier mit den zulassungsrelevanten Studien vorlegen und – sofern vorhanden – auch den Auflagen der EMA hinsichtlich der Durchführung von Registerstudien. Auf dieser Basis wird der G-BA dann für den deutschen Versorgungskontext die Frage des Zusatznutzens von Zolgensma beraten. Und selbstverständlich wird es hierbei dann auch darum gehen, inwiefern eine Befristung des Beschlusses mit der Auflage einer AbD angezeigt ist.“
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Warnungen vor Arzneimittelengpässen gibt es schon länger, doch erst mit der Coronakrise rücken die Folgen der globalisierten Herstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten wirklich ins öffentliche Bewusstsein. „Medizingüter made in Europe“ lautet die Krisenerkenntnis von Merkel und Macron. Das Konjunkturprogramm der Bundesregierung enthält folgerichtig ein „Programm zur Förderung der flexiblen und im Falle einer Epidemie skalierbaren inländischen Produktion wichtiger Arzneimittel“, Umfang: eine Milliarde Euro. „Die Produktion von Medizingütern nach Europa zurückzuholen, ist eine Frage der Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Versorgungssicherheit“, sagt Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem. Die durch die Verlagerung der Produktion nach Asien erzielten Einsparungen seien nämlich durchaus beitragssatzrelevant.
Für gewöhnlich zählen Laborärzte nicht zu denjenigen Medizinern, die im Rampenlicht stehen. Ihre Arbeit verläuft im Hintergrund. In Zeiten von Corona ist das anders. Woche für Woche schalten sich mehrere Dutzend Medienvertreter dazu, wenn die Experten vom Verein Akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) zur virtuellen Pressekonferenz einladen. Seit Ende März berichten Vorstandschef Dr. Michael Müller und seine Mitstreiter in diesem Format immer dienstags über das aktuelle Geschehen in den Laboren des Landes – und natürlich über das Thema, das gerade alle inter-essiert: Tests. Die ALM-Experten stehen Rede und Antwort, egal ob es um PCR- und Antikörpertests, den Ausbau der Kapazitäten in den Laboren oder mögliche Materialknappheit geht. Bisher ist das Inter-esse von Fach- und Publikumsmedien ungebrochen. Der Bundesgesundheitsminister will die Finanzierung der Tests über die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds abwickeln und hat Ende Mai eine Verordnung dazu veröffentlicht.
Kaum ein Thema wird derzeit so emotional und intensiv verfolgt wie die Entwicklung eines möglichen Impfstoffes gegen das Coronavirus, denn: Vakzine gelten als Ticket zurück in die Normalität. Dem Impfen werde mittlerweile eine größere Wertschätzung entgegengebracht, zeigt sich Gesundheitsminister Spahn überzeugt. Für ihn selbst sei es „eine der größten Errungenschaften der Menschheit“. Das sehen Impfgegner anders, die sich schon jetzt lauthals gegen eine derzeit nicht geplante Impfpflicht in Stellung bringen. Auch der Impfnationalismus treibt bisweilen seltsame Blüten. Wer macht das Rennen? Han Steutel, Präsident des Verbands forschender Pharma-Unternehmen, fühlt sich gemüßigt, zu unterstreichen: „Europa ist in der Entwicklung von Corona-Impfstoffen auf Augenhöhe mit den drei anderen großen Akteuren des internationalen Geschehens: den USA, China und Indien.“
Dass der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) über Jahrzehnte kaputtgespart wurde, ist kein Geheimnis. Darum geschert hat sich kaum jemand. Jetzt zeigt der Pandemieausbruch, wie wichtig die vorderste Public-Health-Front ist. Mit dem zweiten Bevölkerungsschutzgesetz reagiert die Politik: Für den ÖGD werden rund 50 Millionen Euro lockergemacht. Das Geld soll in die digitale Aufrüstung der 375 Gesundheitsämter gesteckt werden. Beim Robert Koch-Institut wird eine Kontaktstelle für den ÖGD eingerichtet. Der Opposition geht das nicht weit genug. „Es ist nicht damit getan, dass die Gesundheitsämter jetzt ein paar neue Computer erhalten“, sagen Maria Klein-Schmeink und Fraktionskollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen. Dr. Ute Teichert, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des ÖGD, findet: „Es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Bleibt abzuwarten, ob die im Konjunkturpaket vorgesehene Förderung nachhaltiger ist.
Gibt es hierzulande zu viel Klinikbetten oder nicht? Ist Dänemark ein Vorbild oder hinkt der Vergleich? Zu hoffen ist, dass diese bisweilen sehr zäh geführte Debatte durch die Coronakrise neue Impulse bekommt. Für den Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft ist die Sachlage klar. Georg Baum sagt: „Warum kommen wir durch diese erste Welle so gut durch? Weil wir mehr Kapazitäten haben.“ Für den Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg hat die Krise dagegen aufgezeigt, „wie wichtig ein konsequentes Vorantreiben der Strukturreformen ist“. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, wird grundsätzlicher.
Er sieht als eine Folge der Coronakrise, dass „das Ziel der größtmöglichen Effizienz hinterfragt wird“. Und auch die Diskussion um die notwendige Modernisierung der deutschen Krankenhauslandschaft würde von nun an unter anderen Vorzeichen fortgeführt werden. Das bleibt abzuwarten.
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Die dramatischen Bilder aus Norditalien und New York haben sich eingebrannt. Bisher ist die Corona-Pandemie hierzulande zwar relativ glimpflich verlaufen. Dennoch bleibt die Herausforderung, wie, gerade angesichts einer möglichen zweiten Welle, mit einer Überlastung des Gesundheitswesens umzugehen ist. Wie soll triagiert, wie priorisiert werden? Dazu haben sich mittlerweile einige Initiativen geäußert. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat zusammen mit weiteren Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen zur Ressourcenzuteilung veröffentlicht. Auch der Deutsche Ethikrat und die Bundesärztekammer haben Stellung bezogen. Spannend ist dabei insbesondere die Frage, wer im Pandemiefall für Triage-Entscheidungen die Regeln festlegen sollte: Ist das eine Angelegenheit der Ärzteschaft oder ist der Gesetzgeber gefragt?
Wir haben dazu vier Experten befragt: eine Philosophin, zwei Juristen und einen Mediziner. Lesen Sie im Folgenden ihre Antworten.
Prof. Weyma Lübbe
Gefragt ist der Gesetzgeber, zweifellos. Die Ärzte selbst appellieren ja inständig an ihn, wie beispielsweise Prof. Uwe Janssens in seinem Beitrag. Zur Frage, ob der Gesetzgeber auch zuständig ist, hat vor allem der Deutsche Ethikrat mit seiner Ad-hoc-Stellungnahme Verwirrung gestiftet. Er hat behauptet, „[d]er Staat“ dürfe „nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist“. In derselben Stellungnahme hält der Rat fest, dass für einige der drohenden Konfliktlagen der Staat eine Aussage zum Vorrang längst getroffen habe – nämlich für die Fälle, in denen ein bereits beatmeter Patient mit einem erst später hinzukommenden Patienten konkurriert: „Objektiv rechtens“ sei das aktive Beenden einer laufenden Behandlung zugunsten eines Dritten nicht.
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Auf diese Teilauskunft hat die Ärzteschaft nicht mit Dankbarkeit reagiert. Warum nicht? Man kann das nicht damit erklären, dass es andere Juristen gibt, die die Position der im Ethikrat sitzenden Juristen nicht teilen. Meinungsverschiedenheiten zur Auslegung des geltenden Rechts sind an sich kein Grund, nach dem Gesetzgeber zu rufen. Vielmehr sind hier zunächst die Gerichte zuständig. Solange sie nicht geurteilt haben, gewiss, besteht Rechtsunsicherheit. Das Haftungsrisiko, um dessen Vermeidung es der Ärzteschaft angeblich geht, hängt aber ausschließlich an der Position, die es für rechtens hält, den zuerst gekommenen Patienten gegebenenfalls abzukoppeln. Wer sich an die gegenteilige, die im Ethikrat vorgenommene Rechtsauslegung hält, der hat – das ist unstrittig – nichts zu befürchten.
Dennoch haben die Ärzte ihre Empfehlungen nicht entsprechend abgeändert. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass es ihnen um etwas anderes geht als um die Entlastung vom angeblich zugemuteten Haftungsrisiko. Zwar gibt es noch die Fälle, in denen keiner bereits beatmet wird. Aber hier ist die Lage ganz analog. Auch hier gibt es Vorgehensweisen, die unstrittig ohne rechtliches Risiko sind. Noch kein Jurist hat davor gewarnt, dass strafrechtliche oder haftungsrechtliche Konsequenzen drohen, wenn das Prinzip „first come, first served“ angewendet wird. So besehen stellt sich die Situation für die Ärzteschaft nicht so unzumutbar dar, wie es im aktuellen Diskurs nahelegt wird. Die Lage ist vielmehr diese: Die Ärzteschaft vertritt – in einigen ihrer Repräsentanten – eine bestimmte Position zum Umgang mit existentiellen Knappheiten und nimmt die damit verbundenen Haftungsrisiken bewusst in Kauf. Die vertretene Position mag nach Ergebnis und Gründen haltbar sein oder nicht. Dazu dürfen neben Juristen und Ethikern, die das seit Langem tun, gewiss auch Ärzte ihre Argumente beitragen. Was Gerichte und Gesetzgeber angeht, so tun sie nach meiner Auffassung recht daran, diesen interdisziplinären Diskurs zunächst einmal zu beobachten. Wenn es zwingend nötig wird, sich zu äußern, werden sie das wohl tun.
Prof. Steffen Augsberg
[caption id="attachment_3349" align="alignright" width="500"]Das deutsche Verfassungsrecht wirkt sich in zweifacher Weise auf die mögliche Regelung von Triage-Situationen aus: Erstens enthält es verbindliche, auch durch den Gesetzgeber nicht abzuändernde Vorgaben. Zweitens verbietet es die Verwendung spezifischer, mit seinen Grundvorgaben nicht zu vereinbarender Kriterien. Sedes materiae dieser Argumentation sind neben der unter anderem eine egalitäre Basisgleichheit umfassenden Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) insbesondere das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 2. Alt. GG), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie die Gleichheitsregeln des Art. 3 GG. Diese grundrechtlichen Vorgaben stehen der Annahme gattungsinterner Differenzierungen entgegen. Stattdessen gilt der Grundsatz der Lebenswertindifferenz. Demnach ist jede unmittelbare oder mittelbare Unterscheidung nach dem Lebenswert unzulässig; jedes menschliche Leben genießt ohne Rücksicht auf seine Dauer den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Dieses Verbot von Be- und Abwertungen menschlichen Lebens stellt ein Kernelement deutschen Verfassungsrechtsdenkens und eine jüngst noch einmal im Urteil zur Suizidassistenz bestätigte Konstante der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dar. Es ist „krisenfest“ in dem Sinne, dass es auch in Zeiten größter (innerer oder äußerer) Not nicht zur Disposition steht.
Weil damit gesetzliche Regelungen, die das menschliche Leben einer wie auch immer gearteten Bewertung unterziehen, untersagt sind, darf der Gesetzgeber keine materiellen Kriterien für eine Auswahlentscheidung in Triage-Situationen festschreiben. Daran ändert der Verweis auf die gebotene Rechtssicherheit nichts. Unzweifelhaft brächte eine legislative Normierung aus Sicht insbesondere der handelnden Ärzte zusätzliche Klarheit und Orientierung. Rechtssicherheit ist allerdings nicht das höchste, andere verfassungsrechtliche Wertungen derogierende Gut.
Als Subprinzip des Rechtsstaatsprinzips kann sie nicht a priori Vorrang gegenüber anderen verfassungsnormativen Erwägungen beanspruchen. Entsprechendes gilt für die teilweise in Ansatz gebrachte, rechtsstaatliche mit demokratischen Erwägungen verbindende Wesentlichkeitslehre. Für beide kann auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidassistenz verwiesen werden. Bei aller Unsicherheit über die konkret mit ihr verbundenen Folgen für eine mögliche Neuregelung der Suizidhilfe besteht doch kein Zweifel daran, dass das Gericht es dem Gesetzgeber untersagt, an materielle Kriterien wie Alter oder Gesundheitszustand anzuknüpfen. Im Übrigen zeigt das Beispiel des Transplantationsgesetzes, wie problematisch selbst sehr allgemein formulierte gesetzliche Allokationskriterien sind. Dort werden bekanntlich die erkennbar widersprüchlichen Vorgaben „Erfolgsaussicht und Dringlichkeit“ miteinander verbunden und im Übrigen auf die Richtlinien der Bundesärztekammer verwiesen. Nach nahezu einhelliger Auffassung ist dies verfassungsrechtlich unzulässig – mithin scheidet es als Vorbild für Triage-Situationen aus. Im Unterschied zur Organallokation bedeutete es zudem ein nahezu sicheres Todesurteil, bei der Vergabe von Beatmungsplätzen nicht berücksichtigt zu werden. Eine solche, direkt über Leben und Tod entscheidende Regelung entzieht sich der legitimen Steuerungskompetenz des Gesetzgebers.
Prof. Uwe Janssens
Die Deutsche Interdisziplinäre Ver-einigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat gemeinsam mit sieben weiteren Fachgesellschaften eine klinisch-ethische Empfehlung zu „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie“ ausgearbeitet. Viele Juristen, Politiker, aber auch Behindertenverbände, die sich kritisch dazu geäußert haben, bleiben die Antwort schuldig, wie sich Ärztinnen und Ärzte in einer tragischen Entscheidungssituation angesichts knapper oder nicht mehr vorhandener Kapazitäten bei einer Überzahl schwerstkranker Patienten verhalten sollten. Es ist erschreckend und beschämend, dass einerseits Mediziner in vorderster Front ihrer beruflichen Verpflichtung zum Schutz und Erhalt des Lebens nachkommen sollen, gleichzeitig aber mit juristischen Konsequenzen nahezu bedroht werden, wenn sie einem fundiertem Vorschlag folgend versuchen, möglichst vielen Menschen in einer verzweifelten Situation das Leben zu retten.
[caption id="attachment_3350" align="alignleft" width="500"]Die DIVI-Empfehlung betont, dass die ärztliche Indikation und der Patientenwille die Grundlage für jede patientenzentrierte Entscheidung darstellen. Reichen die Ressourcen nicht aus, muss unausweichlich entschieden werden, welche Patienten intensivmedizinisch behandelt werden sollen – und welche nicht. Nur in einer solchen Situation wird es erforderlich, die sonst gebotene patientenzentrierte Behandlungsentscheidung einzuschränken und über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen zu entscheiden. Die Priorisierungen erfolgen nicht in der Absicht, Menschenleben zu bewerten, sondern mit dem Ziel, mit begrenzten Ressourcen möglichst vielen Patienten eine Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen. Dabei orientieren sich die Behandlungsteams am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht. Eine Priorisierung innerhalb der Gruppe der Covid-19-Erkrankten ist aufgrund des Gleichheitsgebots nicht vertretbar und außerdem nicht zulässig aufgrund des kalendarischen Alters, sozialer Merkmale oder bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen.
Die Empfehlung weist explizit darauf hin, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen. Da es bis zum heutigen Tage keine entsprechende verfassungsrechtliche Bewertung einer solchen tragischen Entscheidungssituation gibt, werden sich Ärztinnen und Ärzte zunächst an den Empfehlungen der DIVI orientieren. Neben dem Schweregrad der aktuellen Erkrankung spielen Anzahl und Ausmaß der vorliegenden Begleiterkrankungen in der Bewertung der Erfolgsaussicht neben einer Vielzahl weiterer klinischer Parameter eine wesentliche Rolle in der Bewertung der Erfolgsaussicht. Entscheidungen nach dem Prinzip „first come – first served“ oder gar per Losverfahren wären für Behandlungsteams schwer zu ertragen und führten zu massiven Konflikten.
Der Gesetzgeber sollte dringend Vorgaben für eine solche Priorisierung aufstellen. Der Staat und das Recht dürfen die zur Rettung verpflichteten Ärzte nicht mit dem Hinweis auf eine individuelle Gewissensentscheidung allein lassen, die ihnen die vollständige ethische Verantwortung und umfangreiche Haftungsrisiken aufbürdet. Die Entscheidungen müssen zwingend von Ärzten getroffen werden, die Bewertung der Erfolgsaussicht einer medizinischen Behandlung darf nicht in die Hände von Juristen gelegt werden.
Prof. Jochen Taupitz
Allokationskriterien sollen darüber entscheiden, welcher Patient anstelle anderer Patienten das benötigte Medikament oder Beatmungsgerät erhält. Dieses Problem kann die Medizin nicht mit „Bordmitteln“ lösen. Sie kann lediglich sagen, ob die Anwendung eines Arzneimittels bei einem Patienten „sinnvoll“ ist. Beim Vergleich von Patienten und der Abwägung von Zielkonflikten ist sie auf normative Vorgaben angewiesen.
Jedenfalls bezogen auf wesentliche Entscheidungen ist eine Antwort des Rechts gefordert – und nach der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts sogar eine solche des parlamentarischen Gesetzgebers. Denn Allokationsentscheidungen haben eine hohe Bedeutung für die Allgemeinheit, weisen eine hohe generelle Grundrechtsrelevanz auf (nämlich für Leben, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit der Bürger) und führen zu einer intensiven individuellen Betroffenheit der auf das knappe Gut angewiesenen Personen. Deshalb wäre im Hinblick auf die Verteilung knapper medizinischer Güter, auch für den Fall einer Pandemie, eine Regelung durch den Gesetzgeber selbst notwendig.
Die anderslautende Auffassung des Ethikrates zu den nur begrenzten Regelungsbefugnissen des Staates sind offenbar geprägt durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Darin ging es jedoch um den staatlich angeordneten Abschuss eines von Terroristen entführten und als Waffe missbrauchten Flugzeugs. Beim Abschuss des Flugzeugs macht sich der Staat selbst zum „Täter“, behandelt er
die unschuldigen Opfer „als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer“. In einer für den Pandemiefall getroffenen Regelung werden dagegen Kriterien vorgegeben, nach denen in einer Mangelsituation bestimmte Menschen vorrangig vor anderen versorgt werden. In das Leben der nachrangig Versorgten wird nicht aktiv eingegriffen; vielmehr bleiben sie ihrem Schicksal überlassen und sterben an ihrer Krankheit.
Dies ist nicht anders als bei der Regelung der Organtransplantation im Transplantationsgesetz. Danach sind vermittlungspflichtige Organe nach „Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere Erfolgsaussicht und Dringlichkeit für geeignete Patienten zu vermitteln“. Die Bundesärztekammer hat diese Vorgaben in Richtlinien fachlich auszufüllen. Warum eine vergleichbare Regelung für den Pandemiefall nicht zulässig sein sollte, ist nicht verständlich.
Das Grundgesetz verbietet zwar bestimmte Begründungen für die Vorenthaltung lebensrettender Maßnahmen. Dies gilt etwa für Geschlecht, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen und Behinderung. Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers ist es aber, den verbleibenden Rahmen auszufüllen. Die arbeitsteilige Einbeziehung anderer Disziplinen mit ihrer Fachkunde, etwa der Medizin, ist zulässig und geboten. Aber der Gesetzgeber darf sich nicht hinter anderen Disziplinen verstecken. Eine gesetzliche Regelung müsste entweder inhaltlich so bestimmt sein, dass sie in der Praxis hinreichend rechtssicher umgesetzt werden könnte. Oder der Gesetzgeber müsste ausreichende Vorgaben zur Zusammensetzung und zum Verfahren eines zur Regelung zuständigen Gremiums erlassen. Je schwächer einer der beiden Legitimationsstränge ist, umso stärker muss der andere ausgestaltet sein.
In einem 13-seitigen Papier hat die Kommission Kompetenzprofile erstellt, Anforderungen für die Entwicklung der Curricula entwickelt und Voraussetzungen für die Implementierung skizziert. Die neuen Berufe werden wie folgt beschrieben:
„Wir müssen die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Gesundheitsberufen komplett neu denken“, fordert die „Reformkommission Gesundheitsberufe der Zukunft“. Viele Ausbildungen erfolgten immer noch weitgehend ohne die demographischen und medizinisch-technologischen Veränderungen wie Ambulantisierung, Personalisierung, Automatisierung oder Künstliche Intelligenz zu berücksichtigen. Teilweise würden Mediziner und andere Gesundheitsberufe noch wie zu Virchows Zeiten ausgebildet. Ärzte und Angehörige anderer medizinischer Fachberufe, so der Befund, seien nach ihrer Ausbildung oft nur unzureichend auf ihr Berufsleben in einem sich radikal wandelnden Gesundheitssystem vorbereitet. Außerdem würden in einem vorwiegend arztzentrierten Versorgungs- und Vergütungssystem die Potenziale einzelner Gesundheitsberufe nur unzureichend genutzt. Die derzeitige Digitalisierungswelle mit dem Ziel, Aufgaben und Zuständigkeiten besser zu koordinieren, erfordere die existierenden Berufe weiterzuentwickeln. Das allein reiche als Antwort auf die damit verbundenen Umwälzungen jedoch nicht aus. Vielmehr sind nach Ansicht der Experten neue Berufe notwendig.
Die Kommission ist überzeugt, dass spätestens seit SARS-CoV-2 für viele Menschen die Vorteile digitaler Anwendungen spürbar werden. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen habe im April die Digitalisierung als einen der Schlüssel zur Überwindung der Coronakrise benannt. „Die Pandemie wird zum Katalysator für die digitale Transformation“, ist Privatdozent Sebastian Kuhn, federführender Leiter der Kommission, überzeugt. Die vorgeschlagenen Berufe hätten dadurch an Bedeutung gewonnen, da sie sowohl die Patientenversorgung als auch die Innovationsfähigkeit im Gesundheitssystem stärken.
Stichwort Implementierung: Während Prozessmanager und Systemarchitekt vor allem aus den bestehenden Institutionen heraus entwickelt werden könnten, mahnen die Experten eine breite Zusammenarbeit von Politik und Verbänden an, um die Fachkraft für digitale Gesundheitsversorgung im System zu installieren. Weil bei diesem Beruf ein vieltausendfacher Bedarf vorausgesetzt werden könne, muss seine standes- und sozialrechtliche Anerkennung und die damit verbundene Finanzierung im Rahmen einer digitalen Bildungsstrategie für das Gesundheitswesen abgesichert sein.
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Der Kommission gehören an (siehe Foto, von links): der Mediziner Dr.Sebastian Kuhn, Dr. Bernadette Klapper, Leiterin des Bereichs Gesundheit der Robert Bosch Stiftung, Uwe Schwenk, Direktor des Programms „Versorgung verbessern – Patienten informieren“ bei der Bertelsmann Stiftung, und Dr. Franz Bartmann, ehemaliger Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein.
Weiterführende Links
Der Projektbericht der Experten „Neue Gesundheitsberufe für das digitale Zeitalter“ kann im Internet nachgelesen werden:
https://www.stiftung-muench.org/wp-content/uploads/2020/05/NB_Final.pdf
Interview mit Dr. Sebastian Kuhn in dieser Ausgabe: „Ich rechne mit deutlichen Widerständen“
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Braucht es gleich drei neue Berufe, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen sinnstiftend zu gestalten oder reichen dafür nicht fundierte Fort- und Weiterbildungen für die etablierten Professionen aus?
Kuhn: Die fundierte Weiterentwicklung der etablierten Professionen ist dringend notwendig. In diesem Punkt stimme ich Ihnen ganz zu und ich entwickle und implementiere hierzu bereits seit mehreren Jahren entsprechende Bildungskonzepte. Trotzdem ist dies zur effektiven Gestaltung des digitalen Wandels im Gesundheitssystem nicht ausreichend.
Warum?
Kuhn: Die aktuelle Covid-19-Krise zeigt besonders deutlich, wie komplex die Schaffung neuer Behandlungsabläufe unter Einbeziehung digitaler Technologien ist. Vieles, was technisch möglich und medi-zinisch sinnhaft ist, wird derzeit noch nicht genutzt.
Zum Beispiel?
Kuhn: Konkrete Beispiele wären das „Home-Monitoring“ mit Smart Devices oder der effektive intersektorale Austausch relevanter Behandlungsdaten. Hierzu sind viele Einzelschritte notwendig, von der Unterstützung einzelner Patienten, der Ausgestaltung der Prozesse hin zur Integration in das Gesundheitssystem. Diese benötigen hohe Kompetenzen für Gesundheit, Digitalisierung und die damit einhergehenden medizinischen, technischen, rechtlichen und ethischen Implikationen.
Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht besonders innovationsfreudig. Das gilt auch für neue Berufe wie den Physician Assistant, mit dem sich etwa noch viele Ärzte schwertun. Mit welchen Widerständen rechnen Sie bei der Etablierung von neuen Digitalberufen?
Kuhn: Mit Widerstand rechne ich vor allem bei der Implementierung der Fachkraft für digitale Gesundheit. Sie trägt als Bindeglied zwischen Patienten, Fachpersonal und technologischen Anwendungen zur Erhöhung der Versorgungsqualität vor Ort bei. Weil bei diesem Beruf ein vieltausendfacher Bedarf vorausgesetzt werden kann und ein patientennahes Handeln stattfindet, rechne ich mit deutlichen Widerständen. Mit weniger Widerständen rechne ich beim Prozessmanager für digitale Gesundheit, der für die Implementierung und Aufrechterhaltung innovativer Versorgungsabläufe zuständig ist, und beim Systemarchitekt für digitale Gesundheit, der als Change-Manager innerhalb der jeweiligen Institution die großen Linien für die digitale Transformation vorgibt.
Wie müssten die konkreten Schritte aussehen, um die Fachkraft, den Prozessmanager und den Systemarchitekten für digitale Gesundheit zu implementieren? Wer muss handeln?
Kuhn: Als Teil der Digitalisierungsstrategie muss die Politik dringend den Qualifizierungsbedarf der Fachkräfte adressieren. Dies umfasst insbesondere auch die Schaffung neuer Berufe. Die Politik und die Kostenträger haben hierbei die Finanzierung zu gewährleisten. Gleichzeitig müssen Bildungsinsti-tutionen die notwendigen organi-satorischen, personellen und finanziellen Maßnahmen in die Wege leiten. Für die Fachkraft für digitale Gesundheit muss eine standes- und sozialrechtliche Anerkennung abgesichert sein. Hierbei sind vor allem Politik, Selbstverwaltung und Kostenträger gefordert. Weitere wichtige Schritte umfassen eine gezielte Innovationsförderung.
Wie hat diese auszusehen?
Kuhn: Die Institutionen des Gesundheitssystems sollen Strukturen und Anreizsysteme schaffen, um Aktivitäten für digitale Innovationsarbeit zu fördern. Inkubatoren und Innovation-Hubs ermöglichen hierbei einen Dialog zwischen den Stakeholdern und sind für die drei genannten Berufe ideale Wirkungsstätten, um die Implementierungsprozesse effektiv voranzutreiben.
[post_title] => „Ich rechne mit deutlichen Widerständen“ [post_excerpt] => Nachgefragt bei PD Dr. Sebastian Kuhn [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => ich-rechne-mit-deutlichen-widerstaenden [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2020-09-04 15:30:53 [post_modified_gmt] => 2020-09-04 13:30:53 [post_content_filtered] => [post_parent] => 3324 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=3471 [menu_order] => 35 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [277] => WP_Post Object ( [ID] => 3333 [post_author] => 3 [post_date] => 2020-06-18 11:10:14 [post_date_gmt] => 2020-06-18 09:10:14 [post_content] =>
Es sei nicht damit zu rechnen, dass unmittelbar ausreichend Impfstoff für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehe, schreibt die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der AfD-Fraktion. Daher werde es erforderlich sein, Bevölkerungsgruppen zu definieren, die von einer Impfung besonders profitieren würden, etwa vulnerable Personen oder medizinisches Personal. Die Ständige Impfkommission beim Robert-Koch-Institut sei beauftragt worden, ein „risikoorientiertes Priorisierungskonzept“ zu entwickeln.
[caption id="attachment_3428" align="alignnone" width="1200"]Unterdessen drückt Anja Karliczek bei der Entwicklung der Vakzine auf die Tube: „Wo wir beschleunigen können, wollen wir beschleunigen“, sagt die Bundesforschungsministerin bei der Vorstellung des „Sonderprogramms Impfstoffentwicklung und -herstellung“. Mehr Tempo bei der Erforschung eines Corona-Impfstoffes bedeutet: Die verschiedenen Phasen der klinischen Studien werden teilweise nicht wie bisher nacheinander durchgeführt, sondern gekoppelt. Dadurch wird der erfolgversprechende Impfstoffkandidat schneller an vielen Freiwilligen getestet, wovon sich die Forscher wichtige Erkenntnisse erhoffen. Die Regierung will kein Bremsklotz sein. „Wir wollen größere Probandenzahlen ermöglichen“, sagt Karliczek. Früher als gewöhnlich sollen beispielsweise Gesundheitspersonal oder Risikogruppen in die Studien eingeschlossen werden –„natürlich auf freiwilliger Basis“, wie die Ministerin betont.
Angesichts der beschleunigten Zulassungsverfahren fordern Wissenschaftler des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Cochrane Collaboration, dass alle klinischen Studienberichte zu Covid-19-Arzneimitteln und -Impfstoffen mit dem Tag der Marktzulassung veröffentlicht werden. In einem Brief an die Europäische Arzneimittelagentur heißt es, dass rasche und vollständige Verfügbarkeit der Informationen wichtig sei, „um diese Präparate weiter zu bewerten und die Entwicklung weiterer Wirkstoffe zu beschleunigen“.
Für die Impfstoffentwicklung und Herstellung stellt der Bund mit dem Sonderprogramm 750 Millionen Euro zur Verfügung. Bis zu 500 Millionen Euro aus dem Haushalt können von Entwicklern für die Ausweitung der Studienkapazitäten abgerufen werden. Der Rest ist für die Schaffung der dafür nötigen Herstellungskapazitäten reserviert. Mit dem Geld können etwa Ausgangsmaterialien für die Impfstoffe rechtzeitig beschafft oder Abfüll-Verträge mit Dienstleistern frühzeitig geschlossen werden. Laut Karliczek ergänzt das nationale Sonderprogramm die internationalen Anstrengungen Deutschlands bei der Entwicklung eines Impfstoffes. Auf der sogenannten Geberkonferenz der EU Anfang April hat die Bundesregierung zugesagt, 525 Millionen Euro bereitzustellen.
Weiterführender Link
Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der AfD: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/190/1919097.pdf
Der Medizinbetrieb werde immer mehr durch ökonomische Rahmenbedingungen gesteuert, das Patientenwohl drohe damit unter die Räder zu geraten, wird in dem Papier konstatiert. Garant dafür, dass Patienten möglichst unabhängig von ökonomischen Einflüssen behandelt werden, sei die freie Berufsausübung des Arztes. Freie Berufe, wird ausgeführt, unterliegen einer grundsätzlichen Bindung an das Gemeinwohl.
Die Autoren stellen klar: „Auch der angestellte Arzt im Krankenhaus ist freiberuflich tätig und hat sich konsequent an seine Berufsordnung zu halten.“ Tatsächlich aber sei der freie Beruf durch die wirtschaftliche Abhängigkeit zum Arbeitgeber Krankenhaus infrage gestellt worden – unter anderem durch das „Abdingen des Rechts auf direkte eigenverantwortliche Liquidation beim Patienten an den Träger des Krankenhauses“. Früher seien auch leitende Ärzte unabhängiger gewesen, weil sie durch persönliche Ermächtigungen bei der vertragsärztlichen Versorgung beteiligt oder ambulant oder stationär privatärztlich tätig waren.
Die Ärzteverbände fordern, das Prinzip des freien Berufs zu stärken, indem der Krankenhausarzt in seiner medizinischen Indikationsstellung, der Wahl der Therapie, aber auch wirtschaftlich wieder unabhängiger vom Klinikträger wird. Konkretisiert wird nur Letzteres: Bis hinein in die Berufsordnung sei zu regeln, „dass die rechtlichen Grundlagen für die beschriebenen Nebeneinnahmen nicht mehr vertraglich abgedungen werden dürfen, wenn diese Leistungen höchstpersönlich erbracht werden müssen“.
Weiterführender Link
Memorandum zum freiem Beruf Arzt „im Konflikt von Medizin und Ökonomie“: https://www.spifa.de/memorandum-medizin-okonomie/
Deutsche Kliniken haben beobachtet, dass Patienten und Patientinnen erst in sehr fortgeschrittenen Tumorstadien zu ihnen kommen und die Zahl der in Tumorkonferenzen vorgestellten Personen mit frühen Tumorstadien sinkt. Eine vollständige Auswertung zur Anzahl von Krebspatienten in Kliniken und Praxen liegt aber bis Redaktionsschluss noch nicht vor. Dennoch beobachtet die DGHO, dass die Zahl der in frühen Stadien diagnostizierten Tumoren wie Darm- oder Brustkrebs zurückgehe. Bei diesen Krankheitsbildern werde die Erstdiagnose häufig im Rahmen der Früherkennung gestellt. „Diese Screening-Untersuchungen haben nicht stattgefunden, entsprechend ist mit einer Welle von Neudiagnosen im Sommer und Herbst dieses Jahres zu rechnen“, warnen die Onkologen. Auch die Zahl der in Tumorkonferenzen vorgestellten Patienten sei im April deutlich gesunken, in einzelnen Institutionen um 30 bis 50 Prozent.
[caption id="attachment_3423" align="aligncenter" width="1200"]Ähnlich äußert sich im Mai die Corona Task Force von Deutscher Krebshilfe, Deutscher Krebsgesellschaft und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Sie befürchtet, dass dem Gesundheitssystem eine erhöhte Anzahl zu spät erkannter Krebserkrankungen infolge der Covid-19-Pandemie bevorsteht und mahnt deshalb einen Rückgang zur normalen Krebsversorgung an. „Wenn wir die Bugwelle an ausstehenden dringlichen Untersuchungen und aufgeschobenen Behandlungen weiterhin vor uns herschieben, dann müssen wir auch in Deutschland mit einer steigenden Zahl von krebsbedingten Todesfällen rechnen“, sagt der DKFZ-Vorstandsvorsitzende Prof. Michael Baumann.
Bereits Anfang April hatte die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin befürchtet, dass aufgrund der Corona-Pandemie unbehandelte Beschwerden zu vermehrten Todesfällen, den „stillen Opfern“ der Krise, führen könnten. Im gleichen Monat schlug der Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland Alarm. Angesichts einer Umfrage ging er davon aus, dass bis zu 7.000 Patienten mit schweren chronischen Schmerzen aufgrund der Einschränkungen durch die Covid-19-Krise nicht mehr in Krankenhäusern versorgt werden.
[post_title] => Die stillen Opfer von Covid-19 [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => die-stillen-opfer-von-covid-19 [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2020-09-04 15:34:03 [post_modified_gmt] => 2020-09-04 13:34:03 [post_content_filtered] => [post_parent] => 3324 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=3337 [menu_order] => 60 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [280] => WP_Post Object ( [ID] => 3339 [post_author] => 3 [post_date] => 2020-06-18 11:10:35 [post_date_gmt] => 2020-06-18 09:10:35 [post_content] =>Zwar verspricht Künstliche Intelligenz in der Medizin große Verbesserungen bei Prävention, frühzeitiger Diagnostik und patientengerechter Therapie. Aber intelligente und selbstlernende Systeme stellen an das Gesundheitswesen hohe Anforderungen, etwa an die IT-Sicherheit. Zu den Risiken zählen: fehlerhafte oder bewusst verfälschte Trainingsdaten, Angriffe auf die KI-Software, Verletzungen der Privatsphäre der Patientinnen und Patienten sowie Angriffe auf KI-Datenbanken und die fehlende Integration in die klinische Praxis.
In dem Papier identifizieren die Experten entlang des Anwendungsszenarios „Mit KI gegen Krebs” technische und organisatorische Bedingungen, die für den Einsatz von KI-Assistenzsystemen in der Medizin notwendig sind. „Wir wollen den Rahmen für ein Lernendes System abstecken, bei dem die beim Hausarzt, beim Facharzt oder in den Krankenhäusern vorhandenen Diagnosedaten von Patientinnen und Patienten allen behandelnden Ärztinnen und Ärzten gleichermaßen zur Verfügung gestellt werden können“, erläutert Mitautor Thomas Schauf von der Deutschen Telekom. Stichwort Zugriffsrechte: „Der Patient als Souverän muss immer der Letztentscheider sein“, erläutert Schauf. Dem Hausarzt komme wiederum eine zentrale Rolle bei der Beratung des Patienten im Umgang mit seinen Daten zu. Er berate zukünftig nicht mehr nur medizinisch, sondern auch zunehmend in technologischen Aspekten. „Dies erfordert neue Kompetenzen, die Ärztinnen und Ärzte erwerben müssen“, meint der Experte.
In Richtung Gesetzgeber formulieren die Autoren zahlreiche regulatorische Gestaltungserfordernisse. Zum Beispiel: Gemeinsam mit betroffenen Stakeholdern sollte er Leitlinien sowie Prüfvorschriften für und Anforderungen an einen Zulassungsprozess und damit verbunden eine Zertifizierung der KI-Systeme erarbeiten. Außerdem sei eine Kennzeichnungspflicht der eingesetzten KI-Algorithmen einzuführen, die deren Eigenschaften und Zulassung für bestimmte Anwendungsgebiete transparent macht. Ein interdisziplinäres Expertengremium sollte in regelmäßigen Abständen die Funktionsweise der KI-Systeme überprüfen. Vorgeschlagen wird, dieses Komitee beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einzurichten. Als ausgebende Stellen der elektronischen Gesundheitskarte und des Heilberufsausweises sollten die Krankenkassen Sperrlisten führen, um einen unautorisierten Zugriff auf Daten zu verhindern, heißt es. Nicht zuletzt nennt die Publikation auch gesellschaftliche Fragen, die bei KI-Systemen in der Medizin zu diskutieren sind. Eine davon lautet: „Unter welchen Umständen und bis zu welcher Höhe sind wir bereit, als Gesellschaft ‚Fehlerquoten‘ zu akzeptieren, wenn auf der anderen Seite hoher medizinischer Nutzen geschaffen werden kann?“
Weiterführender Link
Zum Whitepaper „Sichere KI-Systeme für die Medizin – Datenmanagement und IT-Sicherheit in der Krebsbehandlung der Zukunft“
https://www.plattform-lernende-systeme.de/files/Downloads/Publikationen/AG3_6_Whitepaper_07042020.pdf
Die Krankenkassenverbände im Südwesten bescheinigen dem Register, die Kriterien erfüllt zu haben, teilt das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) mit, neben der Landeskrankenhausgesellschaft und der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg einer der Träger des Verzeichnisses.
Und so funktioniert es laut DKFZ: Die Ärzte melden die Angaben zu Diagnose, Behandlung und Verlauf von Krebserkrankungen in verschlüsselter Form an die Vertrauensstelle bei der Deutschen Rentenversicherung. Diese vergibt eindeutige Fallnummern, entfernt den Personenbezug und leitet die Daten an die Klinische Landesregisterstelle (KLR) bei der Landeskrankenhausgesellschaft weiter. Die an die KLR angeschlossene Geschäftsstelle Qualitätskonferenzen analysiert die regionale und einrichtungsbezogene Versorgungsqualität und bewertet diese Ergebnisse im Hinblick auf eine weitere Verbesserung der onkologischen Versorgung. Das Epidemiologische Krebsregister am DKFZ untersucht die Daten in Bezug auf Krebserkrankungen, führt klinisch-epidemiologische Forschung durch und kann die anonymisierten Daten der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Das Register soll auch die Rückkopplung zu den meldenden Ärzten gewährleisten.
[caption id="attachment_3409" align="alignleft" width="800"]Nicht nur im Ländle scheint man die notwendige Vorarbeit geleistet zu haben. „Alle Krebsregister in Deutschland in allen Bundesländern sind erfolgreich aufgebaut und erfüllen zu über 90 Prozent bereits jetzt alle Förderkriterien“, teilt Prof. Monika Klinkhammer-Schalke auf Anfrage der Presseagentur Gesundheit mit. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren und Krebsregisterexpertin. Laut GKV-Spitzenverband läuft derzeit die Auswertung der Prüfung der Förderkriterien. Ein Gutachten werde voraussichtlich Ende August veröffentlicht.
[post_title] => „Alle Krebsregister sind erfolgreich aufgebaut“ [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => alle-krebsregister-sind-erfolgreich-aufgebaut [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2020-09-04 15:29:12 [post_modified_gmt] => 2020-09-04 13:29:12 [post_content_filtered] => [post_parent] => 3324 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=3341 [menu_order] => 80 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [282] => WP_Post Object ( [ID] => 3343 [post_author] => 3 [post_date] => 2020-06-18 11:10:50 [post_date_gmt] => 2020-06-18 09:10:50 [post_content] =>Das IQTIG soll die Auswirkungen verschiedener Mindestmengenhöhen darlegen beziehungsweise die Folgen abschätzen. „Die Darstellung soll zeigen, wie viele Krankenhausstandorte bei verschiedenen Mindestmengenhöhen von der Versorgung ausgeschlossen werden“, heißt es in dem Beschluss. Dem G-BA geht es um die Umverteilung der betreffenden Patienten auf die restlichen Kliniken und die veränderten Entfernungen und Fahrtzeiten. Der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken fragt bei der Sitzung, ob die Datenanalysen Auswirkungen auf das Ziel haben, in diesem Jahr drei bis vier Mindestmengenverfahren erfolgreich zum Abschluss zu bringen – wie Ende 2019 vereinbart. „Mir geht es darum, dass der Beschluss des Plenums nicht aus dem Auge verloren wird.“ „Ich gehe davon aus, dass wir die vereinbarten drei, hoffentlich auch vier Mindestmengenentscheidungen schaffen können“, antwortet Prof. Elisabeth Pott, Vorsitzende des Unterausschusses Qualitätssicherung. IQTIG-Leiter Dr. Christof Veit kündigt bis Ende Juni Gutachten und Vorschlag zu Mindestmengen bei sehr kleinen Frühgeborenen an.
[caption id="attachment_3404" align="aligncenter" width="1200"]Inzwischen hat das IQWiG von den insgesamt acht Mindestmengen-Aufträgen des G-BA den fünften und sechsten abgearbeitet. Danach gibt es bei komplexen Eingriffen am Organsystem Ösophagus einen positiven Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge und der Qualität des Behandlungsergebnisses: In Krankenhäusern mit höheren Fallzahlen seien die Überlebenschancen für die operierten Patientinnen und Patienten insgesamt größer. Zudem kommt es dort seltener zu Komplikationen, schreibt das IQWiG. Die Wissenschaftler sehen auch bei Nierentransplantationen einen Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge und der Qualität des Behandlungsergebnisses. In Kliniken mit größeren Fallzahlen seien die Überlebenschancen bis zu ein Jahr nach Transplantation größer. Für die Zielgröße Transplantatversagen lasse sich kein Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Behandlungsqualität ableiten.
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie, die Deutsche Transplantationsgesellschaft und der Bundesverband Niere kritisieren die Einführung der Mindestmengen in der Transplantationsmedizin als „Schritt in Richtung Zwangsökonomisierung“. Die nötige wissenschaftliche Evidenz dafür fehle nach wie vor. Die Fachgesellschaften monieren, dass Studien aus den USA mit nicht vergleichbaren Rahmenbedingungen bei der IQWiG-Analyse berücksichtigt worden seien, neue deutsche Daten jedoch außen vor blieben. „Wir plädieren dafür, erst einmal das 2016 vom Bundestag beschlossene Transplantationsregister umzusetzen und Daten zu erheben, bevor politische Entscheidungen ohne valide Basis getroffen werden“, sagt Prof. Christian Hugo, Generalsekretär der Deutschen Transplantationsgesellschaft.
Der Geist von Alma-Ata, wo die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1978 konferierte mit dem Ergebnis, eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik zu verfolgen, hat sich schlagartig in Realpolitik verwandelt. In Pandemie-Zeiten wird alles dem Thema Gesundheit untergeordnet. „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“, soll Arthur Schopenhauer gesagt haben. Diese bittere kollektive Erfahrung machen gerade alle Gesellschaften und Volkswirtschaften durch. Aussprüche wie „Es wird nichts mehr so sein, wie es einmal war“ lassen erahnen, dass diese durch ein Virus ausgelöste globale Krise noch lange im kollektiven Gedächtnis haften bleiben wird. Ob Gesundheit dauerhaft auch in allen politischen Entscheidungsfindungen der verschiedenen Sektoren verstärkt mitgedacht werden wird, ist noch lange nicht ausgemacht. Jedenfalls dürfte das Konzept einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik weltweit eine höhere Aufmerksamkeit erfahren.
In einem Interview am 22. Oktober 2019 zur Eröffnung des World Health Summit in Berlin nennt dessen Gründer, Prof. Detlev Ganten, als eines von drei Hauptproblemen für die globale Gesundheit die Infektionskrankheiten. Sie machten „nicht an nationalen Grenzen halt und verbreiten sich zunehmend über die immer mobilere Weltbevölkerung. Wir brauchen dringend gute Infrastrukturen und Frühwarnsysteme“. Auf die Frage, was seine Forderung an die Politik sei, meint Ganten: „All diese Probleme sind global und können nicht länger als nationale Einzelprobleme diskutiert werden. Wir können sie nur gemeinsam, multilateral lösen.“ Die internationale Politik müsse das endlich erkennen – das gelte vor allem für Gesundheitspolitik. Gesundheit müsse global gedacht werden, so Ganten weiter, die Zeit nationaler Alleingänge sei endgültig vorbei. „Und Gesundheit muss in alle Politikbereiche – das Konzept „Health in all Policies“ muss endlich umgesetzt werden.“
Es bleibt abzuwarten, ob die Verantwortlichen die richtigen Schlüsse aus der Corona-Pandemie ziehen und Handlungen in Gang setzen werden.
Derzeit wird in der öffentlichen Debatte über eine Exit-Strategie aus den bestehenden Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren diskutiert. Was ist davon aus juristischer Sicht zu halten?
Prof. Thorsten Kingreen: Zunächst einmal muss man sagen, dass diese Maßnahmen zwar erhebliche Grundrechtseingriffe beinhalten, aber doch einen grundsätzlich legitimen Zweck verfolgen. Man muss daher aufpassen, dass die Diskussion über Exit-Strategien nicht in das Fahrwasser der Verharmloser der dramatischen Situation gerät. Aber wegen des erheblichen Eingriffs bestehen hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Je länger die Einschränkungen dauern, desto höher sind daher die Anforderungen an ihre Rechtfertigung und desto mehr müssen wir danach differenzieren, wer besonders schutzbedürftig ist und umgekehrt, wer besonders darauf angewiesen ist, dass diese Beschränkungen alsbald gelockert werden. Das sind Entscheidungen, die wir vor allem, aber nicht nur auf der Grundlage der Erkenntnisse der Virologie und der Epidemiologie treffen müssen.
[caption id="attachment_3232" align="aligncenter" width="1200"]
Aber liegt in Differenzierungen nach der Schutzbedürftigkeit nicht die Gefahr von Diskriminierungen?
Kingreen: In der Tat ist es, abgesehen von den praktischen Abgrenzungsproblemen, politisch heikel, vulnerablen Gruppen pauschal weitere rechtliche Beschränkungen aufzuerlegen, während man sie für alle anderen pauschal lockert. Wenn es aber richtig ist, dass vor allem ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen Intensivbetten benötigen, dann sollte man daraus auch Konsequenzen ziehen. Differenzierungen sind dann auch rechtlich keine Diskriminierung wegen des Alters, weil ja nach Schutzbedürftigkeit unterschieden wird. Das machen wir ja auch jetzt schon, etwa mit den Sonderregelungen für Pflegeheime. Von rechtlichem Zwang würde ich abraten, aber man könnte zumindest mehr als bislang mit Empfehlungen und Hilfen arbeiten, übrigens auch gegen Einsamkeit. Virologen mögen beurteilen, wie sinnvoll es ist, alten Menschen auf der einen Seite den gemeinsamen Spaziergang mit Abstand im Park zu verbieten, sie aber auf der anderen Seite mit der Virenschleuder Bargeld in der Hand im vollen Supermarkt einkaufen zu lassen. Umgekehrt möchte ich Abiturienten bald wieder in der Schule und Frauenhäuser bald wieder im Normalbetrieb sehen. Wir erleben ja gerade überall die Entzauberung der digitalisierten Kommunikation – Menschen sind Gemeinschaftswesen.
Vergangene Woche hat der Bundestag in einem beispiellosen Schnellverfahren eine Reform des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Was ist davon zu halten?
Kingreen: Diese Reform hat mich eigentlich am meisten erschüttert. Auf der einen Seite wurde das Problem der unzureichenden Ermächtigungsgrundlagen für Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote nur halbherzig angegangen. Auf der anderen Seite hat man mit dem Paragraph 5 des Infektionsschutzgesetzes einen wirklichen Dammbruch produziert, der erschütternd wenig Aufregung erzeugt hat. Nach Ausrufung einer pandemischen Lage durch die Bundesregierung, für die anfangs noch nicht einmal die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat notwendig sein sollte, liegen alle weiteren Entscheidungsbefugnisse in der Hand des Bundesgesundheitsministers, der zu einer Art Verteidigungsminister im Pandemiefall wird. Das ist eine verfassungsrechtlich fragwürdige Zentralisierung, weil es keine Norm gibt, die eine Ausnahme von dem Grundsatz vorsieht, dass die Bundesgesetze durch die Länder durchgeführt werden müssen. Am schlimmsten ist es aber, dass durch Rechtsverordnung des Ministeriums von allen Vorschriften nicht nur des Infektionsschutzgesetzes, sondern auch anderen Gesundheitsgesetzen abgewichen werden darf. Ein solches Notverordnungsrecht, das Parlamentsgesetze einfach suspendieren darf, schließt das Grundgesetz aus wohlerwogenen historischen Gründen aus. Dass es kaum Widerstand gegeben hat, liegt wohl auch an der voluminösen Rhetorik des Ausnahmezustands. Davon müssen wir schleunigst wieder runterkommen und alle Akteure im Gesundheitswesen sind aufgerufen, auf eine umgehende Änderung dieser Bestimmung zu drängen, die nicht in falsche Hände geraten darf.
Zur Person:
Prof. Thorsten Kingreen ist seit 2003 Universitätsprofessor an der Universität Regensburg. Dort hat er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht inne. Kingreen ist Mitglied in Schiedsämtern, Schlichtungsauschüssen und diversen Beiräten; von 2018 bis 2019 war er Mitglied in der Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem beim Bundesministerium für Gesundheit.
Sind Ärzte auf Triage-Entscheidungen vorbereitet?
Dr. Michael de Ridder: Triage-Entscheidungen zu treffen erfordert erfahrene Fachärzte, das heißt Internisten und Chirurgen mit breiter rettungsmedizinischer und intensivmedizinischer Ausbildung und Praxis; auch Pflegekräfte sind unbedingt hinzuzuziehen – nur so können rasch medizinisch und ethisch vertretbare Behandlungsentscheidungen getroffen werden. Transparenz gegenüber Patienten, Angehörigen und eventuell juristischen Vertretern ist zudem unabdingbar. Wir dürfen davon ausgehen, dass an deutschen Krankenhäusern kompetente Notfallmediziner in ausreichender Zahl vorhanden sind.
Wie bewerten Sie die aktuellen klinisch-ethischen Empfehlungen diverser deutscher intensiv- und notfallmedizinischer Fachgesellschaften zur Zuteilung von Ressourcen?
de Ridder: Denen schließe ich mich weitestgehend an. Grundsätzlich gilt: Jede Behandlungsentscheidung hat sich am Bedarf des einzelnen Patienten zu orientieren, das heißt, ihr ist eine medizinische und individualethische Beurteilung des Krankheitszustandes des Patienten zugrunde zu legen. Mit anderen Worten: Zwei Menschenleben sind nicht wertvoller als ein einzelnes, und das Leben eines 20-Jährigen ist nicht wertvoller als das eines 60-Jährigen.
Dieses Prinzip wird in Italien offenbar nicht verfolgt.
de Ridder: Die italienischen Fachgesellschaften haben Empfehlungen herausgegeben, die bei Nichtvorhandensein ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen als Kriterium nicht die individuelle medizinische Behandlungsbedürftigkeit zugrunde legen, sondern das Kriterium der Maximierung der Jahre geretteten Lebens. Das bedeutet: Der 70-jährige beatmungspflichtige Corona-Patient zieht wegen seiner geringeren Lebenserwartung gegenüber dem 30-jährigen per se den Kürzeren! Dieses Vorgehen halte ich für unethisch und damit nicht vertretbar.
Sie haben in der Vergangenheit nicht mit Kritik am Medizinbetrieb gespart. Wird dieser dem Stresstest durch Corona standhalten?
de Ridder: Auch wenn unser Gesundheitssystem – gemessen an den Kriterien Leistungsfähigkeit und Verteilungsgerechtigkeit – als das beste der Welt gelten darf, wird es diesen Stresstest nur bestehen können, wenn zugleich die unserer Gesellschaft jetzt empfohlenen und verordneten Präventionsmaßnahmen strikt befolgt werden. Die so oft zitierten Begriffe „Solidargesellschaft“ und „Solidarisches Gesundheitssystem“, die im internationalen Vergleich so oft zur Charakterisierung unserer Gesellschaft herangezogen werden, müssen sich nun beweisen, sollen sie nicht zu einer Worthülse verkommen.
Wie sieht es mit den materiellen Ressourcen aus?
de Ridder: Wir verfügen aktuell über 28.000 Intensivbetten und 25.000 Beatmungsplätze und sind damit bestens aufgestellt. Das Nadelöhr bei der derzeitigen intensivmedizinischen Versorgung stellen indes die 4.800 fehlenden Intensivschwestern und -pfleger dar! Wichtig ist dabei: Höchste Priorität bei allen dem Infektionsschutz geltenden Maßnahmen muss den Pflegekräften sowie den Ärzten und Ärztinnen gelten, denn sie sind unsere derzeit wichtigste Ressource. Ohne ihre Arbeitsfähigkeit wird unsere Krankenversorgung zusammenbrechen.
Sind Sie optimistisch, dass die Verantwortlichen in Politik und System aus dieser Krise die richtigen Lehren ziehen werden?
de Ridder: Optimismus? Zu früh. Hoffnung? Ja. In diesen Corona-Zeiten ist oft von „Systemrelevanz“ die Rede und davon, was oder wer systemrelevant ist. Dass auch Kranken- und Altenpflegekräfte sowie Supermarktkassierer und -kassiererinnen tatsächlich systemrelevant sind, sollte nun allen, insbesondere Politikern, klar geworden sein. Selbiges immer aufs Neue rhetorisch zu benennen, ja, wie kürzlich im Bundestag und auf den Balkonen der Großstädte mit Beifall zu würdigen, ist eine schöne Geste – nicht mehr und nicht weniger. Anerkennung muss von Dauer sein und muss sich auch materiell widerspiegeln: Also hoffe ich kurzfristig auf ein kräftiges Gehalts- bzw. Lohnplus für diese Berufsgruppen. Über die Medizin hinaus birgt Corona für mich eine weitere Aufforderung.
Welche?
de Ridder: Über die Priorisierung persönlicher und gesellschaftliche Werte und Desiderate, Komponenten von dem, was wir Lebenszufriedenheit nennen, neu nachzudenken: zur Besinnung kommen und im Interesse aller nach einer neuen, besseren Ordnung suchen – Triage eben. Eine gewaltige Herausforderung. Corona kann vielleicht zu einem Impulsgeber werden; sie anzunehmen und nach neuen Antworten auf vermeintlich alte Fragen zu suchen wäre schon ein großer Gewinn, und die Corona-Erfahrung wäre, wenn das Virus irgendwann seine Macht verloren haben sollte, nicht folgenlos verpufft.
[caption id="attachment_3237" align="aligncenter" width="1200"]Ersteinschätzung, Triage und das Manchester-Triage-System
Strukturierte Triage-Instrumente werden außer im Katastrophenfall auch in der regulären Medizin in Notaufnahmen eingesetzt, hier auch als Ersteinschätzung bezeichnet. Obwohl die Ersteinschätzung eigentlich als Spezialfall der Triage angesehen werden könnte, unterscheidet sie sich von ihr in einem wesentlichen Punkt: Im außerklinischen Bereich gilt es, die lokal oder temporal limitiert verfügbaren Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, d. h. das Ziel möglichst vieler Überlebender zu erreichen. Im klinischen Bereich ist die Grundannahme aber, dass ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle Patienten optimal zu behandeln. Dadurch gibt es keinen Konflikt zwischen individuellem und Gesamtnutzen. In deutschsprachigen Notaufnahmen hat sich das Manchester-Triage-System durchgesetzt, das symptombasierte, schnelle, verlässliche und reproduzierbare Entscheidungen nach einem Punktesystem ermöglicht. Durch die strukturierte Vorgehensweise ist zu erwarten, dass schwer erkrankte Notfallpatienten zeitnah erkannt werden und umgehend die notwendige Diagnostik und Therapie erhalten.
Zur Person
Dr. Michael de Ridder war viele Jahre im ärztlichen Beruf tätig. Zuletzt arbeitete er als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses und als Geschäftsführer des von ihm mitbegründeten Vivantes Hospiz. Als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin befasst er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin, ein von ihm veröffentlichtes Buch trägt den Titel „Welche Medizin wollen wir?“
In der Corona-Krise gelten die Arztpraxen als erster Schutzwall. Die Frage ist: Wie lange hält er? Denn die Niedergelassenen sind mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert – speziell die Hausärztinnen und Hausärzte. Ihnen fehlt es an Schutzausrüstung. Das geht so weit, dass einige Praxen vorübergehend schließen müssen oder ihre Versorgung zurückfahren, weil die Sicherheit – das heißt der Schutz vor dem Virus – für Ärztinnen und Ärzte, Angestellte und Patientinnen und Patienten nicht mehr gewährleistet ist. Diese Praxen fehlen dann wiederum in der (Regel-)Versorgung, sodass andere stärker belastet werden. Es gleicht einem Teufelskreis. Hinzu kommt: Der Normalbetrieb muss am Leben gehalten werden – es gilt, auch Menschen ohne Covid-19-Symptome zu versorgen. In der jetzigen Situation fühlen sich nicht wenige Niedergelassene überrollt, vermissen Kollegialität, während andere gerade in dieser Zeit Solidarität wahrnehmen. Wir haben zwei Hausärztinnen mit unterschiedlichen Erfahrungen in der Corona-Krise befragt: Dr. Petra Reis-Berkowicz aus Bayern und Dr. Karin Harre aus Brandenburg.
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Die Hausärzte fühlen sich von der Coronawelle überrollt und teilweise von den KVen im Stich gelassen. Teilen Sie den Eindruck Ihrer Kollegen?
Dr. Petra Reis-Berkowicz: Keiner von uns hat je eine Pandemie dieses Ausmaßes erlebt – auf so etwas kann man sich kaum vorbereiten. In dieser Situation müssen wir alle – Ärzte, Körperschaften, Verbände, Politik und Patienten – so gut es geht zusammenarbeiten, manchmal auch improvisieren. Von gegenseitigen Schuldzuweisungen halte ich gar nichts, die bringen uns um keinen Deut weiter. Wir stehen alle miteinander vor einer großen Herausforderung und wir versuchen, die ambulante Patientenversorgung mit den uns gegebenen Strukturen des deutschen Gesundheitswesen nach bestem Wissen und Gewissen unter maximalem Einsatz sicherzustellen. Alle KVen geben im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Bestes.
Die Ressource Arzt wird knapp. Funktioniert die Arbeitsteilung zwischen Haus- und Fachärzten und darüber hinaus zwischen Niedergelassenen und Krankenhäusern?
Reis-Berkowicz: Die große Welle an schwer Erkrankten und damit die größte Belastungsprobe steht uns ja noch bevor. Bislang jedenfalls klappt die Zusammenarbeit sehr gut. Jeder versucht, seinen Bereich bestmöglich auszufüllen. Für uns Hausärzte bedeutet dies, unserer Funktion als Schutzwall der Kliniken nachzukommen: Durch sorgfältige Triagierung filtern wir die Patienten heraus, die eine stationäre Behandlung benötigen, und versorgen diejenigen ambulant, bei denen das nicht der Fall ist. Auf diese Weise entlasten wir die Kliniken, damit diese sich voll und ganz auf schwer und schwerst Erkrankte konzentrieren können – übrigens ein entscheidender Vorteil unseres sektoralen Gesundheitssystems, der in anderen Ländern nicht gegeben ist.
Statt der üblichen Grabenkämpfe erlebt das System bisher unbekannte Kooperationsformen – lässt sich das in die Zeit nach dem Krisenmodus hinüberretten?
Reis-Berkowicz: Ich denke, die Zeit der Grabenkämpfe haben wir längst hinter uns gelassen – schon lange, bevor Covid-19 Thema war. Das wird jetzt ganz deutlich, man spürt einen großen Zusammenhalt in der Ärzteschaft. Wir haben in den zurückliegenden Jahren über Sektoren und Fachbereiche hinweg zu einer konstruktiven Zusammenarbeit gefunden, und das zahlt sich jetzt aus. Welche Modi der Zusammenarbeit sich nun neu ergeben und ob sie sich auf Dauer bewähren und erhalten bleiben, wird man rückblickend sehen müssen. Jedenfalls werden das Virus, Covid-19 und die Erfahrungen aus dieser Krise in vielen Bereichen zu einem Umdenken führen. Wir alle werden aus der Krise anders herausgehen, als wir hineingegangen sind.
Zur Person:
Dr. Petra Reis-Berkowicz ist Vorsitzende der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Auch bei der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns hat die Hausärztin dieses Amt inne. Reis-Berkowicz ist zudem stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbandes.
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Die Hausärzte fühlen sich von der Coronawelle überrollt und teilweise von den KVen im Stich gelassen. Teilen Sie den Eindruck Ihrer Kollegen?
Dr. Karin Harre: Ja, wir fühlen uns überrollt. Die Kassenärztliche Vereinigung hat zumindest in Brandenburg aber schnell reagiert, auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat den Ernst der Lage eigentlich schnell erkannt. Das größte Problem war eher die fehlende Schutzausrüstung, dass da die zentrale Beschaffung nicht klappte. Wir in den Praxen haben schon im Februar keine Schutzmasken mehr bestellen können. Die Schul- und Kitaschließung hat die Arbeitsfähigkeit der Institutionen auch stark eingeschränkt. De facto musste sich jeder allein in seiner Praxis medizinisch informieren und die RKI-Seite war lange die einzige Informationsquelle. Die Fachgesellschaften haben etwas gebraucht.
Die Ressource Arzt wird knapp. Funktioniert die Arbeitsteilung zwischen Haus- und Fachärzten und darüber hinaus zwischen Niedergelassenen und Krankenhäusern?
Harre: Die Ressource Arzt wird ambulant eigentlich noch nicht knapp. Nur weil wir nicht genug Schutzausrüstungen haben, müssen sich einige raushalten. Zumal die Hälfte der Hausärzte in Brandenburg über 55 Jahre alt ist. Da beginnt schon die Risikogruppe. Die Zusammenarbeit ist nicht so gut – weder unter den Fachgruppen noch mit dem Krankenhaus. Alle kümmern sich erst mal um sich selbst. Ein großes Problem sind die unklaren Zuständigkeiten zwischen Gesundheitsämtern, Praxen und Krankenhäusern. Alle schieben es sich so ein bisschen hin und her.
Wie ließe sich die Zusammenarbeit besser organisieren?
Harre: Zusammenarbeit zu organisieren ist schwer, wenn man sich nicht treffen darf. Das geht am besten ganz lokal, mit Kollegen, mit denen man „per du“ ist, egal wo sie arbeiten. Und ganz nah im Ort mit Gemeindeverwaltung, Bürgergesellschaft und Feuerwehr. Meine FFP3-Masken erhielt ich beispielsweise zunächst von einem Patienten mit einer Handwerksfirma und dann nach einem Treffen beim Amtsdirektor von der Freiwilligen Feuerwehr. Jetzt näht uns eine Schneiderin im Ort Mundschutzmasken.
Zur Person:
Dr. Karin Harre ist niedergelassene Hausärztin aus Brandenburg. Sie ist seit 2017 Vorsitzende des Hausärzteverbandes Brandenburg. Die Allgemeinmedizinerin hat regelmäßig Studierende zum praktischen Teil des Studiums in ihrer Praxis.
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Ironie des Schicksals? Kaum ein Referat zum Thema Krankenhaus, das in jüngster Vergangenheit nicht die Überkapazitäten in Deutschland vor Augen geführt hätte. Der Vergleich mit Italien in Bezug auf Betten, Röntgen- und Beatmungsgeräte wurde regelmäßig ausgeschmückt. In der Krise profitieren wir hierzulande allerdings von den Kapazitäten. Sind die angedachten Reformen für Krankenhausstrukturen und Notfallversorgung jetzt perdu? Oder zeigt gerade die Krise, dass wir andere, flexiblere Konzepte benötigen? Noch ist sie in vollem Gang. Auf Dauer wird auch die Frage nach einer Balance zwischen öffentlicher Daseinsvorsorge und Privatisierung diskutiert werden. Der Ruf nach mehr Public Health ertönt in Krisensituationen laut. Überdauert er diese auch? Hier kommen einige Experten zu Wort, die unsere Fragen zur Lage beantworten: Allgemeinmediziner Prof. Ferdinand Gerlach und Gesundheitsökonom Prof. Jonas Schreyögg sind beide Mitglieder des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Nils Dehne vertritt die Position der kommunalen Großkrankenhäuser und Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, die der Kostenträger.
[caption id="attachment_3248" align="aligncenter" width="1200"]
Bislang waren Sie ein Verfechter des Bettensabbaus im stationären Sektor. Hand aufs Herz: Haben Sie Ihre Meinung geändert?
Prof. Ferdinand Gerlach: Nein. Dazu sehe ich überhaupt keinen Anlass. Man muss jetzt erst einmal gucken, wie die Krankenhausstrukturen ausgelastet werden. Zurzeit werden ja auch unnötige Operationen abgesagt. Das ist eine Forderung, die haben wir nicht nur in Krisenzeiten, sondern generell. Außerdem muss man sehen, wie sich die Krankenhäuser verhalten. Ich höre, dass einige Häuser Covid-19-Patienten abweisen und in die Maximalversorgungskliniken schicken. Das bedeutet, sie stehen für die Versorgung nicht zur Verfügung. Die Krankenhausgesellschaft wird wahrscheinlich sagen, dass man alle Kapazitäten erhalten und noch ausbauen muss. Es ist aber noch viel zu früh, das zu beurteilen.
Was brauchen wir?
[caption id="attachment_3252" align="alignright" width="1200"]Gerlach: Eine gestufte Strategie und einen Public-Health-Ansatz für die Versorgung der Patienten. Wir hören aus Italien, dass dort die Beschäftigten in den Krankenhäusern und die Sanitäter selbst die Super-Spreader für dieses Virus sind. 41 Prozent der Patienten haben sich erst im Krankenhaus angesteckt. Das bedeutet, wir brauchen eine gute Strategie, wie zum Beispiel Verdachtsfälle von anderen getrennt werden. Wir sehen auch – das höre ich von Kardiologen –, dass normale Herzpatienten schon jetzt vernachlässigt werden, weil die ganze Aufmerksamkeit auf die befürchtete Covid-19-Welle gerichtet wird. Alle diese Entwicklungen muss man auswerten und auch sehen, was hätte man besser ambulant machen können. Viele Patienten müssen nicht ins Krankenhaus. Gefragt sind unter Versorgungs- und Infektionsschutzaspekten durchdachte, kluge Konzepte. So könnten beispielsweise zahlreiche Patienten mit überall einsetzbaren Pulsoximetern, digitaler Überwachung von Vitalparametern und einfacher Sauerstoffversorgung wahrscheinlich besser zu Hause isoliert und versorgt werden – bevor sie sich in kontaminierten Krankenhäusern anstecken oder dort selbst zum Infektionsherd werden. Die Frage, wie viele Patienten überhaupt zwingend krankenhauspflichtig sind, muss noch ausgewertet werden. Die Zahlen, die wir kennen, sind häufig sehr oberflächlich und es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass wir bei der Interpretation diversen Trugschlüssen unterliegen.
Die Pandemie trifft uns gerade in Zeiten des Umbruchs im Krankenhauswesen. Auf der politischen Tagesordnung steht eine Notfallreform. Was könnte sich durch die Pandemie, die wir gerade erleben, ändern?
Gerlach: Das muss man abwarten. Dazu gibt es schon jetzt unterschiedliche Meinungen. Aber eines kann man ganz klar sagen: Die Grundidee, die den Sachverständigenrat bei seinen Empfehlungen geleitet hat, nämlich, dass wir eine bedarfsgerechte Steuerung brauchen, die bestätigt sich mehr denn je. Wir brauchen ein gemeinsames Notfall-Leitsystem aus einem Guss. Wir brauchen eine qualifizierte telefonische Ersteinschätzung, die Patienten in die richtige Versorgungsebene steuert.
Wie würde das funktionieren?
Gerlach: Es gibt digital unterstützte Ersteinschätzungshilfen. Wenn man bestehende Algorithmen auf den aktuellen Ausbruch anpasst, kann man 24/7 gezielt fragen, etwa nach Kontaktpersonen, Besuchen in oder aus Risikogebieten, Symptomen und vielem mehr. Dann könnte man mit einer bundesweit abgestimmten, durchdachten Strategie einheitlich die Patienten testen und in die jeweils am besten geeigneten Einrichtungen steuern. Das fehlt uns jetzt. Wir haben 250 verschiedene Rettungsleitstellen und mehrere Dutzend Leitstellen der Ärztlichen Bereitschaftsdienste. Bei einer einheitlichen Strategie würden wir weit weniger Druck und Chaos im System haben.
Im Zuge einer fortschreitenden Ambulantisierung benötigen wir definitiv weniger Betten. Wer entscheidet eigentlich darüber, wie viel Vorsorge wir uns für den Notfall leisten wollen?
Gerlach: Krankenhausplanung ist derzeit nahezu alleinige Ländersache. Doch faktisch können diese wegen diverser Besitzstands-wahrender Einschränkungen nicht wirklich durchgreifen. Wir haben in Deutschland einen sehr komplexen Prozess. Das ist auch der Grund, warum das hier noch nicht geklappt hat. Es gibt nicht den einen, der das entscheiden kann. Insbesondere kann das nicht der Bundesgesundheitsminister.
Wieviel Kapazitäten sollten wir für Notfälle wie diesen vorhalten?
Gerlach: Wenn wir einmal eine solche Jahrhundert-Krise haben, können und müssen wir nicht 99 Jahre lang die Ressourcen vorhalten. Wir sollten allerdings mit einer klugen Strategie in der Lage sein, innerhalb von vier Wochen das System hochzufahren. Darauf müssen wir vorbereitet sein.
Können wir im Gesundheitswesen nach dieser Pandemie zur Tagesordnung übergehen? Was benötigen wir?
Gerlach: Wir können auf keinen Fall zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen systematisch aus der Situation lernen und da gibt es sehr, sehr viel. Ich habe große Zweifel an der Validität der Daten, auf deren Basis wir jetzt extrem weitreichende Entscheidungen treffen. Dass das Virus sehr infektiös ist und sich daher schnell ausbreitet, ist keine Frage. Aber wie gefährlich es tatsächlich ist, auch wenn wir es ins Verhältnis setzen zu jährlich rund 30.000 Todesfällen durch Krankenhauskeime oder der Übersterblichkeit von 25.000 Influenzatoten vor zwei Jahren, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen sicher auch erkennen, dass der öffentliche Gesundheitsdienst an den allermeisten Standorten komplett überfordert war oder noch ist. Wir sehen Personalmangel, Unterausstattung und fehlende Konzepte. Wir haben das vielleicht größte Problem in Pflegeheimen. Hier leben die Hochrisikopatienten. Normalerweise müsste man genau dort den Einsatz der Mittel konzentrieren. Das alles müssen wir aufarbeiten und für die nächste Pandemie besser vorbereitet sein.
Was ist jetzt zu tun?
Gerlach: Wir brauchen eine Exit-Strategie. Wann kommen wir da wie raus? Dafür gibt es Vorschläge. Zum Beispiel die Strategie der zwei Geschwindigkeiten, die fragt, wann wollen wir die Einschränkungen wieder lockern und für wen? Es gibt risikoadaptierte Strategien, bei denen man sagt, wir schützen weiterhin, ggf. noch konsequenter die Hochrisikogruppen. Da müsste man vor allem zwischen jungen Menschen ohne Vorerkrankungen und älteren mit Vorerkrankungen unterscheiden. Außerdem brauchen wir dringend einen guten Antikörpertest, den wir noch nicht haben. Dann können wir die Immunisierten erkennen. Die vorhandenen Tests sind leider noch nicht treffsicher genug. Bei der Bedeutung und dem großen Einsatzgebiet können Sie davon ausgehen, dass mit höchster Intensität daran geforscht wird. Für die Exit-Strategie ist ein verlässlicher Test sehr wichtig.
Zur Person:
Prof. Ferdinand Gerlach ist Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Seit vielen Jahren ist er außerdem Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Der Facharzt für Allgemeinmedizin hat Public Health studiert und als niedergelassener Arzt in Bremen, Kiel und Frankfurt gearbeitet.
Mit Krankenhäusern und Betten ist Deutschland überversorgt, lautete die einhellige Analyse vor dem Ausbruch der Pandemie. Erscheint diese Erkenntnis gegenwärtig in einem anderen Licht?
Prof. Jonas Schreyögg: Generell ist klar, dass wir im internationalen Vergleich viel zu viele Fälle stationär behandeln, die ambulant behandelt werden könnten. Andere Länder sind in Sachen Ambulantisierung deutlich weiter. Dadurch haben wir nicht nur sehr viele nicht bedarfsnotwendige Krankenhäuser und Betten, sondern auch das Problem, dass das vorhandene pflegerische und medizinische Personal auf zu viele Krankenhäuser verteilt wird. Diese generelle strukturelle Problematik kommt auch in der aktuellen Krise zum Ausdruck.
Inwiefern?
Schreyögg: Von den 1.600 allgemeinen Krankenhäusern haben sich bisher 700 in das bundesweite Intensivregister eingetragen. Es wird sich zeigen, wie viele von diesen Krankenhäusern am Ende auch Patienten zur Beatmung aufnehmen können. Viele Krankenhäuser, die Beatmungskapazitäten haben, sagen, dass sie zu wenig Personal haben, denn das vorhandene Personal teilt sich eben in Deutschland auf ganz viele Kliniken auf – darunter viele Kliniken, die nicht für die Behandlung von Covid-19-Patienten ausgestattet sind. Hinzu kommt das Problem, dass im Intensivbereich ohnehin seit Jahren das Personal sehr knapp ist und viele Stellen nicht besetzt werden können.
Generell gefragt: Wie viele Ressourcen sollte sich eine Gesellschaft für den Ernstfall im Gesundheitswesen leisten? Den Begriff Vorhaltekosten für Intensivmedizin kennt man ja vor allem von den Unikliniken.
Schreyögg: In der aktuellen Krise hat die Gesundheitspolitik das beste aus der Situation gemacht. Man sollte aber tatsächlich für künftige Krisen im Hintergrund Ressourcen bereithalten, die dann innerhalb kürzester Zeit aktiviert werden können. Hierfür müssen nicht mehr Intensivbetten vorgehalten werden, aber es erscheint sinnvoll, eine substanzielle Menge an Beatmungsgeräten und Schutzmaterial zu bevorraten. Insgesamt hat uns aber diese Krise zu einer ungünstigen Zeit getroffen. Wir waren in Deutschland gerade dabei, im Krankenhaus und generell im Gesundheitswesen viele überfällige Strukturreformen anzugehen, darunter eine Umwandlung nicht bedarfsnotwendiger Krankenhäuser, eine Verbesserung der Personalsituation in bedarfsnotwendigen Krankenhäusern, eine Reform der sektorenübergreifenden Vergütung und vor allem die Implementierung der Digitalisierung im Gesundheitswesen. In fünf bis zehn Jahren hätte uns diese Krise in dieser Hinsicht mit geeigneteren Strukturen getroffen und weniger Rüstkosten für eine kurzfristige Vorbereitung erfordert. Daher hat uns diese Krise aufgezeigt, wie wichtig ein konsequentes Vorantreiben der Strukturreformen ist.
Für wie belastbar halten Sie das unbegrenzte Liquiditätsversprechen von Bund und GKV für die Krankenhäuser?
Schreyögg: Ich halte dieses Versprechen für sehr belastbar, denn niemand wird in der aktuellen Krise einen Konkurs eines bedarfsnotwendigen Krankenhauses in Kauf nehmen. Vielmehr erscheint es mir wichtig, dass vor allem solche Krankenhäuser von den Finanzierungspaketen profitieren, die auch im Kern zur Bewältigung der Krise beitragen. Dabei stehen natürlich die Universitätsklinken und Maximalversorger im Zentrum des Geschehens. Dort hat man in der Regel am meisten Expertise, um auch Covid-19 Patienten mit schweren Verläufen zu behandeln.
Zur Person
Prof. Jonas Schreyögg ist seit 2011 wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg. Er ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und im Aufsichtsrat des Universitätsklinikums Greifswald. Von 2015 bis 2017 arbeitete er in der Expertenkommission „Pflegepersonal im Krankenhaus“ beim Bundesministerium für Gesundheit.
Vertrauen Sie auf den Blankoscheck der GKV in Sachen Liquidität?
Nils Dehne: Das nun beschlossene Maßnahmenpaket ist für uns ein wichtiges Zeichen für eine kurzfristige Liquiditätssicherung in den Krankenhäusern. Jeder muss wissen, dass diese Maßnahmen je nach aktueller Lage in den einzelnen Häusern nicht ausreichen, um der jeweiligen Situation vor Ort gerecht zu werden. Niemand kann derzeit abschätzen, welche organisatorischen, medizinischen und finanziellen Herausforderungen in den nächsten Wochen noch auf die Krankenhäuser zukommen. Daher ist in diesem Falle eine schnelle Einigung sehr zu begrüßen. Eine Absicherung der Krankenhäuser und ihres jeweiligen Einsatzes zur Bewältigung der Krise ist damit jedoch keineswegs verbunden. Wir vertrauen dabei auf die Vernunft aller Akteure im Gesundheitswesen, in dieser Situation auf Interessenpolitik zu verzichten und ein echtes Krisenmanagement sicherzustellen.
In der Krise sind die Sympathien der Bevölkerung auf der Seite der Krankenhäuser. Wie lange trägt das über die Krise hinaus?
Dehne: Die Unterstützung der Bevölkerung ist eine wertvolle Grundlage für die Arbeit der Krankenhäuser. Dazu gehört neben der öffentlichen Sympathiebekundung auch ein adäquates Verhalten der Patienten, der Besucher, der Risikogruppen und aller anderen Mitmenschen. Nur so können die wertvollen Ressourcen unserer Krankenhäuser richtig eingesetzt werden. Dieser Zusammenhang gilt grundsätzlich immer. Wir gehen davon aus, dass der Öffentlichkeit in einer solchen Krise durchaus bewusst wird, welche Institutionen welchen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten im Stande sind. Die AKG-Kliniken werden alles dafür tun, ihrer entsprechenden Verantwortung gerecht zu werden und damit auch die Grundlagen und Argumente für eine nachhaltige und strukturelle Wirkung der aktuellen Erkenntnisse zu schaffen.
Was sind Ihre größten Befürchtungen für die Zeit nach der Coronakrise, wenn der Normalbetrieb wieder aufgenommen wird?
Dehne: Mehr als jemals zuvor entstehen gute Konzepte, nachhaltige Lösungen und echte Mehrwerte heute nicht mehr am Schreibtisch hinter verschlossenen Türen. Gute Lösungen entwickeln sich durch Handlungsnotwendigkeiten, Verantwortungsübernahme und Eigeninitiative. Das zeigt die aktuelle Krise sehr anschaulich. Auf diesen Erkenntnissen müssen wir als Gesellschaft insgesamt und ganz besonders im Gesundheitswesen aufbauen. Die Zeit der Selbstverwaltung muss durch eine Zeit der Selbstgestaltung abgelöst werden. Die vielen guten Ansätze für eine regionale Abstimmung zwischen den Leistungserbringern in Sachen Aufgabenverteilung, Patientensteuerung und Netzwerkorganisation müssen erhalten und weiterentwickelt werden. Hierfür braucht es einen neuen konzeptionellen Rahmen.
Zur Person:
Nils Dehne ist Leiter der Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft Kommunaler Großkrankenhäuser in Berlin. Vorher hat der studierte Volkswirt das Gesundheitswesen durch seine Stationen im Marienhospital Stuttgart und bei der Deutschen Apotheker- und Ärztebank in Düsseldorf bereits aus vielfältigen Perspektiven erlebt. Die Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser ist ein Zusammenschluss von über 20 großen kommunalen Krankenhäusern aus ganz Deutschland.
Beim Segeln und auf hoher See heißt es: Not kennt kein Gebot. Gilt das gegenwärtig auch für die GKV?
Martin Litsch: Natürlich sind in dieser Krise von allen Beteiligten Schnelligkeit, Pragmatismus und Lösungsorientierung gefordert. Das bedeutet auch, dass das bisherige, teilweise hochkomplexe Regelwerk im Gesundheitswesen, so gut und sinnvoll es in normalen Zeiten ist, diesen Herausforderungen angepasst werden muss. Gerade geht es um eine größtmögliche Unterstützung für Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachkräfte, damit diese in der kritischen Lage weiter leistungsfähig bleiben. Und es geht um Kompensationen und Auffangnetze für Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Unternehmen, die sich mitunter von jetzt auf gleich in schwierigen Situationen wiederfinden. Aus meiner Sicht ziehen alle hier gerade an einem Strang. Milliardenschwere Finanzhilfen werden durch die Bundesregierung und die Abgeordneten in Windeseile organisiert, Fristen und Vorschriften gelockert oder ausgesetzt. Der Rettungsschirm wird also weit aufgespannt. Ich hoffe natürlich, dass die Stabilität der Sozialversicherungssysteme dabei nicht aus dem Blick gerät.
Jede Not hat irgendwann auch ein Ende. Ist dann wieder „business as usual“ angesagt oder bleiben dauerhafte Änderungen im System?
Litsch: Gerade ist viel die Rede davon, dass nach Corona nichts mehr so sein wird wie früher. Wir erfahren auf drastische Weise, wie wichtig ein starkes Gesundheitswesen ist und vor allem, wie wichtig die Menschen sind, die darin arbeiten. Wir werden aus diesem Extrem auch wieder zurückkehren in einen Normalbetrieb. Geschäfte und Schulen werden wieder öffnen, die Produktion wieder hochfahren, das Leben weitergehen. Aber der ökonomische und mentale Einschnitt ist jetzt schon gewaltig und noch ist offen, wie wir diese Erfahrungen umsetzen.
Und für das Gesundheitswesen?
Litsch: Für das Gesundheitswesen denke ich, dass das Ziel der größtmöglichen Effizienz hinterfragt wird. Und auch die Diskussion um die notwendige Modernisierung der deutschen Krankenhauslandschaft von nun an unter anderen Vorzeichen fortgeführt wird. All das ist angemessen mit Blick auf die Lage, in der wir uns derzeit befinden. Ich hoffe nur, dass wir nicht den Fehler machen werden, ausgeprägte Überkapazitäten mit guter Versorgungsqualität gleichzusetzen. Wie auch immer unser Weg aussehen wird, die finanziellen Ressourcen im Gesundheitswesen bleiben endlich. Dieser Rahmen gilt auch für den Normalbetrieb der Zukunft.
Wir fahren gerade das größte Modellprojekt für die Notfallversorgung. Können wir daraus Lehren für die geplante Gesetzgebung ziehen?
Litsch: Ich hätte auf dieses Modellprojekt gerne verzichtet, aber wo wir nun damit konfrontiert sind, werden wir nach der Krise natürlich auch unsere Erfahrungen nutzen. Inwiefern sich das bereits in der Gesetzgebung widerspiegeln wird, da möchte ich noch keine Prognose wagen. Sinnvoll wäre aber beispielsweise, dass wir die positive Dynamik der interprofessionellen und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten, Krankenhausärzten, medizinischen Fachkräften und Pflegefachkräften mitnehmen, die wir gerade erleben. Davon können wir dauerhaft profitieren.
Zur Person:
Seit 2016 ist Martin Litsch Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Er ist unter anderem verantwortlich für die Geschäftsführungseinheiten Versorgung, Politik/Unternehmensentwicklung und IT-Steuerung sowie für den Bereich Medizin. Vor seinem Wechsel zum Bundesverband war Litsch acht Jahre lang Vorstandsvorsitzender der AOK Nordwest.
Die bangen Fragen, die alle umtreiben: Werden die Intensivbetten ausreichen? Haben wir genügend Beatmungsgeräte? Und wie steht es mit den Ärztinnen und Ärzten sowie den Pflegekräften – können sie die steigenden Patientenzahlen bewältigen? Mit Blick auf die Bilder und Berichte aus Italien geht es außerdem um eine Frage, die bisher ein Tabu darstellt: Wer wird behandelt und wer nicht? Wer muss sterben?
In Italien ist es das Alter, das in dieser Krisensituation den Ausschlag gibt, ob ein Patient aufgegeben wird oder nicht. Für Ärzte stellt eine solche Entscheidung – zumal wenn sie ohne Unterstützung oder Richtschnur getroffen werden muss – eine unvorstellbare Belastung dar. Deshalb hat der Deutsche Ethikrat in seiner jüngst veröffentlichten Ad-hoc-Empfehlung ausdrücklich davor gewarnt, den einzelnen Ärzten die Verantwortung aufzubürden, in Situationen katastrophaler Knappheit über Leben und Tod zu entscheiden. Mehrere Fachgesellschaften haben sich inzwischen auf eine gemeinsame klinisch-ethische Empfehlung geeinigt: Die Priorisierung solle sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, sagen die Experten. Vorrangig werden dann diejenigen Patienten notfall- oder intensivmedizinisch behandelt, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben.
Nicht nur in der Intensivmedizin stehen Priorisierungsentscheidungen an. Auch die Verteilung eines hoffentlich in absehbarer Zeit zur Verfügung stehenden Impfstoffes wirft Verteilungsfragen auf. Offensichtlich ist, dass Ärzte und Pflegende zuerst geimpft werden sollen. Bei der exakten Definition der Risikogruppen und deren Rangfolge dürfte es schon schwieriger werden. Und ein Wettrennen der verschiedenen Staaten auf den Impfstoff muss vermieden werden. Die Donald-Trump-Maxime „America First“ darf nicht gelten. Auch Lotterien sind keine Lösung. Ganz grundsätzlich geht es darum, wie weit eine Gesellschaft bereit ist zu gehen, um die Zahl der Covid-19-Toten möglichst gering zu halten. „Nur wenig sind wir auf die Frage vorbereitet, welche Obergrenzen für monetäre, soziale und gesundheitliche Kosten wir bereit sind zu akzeptieren“, merkt der Medizinethiker Prof. Daniel Strech an.
Wir sollten diese Frage ernst nehmen.
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Der Ethikrat veröffentlicht eine Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Coronakrise“ am 27. März. Zwei Tage zuvor werden klinisch-ethische Empfehlungen für „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der Covid-19-Pandemie“ publiziert. Darauf verständigt haben sich sechs medizinische Fachgesellschaften mit der Akademie für Ethik in der Medizin. Die Akademie hat außerdem am 26. März ein Diskussionspapier zu „Möglichkeiten und Grenzen der Ethikberatung im Rahmen der Covid-19-Pandemie“ erstellt. Darin heißt es: „In dieser Krisensituation sind alle Beteiligten mit ethischen Fragen konfrontiert, beispielsweise nach gerechten Verteilungskriterien bei begrenzten Ressourcen und dem gesundheitlichen Schutz des Personals angesichts einer bisher nicht therapierbaren Erkrankung.“ Klinische und ambulante Ethikberatungsangebote würden bereits jetzt verstärkt um Unterstützung gebeten. In einer Zeit, in der das medizinische und pflegerische Personal vor enormen Herausforderungen steht, fest etablierte Prozesse und Strukturen außer Kraft gesetzt werden, ist ethische Orientierungshilfe mehr denn je gefragt. Im Folgenden kommen einige Medizinethiker zu Wort: Prof. Jan Schildmann, federführender Autor der Empfehlungen der Fachgesellschaften, Prof. Alena Buyx, die die Stellungnahme des Ethikrates erläutert, und Prof. Daniel Strech, der an einem Aufruf zu einer nationalen Taskforce „Covid-19-Evidenz“ mitgewirkt hat.
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In dem gemeinsamen Aufruf heißt es, dass es einer möglichst schnellen und professionellen Klärung bedürfe, „ob die in Kraft gesetzten Nicht-Pharmakologischen Interventionen wie Schulschließungen und Kontaktrestriktion die erwünschte Wirksamkeit zeigen und zugleich die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen rechtfertigen“. Deshalb sollte schnellstmöglich eine Taskforce-ähnliche Struktur aufgebaut beziehungsweise in eine existierende Taskforce eingebaut werden. Diese Taskforce bestimme, welche Daten mit welcher Priorität und welcher Qualität zum Thema COVID-19 benötigt werden. Liegen die Daten nicht vor, müssten sie im Sinne einer „Evidenzverordnung“ generiert werden. Die Taskforce müsse deshalb neben einer Priorisierung auch die benötigte Forschung koordinieren. Weiterhin sei die Gesellschaft über diese Aktivitäten und die daraus resultierende Evidenz zu informieren, fordern die Experten.
Eine Aufgabe der Taskforce sei, ethische Herausforderungen zu berücksichtigen. Zum Beispiel dürften die Ergebnisse von Infektionsraten in bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht zu einer Stigmatisierung oder Diskriminierung führen. Eine ethische Herausforderung wird auch bei der Güterabwägung gesehen: Wie sind die zu erwartenden positiven Effekte von NPI – z.B. Verlangsamung der Infektionsrate, Senkung der Todesfälle– abzuwägen mit den negativen Effekten? Dazu zählen etwa finanzielle Krisen von Unternehmen und Privathaushalten, psychosoziale Krisen sowie die Verschärfung sozialer Ungleichheiten. „Die Abwägungen sind unvermeidbar mit Werturteilen verbunden“, schreiben die Wissenschaftler. „Diese Werturteile werden aber umso objektiver und nachvollziehbarer, je besser sie sich auf relevante und verlässliche Daten zum Ausmaß der positiven und negativen Effekte beziehen können.“
Link zum Aufruf: https://www.bihealth.org/index.php?id=42&tx_news_pi1%5Bnews_preview%5D=2805&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=c0692c1e1d240a6a531100e04e40227c
Bei knappen medizinischen Ressourcen muss priorisiert werden. Gibt es dafür hierzulande gültige Kriterien? Konkret: Wenn es hart auf hart kommt: Welche Patienten bekommen ein Beatmungsgerät und welche nicht?
Prof. Daniel Strech: Hierzulande gibt es das Transplantationsgesetz, das alleine auf den Schweregrad der Erkrankung und Nutzenausmaß setzt. Das sind auch die Kriterien, die in der Debatte um andere Priorisierungsfragen stets an erster Stelle stehen. Bereits mit diesen Kriterien in der Praxis zu arbeiten, bei der Allokation von Organen oder Intensivbetten und Beatmungsgeräten, ist psychisch und physisch sehr belastend für die Gesundheitsberufe, die Angehörigen der Betroffenen und am Ende für die ganze Gesellschaft. Ein drittes Kriterium, das es noch schwieriger und belastender macht, aber in der Praxis nicht völlig ausgeblendet werden kann, ist das der Kosteneffektivität. Hierzu haben wir noch keine „gültigen“ Kriterien – anders als im Vereinigten Königreich.
Eine Diskussion über medizinische Priorisierung haben verschiedene Gesundheitsminister stets vehement abgelehnt – rächt sich das in Krisenzeiten?
Strech: Ich denke, dass die Diskussion zu medizinischer Priorisierung bei begrenzten finanziellen Ressourcen in diesem konkreten Fall nur sehr bedingt hilfreich ist. Für die Triage im Krankenhaus haben wir seit Jahren explizite Debatten und „gültige“, breit konsentierte Kriterien. Ebenso für die Organallokation. All das ist für die aktuelle Situation bereits sehr hilfreich.
Aber?
Strech: Viel weniger sind wir auf die Frage vorbereitet, welche Obergrenzen für monetäre, soziale und gesundheitliche Kosten wir bereit sind zu akzeptieren, um Hunderte, Tausende oder sogar Hunderttausende Todesfälle durch Covid-19 zu verhindern. Oder gibt es gar keine Obergrenzen? Das Hauptproblem ist, dass wir schwer abschätzen können, wie viele Todesfälle wir durch Social Distancing verhindern müssen und können. Im Falle der Grippewellen scheinen wir zu akzeptieren, dass jedes Jahr Hunderte bis einige Tausend (meist ältere) Menschen sterben – ohne dass wir Social Distancing wie im aktuellen Ausmaße verordnen. Selbst mit Grippe-Impfpflichten für das Gesundheitspersonal und Personal in Altenheimen tun wir uns schwer. Wenn wir aber nicht Hunderte, sondern Hunderttausende Menschen vor dem Covid-19-Tod schützen wollen, so einige Hochrechnungen aus dem Vereinigten Königreich, akzeptieren wir viel drastischere Maßnahmen. Zu der sehr hohen Anzahl von Toten, die im Durchschnitt 80 Jahre alt sind, käme die extreme Belastung des Gesundheitssystems. Die meisten schwer an Covid-19-Erkrankten könnten gar nicht intensivmedizinisch im Krankenhaus, sondern müssten palliativmedizinisch behandelt werden. Als erste Reaktion ist damit klar, dass wir als Gesellschaft „alles Mögliche“ gegen ein solches über wenige Monate verteiltes Massensterben innerhalb der älteren Bevölkerung tun müssen und wollen, auch wenn es erst mal nur gut begründete Modellrechnungen sind. Wir führen deshalb sehr invasive nicht-pharmakologische Maßnahmen, sogenannte NPI wie Schulschließungen und Kontaktrestriktionen, durch.
Andererseits?
Strech: Auf der anderen Seite sind aber auch die Nebenwirkungen dieser NPI extrem. Dazu gehören nicht nur sehr zentral die wirtschaftlichen Aspekte und die damit konsekutiv verbundenen sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen. Die Bundesregierung hat jetzt 750 Milliarden Euro als finanziellen Ausgleich genannt. Als Folgen könnten viele sozialstaatliche Investitionen über die kommenden Monate oder Jahre ausfallen. Wir haben zudem nur begrenzte Vorstellungen davon, wie viele beispielsweise Stress-bedingte Erkrankungen wie Depression oder Herzinfarkt und damit auch Todesfälle durch drohende Insolvenzen und finanziellen Ruin ausgelöst werden. Wie viele pflegebedürftige alte Menschen leben durch die Kontaktrestriktionen isoliert in Pflegeheimen ohne Begleitung ihrer Angehörigen oder in der Häuslichkeit ohne Fürsorge einer ausländischen Betreuungskraft? Und wie oft kommt es dadurch zu einem frühzeigen Versterben von älteren Menschen – etwa durch zu spät entdeckte andere Infektionen? Mir sind bislang keine Modellrechnungen für die gesundheitlichen Schäden der NPI bekannt. Aber was, wenn diese Modellrechnungen zu Tausenden oder Zehntausenden Todesfällen als Nebenwirkungen der NPI kommen? Dann gibt es noch die sozialen Nebenwirkungen, wie eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten, die plausibel erscheinen, aber schwer in ihrer Quantität zu operationalisieren sind. Güterabwägungen in diesem Ausmaß haben wir in der Verteilungsdebatte noch nicht durchgespielt. Aber diese Güterabwägung findet faktisch statt, auf der Basis von Modellen zum tatsächlichen Ausmaß der zu verhindernden Todesfälle und eventuell Spekulationen über die gesundheitlichen und sozialen Nebenwirkungen.
Was fordern Sie?
Strech: Ich finde es wichtig, die Frage hinter diesen Güterabwägungen explizit zu stellen und die ethischen Argumente hinter den Entscheidungen zu klären. Insbesondere benötigen wir Begleitforschung zur Wirksamkeit und zu den gesundheitlichen und sozialen Nebenwirkungen der NPI. Einen entsprechenden Aufruf haben QUEST Center, EbM-Netzwerk und die Akademie für Ethik in der Medizin veröffentlicht. Die Daten aus der Begleitforschung nehmen uns die Güterabwägung nicht ab, aber sie unterstützen deren Rationalität und Transparenz.
Zur Person:
Prof. Daniel Strech ist Medizinethiker und arbeitet am Berlin Institute of Health. Er leitet dort die Arbeitsgemeinschaft „Translationale Bioethik“ und ist stellvertretender Direktor des QUEST Center. Strech ist Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Vereinigungen, beispielsweise dem Deutschen Netzwerk Evidenz-basierte Medizin und der International Society on Priorities in Health Care.
Für diesen schwierigen Abwägungsprozess soll die Empfehlung eine ethische Orientierungshilfe leisten. Der Rat mahnt eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter an: Einbezogen werden müssten dabei auch Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung; es sei zu prüfen, in welchem Ausmaß und wie lange eine Gesellschaft starke Einschränkungen ihres Alltagslebens verkraften kann.
Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, sagt: „In dieser Krise ungekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen.“ Doch auch mit diesen Ressourcen gelte es sorgsam umzugehen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln.
Konkret empfiehlt der Ethikrat für die nächste Zeit unter anderem folgende Einzelmaßnahmen: die Kapazitäten des Gesundheitssystems sollten weiter aufgestockt und stabilisiert werden, ein flächendeckendes System zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten sei einzuführen, bürokratische Hürden sollen abgebaut und Testkapazitäten weiter aufgebaut werden. Die Forschung zu Impfstoffen und Therapeutika sei zudem breit zu fördern, und auch die Forschung zu sozialen, psychologischen und anderen Effekten der Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie sei zu unterstützen. Außerdem gelte es, effektive Schutz- und Isolationsstrategien für Risikogruppen zu entwickeln.
Link zur vollständigen Ad-hoc-Empfehlung des Ethikrates: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf
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Der ethische Kernkonflikt der Coronakrise besteht für den Rat darin, dass ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden muss und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering zu halten sind. Wie ist dieser Konflikt zu lösen?
Buyx: Der Konflikt kann letztlich nicht befriedigend gelöst werden. Es kann nur eine bestmögliche Balance gefunden werden. Dazu haben wir in der Empfehlung einige Anmerkungen gemacht. Wichtig ist etwa: Je länger die Maßnahmen andauern und je gravierender die Folgen werden, desto stärker müssen die Interessen von denjenigen, die von den Folgen betroffen sind, berücksichtigt werden. Anders ausgedrückt: Je länger das andauert, desto dringlicher wird die Verpflichtung, zu prüfen, ob, wann und wie die Maßnahmen wieder aufgehoben werden können.
Eine Exit-Strategie?
Buyx: Wir nennen es nicht Exit-, sondern Renormalisierungsstrategie. Bei dem Wort Exit bestehen unschöne Konnotationen, in der Medizinethik denken dabei manche an den Tod – Exit, Exitus. Renormalisierungsstrategie trifft es viel besser. Exit bedeutet ja Ausgang. Wir weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass wir ganz sicher nicht einfach zum Status quo von vorher zurückkehren werden können. Im Moment ist davon auszugehen, dass nach dem sogenannten Hammer, den wir jetzt machen, der Tanz vollzogen wird. Das bedeutet, einzelne aktuelle Restriktionen schrittweise zurückzufahren, andere einzuführen usw. Dieser Prozess sollte von weiteren Maßnahmen flankiert werden, die wir in unserer Empfehlung nennen.
Zum Beispiel?
Buyx: Stärker zu testen und auch bei den Antikörpertests zur Immunität, die bald zum Einsatz kommen sollen, die Kapazitäten hochzufahren. Vor allem wollen wir aber mit der Empfehlung darauf hinweisen, dass es um einen echten ethisch-gesellschaftlichen Konflikt geht.
Das bedeutet?
Buyx: Dass es keinen vorgezeichneten Plan gibt, nur in die eine Richtung. Dass wir nicht auf unbegrenzte Zeit im absoluten Sinn alles tun können, um die Pandemie zurückzudrängen, ohne Rücksicht auf die Effekte. Es gibt zwei Seiten dieser Medaille.
Werden diese denn überhaupt wahrgenommen?
Buyx: Da geht es um den Zeitpunkt. Gegenwärtig hält der Ethikrat die aktuellen Maßnahmen für berechtigt und die Schäden für zumutbar. Und dabei muss man sich klar machen: Menschen verlieren im Moment ihre Existenz, wir gehen von steigenden Selbstmordraten aus, es gibt Patienten, die gegenwärtig nicht richtig medizinisch versorgt werden können, auch die Gewalt in den Familien kann zunehmen. Dennoch sagen wir, dass das im Augenblick zumutbar ist – aber nicht unbegrenzt und nicht ohne regelmäßige Prüfung, was zurückgenommen werden kann.
Der Rat warnt davor, allein den einzelnen Ärzten die Verantwortung aufzubürden, in Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden. Wie kann das verhindert werden?
Buyx: Zunächst ist festzuhalten, dass der Staat in dieser Hinsicht keine Maßgaben vorgeben kann. Das ist ganz wichtig. Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und festlegen, wer eine Behandlung bekommt und wer nicht. Aber wenn solche Entscheidungen anstehen – was wir alle nicht hoffen – dann sollten sie nach transparenten, nachvollziehbaren und auch breit geteilten Kriterien erfolgen. Das sollte nicht auf den Schultern einzelner Ärztinnen und Ärzte lasten. Es wäre fürchterlich, als einzelne Person ohne jegliche Empfehlung und Unterstützung solche Entscheidungen treffen zu müssen. Der Ethikrat weist daher auch auf die aktuell veröffentlichten Empfehlungen der Fachgesellschaften hin, die für solche Situationen Kriterien entwickelt haben.
Was halten Sie von den Empfehlungen?
Buyx: Ich halte sie für hilfreich. Zu einem so schwierigen Thema in solch kurzer Zeit konsentierte Empfehlungen herauszugeben, ist jedenfalls eine beeindruckende Leistung. Bereits jetzt wird an vielen Häusern geschaut, wie diese Empfehlung in der Praxis umzusetzen ist. Das Gesundheitssystem bereitet sich vor.
Die Coronakrise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik, heißt es in Ihrer Empfehlung. Besteht nicht eher die Gefahr, dass politische Entscheidungen an die Wissenschaft delegiert und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System verlangt werden?
Buyx: Genau das ist der Grund, warum wir das so eindringlich geschrieben haben. Wie es andere, etwa unser Vorsitzender Peter Dabrock, schon vor mir formuliert haben: Politik muss auf Wissenschaft hören, aber sie darf ihr nicht hörig sein. Natürlich muss die Wissenschaft die Politik gerade jetzt sehr intensiv beraten. Die Entscheidungsfindung über die angesprochene Balance kann allerdings nicht von der Wissenschaft vorgegeben werden. Sie kann das ethisch-politische Dilemma nicht lösen. Die Wissenschaft ist von vitaler Wichtigkeit, denn ohne die bestmöglichen Daten kann im Moment nicht entschieden werden. Das hat evidenzbasiert zu passieren. Aber es existiert eben kein Automatismus von den wissenschaftlichen Daten hin zu einer politischen Entscheidung – die Politik muss entscheiden.
Zur Person:
Prof. Alena Buyx ist Ärztin mit weiteren Abschlüssen in Philosophie und Soziologie. An der Technischen Universität München hat sie eine Professur für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien. Buyx ist Mitglied im Deutschen Ethikrat, zuvor war sie unter anderem stellvertretende Direktorin des englischen Ethikrats und Senior Fellow am University College London.
Die Empfehlungen haben Notfall- und Intensivmediziner gemeinsamen mit Medizinethikern, Juristen und Vertretern weiterer Disziplinen formuliert. In dem elfseitigem Papier heißt es: „Wenn nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten auf die Intensivstation aufgenommen werden können, muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden.“ Erforderlich seien transparente, medizinisch und ethisch gut begründete Kriterien für die dann notwendige Priorisierung. Diese solle sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, schreiben die Experten. Das bedeute nicht eine Entscheidung im Sinne der „best choice“, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht besteht. „Vorrangig werden dann diejenigen Patienten klinisch notfall- oder intensivmedizinisch behandelt, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose – auch im weiteren Verlauf – haben.“
Die Experten raten dazu, dass die Priorisierung immer zwischen allen Patienten, die der Intensivbehandlung bedürfen, erfolgen solle – unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden, sprich ob Notaufnahme, Allgemein- oder Intensivstation. Ausdrücklich heißt es: Eine Priorisierung sei aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der Covid-19-Erkrankten und nicht zulässig allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien. Die Entscheidung sollte möglichst nach dem Mehraugen-Prinzip erfolgen, zu beteiligen seien zwei intensivmedizinisch erfahrene Ärztinnen und Ärzte, eine Vertreterin oder ein Vertreter der Pflegenden sowie gegebenenfalls weitere Fachvertreterinnen oder -vertreter.
Link zu den Empfehlungen der Fachgesellschaften:
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Ihre Empfehlungen dürften auch eine Reaktion auf die Ereignisse in Italien und anderen Ländern darstellen. Als zentrales Zuteilungskriterium wird in Ihrer Empfehlung die medizinische Erfolgsaussicht genannt. Was bedeutet das konkret? Und wie einhellig fiel das Votum der 14 Autorinnen und Autoren dafür aus?
Prof. Jan Schildmann: Wichtig war uns, auch angesichts des zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bestehenden Fehlens von Richtlinien beziehungsweise Empfehlungen in Deutschland, zunächst einmal mögliche Kriterien und Verfahrensweisen transparent vorzustellen. Unabhängig von den zur Verfügung stehenden Maßnahmen muss zunächst einmal kritisch geprüft werden, ob eine intensivmedizinische Therapie indiziert ist und ob diese unter Berücksichtigung der Erfolgsaussicht vom Patienten gewünscht wird. Wenn beides bejaht wird und nicht ausreichend intensivmedizinische Ressourcen zur Verfügung stehen, soll nach Einschätzung aller Autoren geprüft werden, bei welchem Patienten die zur Verfügung stehenden Therapieoptionen am ehesten einen Erfolg haben werden. Dies bedeutet konkret, dass die höhere Überlebenswahrscheinlichkeit und die Gesamtprognose relevant für die Entscheidung sind.
[caption id="attachment_3278" align="alignright" width="800"]Warum haben Sie das Alter als Priorisierungskriterium ausgeschlossen?
Schildmann: Das Alter ist im klinischen Alltag ja ein vielschichtiges Kriterium. Es wird zum Beispiel manchmal vom „biologischen Alter“ gesprochen und damit auf den Gesundheitszustand abgehoben. Der Gesundheitszustand und beispielsweise Vorerkrankungen sind relevant für die Erfolgsaussicht der Therapie. Das kalendarische Alter ist zwar häufig, aber eben nicht zwangsläufig mit einem schlechten Gesundheitszustand verbunden. Das kalendarische Alter und andere soziale Merkmale wurden aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes als Priorisierungskriterien ausgeschlossen.
Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden. Aber auch die Behandlungsressourcen gilt es gerade in Krisenzeiten verantwortungsvoll einzusetzen. Ist dieser Widerspruch überhaupt auflösbar?
Schildmann: Was die rechtlichen, offensichtlich unterschiedlichen Einschätzungen angeht, kann ich dies als Arzt und Medizinethiker zunächst einmal nur zur Kenntnis nehmen. Letztlich sind Entscheidungen in einer Situation nicht ausreichender Ressourcen tragisch und insofern ist auch der damit verbundene Konflikt nicht auflösbar.
Wie praxistauglich sind Ihre Empfehlungen?
Schildmann: Das ist für mich eine interessante und offene Frage. Wir haben mit Veröffentlichung um Kommentierung gerade auch unter praktischen Gesichtspunkten gebeten. Nach meinem Eindruck werden die Empfehlungen von vielen genutzt, um diese für den jeweiligen lokalen Kontext anzupassen und teilweise auch zu konkretisieren. Ich gehe davon aus, dass die Empfehlungen zum Thema bereits zeitnah weiterentwickelt werden.
Gibt es bereits Reaktionen anderer Fachgesellschaften oder Ärzte auf das Papier?
Schildmann: Es gab viele und erwartungsgemäß unterschiedliche Reaktionen, die allerdings überwiegend konstruktiv waren. Die Tatsache, dass in sehr kurzer Zeit sieben Fachgesellschaften die Empfehlungen unterstützt haben, zeigt den Bedarf. Für die klinische Praxis wäre es sicherlich wichtig, dass wir es in Deutschland durch die Bereitstellung von Ressourcen, „social distancing“ und weitere Maßnahmen schaffen, möglichst wenige Entscheidungen unter den Bedingungen nicht ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen treffen müssen.
Zur Person
Prof. Jan Schildmann ist Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist Mitglied der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (ZEKO) bei der Bundesärztekammer. Schildmann ist Facharzt für Innere Medizin, seit 2019 mit der Zusatzbezeichnung Palliativmedizin.
Die Coronakrise zeigt eindrucksvoll, dass regionale Gesundheitskrisen rasch globale Dimensionen erreichen können. Ebola war bereits ein Warnschuss – reichen die seinerzeit gezogenen Konsequenzen nicht aus?
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Das Ebolavirus und das neuartige Coronavirus sind natürlich nicht im Detail miteinander vergleichbar. Die Ausbrüche ereigneten sich in ganz unterschiedlichen Kontexten: auf der einen Seite drei westafrikanische Staaten, zum Teil nach Bürgerkriegen, mit schwachen Gesundheitssystemen und auf der anderen Seite die Region Hubei, eine Metropolregion der Handelsmacht China. Warnzeichen gab es in der Vergangenheit viele: So wurden nach dem SARS-Ausbruch 2003 die Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO reformiert – auch vor dem Hintergrund, Gesundheitssysteme weltweit besser auf zukünftige Pandemien vorzubereiten. Im vergangenen Jahr erst schätzte das Global Preparedness Monitoring Board, ein unabhängiges und internationales Expert*innengremium, das Risiko von Epidemien und Pandemien mit massiven ökonomischen und sozialen Folgen als akut ein. Das Problem liegt nicht in der Warnung.
[caption id="attachment_3284" align="aligncenter" width="1172"]
Sondern?
SWP: ... in der angemessenen Vorbereitung und Ausfinanzierung von öffentlichen und qualitativ hochwertigen Gesundheitssystemen – mit Zugang und finanzieller Absicherung im Krankheitsfall für alle Menschen.
Einerseits handelt es sich um eine globale Gesundheitskrise, andererseits findet das Krisenmanagement auf nationaler Ebene statt. Kommt dabei die länderübergreifende Zusammenarbeit und Hilfe zu kurz?
SWP: Zu Beginn des Ausbruchs sahen wir, dass viele Staaten versuchten, dem Covid-19-Ausbruch mit nationalen Antworten zu begegnen. Während sich diese Art von Krisenmanagement teils immer noch fortsetzt, sehen wir doch auch eine Wiederbelebung der länderübergreifenden Zusammenarbeit. So erließ Deutschland zunächst Exportverbote für medizinische Ausrüstung, stellte Italien nun aber sieben Tonnen an Hilfsgütern bereit. Wenngleich China und Russland selbst vom Ausbruch betroffen sind, schicken auch sie medizinisches Personal und Ausrüstung nach Italien. Auf ökonomischer Ebene verabschiedeten Länder eigene Wirtschaftshilfsprogramme, sind jedoch auch auf EU-Ebene und in den anderen Foren der G7 und G20 in Bewegung. Aktuell erhalten dabei die besonderen Situationen vulnerabler Gruppen wenig Aufmerksamkeit. Hier fehlen entwicklungspolitische und humanitäre Stimmen, die zum Beispiel auf Bedarfe von Menschen auf der Flucht aufmerksam machen. Über Finanzinstrumente der Weltbank und des IWF hinaus muss es kurzfristige Hilfen der internationalen Gemeinschaft für die Stärkung von bedarfsgerechten Gesundheitssystemen geben – in Europa aber auch darüber hinaus.
Ist die Kritik an den nationalen Alleingängen innerhalb der EU berechtigt oder ist das ein nachvollziehbares und effektives Krisenmanagement?
SWP: Die Kritik ist leider berechtigt, gerade zu Beginn des Ausbruchs erlebten wir eine Rückbesinnung auf nationalstaatliche Maßnahmen anstatt einer europäischen Antwort. Das ist im ersten Moment nachvollziehbar, aber erweist sich als kontraproduktiv. Grenzschließungen werden nicht von der WHO empfohlen, führen zu Lieferengpässen und betreffen besonders Personen, die aufgrund ihres Berufes auf offene Grenzen angewiesen sind, wie Saisonarbeiter*innen. Der Tiefpunkt der europäischen Solidarität zeigte sich, als auf den Ruf Italiens nach Schutzausrüstung von den EU-Staaten nicht reagiert wurde. Daraufhin trat China medienwirksam in das Vakuum und unterstützte Italien. Die Europäische Kommission versuchte jedoch von Anfang an als Gegengewicht zu einer sogenannten Re-nationalisierung zu fungieren, denn auch sie weiß: Gesundheitskrisen überwinden Grenzen und legen gemeinsame Verletzlichkeiten frei. Die EU braucht daher mehr Kompetenzen im Gesundheitsbereich, um ein koordiniertes Vorgehen in Krisenzeiten sicherzustellen. Gleichzeitig müssen Gesundheitssysteme innerhalb Europas gestärkt werden; sie sind die beste Prävention gegen Gesundheitskrisen.
Zur Institution:
Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) berät politische Entscheidungsträger*innen zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik bzw. der internationalen Politik. Dabei richten sich ihre Angebote in erster Linie an Bundestag und Bundesregierung sowie für Deutschland wichtige internationale Organisationen wie EU, NATO und Vereinte Nationen. Maike Voss leitet bei der SWP das Global-Health-Team, dem auch Susan Bergner und Isabell Kump angehören.
Das omnipräsente Virus greift auch die mentale Gesundheit der Menschen an. Nicht alle halten den permanenten Ausnahmezustand aus. Corona lässt die eigene Welt aus den Fugen geraten, das innere Gleichgewicht wird gestört. Das Besondere an der Coronakrise ist die kollektive Erfahrung – nicht nur hierzulande, sondern global wird das Virus als beispiellose Bedrohung erlebt. Weltweit leben Menschen in Angst vor dem Erreger und sind mit bisher noch nie erlebten Restriktionen im Alltag konfrontiert. Was macht diese Krise mit uns in einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft? Das haben wir den Psychiater Prof. Mazda Adli gefragt. Er rechnet mit einer weiteren deutlichen Zunahme des psychiatrischen Hilfebedarfs in den kommenden Wochen. Der Sozialpsychologe Prof. Kai Sassenberg analysiert die mediale Berichterstattung. Diese sei weitgehend sachlich und faktenorientiert, allerdings sei die faktenorientierte Berichterstattung an vielen Stellen beängstigend genug.
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Wie bewerten Sie die mediale Berichterstattung zur Coronakrise – überwiegend sachliche Informationen oder wird Panik geschürt?
Prof. Kai Sassenberg: Die mediale Berichterstattung ist weitgehend sachlich und faktenorientiert. Die Medien bemühen sich an vielen Stellen um sachliche und verständliche Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse. Auch schwer verständliche Sachverhalte wie exponentielles Wachstum und dessen Veränderung werden allgemeinverständlich erläutert und grafisch veranschaulicht. Vor dem Hintergrund der Fakten, wie der Zahl der Todesopfer in Italien, ist die faktenorientierte Berichterstattung allerdings an vielen Stellen beängstigend genug. Dies ist allerdings auch wichtig und funktional, um Zustimmung für die einschneidenden Schutzmaßnahmen zu erlangen. Problematisch allerdings ist die Berichterstattung über Ausnahmen wie intubierte 25-Jährige oder gestorbene Mittfünfziger.
Warum?
Sassenberg: Diese können durchaus Panik auslösen, leisten aber keinen Beitrag zur Information der Bevölkerung, weil es sich um Ausnahmen handelt, deren Ursache in der Berichterstattung nicht erörtert wird.
Die gesundheitlichen Schutzmaßnahmen bringen unser soziales Zusammenleben fast zum Stillstand. Was macht das mit einer Gesellschaft?
Sassenberg: Das öffentliche Leben kommt durch die Einschränkung des physischen Kontaktes in vielen Bereichen in der Tat zum Erliegen. Gleichzeitig können fehlende direkte Kontakte in unserer Zeit auch über digitale Medien zumindest zum Teil kompensiert werden. Trotzdem erleben Menschen den Wunsch nach sozialen Kontakten umso intensiver. Ein Ergebnis davon sind vermutlich die zahlreichen Solidaritätsbekundungen, zum Beispiel durch Musik am offenen Fenster; ein weiteres die Hilfsangebote und das soziale Engagement wie Einkaufshilfen für Mitglieder von Risikogruppen. Neben diesen positiven Effekten ist aber auch nicht auszuschließen, dass häusliche Gewalt und Depressionen zunehmen, weil weniger Aktivitäten möglich sind.
Und mittelfristig?
Sassenberg: ...ist zu vermuten, dass viele Dinge, die alle Zeit selbstverständlich waren, zumindest für einige Zeit wieder stärker als positiv wahrgenommen werden, wenn sie wieder möglich sind. Dinge, die man eine Zeit lang entbehrt, weiß man danach umso mehr zu schätzen.
Warum wurde die Aufforderung zur Vermeidung von sozialem Kontakt zunächst nicht befolgt, inzwischen aber schon?
Sassenberg: Aufgrund der starken Einschränkungen überrascht der Widerstand nicht. Im Übergang zwischen dem Appell, Abstand zu halten, und dem Verbot von Zusammenkünften wurden aus wissenschaftlicher Perspektive zwei Dinge sehr gut gemacht: Medien und Politik haben wiederholt und übereinstimmend die gleiche Botschaft kommuniziert: „Jetzt müssen wir unser Verhalten ändern, sonst werden viele Menschen sterben“. Übereinstimmende Kommunikation führt zur Veränderung von Einstellungen und Verhalten. Während es sonst viele Gründe gibt, die Pluralität von Meinungen zu fördern, war in diesem Fall die Einheitlichkeit der Aussagen wichtig. Der gleichzeitig vorgenommene Schritt von Appellen zu rechtlichen Vorgaben hat vermutlich ebenfalls zur Verhaltensänderung beigetragen. Wenn Appelle als Einschränkungen wahrgenommen werden und Erwartungen verletzen, reagieren Menschen mit Widerstand – sogenannter Reaktanz. Wird aber, etwa durch Gesetze, keine Handlungsfreiheit mehr wahrgenommen, bleibt diese Reaktanz aus.
Zur Person:
Der Sozialpsychologe Prof. Kai Sassenberg ist Leiter der Arbeitsgruppe „Soziale Prozesse“ am Leibniz-Institut für Wissensmedien und Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er beschäftigt sich mit den Einflüssen der Merkmale sozialer Beziehungen auf den medienvermittelten Wissensaustausch und die Zusammenarbeit. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Forschung: der Einfluss von Emotionen und kognitiven Konflikten auf die Verarbeitung von selbstrelevanter Information vor allem im Gesundheitsbereich.
Was macht diese Krise mit einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft?
Prof. Mazda Adli: Wir merken im Moment alle, dass wir ängstlicher und unsicherer werden. Der Grund dafür ist, dass unser Leben, unsere üblichen Routinen in kürzester Zeit komplett auf den Kopf gestellt worden sind – und das flächendeckend. Wir haben es gleichzeitig mit einer Risikosituation zu tun, die für den Einzelnen nach wie vor sehr schwer bezifferbar bleibt. Ein unsichtbares Virus zu verstehen, ist sehr schwierig und die epidemiologischen Zahlen richtig zu deuten, ist auch sehr schwierig. Dann ist das Thema im Moment unglaublich präsent. Es gibt kaum noch ein anderes Thema als Corona, wenn man die Nachrichten schaut. Und diese Mischung facht zusätzlich noch Angst an, sodass man das Gefühl hat, hilflos einer unkontrollierbaren Situation ausgeliefert zu sein – was man ja eigentlich nicht ist. Aus einer psychologischen Perspektive betrachtet führt das dann zur Verunsicherung und bei vielen Menschen zu starken Ängsten und bei einigen gar zu irrationalen Ängsten. Das erleben wir im Moment. Jetzt fragen Sie ja nach einer ohnehin schon ängstlicher werdenden Gesellschaft.
Genau.
Adli: Wir sind in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten insgesamt ängstlicher geworden und haben spürbar mehr Sicherheits- und Absicherungsbedürfnis entwickelt. Das merkt man daran, dass unsere Autos immer größer werden und damit auch die Knautschzonen, Kinder werden vor der Schule abgesetzt und so weiter. Der Trend ging auch schon vor Corona hin zu etwas mehr Ängstlichkeit. Dort, wo mehr Sicherheitsbedürfnis besteht, ist auch gleichzeitig das Kontrollbedürfnis groß – also, dass die Dinge um einen herum in kontrollierter Weise ablaufen. Und das ist in Pandemiezeiten, in denen wir gerade leben, überhaupt nicht der Fall. Gefühlt geht das bei einigen bis hin zum Kontrollverlust.
Inwiefern sind Psychiater und Psychotherapeuten jetzt in besonderer Weise gefragt. Oder schlägt ihre Stunde erst nach der Krise?
Adli: Nein. Ich kann berichten, dass schon jetzt der Bedarf an Hilfe steigt. Wir erleben es in meiner Klinik: Menschen mit psychischer Vorerkrankung, die lange Jahre stabil waren, dekompensieren jetzt plötzlich, weil sie mit der neuen Situation ganz schlecht klarkommen, die Isolation zu Hause schwer zu ertragen ist. Wir erleben aber auch, dass Menschen ohne jedwede psychische Vorerkrankung den Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe anmelden. Wir müssen im Moment mehr für Kriseninterventionen tun. Ich rechne mit einer weiteren deutlichen Zunahme des psychiatrischen Hilfebedarfs in den nächsten Wochen.
Kann unser Gesundheitswesen das überhaupt noch packen? Schon vor der Krise gab es keine ausreichenden Kapazitäten für psychiatrische Behandlungen und Psychotherapien.
Adli: Ich denke, wir werden noch größere Engpässe erleben, viele Menschen sind jetzt schon schwer psychisch belastet. Wie das werden soll, müssen andere beantworten. Die Bedarfsplanung orientiert sich an krisenfreien Zeiten. Und da sind kaum Reserven vorgesehen. Das erleben wir in dramatischem Ausmaß ja gerade in der Notfallmedizin. Das wird nicht die letzte große Krise sein. Wir müssen uns besser darauf vorbereiten. Wir lernen gerade, wie wichtig Gesundheit ist. Wenn die Gesundheit infrage steht, dann steht die Wirtschaft still, die Kultur und alles andere.
Zur Person:
Der Psychiater und Stressforscher Prof. Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin. Er leitet außerdem an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité den Forschungsbereich „Affektive Störungen“. Dazu gehören: stressassoziierte Symptome, die Depression und die manisch-depressive Erkrankung.
Der Vorschlag, den die Kommission Anfang 2018 für ein europaweit einheitliches Health Technology Assessment (HTA) vorlegte, stößt in einigen Mitgliedstaaten – besonders in Deutschland und Frankreich – auf Widerstand. Im Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungsschefs der Mitgliedstaaten zusammensitzen, sei der HTA-Vorstoß nicht durchsetzbar, sagt Ortwin Schulte, Ministerialrat in der deutschen Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union. Obwohl sich inzwischen das Europäische Parlament bemüht, zwischen Rat und Kommission zu vermitteln – O-Ton Schulte: „das kommt nicht häufig vor“ –, gebe es bislang bei der Kommission wenig politische Bewegung. Entscheidend sei deshalb, wie die neue Kommission zu den HTA-Vorschlägen stehe und sich einem Kompromiss nähere. „Ein Scheitern des Vorschlags ist möglich, wäre aber ein Rückschlag mit Breitenwirkung für die Integrationspolitik“, sagt Schulte auf einem Rechtssymposion des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Ende vergangenen Jahres in Berlin.
Bei der Nutzenbewertung prallen zwei Welten aufeinander: die der Mitgliedstaaten, die kein eigenes HTA haben und für die eine einheitliche Nutzenbewertung Vorteile bietet, und die derjenigen EU-Länder, die wie Deutschland, Frankreich oder Spanien über ein etabliertes Verfahren verfügen und deshalb von einer Vollharmoni-sierung nichts halten. Sie bestehen darauf, dass auf nationale Besonderheiten Rücksicht genommen wird. „Im Grunde verläuft der Konflikt zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten“, sagt Schulte. Deutschland, Frankreich, Tschechien und Polen versuchen, mit einer Subsidiaritätsrüge dem Kommissionsvorschlag den Boden zu entziehen. Ihre Botschaft: Die Nutzenbewertung sollte am besten im Feld der Mitgliedstaaten bleiben. Dort könne sie sinnvoller als auf EU-Ebene geregelt werden. Das findet auch G-BA-Chef Prof. Josef Hecken. Seiner Ansicht nach ist eine Nutzenbewertung von Wirkstoffen nur dann sinnvoll, wenn diese in Vergleich zu nationalen Versorgungsstandards gesetzt wird.
[caption id="attachment_3028" align="aligncenter" width="1200"]Mehrere Ratspräsidentschaften haben sich bereits bemüht, Konsensräume auszuloten, zuletzt Finnland. 2020 wird sich Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte mit dem Thema beschäftigen. Für Rechtsanwalt Prof. Burkhard Sträter ist das die Chance für Deutschland, seine HTA-Philosophie auf die europäische Ebene zu bringen.
Um folgende Fragen wird nach Aussage von Ortwin Schulte derzeit vor allem gerungen:
Selbst wenn diese Fragen eines Tages geklärt sein sollten, warten noch weitere Streitthemen, die den Prozess der Kompromissfindung hinauszögern können: etwa die Frage, in welchem Umfang die Produkthersteller Daten vorlegen müssen oder welche aufsichtsrechtlichen Kompetenzen der EU möglicherweise eingeräumt werden. Letzteres bedeute für viele Mitgliedstaaten „die Verschriftlichung des Albtraums“ und liege derzeit noch jenseits der roten Linie, sagt Schulte. Er hält es für möglich, dass das Ringen um ein einheitliches EU-HTA noch zwei weitere Jahre dauern wird – wenn nicht vorzeitig die Ringglocke läutet. Den Weg zur harmonisierten Bewertung weiter zu beschreiten, hält Burkhard Sträter für sinnvoll. Für Unternehmen sei dies eine Erleichterung. Er erkennt bei den jetzigen Auseinandersetzungen Parallelen zu der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), die seit 1995 für Arzneimittelzulassungen zuständig ist. „Bei der EMA hat man damals auch den Untergang der nationalen Kompetenzen beschworen, jetzt funktioniert sie gut“, sagt Sträter. Sein Vorschlag: Europa sollte bei der einheitlichen Nutzenbewertung mit kleinen Schritten beginnen und diese möglicherweise zunächst nur für neue Technologie einführen.
Europa und die GKV
Einen Blick auf den „Einfluss Europas auf das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung“ hat das Rechtssymposion des Gemeinsamen Bundesausschusses am 2. Dezember 2019 geworfen. Nach der Gesetzeslage ist klar, dass die Europäische Union (EU) auf dem Gebiet Gesundheit keine alleinige Kompetenz hat. Wegen des Subsidiaritätssystems liegt es in erster Linie bei den Mitgliedstaaten, ihre Gesundheitssysteme zu regeln. Dennoch: Richtlinien wie die Berufsqualifizierungsrichtlinie, welche die Mitgliedstaaten in nationales Recht umsetzen müssen, Verordnungen wie die Medizinprodukteverordnung und auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten – meist zur Dienstleistungsfreiheit – tangieren den Gesundheitssektor der Länder. Darf die EU das und wie weit darf sie hier gehen? Das sind Fragen, welche die EU immer wieder ihren Mitgliedern beantworten muss, wenn es um „Gesetzesvorhaben“ geht, die die Gesundheitssysteme berühren.
Weiterführender Link
Link zum europäischen Netzwerk für HTA:
https://eunethta.eu
Prof. Toni Cathomen, Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und Gentherapie am Universitätsklinikum Freiburg, nennt Chancen und Risiken der Genom-Editierung in der Keimbahn: Auf der einen Seite könne man Krankheiten vermeiden. Auf der anderen Seite existierten unbestimmte Risiken, wie etwa bei der Schaffung von Designer-Babys. „Meine persönliche Meinung ist, dass Eingriffe in die Keimbahn das falsche Instrument sind, um die Menschheit weiterzubringen“, meint er. „Wir müssen uns fragen, was ist es uns wirklich wert, Forschung in diese Richtung weiterzutreiben.“ Denn auch mit konventionellen Optionen könnten beispielsweise Eltern mit genetischen Defekten gesunde Kinder zur Welt bringen.
Doch was sind überhaupt „gesunde“ Kinder? In diese Richtung zielt die Frage einer Zuhörerin. Könne man beim Down-Syndrom wirklich von einer Heilung sprechen, denn den betroffenen Kindern gehe es ja nicht schlecht. „Sie sind meistens ganz glücklich.“ Von den Teilnehmern der Podiumsdiskussion möchte die Frau wissen: „Wo würden Sie die Grenze zwischen der Heilung der Erbkrankheit und dem Designer-Baby setzen?“ Eine schwierige Frage, wie sich herausstellt. Eine Grenze zu ziehen sei abhängig vom Stand der Forschung und vom Stand der Wissenschaft, meint Leopoldina-Präsident Prof. Jörg Hacker. „Das muss man immer wieder neu betrachten und sich dann damit auseinandersetzen.“ Auch Cathomen sieht keine eindeutige Trennung zwischen
Die Genschere – aktuelle Forschungsbeispiel
[caption id="attachment_2730" align="alignright" width="500"]Ein Freiburger Forschungsteam nutzt die Genschere, um Krankheiten wie Krebs besser zu diagnostizieren. In einer Studie stellen die Forschenden einen auf dieser Technik basierenden Mikrofluidik-Chip vor, der kleine RNA-Stücke, die auf eine bestimmte Krebsart hinweisen, erkennt – schneller und mit größerer Genauigkeit als bisherige Verfahren. Die Forscher streben an, das System in etwa fünf bis zehn Jahren so weiterzuentwickeln, dass es für Krankheiten mit etablierten Mikro-RNA-Markern einen ersten Schnelltest gibt, der direkt in Arztpraxen verwendet wird
DNA-Sequenzwiederholungen können zu Krankheiten führen, lassen sich aber kaum untersuchen. Ein Verfahren von Forschenden des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik ermöglicht erstmals einen detaillierten Blick auf diesen zuvor unzugänglichen Bereich des Genoms. Dazu kombiniert es Nanopore-Sequenzierung, Stammzelltechnologie und CRISPR-Cas. Das Verfahren könnte die Diagnostik von verschiedenen angeborenen Erkrankungen und Krebserkrankungen verbessern. Man habe die Werkzeuge geschaffen, „mit denen jeder die dunkle Materie des Genoms erschließen kann“, sagt Studienleiter PD Dr. Franz-Josef Müller.
Therapie und Enhancement, also der Gen-Optimierung. Die Entscheidung könnten aber Ethikkommissionen treffen. „Mir wäre es wichtig, dass es genau diese eine Grenze nicht gibt“, sagt Prof. Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Er teilt die Auffassung der Fragestellerin: „Menschen, die Down-Syndrom haben, sind eine Ausdrucksform der Vielfalt menschlichen Daseins.“
Der Ethikrat hat im Mai eine Stellungnahme zu Eingriffen in die menschliche Keimbahn verfasst. Er sieht nach derzeitigem Stand „keine kategorische Unantastbarkeit“, führt Dabrock in einem Impulsreferat vor der Diskussion aus. Das Gremium fordert ein internationales Moratorium, einen Aufschub für klinische Anwendungen. Ferner müsse der Diskurs gestärkt werden, eine internationale Institution sollte sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Auch Prof. Ewa Bartnik, Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation, setzt sich für globale Lösungen ein. „Wir brauchen Regelungen, die auf der ganzen Welt gelten.“ Unabhängig von Eingriffen in die Keimbahn ist der Einsatz von CRISPR-Cas auch eine finanzielle Frage. Die Methode gilt als sehr kostspielig. Doch Cathomen betont: „Wir müssen das immer mit konventionellen Therapien gegenrechnen.“ Dann sehe man: Es ist gar nicht mehr so teuer. Bei der Behandlung von chronischen Krebspatienten kämen über kurz oder lang ebenfalls hohe Summen zusammen.
Festzuhalten bleibt: Die Diskussion – ethisch, medizinisch und finanziell – steht erst am Anfang. Das macht auch Thomas Rachel (CDU), parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, auf der Konferenz deutlich. „Die Genom-Editierung ist neben dem Klimawandel und der Künstlichen Intelligenz im Moment das zentrale Zukunftsthema in der Wissenschaft.“
Weiterführender Link
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat Genome Editing im verganenen Jahr eine Verbraucherkonferenz gewidmet. Link zur Abschlussveranstaltung: https://www.youtube.com/watch?v=iPMfLe0eM14&feature=youtu.be
[post_title] => Die schwierige Grenze [post_excerpt] => Was ist Therapie, wo beginnt Gen-Optimierung? [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => die-schwierige-grenze [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2020-02-11 13:42:14 [post_modified_gmt] => 2020-02-11 12:42:14 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2636 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2723 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [319] => WP_Post Object ( [ID] => 2708 [post_author] => 3 [post_date] => 2020-02-11 13:29:04 [post_date_gmt] => 2020-02-11 12:29:04 [post_content] =>Einen entscheidenden Schub, um der Überversorgung Herr zu werden, erhofft sich Prof. David Klemperer, Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg, von einer Enquete-Kommission. Diesen Vorschlag macht er bei einer Tagung der Bertelsmann Stiftung. Einen Titel für die Kommission hat er sich auch schon ausgedacht: „Patientenwohl – Ethik und Ökonomie in der Patientenversorgung“ schlägt er vor. Dabei stellt der Mediziner klar: „Das Problem ist nicht, dass wir im Gesundheitswesen wirtschaften müssen, sondern mit welchem Ziel wir wirtschaften.“ Klemperer zufolge sollte Überversorgung nicht das einzige Thema der Enquete-Kommission bleiben, auch die Strukturreform der Krankenhauslandschaft und die Überwindung der Sektorengrenzen könnten auf der Agenda stehen.
[caption id="attachment_2712" align="aligncenter" width="1200"]Bei der Tagung diskutieren Experten darüber, ob Deutschland mehr „Choosing wisely“ braucht. Schnell wird deutlich, dass Überversorgung ein komplexes Thema ist. Es gebe keine verallgemeinernden Ursachen, sagt etwa Hans-Dieter Nolting vom IGES Institut, der im Auftrag der Bertelsmann Stiftung eine Literaturrecherche dazu gemacht hat. Konkreter wird dagegen Frederico Guanais von der OECD. Für Ursachen von „overuse“ nennt er drei Kategorien:
[caption id="attachment_2714" align="alignright" width="500"]Stand to loose doing better: Was verliert der Arzt, die Abteilung oder die Klinik, wenn sie es besser machen? Reputation? Einfluss? Geld?
Guanais differenziert bei seiner Analyse ferner zwischen der Anbieter- und der Nachfragerseite. Er kritisiert, dass Patienten an der Diskussion (bisher) noch nicht beteiligt seien.
Die OECD ist Überversorgung schon länger auf der Spur. Vor drei Jahren publizierte sie die Analyse „Tackling Wasteful Spending on Health“. Darin geht es unter anderem um „wasteful clinical care“ und um Verschwendungen bei Arzneimitteln. „Health at a glance 2019“ ist zu entnehmen, dass im OECD-Vergleich hierzulande die meisten MRI-Untersuchungen durchgeführt und künstlichen Hüftgelenke eingesetzt werden. Vieles spricht dafür, dass in diesen Bereichen eine Überversorgung besteht – aber wo liegt das angemessene Maß? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Hinzu kommt, wie Nölting betont, dass keineswegs immer Konsens besteht, ob tatsächlich zu viel behandelt wird. Wie weit die Meinungen auseinandergehen können, zeigt sich unmittelbar im Anschluss an die Tagung. In einer Mitteilung nennt die Bertelsmann Stiftung Ultraschalluntersuchungen zur Früherkennung von Eierstockkrebs als ein Beispiel für Überversorgung. Dabei handelt es sich um eine IGeL-Leistung, auf sie wird in der Untersuchung von Nölting eingegangen. Dabei verweisen die Autoren auch auf Informationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens (IQWiG). Daraufhin kritisieren der Berufsverband der Frauenärzte und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe die Angaben des Instituts als überholt. Von Fake News ist die Rede. Das IQWiG wehrt sich wiederum dagegen. Dieser Schlagabtausch lässt den medizinischen Laien ratlos zurück.
Unterdessen hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DeGAM) eine Leitlinie zum „Schutz vor Über- und Unterversorgung“ vorgestellt. Deutliches Augenmerk liegt dabei auf Überversorgung, womit sich 21 Empfehlungen beschäftigen. Lediglich fünf widmen sich der Unterversorgung. Ein Zuviel an Medizin gibt es laut DeGAM unter anderem bei Antibiotika, Medikamenten mit kritischem Nutzen-Risiko-Profil, nicht notwendigen diagnostischen Maßnahmen wie Bildgebung, Laboruntersuchungen oder invasiven diagnostischen Prozeduren. Auch von drei Screenings wird abgeraten: PSA-Screening, Hautkrebs-Screening und Screening auf schädlichen Alkoholgebrauch. Ein Zuwenig an Medizin sehen die Experten etwa beim systematischen Case Finding von Depressionen bei entsprechender klinischer Symptomatik, bei der Dokumentation des Raucherstatus bei Patienten mit Husten sowie bei der Beachtung von gesundheitlichen Problemen Angehöriger von Patienten mit Demenz.
Das Besondere an der Leitlinie: Sie umfasst die Empfehlungen aller anderen DEGAM- und Nationalen Versorgungs-Leitlinien, die einen Bezug zur Über- und Unterversorgung haben. Laut DeGAM beinhaltet die Guideline ausschließlich Empfehlungen aus Leitlinien, die der Entwicklungsstufe 3 der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften entsprechen. Negative Resonanz gab es auf die Initiative keine, teilt die DeGAM per Nachfrage mit. Ob das daran liegt, dass keine IGeL-Leistungen genannt wurden?
Flankierend zur neuen Leitlinie fordert DeGAM-Präsident Prof. Martin Scherer ein Primärarztsystem: Der Zugang des Patienten zur nächst höheren Versorgungsebene – dem Krankenhaus – soll über den Hausarzt laufen. „Wir müssen Patienten vor Überversorgung schützen“, mahnt er und berichtet von Kliniken, die gesunde Patienten „rekrutieren“. Der Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf fordert ein Umdenken, „im Gesundheitswesen müssen die Prioritäten geradegerückt werden“. Konkret meint er damit: weg von teuren „Pseudoinnovationen“, weniger Gerätemedizin und mehr Kommunikation. Kann er damit bei der Politik landen? Ein Gesundheitsminister, der Apps auf Rezept verschreiben lässt und grundsätzlich als sehr innovationsfreudig gilt, mache es nicht einfacher, sagt Scherer.
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Geprägt wurden sie durch ganz andere Erfahrungen als ihre jungen Kollegen der Generation Y. Der Nachwuchs ist gefragt wie nie, während sich Babyboomer als Berufsanfänger in einer ausgeprägten Ärzteschwemme behaupten mussten. „Auf einer halben Stelle voll arbeiten“, beschreibt der niedergelassene Urologe Dr. Götz Geiges im Interview seine damaligen Erfahrungen. Medizinstudent Lukas Hinkelmann weiß noch nicht, ob er sich die vorherrschenden Arbeitsbedingungen im Klinikbetrieb „antun“ möchte. (Das Gespräch mit vier Ärzten – Babyboomer und Generation Y – lesen Sie auf Seite 5)
Was der medizinische Nachwuchs von seiner Berufstätigkeit erwartet, hat die KBV im „Berufsmonitoring Medizinstudierende 2018“ ergründen lassen. Der Befragung zufolge stehen ganz oben auf der Wunschliste die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geregelte Arbeitszeiten, die aber Flexibilität ermöglichen, und auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu sein. Für Frauen – ihr Absolventenanteil beträgt im Jahr 2015 rund 67 Prozent – sei insbesondere Teilzeittätigkeit attraktiv. Als Folge dessen konstatiert der Bericht eine Angebotsverknappung: Die Zahl der berufstätigen Frauen habe von 2000 bis 2007 um 17,1 Prozent zugenommen, das Volumen der von ihnen geleisteten Wochenstunden dagegen nur um 9,1 Prozent. Für Babyboomer sind starre Strukturen und ausgeprägte Hierarchien Teil ihrer Sozialisation, die Jungen fühlen sich davon mehrheitlich abgeschreckt. Im Monitoring-Bericht sind folgende Kommentare dazu nachzulesen:
Grundsätzlich ist es für den medizinischen Nachwuchs eine attraktive Option, angestellt zu arbeiten – sei es im Krankenhaus oder im ambulanten Sektor, dort beispielsweise in einem medizinischen Versorgungszentrum. Die Einbindung in ein medizinisches Team ist vielen wichtig. Sich selbst niederzulassen reizt dagegen immer weniger, als abschreckend werden das Investitionsrisiko und die Bürokratie empfunden. „Wir ambulanten Ärzte sind ein Auslaufmodell“, konstatiert etwa Praxisinhaber Geiges.
Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die bisherige Versorgungsorganisation mit zwei starr voneinander getrennten Sektoren und der Dominanz der Einzelpraxis im niedergelassenen Bereich kein Zukunftsmodell sein wird. Wenig überraschend ist es daher, dass sich immer mehr junge Mediziner organisieren, um das hiesige System nach ihren Vorstellungen umzubauen, zu verbessern. Umtriebig ist etwa die Initiative Hashtag Gesundheit. Auch das Bündnis Junge Ärzte macht von sich reden. Auf dem Ärztetag im vergangenen Jahr stellte Dr. Thomas Maibaum den Antrag, dass in Gremien und Ausschüssen der Bundesärztekammer (mit mehr als fünf Mitgliedern) eine junge Ärztin oder ein junger Arzt kooptiert werden. Die Begründung: „Wie unter anderem in den Diskussionsforen junger Ärztinnen und Ärzte im Vorfeld der Ärztetage ersichtlich wird, sind die Probleme und die Problemlösungsstrategien der jungen Kolleginnen und Kollegen different zu denen der älteren Kollegen.“ Trotzdem seien Ärztinnen und Ärzte unter 50 Jahren kaum in berufspolitischen Gremien vertreten. Allen Unterschieden zum Trotz sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass Ärzte verschiedener Generationen auch vieles eint. Ihre Wünsche und Werte liegen oft gar nicht allzu weit auseinander.* Ein Grundthema, das alle umtreibt, ist die fortschreitende Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung der Versorgung. Um dieser Herausforderung angemessen zu begegnen, ist ein generationsübergreifendes Engagement vonnöten.
* Babyboomer und Generation Y als Beschäftigte: Was eint, was trennt? K. Zok, M. Pigorsch, H. Weirauch. In: Fehlzeitenreport 2014.
Generationen-Guide
Leben, um zu arbeiten: Die Babyboomer, geboren zwischen 1946 und 1964, haben das Wirtschaftswunder erlebt und gehören zum geburtenreichsten Jahrgang. Viele rückten die Arbeit in den Mittelpunkt ihres Lebens, sie prägten den Ausdruck Workaholic.
Arbeiten, um zu leben: Generation X ist die Sandwich-Generation zwischen den jüngeren Ypsilonern und den älteren Babyboomern. Ihre jüngsten Vertreter sind Ende dreißig, Anfang vierzig, die ältesten befinden sich in ihren Fünfzigern. Über sie wird geschrieben, dass das berufliche Vorankommen ihr wichtigstes Ziel bei der Suche nach einem Job sei.
Arbeiten und Leben verbinden ist für die Generation Y – gesprochen Why (engl. warum) wichtig. Die Millennials hinterfragen vieles, streben nach Selbstverwirklichung, arbeiten gern im Team und sind hervorragend vernetzt, heißt es über sie.
„OK Boomer“ sagen die Millennials zu Babyboomern, die ihrer Meinung nach vom modernen Leben nun wirklich keine Ahnung mehr haben.
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Dollman: Wir mussten uns wahnsinnig nach der Decke strecken, um eine Stelle zu bekommen. Damals gab es einen ganz schwierigen Arbeitsmarkt. Mittlerweile bilde ich viele Mediziner aus und wenn ich denen erzähle, was wir alles anstellen mussten, um einen Job zu bekommen, kommt es mir so vor, als würde ich vom Krieg erzählen.
[caption id="attachment_2858" align="aligncenter" width="1168"]Was mussten Sie alles anstellen?
Geiges: Auf einer halben Stelle Vollzeit arbeiten.
Dollman: Viel Extra-Arbeit war ganz normal. Ich habe am Moabiter Krankenhaus in der Chirurgie angefangen, dort ging es sehr hierarchisch zu. Der Chefarzt hat beispielsweise verlangt, dass die Assistenten samstags seine Patienten visitieren. Dienstpläne haben keinen interessiert. Wir mussten alle am Wochenende antreten, außerhalb unserer Arbeitszeit. Das hat uns sehr beschäftigt, auch das AiP fanden wir unfair, dagegen haben wir noch gegen Ende meiner Studienzeit demonstriert.
Geiges: Ich war der erste AiP-Jahrgang und gehörte auch zu den Ersten, die ein mündliches Examen machen durften. Mein erstes Gehalt betrug 806 DM netto. Zum Vergleich: Für die Miete musste ich in Wangen im Allgäu 800 DM bezahlen. Ohne Dienste hätte ich mich nicht finanzieren können. Durch diesen Mechanismus wurde man vom System aufgesaugt und instrumentalisiert.
Das hat Ihre Generation stark geprägt?
Dollman: Bis zum heutigen Tag. Allerdings haben wir damals auch etwas Gutes mitbekommen: Wir sammelten unglaublich viel Berufserfahrung in sehr wenigen Jahren. Während der Unizeit haben wir uns auch damit beschäftigt, wie Medizin in anderen Ländern organisiert ist – vor allem in Entwicklungsländern. Barfußmedizin heißt das.
Aulenkamp: Barfußmedizin?
Dollman: Ja, wir haben geguckt, wie Medizin in Afrika organisiert ist, was es dort für Strukturen gibt und wie man sich engagieren kann. Dazu gab es Initiativen und Vorlesungsreihen.
Geiges: Für mich war HIV/Aids das bestimmende Thema. Ich werde nie vergessen, wie uns ein junger Virologe, der gerade aus den USA kam, seine Eindrücke geschildert hat. In den 80er Jahren ist diese aus heutiger Sicht unvorstellbare Panik ausgebrochen.
Aulenkamp: Ich finde es spannend, dass uns diese Themen auch heute noch beschäftigen. Die Barfußmedizin von damals ist jetzt der Public-Health-Austausch. Dazu gibt es bei der Bundesvertretung der Medizinstudierenden einen eigenen Bereich. Und zu HIV/Aids klären viele Medizinstudierende in den Schulen auf – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Was treibt die junge Generation an, mit welcher Motivation gehen Sie in den Arztberuf?
Aulenkamp: Mein damaliger Antrieb war, verstehen zu wollen, wie der Körper funktioniert, und Menschen helfen zu können. Mir ist Engagement und einen Beitrag zu leisten schon immer wichtig gewesen und als Mediziner kann man sehr konkret helfen.
Haben Sie den Eindruck, dass Sie aufgrund der günstigen Arbeitsmarktsituation Ihren Arbeitsplatz heute stärker mitgestalten können?
Aulenkamp: Überhaupt nicht, der Wandel ist so schleppend. Deshalb engagieren sich mittlerweile viele junge Ärztinnen und Ärzte, um etwas verändern zu können. Ich kenne viele, die sich nach ihrem Studium eben nicht in den klinischen Alltag einspannen lassen wollen. Auch das Thema Überstunden ist noch immer aktuell: Bei Freunden von mir ist ein Drittel der Arbeitszeit unbezahlt.
Hinkelmann: Ich habe den Eindruck, dass die günstige Stellensituation der einzige Unterschied zu früher ist.
Ihr Ziel steht bereits fest, Herr Hinkelmann: Später wollen Sie in der Psychiatrie arbeiten.
Hinkelmann: Das stimmt. Allerdings gibt es immer wieder Phasen, in denen ich mich frage, ob ich wirklich in die Klinik gehen und mir die aktuellen Arbeitsbedingungen antun soll. Hoffentlich habe ich nach meinen Famulaturen keine Zweifel mehr, wenn ich in der Praxis erlebt habe, was ich bewirken kann.
Den Klinikbetrieb haben Sie bereits aus der Perspektive des Krankenpflegers erlebt.
Hinkelmann: Die Bedingungen sind sehr ähnlich. Den Beruf des Pflegers würde ich sehr gerne ausüben, aber nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen. Ein befreundeter Mitauszubildender meinte während der Ausbildung zu mir, dass selbst wenn 95 Prozent der Arbeitszeit blöd sind, die restlichen fünf Prozent, in denen Zeit ist, sich richtig mit Patienten zu beschäftigen, genug motivieren, weiterzumachen.
Geiges: Diese fünf Prozent, die es wert machen, werden allerdings instrumentalisiert.
Beide Generationen haben das Gefühl, über die Maße beansprucht zu werden. Demoralisiert das System?
Dollman: Es stellt eine Menge Forderungen an uns, darunter leiden wir. Aber früher war es wirklich schlimmer. Wir bemühen uns heutzutage, die Ausbildung sehr ernst zu nehmen. Die jungen Ärzte haben ganz andere Forderungen an uns und die Ausbildung – was ich gut finde, weil das bei uns früher zu kurz kam. Heutzutage werben wir um die Jungen und versuchen, für sie gute Bedingungen zu schaffen.
Aber?
Dollman: Obwohl ich den Beruf immer wieder ergreifen würde, weil es ein toller Job ist, Ärztin zu sein, sind die Bedingungen in der Medizin immer noch schwierig. Wir sind halbe Manager geworden und müssen uns sehr viel mit Ökonomisierung auseinandersetzen. Das ist ein Grundthema geworden.
Aulenkamp: Ökonomie an sich ist nichts Schlechtes, die Frage ist für mich, wo die Kommerzialisierung anfängt.
Dollman: Bei meinen Chefarztbesprechungen geht es um Finanzen, um unser Überleben als Wirtschaftsunternehmen. Das können wir nicht ignorieren. Schreiben wir rote Zahlen, können wir unsere Arbeit nicht mehr ordentlich machen. Das sitzt uns die ganze Zeit im Nacken.
[caption id="attachment_2981" align="alignright" width="1200"]Geiges: Als Niedergelassener erlebe ich genau das gleiche: Wenn ich keine schwarze Null mehr schreibe und pleitegehe, kann ich nichts Gutes mehr bewegen – und ich glaube, dass wir gute Medizin machen. Andererseits denke ich auch, dass wir Mediziner uns nicht wundern dürfen.
Warum?
Geiges: Das Hamsterrad wurde zwar von anderen hingestellt, aber wir Mediziner sind hineingestiegen und haben es beschleunigt – und zwar in vielen Bereichen.
Können Sie welche nennen?
Geiges: Damals waren es die Kollegen, die zu immer mehr Diensten bereit waren. Heute sind es die Abrechnungsziffern, die nicht budgetiert sind. Die laufen wie geschnitten Brot und andere eben nicht.
Haben sich die Ärzte das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen? Was können die jungen Ärzte anders machen?
Hinkelmann: Ich finde das schwierig, weil ich auch die Situation in der Pflege kenne und die ist noch wesentlich schlechter.
Aber der Arzt ist im Unterschied zum Pfleger ein freier Beruf. Deshalb sollte man vermuten, dass er mehr Gestaltungsspielräume hat.
Aulenkamp: Aber wir lernen gar nicht, wie man gestalten kann und bekommen dafür viel zu wenige Tools und Methoden an die Hand! Früher waren für mich BWLer der Feind im Krankenhaus, bis ich in einer Studierendengruppe mit vielen BWLern war. Dort habe ich verstanden, dass es darum geht, wie wir als Menschen effizient zusammenarbeiten, was für Tools und Methoden man benutzen kann, um Konflikte zu lösen, Kommunikation zu verbessern und Prozesse effizient zu gestalten – damit es besser und nicht billiger wird. Dafür gibt es in den Gesundheitsfachberufen leider wenig Verständnis und der Fokus darauf fehlt. Manchmal fehlt die Zeit dafür. Daher lässt man sich so oft den Löffel aus der Hand nehmen und die Gestaltung übernimmt jemand anderes.
Wo passiert das?
Aulenkamp: Im niedergelassenen Bereich kommen die MVZ von anderen Trägern, von denen sich die Jungen anstellen lassen, weil sie sich um alles kümmern. Diese teilweise privaten Träger gehen mit der Zeit, was unserer Berufsgruppe manchmal schwerfällt. Ähnlich sehe ich das mit der Digitalisierung: Entweder machen es die großen Firmen von außen oder wir schauen, dass wir es selbst anpacken. Gestalten und nicht nur verwalten
Also reicht ein Medizinstudium heute nicht mehr? Sollten angehende Ärzte Wirtschaftswissenschaften gleich mit studieren?
Aulenkamp: Ein Studium sollte jeden befähigen, selbst zu denken sowie danach zu handeln, und das findet im Medizinstudium leider kaum statt. Ein Arzt ist nicht nur medizinischer Experte, sondern auch Kommunikator, Gelehrter, er ist Manager und Verantwortungsträger. Zu diesem Konstrukt zählen sieben Rollen und im Medizinstudium geht es leider zu sehr um den medizinischen Experten. Auch in der Weiterbildung und im klinischen Alltag sind die anderen Rollen unterrepräsentiert und es fällt schwer, dafür Raum zu schaffen. Anschließend wundert man sich im Gesundheitswesen, dass die Leute die anderen Rollen nicht gut ausfüllen.
[caption id="attachment_2982" align="alignright" width="1200"]Hinkelmann: Im Medizinstudium wird das Bulimielernen praktiziert: Auswendig lernen und für die Klausur wieder auskotzen. Wer das beherrscht, kann gut Medizin studieren. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, parallel Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Meine Motivation dafür ist, dass ich mich in dem Denken, das mir im Medizinstudium beigebracht wird, nicht ausschließlich wiederfinden kann.
Aber man braucht doch das Fachwissen.
Hinkelmann: Natürlich, aber die Frage ist, in welchen Veranstaltungsformen es vermittelt wird. In den Modellstudiengängen werden zwar neue Ideen umgesetzt. Leider sind die Veranstaltungen, die etwa problemorientiertes Lernen aufgreifen, die unbeliebtesten im ganzen Studium. Was aber sicher auch an der Sozialisierung der Dozenten liegt, die es dann trotz neuer Formate auf die übliche Weise lehren.
Wenn Sie das Medizinstudium reformieren könnten...
Aulenkamp: ... würden Führung und Management, alles rund um Arbeitskultur, mehr im Vordergrund stehen.
Traut sich der Nachwuchs deswegen nicht in die Niederlassung? Weil er so wenig über Personalführung, Betriebswirtschaft etc. weiß?
Geiges: Wir ambulanten Ärzte sind ein Auslaufmodell. Die neuen Kollegen werden nicht mehr bereit sein, 60- bis 70-Stunden-Wochen zu akzeptieren.
Hinkelmann: Definitiv nicht.
Geiges: Ich sehe daher die Digitalisierung auch als Versuch, die Lücken aufzufüllen, die fehlende Manpower zu kompensieren.
Dollman: Deshalb finde ich die Versorgungsforschung so wichtig, um herauszufinden, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen. Wenn zum Beispiel ein 85-jähriger Patient eine aufwendige kardiologische Intervention bekommt, wird sehr viel Hightech aus dem Regal geholt. Dann werden 20.000 Euro ausgegeben, ohne dass der Nutzen für den Patienten wirklich klar ist. Vielleicht wäre eine gut ausgebildete Pflegekraft auf der Intensivstation die bessere Investition gewesen. Es ist immer eine sehr technische Richtung, in die das Geld fließt. Bei dieser Ressourcenallokation sollten wir Ärzte uns gemeinsam mit der Pflege sehr viel stärker einbringen. Aber die Diskussion gehört auch noch mehr in die Gesellschaft, denn Patienten und Angehörige haben ebenfalls Ansprüche.
Geiges: Angesichts der Ökonomisierungsdiskussion finde ich es bemerkenswert, dass Sie, Frau Aulenkamp und Herr Hinkelmann, die Ökonomie mit im Blick haben beziehungsweise zusätzlich sogar studieren. Viele Ärzte studieren auch Jura oder BWL – aber kaum einer kommt auf die Idee, Philosophie mitzustudieren, wo Werte und Haltung eine Rolle spielen. Ich frage mich daher, welche Position wir Ärzte in der Gesellschaft einnehmen. Was ist unsere Kernmarke, unsere Kernbotschaft?
Was macht den Kern des Arztberufs aus? Und gibt es überhaupt einen unverrückbaren Kern oder ist der flexibel?
Hinkelmann: Für Patienten da zu sein und ihnen zu helfen, ist für mich das Wichtigste und das macht mir am meisten Freude.
Das sind die fünf Prozent.
Geiges: Die sind es, die uns alle antreiben.
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[caption id="attachment_2999" align="alignleft" width="500"]
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„Beide Erkrankungen existieren nicht parallel nebeneinander, sie verstärken sich gegenseitig. Sie sind auf mechanistischer Ebene miteinander vernetzt, weil die Pathomechanismen gemeinsam zutreffen“, erläutert Prof. Wolfram Döhner von der Charité Berlin. Zwar gibt es laut DHD klare Handlungsempfehlungen zur Diagnostik bei Diabetespatienten mit kardialen Komplikationen, allerdings würden diese nicht immer leitliniengerecht umgesetzt. Außerdem seien herzkranke Diabetiker mit optimalen medikamentösen Therapien unterversorgt. Die Wirksamkeit dieser Therapien sei hinsichtlich der Prognose nachgewiesen und in vielen Fällen interventionellen Maßnahmen gleichwertig oder sogar überlegen, heißt es in einer Publikation der Organisation. Für die Probleme macht Prof. Wolfgang Motz, Ärztlicher Direktor des Klinikums Karlsburg, das hierarchische Abrechnungssystem in den Krankenhäusern verantwortlich: „Aufgrund des Fallpauschalensystems können wir der Sache nicht gerecht werden“, sagt er. „Wir unterliegen gewissen ökonomischen Zwängen.“
[caption id="attachment_3016" align="alignnone" width="1200"]Die wirtschaftlichen Aspekte analysiert bei dem Pressegespräch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen. Ihm zufolge werden jährlich rund 16 Milliarden Euro an direkten Kosten für Diabetes ausgegeben. Nicht der Patient ohne Komplikationen sei das Problem, sondern der Diabetiker mit kardiovaskulärer Komorbidität. Hier würden die Kosten je nach Morbiditätsgruppe im Schnitt bei 20.000 bis 21.000 Euro im Jahr liegen. „Dass ein gesetzlich Versicherter mit Diabetes und Herzproblem deutlich teurer ist als ein Patient, der nur eines von beidem hat, ist ein Indikator für Versorgungsprobleme im System“, sagt Wasem. Es werde zu viel Geld für eine schlechte Versorgung ausgegeben. Die indikationsübergreifende Steuerung müsse verbessert werden. Wenn aus Anreizgründen nicht getan werde, was erforderlich sei, gebe es auch ein ethisches Problem.
Für die DHD ist der herzkranke Diabetiker ein Patient mit „maximal erhöhtem Risiko“. Der Stiftung zufolge versterben letztlich drei Viertel der Menschen mit Diabetes an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall. Bei Diabetes ist das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen zwei- bis vierfach erhöht. Bei Frauen steigt das Risiko um das Sechsfache. Bei bis zu 50 Prozent der Patienten in Behandlung von Herzspezialisten sind Diabetes oder Vorstufen nachweisbar.
Fitnessbezogene digitale Anwendungen werden in ihren Einsatzmöglichkeiten immer vielfältiger. Gut die Hälfte der Bevölkerung nutzt bereits diese elektronischen Hilfsmittel für Gesundheitszwecke – Tendenz stark steigend. Die Forscher kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Nutzung fitnessbezogener Apps langfristig die Einstellung zur Solidarität in der Krankenversicherung verändern kann. Bei den Anwendern steige die Wahrscheinlichkeit deutlich, das Solidarprinzip in der Krankenversicherung abzulehnen, heißt es. Offenbar reduzierten das zunehmende Wissen und die vermeintliche Kontrolle über individuelle gesundheitliche Vitalwerte die Akzeptanz der Menschen für solidarisch finanzierte Gesundheitssysteme.
Zwar stimmen etwa 75 Prozent der Bevölkerung dem Grundprinzip einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung zu. Dennoch sieht Studienleiter Prof. Remi Maier-Rigaud von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg Anzeichen dafür, „dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen einen langfristigen gesellschaftlichen Wertewandel hin zu mehr Eigenverantwortung verursacht“. Denn die Studie konnte zeigen, dass Nutzer eher für gesundheitsbewusstes Verhalten belohnt werden wollen als Nicht-Nutzer. Sie stimmten der Aussage eher zu, dass Versicherte, die regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen, geringere Beiträge zur Krankenversicherung zahlen sollten. Ebenso befürworten Nutzer von Fitness-Apps in höherem Maße die Belohnung von Personen, die ihre individuell gesammelten Daten mit ihrer Krankenkasse teilen. Ein weiteres Ergebnis: Beitragsdifferenzierungen auf der Basis verhaltensbedingter Gesundheitsrisiken finden in der Bevölkerung eine deutlich größere Zustimmung als Entsolidarisierungsoptionen bei nichtverhaltensbedingten Gesundheitsrisiken, etwa berufsbedingten oder genetischen Risiken.
Weiterführender Link
Die Ergebnisse beruhen auf einer repräsentativen bundesweiten Umfrage unter 1.314 Bürgern ab 16 Jahren. Die Studie wurde im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführt. Link: http://www.fes.de/cgi-bin/gbv.cgi?id=15883&ty=pdf
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Stichwort Mindestmengen: Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dem IQWiG dazu im vergangenen Jahr acht Prüfaufträge erteilt. Wie das Institut bei der Informationsbeschaffung und Bewertung vorgeht, stellt es ebenfalls im Methodenpapier dar. Untersucht werden Zusammenhänge zwischen Leistungsmenge und Qualität des Behandlungsergebnisses auf der Basis von Beobachtungsstudien oder kontrollierten Interventionsstudien. Drei Berichte sind 2019 bereits veröffentlicht worden: zu Stammzelltransplantationen, Lebertransplantationen und Lungenkrebs-Operationen.
Wie geht es weiter?
Bis zum 31. Januar 2020 konnten zum Entwurf der Version 6.0 Stellungnahmen abgegeben werden. Unter anderem zu den Änderungen bei der Ausmaßbestimmung bei stetigen Daten erwartet das Institut eine rege Diskussion in der Fachwelt.
Link zum Methodenpapier: https://www.iqwig.de/de/methoden/methodenpapier.3020.html
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[caption id="attachment_2683" align="alignleft" width="500"]Alle Analysen machen deutlich: In hoch entwickelten Gesellschaften hängt der wirtschaftliche und soziale Wohlstand von einem effizienten Gesundheitsschutz und einer maßgeschneiderten Versorgung ab. Deshalb müsse durch den übergreifenden Ansatz „Health in All Policies“ Gesundheit als das entscheidende Querschnittsthema der Politik etabliert werden, resümieren die Herausgeber Klaus Hurrelmann, Mujaheed Shaikh von der Hertie School und Claus Wendt von der Universität Siegen. Sie mahnen auch eine verbesserte Koordination zwischen den zahlreichen Akteuren an.
"Die großen Herausforderungen im Gesundheitsbereich werden sich nur erfolgreich angehen lassen, wenn die Beteiligung aller Akteure gewährleistet und deren Zusammenspiel transparenter wird", betont Mujaheed Shaikh. Der Professor of Health Governance beteiligt sich an der Initiative "Neustart" der Robert Bosch Stiftung, die Reformvorschläge für das Gesundheitswesen nicht nur mit Experten, sondern auch mit Bürgerdialogen erarbeitet. Die Stiftung hat auch den Governance Report unterstützt.
Weiterführender Link
Weitere Informationen zum Report:
www.governancereport.org
Zu den von der Leopoldina empfohlenen Maßnahmen gehören sowohl Prävention und die Änderung des individuellen Lebensstils als auch gesetzliche Regelungen wie gezielte Werbeverbote oder die Besteuerung einzelner Nahrungsmittel. Ziel müsse es sein, die Entstehung von starkem Übergewicht und Adipositas insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Eine These der Autoren lautet: „Maßnahmen, die nur einen Faktor verändern wollen, werden kaum erfolgreich sein.” Vielmehr sollten verschiedene Maßnahmen initiiert und in ihren Wirkungen und Wechselwirkungen wissenschaftlich begleitet werden.
Die Experten weisen außerdem darauf hin, dass Stigmatisierung von Übergewicht und Adipositas zu emotionalen Beeinträchtigungen, Depressionen und einer Verschlechterung der Lebensqualität der Betroffenen führen könne. Einer Stigmatisierung der Betroffenen sollte durch die Vermittlung von vertieftem Wissen über die vielfältigen Ursachen und Faktoren von Übergewicht entgegengewirkt werden. Eine weitere Forderung: „Menschen, die von Adipositas betroffen sind, müssen adäquat mit evidenzbasierten Therapieoptionen versorgt werden.“ Das gelte insbesondere für chirurgische Maßnahmen bei Menschen mit schwerer Adipositas.
Sowohl die Erkrankung selbst als auch die Wahrnehmung von Adipositas scheinen mit sozioökonomischen Faktoren wie Bildung und Einkommen zusammenzuhängen. Im Rahmen einer systematischen Literaturübersicht beschäftigen sich Wissenschaftler der SRH Hochschule für Gesundheit mit der Frage, ob Stigmatisierung und Diskriminierung vom sozioökonomischen Status abhängig sind. Eindeutige Verbindungen zwischen sozioökonomischem Status und Stigmatisierung bzw. Diskriminierung von Menschen mit Adipositas können sie zwar nicht feststellen. Analysiere man allerdings die Studienergebnisse nach ihrer Herkunft, lassen sich Unterschiede ausmachen – je nachdem, welche kulturellen und staatlichen Strukturen in den jeweiligen Untersuchungsländern vorliegen, teilen die Wissenschaftler um die Vizepräsidentin der Hochschule, Prof. Claudia Luck-Sikorski, mit. Zuvor haben sie bereits Ergebnisse zu diskriminierenden Einstellungen gegenüber Menschen mit Adipositas vorgestellt. Dafür wurden 179 Studienteilnehmer befragt, wie hoch der prozentuale Beitragssatz der gesetzlichen Krankenkasse für Adipositaspatienten sein sollte. Als Vergleichswert wurde abgefragt, welchen Beitragssatz die Befragten für Menschen mit Normalgewicht vorschlagen würden. Das Ergebnis: Ein Viertel der Befragten schlägt einen signifikant höheren Beitragssatz für Menschen mit Adipositas vor. Insbesondere eine starke Ausprägung negativer Vorurteile gegenüber Menschen mit Adipositas ist mit erhöhten Beitragssätzen assoziiert.
Weiterführender Link
Diskussionspapier der Leopoldina:
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Diskussionspapier_Adipositas_web.pdf
„Wenn wir die Studien in Zukunft so konzipieren, dass sie sich stärker an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren, erhalten wir Studienergebnisse, die uns eher in die Lage versetzen, die Patientinnen und Patienten zielgerichteter und individualisiert medizinisch zu versorgen“, sagt Friedemann Paul vom Experimental and Clinical Research Center, einer gemeinsamen Einrichtung von Charité und Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin.
Eine Auswertung 29 zulassungsrelevanter Phase-III-Studien zu Arzneimitteln zur MS-Behandlung zeigt laut Arbeitsgruppe, dass die Patientenperspektive und damit Symptome wie Fatigue oder die gesundheitsbezogene Lebensqualität in der Regel nicht berücksichtigt wurden. Untersucht wurden dagegen biologische Indikatoren und Endpunkte zu bildgebenden Verfahren „mit unklarer Bedeutung für die Krankheitsschwere der Betroffenen“, heißt es.
Die Arbeitsgruppe empfiehlt, Patient-Reported Outcomes stärker in den Fokus zu rücken. Die individualisierte Ausrichtung der medi-zinischen Behandlung erfordert es, dass Studien nicht nur für die Zulassung relevante klinische und radiologische Befunde berücksichtigen, sondern auch die Patientenperspektive. Dies gelte insbesondere für sehr belastende Symptome wie Fatigue, Schmerzen, Depressionen und kognitive Einschränkungen. Ebenso sollten Studienteilnehmer länger beobachtet werden, um mehr Erkenntnisse über wesentliche Folgekomplikationen und Nebenwirkungen zu erhalten.
Die Charité hat 2016 eine Initiative für Patienten mit MS gestartet. Ihr Ziel ist, die Qualität klinischer MS-Studien zu verbessern. Sie vernetzt Betroffene, Experten, Behörden, Institutionen sowie Unternehmen. Unterdessen werden Vorwürfe an deutsche Unikliniken laut, dass sie die Veröffentlichung klinischer Studien vernachlässigen. Gemeinsam mit TranspariMED hat die BUKO Pharma-Kampagne untersucht, ob deutsche Universitäten die Resultate von Medikamentenstudien veröffentlichen. Laut EU-Gesetzgebung müssen die Ergebnisse zwölf Monate nach Abschluss im europäischen Register EudraCT hinterlegt werden. Der Untersuchung zufolge sind im Schnitt nur 6,7 Prozent aller Studien zeitgerecht veröffentlicht worden. Die Ergebnisse von 445 klinischen Studien fehlten. „Die Berliner Charité trägt zur Lücke mit allein 68 fehlenden Berichten bei“, kritisiert die BUKO Pharma-Kampagne. Das Universitätsklinikum habe damit nur drei Prozent der fälligen Studienergebnisse veröffentlicht. Positiv falle dagegen die Uni Münster auf, die immerhin 61 Prozent der Ergebnisse in EudraCT publiziert hat.
Weiterführende Links
Clinical Trial Transparency at German Universities:
https://bukopharma.de/images/aktuelles/CT_Transparency_German_Uni_2019.pdf
Suggestions for improving the design of clinical trials in multiple sclerosis:
https://link.springer.com/article/ 10.1007%2Fs13167-019-00192-z
Künstliche Intelligenz (KI) weckt dem Institut zufolge „große Hoffnungen auf wegweisende Fortschritte für Therapie und Diagnostik, aber auch erhebliche Bedenken über Risiken und Nebenwirkungen“. Datensätze, Modelle und Algorithmen seien oft voreingenommen und berücksichtigten unter anderem Frauen nicht ausreichend. Dadurch verstärkten sich bestehende Ungleichheiten, vergangene und gegenwärtige Vorurteile würden in die Zukunft projiziert – mit Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden von Frauen. Auch in der Entwicklung und Programmierung von KI seien Frauen massiv unterrepräsentiert, dadurch fehlten die notwendigen vielfältigen Perspektiven.
Brigitte Strahwald vom Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München warnt, dass Probleme mit der Datenbasis und einem Genderbias bei der KI nicht außer Acht gelassen werden dürften. „Bestimmte Begriffe werden Männern zugeordnet“, sagt sie. Der Bias sei aber auch im echten Leben da und kein KI-spezifisches Problem. „Wir wissen nicht, ob KI diesen Bias verstärkt. Es ist ein blinder Fleck in der KI-Forschung“.
Ein aufschlussreiches Beispiel für solch einen Bias nennt Prof. Sabine Oertelt Prigione von der Gendermedicine Unit an der Radboud Universität in Nijmegen: Bei der Beschreibung der gleichen Symptome während eines Chats in einer Gesundheits-App wurde Männern geraten, in die Notaufnahme zu gehen – bei Frauen wurde eine Panikattacke oder Depression vermutet. KI sei in diesem Fall eine „Statistik von Stereotypen“.
Maria Klein-Schmeink, Grünen-Bundestagsabgeordnete und gesundheitspolitische Sprecherin, begrüßt bei der BIH-Veranstaltung ausdrücklich die Initiative der Spitzenfrauen Gesundheit. Diese kämpften dagegen, dass Frauen in fast allen Entscheidungsgremien des Gesundheitssystems und in allen Formen der Selbstverwaltung „im Grunde nicht oder spärlich vorkommen“. Es müsse sich etwas verändern, appelliert die Politikerin, die Versorgung sei an dieser Stelle eine Fehlversorgung, „weil sie nicht gendergerecht ist“. Patienten seien Objekt einer stark männlich geprägten Versorgungs- und Selbstverwaltungslandschaft.
[caption id="attachment_2614" align="alignnone" width="1200"]
„Die Vertrauensfrage in der digitalen Medizin“ lautet der Titel der BÄK-Veranstaltung. Dort unterstreicht Dr. Peter Bobbert die enorme Geschwindigkeit, mit der sich der digitale Wandel vollzieht. Das sei in der Vergangenheit mehrfach unterschätzt worden. Dem Vorsitzenden des Kammerausschusses „Digitalisierung der Gesundheitsversorgung“ ist es ein wichtiges Anliegen, dass die digitale Medizin „nicht nur eine andere, sondern eine bessere Medizin“ wird. In deren Mittelpunkt habe weiterhin die Menschlichkeit zu stehen.
[caption id="attachment_2488" align="aligncenter" width="1200"]Ähnlich sieht es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der betont, dass ärztliches Handeln weiterhin von dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient geprägt sein werde. Er geht auch auf Parameter ein, die das Vertrauen in die digitale Medizin stärken. Dazu gehört für den CDU-Politiker, dass sich Ärzte – aber auch andere Gesundheitsberufe – Kompetenzen in diesem Bereich aneignen. Das geplante Digitale-Versorgung-Gesetz sieht vor, dass Ärzte künftig Apps auf Rezept verschreiben können.
Spahn ist davon überzeugt, dass das Vertrauen neben einer robusten Datensicherheit und einem verlässlichen Datenschutz auch dadurch wächst, wenn positive Auswirkungen im Versorgungsalltag für die Patienten spürbar werden. Als Beispiel nennt er die Video-Sprechstunde. Grundsätzlich wirbt er dafür, das „Digitale nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung“ wahrzunehmen und es selbst zu gestalten anstatt es zu erleiden. Denn dann könne daraus etwas Gutes werden.
[caption id="attachment_2489" align="alignleft" width="1200"]
Bei der folgenden Diskussion geht es insbesondere um Apps. Dr. Martin Hirsch, Mitbegründer der Gesundheitsapp Ada, stellt in diesem Kontext die Vertrauensfrage anders herum: „Wie steht es mit dem Vertrauen gegenüber Ärzten, die sich solchen Tools verweigern?“ Für den Vorstandsvorsitzenden der Barmer, Prof. Christoph Straub, sind Apps keine stabilen Produkte, weil bei ihnen Veränderungen miteingebaut seien. Das erschwere valide Urteile. Grundsätzlich wirbt er für eine gewisse Risikobereitschaft, denn: „Entwicklung ohne Risiko ist unrealistisch.“ Der Unfallchirug Dr. Sebastian Kuhn, Universitätsmedizin Mainz, stellt die ärztliche Aufgabe heraus, technische Innovationen in sinnvolle Patientenbehandlungen zu übersetzen. Als historisches Beispiel nennt er das Röntgen. Bevor die Strahlen ihren Siegeszug in der Medizin antraten, hätten sich Jahrmarktbesucher zur allgemeinen Belustigung durchleuchten lassen. In der Medizin sei diese Übersetzungsleistung daher nichts Neues, sie bestimme ärztliches Handeln seit Generationen.
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Was müssen die nächsten konkreten Schritte der Ärzteschaft sein, um den digitalen Wandel in der Medizin nicht nur zu erdulden, sondern aktiv mitzugestalten?
Dr. Bobbert: Um gestalten zu können, benötigt man einerseits den Willen und andererseits die Expertise.
Der Wille besteht bereits spätestens seit dem Ärztetag in Freiburg 2017, als die Ärzteschaft zum ersten Mal im breiten Konsens die Notwendigkeit des konstruktiven Handelns im digitalen Wandel der Medizin einforderte. Gleichzeitig hat sie betont, dass die Digitalisierung in der Medizin eine große Chance und kein Risiko ist. Die weiteren Schritte sind der schnelle Erwerb einer ausreichenden digitalen Kompetenz und Expertise. In der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen digitale Inhalte implementiert werden, um die Voraussetzung zu schaffen, dass die Ärzteschaft den Wandel kompetent und produktiv mitgestalten kann. Zudem müssen wir in der ärztlichen Selbstverwaltung mehr als bisher der Politik konkrete Angebote bei der Umsetzung und Realisierung digitaler Anwendungen machen. Wir müssen es sein, die Antworten auf Fragen finden, wie zum Beispiel eine nützliche elektronische Patientenakte oder wie aus ärztlich wissenschaftlicher Sicht eine sinnvolle Einführung von digitalen Gesundheitsapps auszusehen hat.
Welche Hürden müssen dabei abgebaut werden?
Dr. Bobbert: Es ist die Hürde zu nehmen, nicht mehr nur Ziele im Wandel zu beschreiben, sondern konkret bei der Umsetzung Wege zu bauen. Wir dürfen uns nicht auf andere verlassen, sondern müssen unsere Verantwortung wahrnehmen.
In welchen Bereichen sind die Ärzte bei der digitalen Medizin gut aufgestellt, wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?
Dr. Bobbert: Wir konnten in den letzten Jahren schon wichtige Entwicklungen im ärztlichen Arbeitsalltag und in der wissenschaftlichen Tätigkeit verzeichnen. Das Interesse und Engagement der Ärzteschaft, digitale Anwendungen effektiv und schnell in unseren Arbeitsalltag zu implementieren, ist hoch. Digital Health spielt bereits heute in der Nachwuchsförderung, in der Wissenschaft und an den Universitäten eine entscheidende Rolle. Wir haben einen hervorragenden Prozess bereits begleiten können, der in Zukunft wichtige Impulse geben wird. Berufspolitisch müssen wir allerdings noch in unserem Handeln besser werden. Es fehlt nicht am Willen. Aber wir müssen verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen, um auf politischer Ebene wieder als der kompetente Ansprechpartner auch im digitalen Wandel angesehen zu werden. Dies bedeutet, dass wir beharrlich und schnell stets konkrete Wege aufzeigen müssen, wie digitale Anwendungen in die Realität umgesetzt werden können. Die Zeit des Betonens, warum etwas nicht geht, ist vorbei. Die Ärzteschaft gestaltet.
In den vergangenen Wochen haben Ärzte und Apotheker erneut vor Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln gewarnt, die zunehmend die Patientenversorgung bedrohen. Dr. Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, fordert die Politik auf, konsequent gegen solche Engpässe vorzugehen. Tatsächlich tut sich etwas: In einem Positionspapier skizzieren Gesundheitspolitiker der Unionsfraktion Lösungsvorschläge.
Einer der Vorschläge lautet, eine nationale Arzneimittelreserve an verschiedenen Stellen der Verteilkette aufzubauen. Damit ist keine statische Einlagerung in zentralen Depots gemeint. Geprüft werden soll eine Verlängerung der Vorhaltepflicht. Die verpflichtende Vorratshaltung würde jene Arzneimittel betreffen, die versorgungsrelevant sind und bei denen ein Lieferengpass droht. Für die stationäre Versorgung soll geprüft werden, ob bei diesen Medikamenten die Vorratshaltung in der Krankenhausapotheke von zwei auf vier Wochen verlängert werden kann. Ambulanter Sektor: Angeregt wird eine Verlängerung der Vorratshaltung beim Großhandel und beim Hersteller im vergleichbaren Zeitraum. Lundershausen plädiert dafür, dass Ärzteschaft und Politik gemeinsam mit Kostenträgern und Pharmaunternehmen festlegen sollten, welche Medikamente in welchem Umfang vorgehalten werden müssen. Sie sagt: „Es wäre doch eine Schildbürgerei sondergleichen, wenn Deutschland die Impfpflicht einführt, während gleichzeitig die dafür notwendigen Impfstoffe fehlen“.
Weitere Vorschläge aus dem Papier der Union: „Die bereits für Krankenhausapotheken bestehende Meldepflicht muss auf versorgungsrelevante Medikamente für die ambulante Versorgung ausgedehnt werden.“ Rabattverträge sollten außerdem nur ausgeschrieben werden, wenn mindestens drei Anbieter und zwei Wirkstoffhersteller vorhanden sind. „Um die Vielfalt und damit eine weitere Unabhängigkeit zu gewährleisten, sollte die Vergabe grundsätzlich auf mindestens zwei unterschiedliche Anbieter verteilt werden“, heißt es weiter. Außerdem wird eine stärkere regionale Zentralisierung des Rabattvertragssystems ins Spiel gebracht – soweit dies vergaberechtlich zulässig ist. Als Vorbild werden die Rabattverträge bei der parenteralen Zubereitung genannt.
Die Unionspolitiker mahnen auch mehr Transparenz an: insbesondere, was den Export von Arzneimitteln betrifft, die eigentlich zur Versorgung der Patienten in Deutschland zur Verfügung stehen sollten, jedoch aufgrund der globalen Marktsituation in andere Länder exportiert werden. Hierzu soll das Bundesgesundheitsministerium eine wissenschaftliche Studie in Auftrag geben. Als ultima ratio wird sogar eine Exportbeschränkung im Falle bestehender Lieferengpässe genannt. Last but not least soll die Bundesregierung die pharmazeutische Produktion in der EU zu einem Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 machen. Nationale Alleingänge helfen nicht, um die Versorgung der Patienten sicherzustellen, findet auch Dr. Oliver Funken. Der Vorsitzende des Hausärzteverbandes Nordrhein macht sich für Regelungen auf EU-Ebene stark, um Produktionsstätten wieder nach Europa zu holen. Eine europäische Lösung hätte viele Vorteile: kontinuierliche Qualitätskontrollen, verkürzte Lieferwege, mehr Arbeitsplätze. Funken: „Auch, wenn hierdurch die Preise steigen, sollte es uns die Sicherung der Versorgung wert sein.“
Der Hausarzt berichtet, dass mittlerweile selbst gängige Präparate kurzfristig nicht lieferbar seien. „Lieferengpässe treten bei Routineverordnungen hochfrequent auf“ – bei hochpreisigen, patentgeschützten Arzneimitteln hingegen derzeit noch selten. 229 Humanarzneimittel führt das BfArM gegenwärtig mit einem Lieferengpass (Stand Mitte September).
Auch bei den Apothekern gewinnen Lieferengpässe an Bedeutung. Als eines der größten Ärgernisse im Berufsalltag bezeichnen sie mittlerweile 91,2 Prozent der selbstständigen Apotheker. Im Jahr 2016 hatten sich nur 35,5 Prozent der Inhaber darüber geärgert. Sechs von zehn Apothekern (62,2 Prozent) geben an, dass sie und ihre Beschäftigten mehr als zehn Prozent ihrer Arbeitszeit dafür aufwenden, um bei Lieferengpässen gemeinsam mit Ärzten, Großhändlern und Patienten nach Versorgungslösungen zu suchen. Das sind Ergebnisse des Apothekenklima-Index 2019, einer repräsentativen Meinungsumfrage von Marpinion im Auftrag der ABDA.
Deren Vizepräsident Mathias Arnold untermauert die erfragten Angaben zum Zeitaufwand mit Verordnungszahlen des Deutschen Arzneiprüfungsinstituts: Demnach hat sich die Anzahl der Rabattarzneimittel, die aufgrund eines Lieferengpasses ausgetauscht werden mussten, bei gesetzlich Krankenversicherten von fünf Millionen Packungen im Jahr 2016 auf 9,3 Millionen Stück im Jahr 2018 fast verdoppelt. Betroffen ist jedes 50. Rabattarzneimittel (9,3 von 450 Millionen Packungen im Jahr 2018). Im Jahr 2018 haben die Top-10-Wirkstoffe mit 4,7 Millionen Arzneimitteln fast die Hälfte der 9,3 Millionen Lieferengpässe ausgemacht. Hochdosiertes, rezeptpflichtiges Ibuprofen belegt mit 1,6 Millionen Packungen den ersten Platz auf der Liste. Mit fünf Wirkstoffen unter den Top 10 sind die Blutdrucksenker Valsartan, Ramipril und Bisoprolol sowie deren Kombinationen mit Diuretika (harntreibende Mittel) ebenfalls weit oben.
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[caption id="attachment_2518" align="aligncenter" width="1200"]Die Zahlen zeigen, dass das Problem nicht ausgesessen werden kann, es gewinnt zunehmend an Brisanz. Tatsächlich hat die Politik in der Vergangenheit bereits mehrfach reagiert. Stichwortartig genannt seien der Jour fixe des BfArM, die Beendigung der Ausschreibung für Grippeimpfstoffe und der Wechsel zu einem europäischen Referenzpreissystem. Bei der Ausschreibung von Rabattverträgen wurde nachjustiert sowie eine Melderegelung an Krankenhäuser eingeführt.
Doch das alles reicht nicht, denn mittlerweile ist offensichtlich – und das wird auch im Papier der Union eingeräumt – dass eine nachhaltige Verbesserung der Liefersituation zusätzliche Maßnahmen erfordert. So sinnvoll Reserven und Co. sein mögen, letztlich wird damit Symptommanagement betrieben. Die wahre Herausforderung besteht darin, eine weitere Abwanderung insbesondere der Wirkstoffproduktion zu verhindern oder wie es im Papier heißt „bestenfalls Produktionen nach Europa zurück zu verlagern.“ Ob und welche Impulse dafür die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr zu setzen vermag, wird spannend.
[post_title] => Nicht lieferbar [post_excerpt] => Arzneimittel werden knapp – die Politik muss gegensteuern [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => nicht-lieferbar [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-11-13 09:42:31 [post_modified_gmt] => 2019-11-13 08:42:31 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2432 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2438 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [333] => WP_Post Object ( [ID] => 2440 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-11-12 19:43:26 [post_date_gmt] => 2019-11-12 18:43:26 [post_content] =>„Wir wollen, dass solche Behandlungen in Spezialzentren – in der Regel Uniklinika – erfolgen, weil dort eine besondere Expertise vorhanden ist“, sagt Ulrike Elsner, Vorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek), vor Journalisten. Die Anforderungen an diese Zentren seien neu und hätten wenig mit dem heutigen Zentrumsverständnis im Bereich der Krankenhausversorgung zu tun. Die Ersatzkassenvertreterin sieht dringenden Handlungsbedarf, weil bereits 107 Krankenhäuser aus unterschiedlichen Versorgungsstufen einen Antrag auf die Anwendung der sehr komplexen CAR-T-Zelltherapie gestellt haben. Hinzu kommt: 45 weitere Verfahren der Gen- und Zelltherapie stehen in den nächsten Jahren vor der Zulassung. Neben der Beschränkung auf besondere Innovationszentren ist Elsner ein gesetzlich geregeltes Evaluierungsverfahren für die neuen Therapien wichtig. Dieses soll die Qualitäts- und Strukturanforderungen, die der Gemeinsame Bundesausschuss bereits erlassen hat, ergänzen.
[caption id="attachment_2523" align="aligncenter" width="1200"]Das Konzept wird von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Hämatologie und Onkologie (DGHO) mitgetragen. Prof. Bernhard Wörmann, medizinischer Direktor der DGHO, betont auf der Pressekonferenz: „Wir möchten nicht, dass auf der grünen Wiese irgendwo ein Zentrum für CAR-T-Zellen entsteht, die jeden nehmen, der gerade passt“. Aktuell wurden bisher in Deutschland 100 Patienten mit der neuen Therapie behandelt, allerdings habe man in den Zentren mehr als das Dreifache der Patienten gesehen, das bedeutet: „Die Auswahl der Patienten ist ein kritischer Punkt“. Wörmann sieht die Behandlung als schwierigen Cocktail: „Die Patienten stehen mit dem Rücken zur Wand und wir haben genetisch modifizierte Zellen.“ Eine weitere Zugabe seien die hohen Therapiekosten.
Bisher werden für die Verfahren Preise in sechsstelliger Höhe aufgerufen. Das sind Kosten, wie DKG-Generalsekretär Dr. Johannes Bruns betont, die das System mit seinen Mechanismen nicht direkt aufgreifen könne. Ralf Heyder vom Verband der Universitätsklinika (VUD) stellt das grundsätzliche Problem heraus: „Wir haben keinen wirklich guten Rechts- und Finanzierungsrahmen, um diese Themen vernünftig im System abzubilden.“ Bisher können bis zur korrekten Kostenabbildung einer medizinischen Innovation im deutschen Fallpauschalensystem Jahre vergehen, wie Bruns ausführt. Bis dahin müssten die Kliniken entweder den Einsatz neuer Verfahren auf eigene Kosten vorfinanzieren oder innerhalb des Verfahrens für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) individuelle und zeitlich befristete Entgelte mit den Kassen vereinbaren. Laut Bruns wird das NUB-Verfahren allerdings nur einmal im Jahr durchgeführt – Start ist immer im Oktober – und es dauere üblicherweise sechs bis 18 Monate.
Das Konzept der Ersatzkassen und Uniklinika sieht im Gegenzug zur Beschränkung der Leistungserbringung Erstattungssicherheit für die betreffenden Kliniken vor – und zwar ab Zulassung. Eine Art vorgeschaltetes NUB-Verfahren, ein „Fast Track“ für Innovationen, wie es VUD-Generalsekretär Heyder nennt. Um das zu installieren, ist aber der Gesetzgeber gefragt. Motivierend dürfte für diesen die Überlegung sein, dass mit CAR-T-Zellen künftig nicht nur weitere hämatologische Krebsarten, sondern auch solide Tumore behandelt werden könnten. Die klinischen Studien laufen. Dem Verband forschender Pharmaunternehmen (vfa) zufolge sind außerdem T-Zellen nicht die einzigen Immunzellen, die sich im Rahmen der Immunonkologie therapeutisch nutzen lassen. Auch die dendritischen Zellen eines Patienten kämen dafür in Betracht. Der Verband erwähnt außerdem den adoptiven Transfer von mesenchymalen Stammzellen (MSC) – Vorläuferzellen des Bindegewebes. „MSC lassen sich effizient mit eingeschleusten Genen modifizieren und zur zielgerichteten Therapie verschiedener Krankheiten anwenden.“ Es wird nicht bei Car-T-Zellen bleiben, sagt daher Bruns. Ihm geht es darum, dass System so zu organisieren, „dass das Versprechen eingehalten wird, dass hilfreiche Medikamente unmittelbar zur Verfügung stehen, unabhängig davon, ob sie in Klinik oder Praxis eingesetzt werden.“
Die Diskussion, wie sich die GKV auf die Modalitäten neuer Therapieprinzipen einstellt, schwelt seit der Zulassung der ersten CAR-T-Zelltherapien, Kymriah und Yescarta. Das Besondere an ihnen – neben den hohen Heilungschancen – sie müssen nur einmal verabreicht werden. Auf einer Veranstaltung des Forum Instituts wurde unter anderem über Abschreibungsmodelle und die Einführung eines Risikopools diskutiert. Derweil appelliert der vfa-Vorsitzende Han Steutel, neuen Therapieformen keine Steine in den Weg zu legen. Bereits heute werde CAR-T ausschließlich in hoch spezialisierten Zentren angewendet. Auch die gültige Erstattungssituation ziehe enge Grenzen. Der Gesetzgeber habe für die zellbasierte Gentherapie entschieden, dass der Preis zwischen Hersteller und Krankenkassen verhandelt wird. Zudem gibt es bereits heute sogenannte Pay-for-Performance-Vereinbarungen, die die Erstattung direkt an den Erfolg der Behandlung koppeln.
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Plädoyer für Eigenherstellung
Ersatzkassen und Uniklinika setzen sich auch dafür ein, dass die Innovationszentren künftig rechtsicher und wirtschaftlich tragbar „Eigenherstellung“ betreiben können. Man wolle sich bei diesen Therapieverfahren nicht völlig abhängig von der Industrie machen, heißt es. „Stattdessen brauchen wir eigene Möglichkeiten, um an neuen Therapien zu forschen und diese schnell und zu vertretbaren Kosten in die Patientenversorgung zu bringen“, meint Ralf Heyder.
Weiterführender Link
„Neue Therapieprinzipien – altes System“, Beitrag im GG Newsletter 45, Februar 2019
http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/ausgabe-45/neue-therapieprinzipen-altes-system/
Zwischen dem Streit um Krankenhausabrechnungen und dem Kalten Krieg bestehen erstaunlich viele Parallelen: Wir erleben einen Systemkonflikt, Polarisierungen, Stellvertreterkonflikte und einige Nebenkriegsschauplätze. Man könnte sich sogar bei der Klagewelle des vergangen Herbstes und dem daraufhin einberufenen Krisengipfel im Bundesgesundheitsministerium (BMG), an dem Kassen- und Klinikvertretern teilnehmen, an die Kubakrise erinnert fühlen.
Der Krisengipfel beim Minister wurde einberufen, nachdem sich im November vergangenen Jahres die Sozialgerichte innerhalb kürzester Zeit mit zehntausenden Klagen von Krankenkassen auf Rückzahlung abgerechneter Krankenhauskosten konfrontiert sahen. Auslöser dieser Klagewelle: ein Passus im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, der die Rückforderungsansprüche der Kassen gegen die Krankenhäuser rückwirkend von vier auf zwei Jahre verkürzt. Eine Übergangregelung lässt den Kassen bis zum 9. November 2018 Zeit, um Ansprüche, die vor dem 1. Januar 2017 entstanden waren, gerichtlich geltend zu machen. Der daraufhin einsetzende Klage-Tsunami konterkariert die eigentliche Intention des Gesetzgebers, nämlich für mehr Rechtsfrieden zu sorgen.
Zuvor hat nämlich insbesondere die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für böses Blut zwischen Kassen und Krankenhäusern gesorgt. Dabei geht es unter anderem um eine für die Schlaganfallbehandlung notwenige Strukturvorgabe: Eine Neurochirurgie muss entweder im Haus oder innerhalb von 30 Minuten erreichbar sein. Das BSG legt fest: „Dieser Zeitraum beginnt mit der Entscheidung, ein Transportmittel anzufordern, und endet mit der Übergabe des Patienten an die behandelnde Einheit des Kooperationspartners.“ Die Krankenhäuser haben bislang die 30 Minuten gemäß der Angaben des DIMDI auf die reine Transportzeit, Fahrzeit des Rettungswagens oder Flugzeit des Rettungshubschraubers, bezogen.
Dazu muss man wissen: Manche Leistungen im Krankenhaus werden anhand von sogenannten Komplexcodes abgerechnet. In ihnen sind bestimmte Strukturmerkmale enthalten, die das Krankenhaus erfüllen muss. Strukturmerkmale könne etwa die Anzahl und die Qualifikation beim Personal betreffen. Die Ausgestaltung von Komplexcodes erfolgt in der Zeit von April bis September für das folgende Jahr, federführend ist das DIMDI. Viele Komplexcodes sind – zum Teil erheblich – entgeltrelevant, erläutert der GKV-Spitzenverband in einem Positionspapier. Darin heißt es auch: „Die Prüfung der Krankenhausabrechnung von Komplexbehandlungen war besonders im Jahr 2018 streitbefangen.“
Streitbefangen klingt fast noch harmlos angesichts der zahlreichen und erbitterten Auseinandersetzungen und Klagen, die landauf und landab um Krankenhausabrechnungen geführt werden. Entsprechend rau ist der Ton bei den Lobbyisten in Berlin. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft etwa konstatiert, dass das Prüfsystem für Krankenhausabrechnungen „außer Kontrolle“ geraten sei. Es sei geprägt von einer überzogenen Misstrauenskultur durch die Krankenkassen, während sich die Kliniken in einer systematischen Verliererposition befänden. Naturgemäß anders sieht der Medizinische Dienst der Krankenversicherung die Lage. Er prüft im Auftrag der Kassen die Klinikrechnungen. Andreas Hustadt, Geschäftsführer des MDK Nordrhein, befürchtet angesichts einer sehr heterogenen Abrechnungsqualität der Kliniken, „dass das Ziel der richtigen und gerechten Vergütung im Krankenhausbereich verfehlt wird“. Der GKV-Spitzenverband wiederum hat den Eindruck, dass „Falschabrechner“ geschützt werden, da Krankenhäuser und Politik sich ausschließlich auf Prüfquoten der Krankenkassen fokussierten, die als Stein des Anstoßes gelten.
So ganz falsch scheint der Kassenverband mit seiner Einschätzung nicht zu liegen, immerhin warf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Kassen auf dem Deutschen Krankenhaustag 2018 vor, mit „Irrsinn, Starrsinn und Wahnsinn“ unterwegs zu sein. Verhalten sich die Kassen tatsächlich so irrational? Diese Diagnose ist nicht zutreffend, denn tatsächlich agieren alle Beteiligten höchst rational und folgen den Spielregeln des Systems: Die im Wettbewerb stehenden Krankenhäuser sind angesichts der unzureichenden Investitionskostenfinanzierung der Länder darauf angewiesen, aus DRGs und Zusatzentgelten zusätzliche Eigenmittel zu generieren. Bei den Kassen läuft der Wettbewerb vor allem über die Zusatzbeiträge. Der unterschiedliche Erfolg der Abrechnungsprüfung hat wiederum Einfluss auf die Höhe der jeweiligen Beiträge, wie unlängst der Bundesrechnungshof festgestellt hat.
Dr. Axel Meeßen, Geschäftsführer des MDK Berlin-Brandenburg, bringt das Problem wie folgt auf den Punkt. Auf einem von Gerechte Gesundheit veranstalteten Streitgespräch (lesen Sie dazu Seite 12) sagt er: „Jeder der Beteiligten – Krankenhaus, Kasse und MDK – verhält sich aus der Innensicht des Systems absolut logisch und nachvollziehbar, weil bestimmte Anreize gesetzt werden.“ Aus der Außensicht sei das System an manchen Stellen krank. Sein Kontrahent an dem Abend, Dirk Balster, findet sogar, dass das System „am Ende“ sei, so der kaufmännische Geschäftsführer des Chemnitzer Klinikums.
Im Unterschied zum ambulanten Sektor, wo die Kassenärztlichen Vereinigungen das Honorar der Ärzte von den Kassen mit befreiender Wirkung erhalten und selbst verteilen, findet im stationären Sektor mittlerweile ein systembedingtes Wettrüsten statt. Balster sagt: „Wir verbrennen unsere Fachkräfte in Dokumentation, Verteidigung und Abrechnung.“ Der aktuellen Krankenhauscontrolling-Studie zufolge gibt fast jedes zweite Krankenhaus (47 Prozent) an, in den letzten drei Jahren einen Personalzuwachs bei Codierfachkräften zu verzeichnen. Ähnlich sehe es beim MDK-Management aus, wo 37 Prozent der Häuser Personal aufstocken.
Auf der anderen Seite der MDK: 15 Dienste mit insgesamt fast 10.000 Mitarbeitern. Diese haben im vergangenen Jahr 5.729.000 sozialmedizinische Empfehlungen für die Krankenversicherung erstellt, davon 2.580.000 Krankenhausabrechnungsprüfungen. Beim MDK Baden-Württemberg gibt es eine sozialmedizinische Expertengruppe, die sich speziell mit Vergütung und Abrechnung beschäftigt und Codierempfehlungen formuliert. Nicht bekannt ist, wie viel Ressourcen und Personal die Kassen darüber hinaus selbst in den Kampf um Krankenhausabrechnungen stecken.
Das Fatale an diesem Wettrüsten ist, dass sich die dadurch gebundenen finanziellen und personellen Kapazitäten zunehmend zu Lasten der Patientenversorgung auswirken. Das kritisiert der Bundesrechnungshof in einem aktuellen Bericht zu dem Thema. Darin schätzt er, dass alle Krankenkassen in 2016 Rückforderungen von 2,2 Mrd. Euro durchsetzten. Dem stand im GKV-System ein vermuteter Aufwand von knapp 800 Millionen Euro gegenüber. Hinzu kommt Aufwand bei den Krankenhäusern, den der Bundesrechnungshof nicht beziffern kann.
Der Gesetzgeber hat Handlungsbedarf erkannt und will mit dem MDK-Reformgesetz gegensteuern. Es sieht eine Reihe von Änderungen bei den Rechnungsprüfungen vor, außerdem soll der MDK unabhängig von den Krankenkassen werden. Sowohl Kassen als auch Krankenhäuser können in dem Gesetzentwurf zwar positive Aspekte erkennen, doch das Problem der widersprüchlichen Systemanreize bleibt weitgehend ungelöst.
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So beschreibt der Bundesrechnungshof den Systemkonflikt
Krankenhäuser betreiben zur Optimierung ihrer Abrechnungen gegenüber Krankenkassen einen hohen Aufwand, der zunehmend auch ärztliches Personal bindet. Notwendige Investitionen erhöhen den Druck, bei Krankenhausabrechnungen möglichst „hoch zu codieren“ – auch, um sich gegenüber anderen Krankenhäusern Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Hinzu kommt, dass Krankenhäuser keine monetären Sanktionen befürchten müssen, wenn sie zu viel abrechnen. Auch dies schafft Anreize, die Möglichkeiten des DRG-Systems auszuschöpfen.
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Bei Krankenkassen besteht eine vergleichbare Situation. Sie betrachten Abrechnungsprüfungen und die erzielten Rückzahlungen ebenfalls als besonders wettbewerbsrelevant. Eine Ausweitung der Prüfungen lohnt sich grundsätzlich, weil dadurch noch mehr fehlerhafte Abrechnungen identifiziert und weitere Rückzahlungen erzielt werden. Allerdings werden die Krankenkassen durch die Aufwandspauschalen an die Krankenhäuser in den Fällen belastet, in denen die Überprüfung zu keiner Minderung des Abrechnungsbetrages führt. Diese Zahlungen beliefen sich im Jahr 2016 auf 144,5 Millionen Euro.
Die Lobby fährt bei den Krankenhausabrechnungen schweres Geschütz auf. Selbst der Minister spricht von Irrsinn und Wahnsinn. Wie wirkt sich das auf die Zusammenarbeit vor Ort aus? Wird der Ton rauer?
Balster: Der ist seit mehreren Jahren mehr als rau. Wir haben eine sehr angespannte Situation.
Und bei Ihnen, Herrn Meeßen?
Meeßen: Natürlich geht es kontrovers zu. Aber das Eine ist, in der Sache hart zu sein und das Andere, trotzdem respektvoll miteinander umzugehen. Und das erwarte ich von allen Beteiligten.
Der GKV-Spitzenverband verkündet immer wieder, dass jede zweite geprüfte Krankenhausabrechnung falsch sei. Rechnen die Kliniken wirklich so viel falsch ab?
Meeßen:Jeder der Beteiligten – Krankenhaus, Kasse und MDK – verhält sich aus der Innensicht des Systems absolut logisch und nachvollziehbar, weil bestimmte Anreize gesetzt werden. Aus der Außensicht ist das System an manchen Stellen krank.
Balster: Aus meiner Sicht ist das System sogar am Ende. Wir verbrennen unsere Fachkräfte in Dokumentation, Verteidigung und Abrechnung. Die Gesetzgebung verschärft den Pflegemangel. Um zusätzliche Erlöse zu generieren, versuchen die Kliniken, neue Bereiche aufzubauen. Dabei stehen wir in einem Hyperwettbewerb um Fachkräfte. Der Personalmarkt stellt eine immense Belastung für die Krankenhäuser dar. Und auf der anderen Seite begegnet uns der MDK mit 2.100 Vollzeitkräften, von denen ungefähr die Hälfte in der Abrechnungsprüfung beschäftigt sind. Wir Kliniken befinden uns in der Defensive.
Fast jedes zweite Krankenhaus stockt das Personal fürs Codieren auf. Beim MDK sieht es nicht viel anders aus. Immer mehr Ressourcen fließen in Überwachung und Kontrolle. Wie lange geht das noch so weiter?
Meeßen: Vollkommen richtig ist, dass das System kompliziert ist. Wir haben zig Codes für Krankheiten und Prozeduren. Die Gemeinsame Selbstverwaltung legt fest, wann was und wie codiert werden kann und darf. Und die Kalkulationshäuser bilden die Realität für die deutsche Kliniklandschaft ab. Das Ziel ist ja nicht, den Krankenhäusern weniger Geld zu geben, als da ist. Eigentlich müsste jedes Krankenhaus eine adäquate Vergütung bekommen, wenn es den Aufwand abgebildet über Krankheit und Maßnahmen codiert angibt.
Aber?
Meeßen: Es gibt Lücken. Eine ist die fehlende Investitionskostenfinanzierung durch die Länder. Die fehlt in den Kliniken und muss aus den DRGs gedeckt werden, die dafür nicht kalkuliert sind.
[caption id="attachment_2536" align="alignleft" width="1200"]Was sind weitere Lücken?
Meeßen: Alle reden von Digitalisierung. Das sind Zusatzinvestitionen. Ich sehe nicht, dass die Länder den Krankenhäusern dafür zusätzlich Geld geben. Am schlimmsten ist aus meiner Sicht aber, dass die privaten Häuser – immerhin ein Drittel aller Kliniken – versuchen, zehn Prozent ihres Gewinns an die Aktionäre abzugeben. Dabei ist unsere Krankenhauslandschaft ein Teil der Daseinsvorsorge. Es ist daher ein fataler Fehler, die Kliniken in den Markt zu schicken.
Bleiben wir noch bei der Abrechnung. Wie viel Interpretationsspielraum gibt es bei den Codier-Richtlinien?
Balster: Hundertprozentig sauber beschrieben ist das nicht. Ein weiteres Problem ist: Die Krankenkassen trennen ganz klar zwischen dem Budget-Verhandlungsteam und dem Abrechnungsteam. Und die Abrechner interessieren sich zunehmend nicht mehr dafür, was das Budget-Team vorher verhandelt hat. Beispielsweise wurde zur Versorgungssicherung in der Onkologie ein teilstationärer Satz plus Zusatzentgelt für die Chemotherapien vereinbart. Der MDK sagt aber, dass es keine Indikation für einen teilstationären Fall gebe. Wir bekommen also die 300 Euro für den teilstationären Satz nicht – was nicht weiter schlimm ist. Allerdings haben wir den Patienten mit Medikamenten für 4.000 bis 5.000 Euro versorgt. Die werden nicht bezahlt. Der MDK ist da ein seelenloses, weil starres, Prüfinstrument.
Herr Meeßen, wie seelenlos ist der MDK?
Meeßen: „Seelenlos“ hört sich negativ an. Zu viel Seele und Menschlichkeit würden zu viel Interpretationen ermöglichen. Eine positive Seite der Seelenlosigkeit ist, dass wir überprüfen, ob es verbindliche Regeln gibt und wie diese anzuwenden sind. Unsere bundesweite Abrechnungsgruppe überprüft wiederkehrende Konflikte und gibt Empfehlungen, die auch veröffentlicht werden. Das sind Maßnahmen, um Interpretationsspielräume zu reduzieren.
Aber im Grunde haben die Krankenhäuser doch keine Planungssicherheit. Sie behandeln Patienten, schreiben Rechnungen und wissen am Ende nicht, ob sie wirklich das Geld bekommen.
Meeßen: Das sehe ich etwas anders, schließlich gibt es für die Kliniken keinen ökonomischen Anreiz, richtig abzurechnen. Daher sagt derjenige, der das bezahlen muss: „Das möchte ich jetzt aber gerne wissen.“ Die Kassen bekommen allerdings immer weniger medizinische Daten von den Patienten. Die MDK-Gutachter haben die Aufgabe, Prozeduren und Abrechnung anzusehen, um zu kontrollieren, ob es Probleme gab. Wir sind ziemlich berechenbar bei der Frage, was für uns strittig ist und was nicht. Mein Anspruch ist, dass es keine Überraschung gibt und dass die Krankenhäuser im Vorhinein wissen, wie wir die Sache einschätzen werden.
Seelenlos, aber berechenbar.
Meeßen: Das ist die positive Seite von Seelenlosigkeit.
Herr Balster, das erleben Sie anders?
[caption id="attachment_2540" align="alignright" width="1200"]Balster: Ein konkretes Beispiel für eine Rechnungssituation: Bei der Abrechnung der Schlaganfall-Komplexpauschale muss die Temperatur beim Patienten regelmäßig gemessen werden, auch in der Nacht ist er dafür zu wecken. Eine fehlende Temperaturabnahme nachts um zwei Uhr führt dazu, dass die Pauschale nicht gezahlt wird. Da stelle ich mir schon die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Prüfung. Das gleiche gilt für die Strukturmerkmalprüfung.
Inwiefern?
Balster: Stichwort Pränatalmedizin: Unser Klinikum hat die einzige Frühchenstation Level 1 im Umkreis von 80 Kilometern. Der MDK wollte uns über zwei Jahre diese Bezeichnung nicht zuerkennen, weil zwei oder drei Mal im Betrachtungszeitraum die pflegerische Besetzung in der Nacht nicht den Strukturmerkmalen entsprochen hätte. In der Konsequenz hätte dies zur Folge gehabt, dass die Versorgung in Chemnitz eingestellt worden wäre und 500 Gramm schwere Babys durch das Land nach Dresden oder Leipzig gefahren werden. Was ist der Sinn der Rigidität eines solchen Prüfverfahrens? Geht es den Kassen um Strukturpolitik?
Meeßen: Bei der Selbstverwaltung werden bestimmte Regeln vereinbart. Wenn ein bestimmter Parameter immer zu erfüllen ist, dann muss er eben auch immer erfüllt werden. Als Krankenhausträger würde ich gerne Vereinbarungen treffen, bei denen der Parameter in 98 Prozent der Fälle zu erfüllen ist – und intern strebe ich 100 an. Dann sind die zwei Prozent, bei denen etwas vergessen wird, nicht so schlimm. Ein systematisches „Vergessen“ wäre gleichzeitig so nicht möglich.
Balster: Am Ende des Tages bleibt doch die Frage, welche Zielsetzung die Krankenkasse verfolgt. Bei einer bundesweit tätigen Ersatzkasse wussten wir uns vor vier Jahren nicht mehr anders zu helfen, als 1.750 Fälle an einem Tag zu Gericht zu tragen. Mittlerweile ist davon etwa die Hälfte der Fälle mit 55 Prozent des Streitwertes – das sind etwa 1,5 Millionen – entschieden. Unsere Verfahrenskosten liegen bei rund 760.000 Euro und die der Krankenkassen vermutlich auch. Das heißt, dass wir mit dem Versuch uns anzunähern bereits 1,5 Millionen Euro zu Anwälten und Gerichten getragen haben.
Geld, das in der Versorgung fehlt. Der Bundesrechnungshof kritisiert diese Mechanismen, die zu Lasten der Patienten gehen. Ist das auch in Ihrem Haus so?
Balster: In meiner Region spüren wir einen massiven Fachkräftemangel beim Ärztlichen Dienst. Hinzu kommen Dokumentationspflichten, die die Mediziner davon abhalten, ihren ärztlichen Pflichten nachgehen zu können.
Das heißt, sie müssen sich überlegen, ob der Arzt jetzt dokumentiert oder am Patientenbett steht.
Balster: Ja.
Kommen wir zum MDK-Reformgesetz. Wird damit das kranke System geheilt? Und kommen Sie, Herr Balster, damit aus Ihrer Verliererposition heraus?
Balster: Das Gesetz bringt sicherlich Verbesserungen mit sich, die aber nicht maßgeblich helfen werden. Dennoch haben wir die Hoffnung, dass eine Neutralisierung des MDKs hilfreich sein könnte.
Herr Meeßen, Sie werden demnächst völlig unabhängig von den Krankenkassen. Was ändert sich für Sie?
Meeßen: An der Arbeit unserer Gutachter ändert sich nichts, denn nicht ich oder der Verwaltungsrat machen diese Arbeit. Die organisationsrechtlichen Änderungen beeinflussen die Gutachter überhaupt nicht.
Im Verwaltungsrat sitzen künftig auch Patienten- und Pflegevertreter.
Meeßen: Diejenigen, die im Verwaltungsrat sitzen, haben nichts mit der inhaltlichen Arbeit zu tun. Bereits heute ist das ganze operative Geschäft in der Verantwortung der Geschäftsführung und des leitenden Arztes – und nicht in der des Verwaltungsrates. Durch das Gesetz wird sich im operativen Tun nichts verändern.
Die Strukturprüfungen haben im vergangenen Jahr für viel Wirbel gesorgt. Der Gesetzgeber plant daher einige Änderungen, wie bewerten Sie diese?
Meeßen: Für die Kliniken soll das Geschäft berechenbarer werden. Heute werden die Anforderungen teilweise im Einzelfall geprüft – und auch nach der Leistungserbringung. Das Ganze soll jetzt umgedreht werden: Das Krankenhaus lässt die Anforderungen vorab vom MDK prüfen, holt sich einen Stempel, geht damit zu den Kassen und fordert die Leistung in der Budgetverhandlung. Solange sich an den Voraussetzungen nichts ändert, hat es damit die Gewähr, dass die Leistung bezahlt wird.
Eine gute Idee, Herr Balster?
Balster: Grundsätzlich ja. Gleichzeitig muss aber auch gesehen werden, wie diese Anforderungen zu realisieren sind. Und es muss geklärt werden, welche Risiken dadurch für die weitere Versorgung entstehen. Die Strukturprüfungen dürfen nicht die Versorgung gefährden.
Meeßen: Eine wichtige Grundsatzfrage bleibt übrigens ungeklärt: Private Kliniken müssen für ihren Träger Gewinn machen. Aber in der Logik unseres Systems ersetzen DRGs den Aufwand. Wie kann man einen Gewinn abziehen und gleichzeitig korrekt seinen Aufwand abrechnen?
Balster: Da sind wir einer Meinung. Als kommunales Großkrankenhaus betreiben wir Daseinsvorsorge und tragen in der Region die Verantwortung. Elf Millionen Euro ergebniswirksame Abschreibungen für Investitionen, die wir für die Patientenvorsorge getätigt haben, müssen wir refinanzieren. Durch private Krankenhausbetriebe und -ketten werden Mittel aus dem System gezogen. Und auf die grundsätzliche Frage, welche Krankenhausstruktur nachhaltig und dauerhaft finanzierbar ist, haben wir hierzulande noch keine Antwort gefunden.
Herr Balster, zum Abschluss unseres Gesprächs stellen Sie sich bitte vor, Herr Meeßen würde einige Tage bei Ihnen hospitieren. Was wäre das größte Aha-Erlebnis für ihn?
Balster: … dass es das Prinzip der bewussten Falschabrechnung nicht gibt. Das gibt es nicht in unserem Haus, den Versuch würden wir gar nicht wagen. Wir machen Right-Coding und versuchen die Leistungen, die wir erbracht haben, abzurechnen. Für Sie, Herr Meeßen, wäre es sicher auch interessant zu sehen, wie viele Leistungen, die wir erbracht haben, mit null vergütet werden.
Herr Meeßen, was wäre das Wichtigste, das Herr Balster im MDK lernen könnte?
Meeßen: Sie bekommen mit, wie es möglich ist, dass man sich über grundsätzliche Dinge, bei denen man auseinander liegt, verständigt und festlegt, wie es künftig gehandhabt wird. Wenn uns das System schon unlösbare Aufgaben gibt, sollten wir versuchen, es so gut wie möglich hinzubekommen. Ich wäre für Rahmenbedingungen dankbar, die den Kliniken ökonomische Anreize setzen, richtig abzurechnen. Bei korrekter Abrechnung könnte man den Aufwand herunterfahren und mehr Leute könnten in die Versorgung zurück. Denn auch das würden Sie bei uns mitnehmen: Um jede Stellenmehrung im ärztlichen Bereich tut
es mir für die Versorgung weh.
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On and off the record Das Streitgespräch zwischen Dr. Axel Meeßen und Dirk Balster ist Teil der Veranstaltung „MDK-Prüfungen – Wettrüsten im Krankenhaus“, zu der Gerechte Gesundheit und die Arbeitsgemeinschaft kommunaler Großkrankenhäuser eingeladen haben. Moderation: Lisa Braun und Antje Hoppe. Nach dem Streitgespräch gab es eine angeregte Diskussion mit den geladenen Gästen. Diese ist jedoch off the record – und damit nicht Teil unserer Berichterstattung.
[post_title] => Kontroverse um Krankenhausabrechnungen [post_excerpt] => Ein Streitgespräch mit Dirk Balster und Dr. Axel Meeßen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => kontroverse-um-krankenhausabrechnungen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-11-13 09:46:50 [post_modified_gmt] => 2019-11-13 08:46:50 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2432 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2444 [menu_order] => 50 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [336] => WP_Post Object ( [ID] => 2446 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-11-12 19:43:38 [post_date_gmt] => 2019-11-12 18:43:38 [post_content] =>Zahlreiche Versicherte beschwerten sich, dass Kassen aus ihrer Sicht dringend erforderliche innovative medizinische Leistungen nicht finanzierten, teilt das BVA mit. Darunter auch Versicherte mit einem Lipödem. Dieser Fall zeige exemplarisch ein Spannungsverhältnis – und zwar „zwischen den Wünschen einzelner Versicherter nach zeitnaher Versorgung mit innovativen medizinischen Leistungen einerseits und andererseits den Interessen der Versichertengemeinschaft, dass nur Leistungen von den Krankenkassen finanziert werden, deren Erforderlichkeit umfassend nachgewiesen ist“. Das Amt verweist auf den Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA), der prüfe, ob eine Methode für die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung erforderlich ist. Zur Erinnerung: Die Liposuktion hat zu einer Machtprobe zwischen gemeinsamer Selbstverwaltung und Gesundheitsminister Jens Spahn geführt. In der Folge hat der G-BA eine Erprobungs-Richtlinie Liposuktion erlassen. Das BVA hebt hervor, dass Kassen nur ausnahmsweise die Kosten für bisher nicht anerkannte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden übernehmen könnten. „Dies gilt insbesondere bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen.“
Zahlreiche Beschwerden lagen dem Amt in 2018 auch gegen die Vertragspraxis der Kassen zur Hilfsmittelversorgung vor. Das Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz habe zwar die Anforderungen bei der Berücksichtigung von Qualitätsaspekten in Ausschreibungen deutlich erhöht. Die Kassen hätten dies aber nur unzureichend umgesetzt, heißt es im Bericht. Der Gesetzgeber reagierte mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz: Kassen müssen künftig die Hilfsmittelversorgung auf dem Verhandlungsweg durch Rahmenverträge mit Beitrittsmöglichkeit sicherstellen.
Für Knatsch sorgten ferner Sondervereinbarungen, die einige Kassen mit Krankenhäusern geschlossen haben. Dabei ging es um pauschalierte Kürzung von Klinikrechnungen. Für die Kassen sei die Klärung strittiger Abrechnungsfragen unter Einbeziehung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vielfach aufwändig und kostenintensiv, berichtet die Aufsichtsbehörde. Allerdings hätten einige mit diesen Vereinbarungen die gesetzlichen Regelungen „vollständig umgangen“. Man habe sie daher aufgefordert, darauf zu verzichten. Das Bundesversicherungsamt zieht folgende Bilanz: In „fast allen Fällen“ wurden die Sondervereinbarungen beendet. Eine Krankenkasse klagte jedoch gegen die aufsichtsrechtlichen Mittel.
Der Stand zu digitalen Versorgungsprodukten als Satzungsleistungen: Das BVA hat die rechtlichen Möglichkeiten ausgelotet, größtenteils im positiven Sinne für die Versicherten, wie es betont. An Grenzen stoßen allerdings Produkte, die den Grundsätzen des SGB V nicht genügen. Zum Beispiel sei bei Produkten aus dem Heil- und Hilfsmittelbereich eine ärztliche Verordnung erforderlich.
Weiterführender Link
Bundesversicherungsamt (BVA), Tätigkeitsbericht 2018
https://www.bundesversicherungsamt.de/fileadmin/redaktion/allgemeine_dokumente/pdf/taetigkeitsberichte/Taetigkeitsbericht_BVA_2018_web.pdf
Schließlich müssen Ausschreibungsfristen gewahrt, die notwendige Technik bereitgestellt werden. Wenn das Anliegen in den kommenden Monaten nicht umgesetzt, sprich ein Vorschaltgesetz auf den Weg gebracht wird, kann frühestens in zehn Jahren bei Sozialwahlen online abgestimmt werden, lautet der Appell der Wahlbeauftragten. Im Koalitionsvertrag haben SPD und Union festgehalten, dass die Sozialwahl zu modernisieren sei. Viel mehr scheint nicht passiert zu sein. Und Pawelski reißt allmählich der Geduldsfaden. „Mein Vorgänger hat das Thema bereits von seinem Vorgänger übernommen.“
Eine aktuelle Umfrage unter 1.002 wahlberechtigten vdek-Versicherten zeigt, dass zwei Drittel für die Einführung der Online-Wahl sind – als zusätzliche Option neben der Briefwahl. In der Altersgruppe der 16- bis 44-Jährigen liegt die Zustimmung sogar bei 75 Prozent. Und auch Befragte im Alter von 60 plus votieren mit 52 Prozent für diese Option. Neben der Umfrage präsentieren vdek und Pawelski auf der gemeinsamen Pressekonferenz ein Working Paper von Prof. Indra Spiecker genannt Döhmann zur rechtlichen Zulässigkeit einer Online-Wahl bei der Sozialwahl. Damit wollen sie das Argument aus dem Bundesarbeitsministerium entkräften, diese Abstimmungsform sei aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht machbar. Die Rechtswissenschaftlerin von der Goethe-Universität Frankfurt a.M. konstatiert: „Aus rechtlicher Sicht gibt es keine Hinderungsgründe.“
Die Gründe für die digitale Ergänzungsvariante stellt der vdek-Verbandsvorsitzende Uwe Klemens dar: Er spricht – vor dem Hintergrund einer ausbaufähigen Wahlbeteiligung von 30,5 Prozent in 2017 – von einem „entscheidenden Schritt zur Modernisierung“. Und er hofft, damit mehr junge Menschen zu erreichen. Pawelski ergänzt: „Eine Online-Wahl stärkt die soziale Selbstverwaltung.“
Bleibt das Problem der sogenannten Friedenswahl, der Wahl ohne Wahlmöglichkeit. Dabei werden auf den Vorschlagslisten nicht mehr Kandidaten aufgestellt als Mitglieder zu wählen sind. Wie überzeugend sind Modernisierungsbemühungen, die dieses Thema außen vorlassen? Klemens ist zwiegespalten: Auf Nachfrage räumt er ein, dass man „darüber nachdenken müsste“. Allerdings stellt er auch klar: „Das ist aber dann auch einer der Hinderungsgründe, die uns im Weg stehen.“ Denn bei den meisten Sozialversicherungsträgern wird friedlich gewählt. Urwahlen führen verschiedene Betriebskrankenkassen, die meisten Ersatzkassen und die Deutsche Rentenversicherung Bund durch. Auch Pawelski – so sehr sie sich auch über den euphemistischen Begriff der Friedenswahl echauffieren mag – will dieses Fass nicht aufmachen. Zu groß ist ihre Sorge, dadurch den Weg zur Online-Wahl zu verbauen.
Weiterführender Link
„Die rechtliche Zulässigkeit einer Online-Wahl zur Sozialwahl“ Prof. Dr. iur. Indra Spiecker genannt Döhmann, LL.M., und Dr. iur. Sebastian Bretthauer
http://www.vdek.com/presse/pressemitteilungen/2019/forsa-umfrage-gutachten-online-sozialwahl/jcr_content/par/download_1872976010/file.res/06_Gutachten_Working_Paper.pdf
Datenschutz ist wichtig. Doch wenn es für ernsthaft erkrankte Patienten darum geht, eine bessere Therapie zu bekommen oder vielleicht anderen Betroffenen in Zukunft dazu zu verhelfen, ist für sie der Datenschutz kein heiliger Gral mehr. Das berichtet Prof. Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Gerontologin an der Charité, auf einer Veranstaltung von Sanofi, dem Verband der forschenden Pharma-Unternehmen und dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. Patienten seien oft bereit, vieles offen zu legen, sich sogar mit Hilfe von Videokameras überwachen zu lassen. „Bedenken wegen Datenschutz haben sie nicht“, sagt Steinhagen-Thiessen. Die Einwände kämen meist von denjenigen, die nicht betroffen seien.
Über das Thema Datenspende wird intensiv auf der Veranstaltung diskutiert. Eine Frage lautet: Sollen in einem Solidarsystem wie der gesetzlichen Krankenversicherung alle Patienten zu einer solchen Spende verpflichtet werden? Patientenvertreter Sigfried Schwarze mahnt zur Vorsicht, denn das Sammeln von Daten habe immer Konsequenzen. Daten seien das neue Erdöl, mit ihnen müsse verantwortungsvoll umgegangen werden. Eine vorherige Festlegung der Spende auf definierte Forschungsprojekte hält allerdings die Medizinrechtlerin Dr. Constanze Püschel angesichts des medizinischen Fortschritts für schwierig. „Es muss reichen, dass es um medizinische Versorgungsforschung geht.“ Eine breite Einwilligung, welche die Datennutzung auch für spätere Wissenschaftsprojekte gestatte, genügt Püschel unter folgenden Voraussetzungen: Eine unabhängige Ethikkommission begutachtet das Vorhaben, dieses wird öffentlich bekanntgemacht und die Daten werden treuhänderisch verwaltet.
Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge sind 73 Prozent der Deutschen bereit, ihre Gesundheitsdaten für Forschungszwecke zu spenden. Drei Viertel von ihnen würden dies ohne Festlegung auf ein bestimmtes Vorhaben tun.
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[caption id="attachment_2474" align="aligncenter" width="1200"]Wer sich mit Forschung und digitalen Patientendaten befasst, kommt an der Medizininformatik-Initiative (MII) nicht vorbei. Das mit 160 Millionen Euro vom Bund geförderte Projekt will die Forschungsmöglichkeiten und Patientenversorgung durch innovative IT-Lösungen verbessern – diese sollen es ermöglichen, dass Daten aus Krankenversorgung, klinischer und biomedizinischer Forschung über die Grenzen von Institutionen und Standorten hinweg ausgetauscht werden können. Einen Workshop der Initiative nutzt kürzlich die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, um darzustellen, worauf es ihr bei der Nutzung von Patientendaten ankommt. Prof. Claudia Schmidtke betont: „Die deutschlandweite Vernetzung der Routinedaten unserer Gesundheitsversorgung birgt eine sehr große Chance, um Krankheiten im gesamten Spektrum – von den großen Volkskrankheiten bis hin zu seltenen Erkrankungen – besser und frühzeitiger erkennen und behandeln zu können.“
Bedingung dafür sei, die rechtlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen für die Forschung mit großen qualitativ hochwertigen Datenmengen zu schaffen – „eine große Herausforderung dieser Wahlperiode“. Als Ziel formuliert Schmidtke, den „mündigen Patienten als informierten Manager seiner eigenen Gesundheit und natürlich auch seiner Krankheit wahrzunehmen, auf seine Fragen einzugehen und alle für den jeweiligen Fall relevanten Informationen auszutauschen“.
[post_title] => Begehrt: Die Daten der Patienten [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => begehrt-die-daten-der-patienten [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-11-13 09:43:39 [post_modified_gmt] => 2019-11-13 08:43:39 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2432 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2450 [menu_order] => 80 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [339] => WP_Post Object ( [ID] => 2452 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-11-12 19:44:20 [post_date_gmt] => 2019-11-12 18:44:20 [post_content] =>Die OECD-Studie „Health for Every-one?“ untersucht, wo und wie die gesundheitlichen Unterschiede ausgeprägt sind. Sie bezieht sich auf Daten aus allen EU-Ländern sowie Chile, Kanada, Mexiko, Norwegen und den USA. Um gesundheitsbezogene Ungleichheiten anzugehen, existiere eine breite Palette an Optionen: „This should start with public health interventions that more specifically target disadvantaged population groups helping them to adopt more healthy lifestyles.“ Auch die Verbesserung der Gesundheitskompetenz wird als wichtiger Faktor genannt. Ferner sei sicherzustellen, dass empfohlene Präventionsprogramme auch Bevölkerungsgruppen mit einem niedrigerem sozio-ökonomischen Status erreichen. „This can require improving service availability in rural and disadvantaged urban areas.“
Der „Sachstandsbericht über gesundheitliche Chancengleichheit in der Europäischen Region der WHO“ führt fünf Voraussetzungen auf, die erfüllt sein müssen, um für alle ein gesundes Leben zu verwirklichen: hochwertige und leicht zugängliche Gesundheitsleistungen, Einkommenssicherheit und soziale Absicherung, menschenwürdige Lebensbedingungen, Sozial- und Humankapital sowie Beschäftigung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Die WHO appelliert eindringlich: „Kurzfristig gesundheitliche Chancengleichheit zu verwirklichen, ist möglich – selbst innerhalb politischer Zyklen“.
Der Befund, dass trotz Verbesserungen von Gesundheit und Wohlbefinden in der Europäischen Region innerhalb der Länder Ungleichgewichte fortbestehen, trifft auch für Deutschland zu. Prof. Johannes Siegrist und Prof. Ursula M. Staudinger konstatieren in dem Leopoldina-Papier „Gesundheitliche Ungleichheit im Lebensverlauf“, dass zwar die Lebenserwartung hierzulande weiter gestiegen sei, aber „immer noch sterben Menschen mit geringerem sozialem Status viele Jahre früher als sozial besser gestellte Menschen“. Bereits Mitglieder der zweithöchsten von fünf Einkommensschichten hätten eine geringere durchschnittliche Lebenserwartung als die der ober-sten Schicht. Angesichts der Unterschiede von Krankheit und Sterblichkeit zwischen sozialen Schichten machen sich die beiden Wissenschaftler für ein nationales Programm stark, das diese Ungleichheit verringert. Mittelfristig könnten daraus nachhaltige Gesundheitsgewinne für ganze Bevölkerungen erwartet werden – selbst wenn diese sich bisher nur in seltenen Fällen in einer veränderten Sterblichkeit niederschlagen. Siegrist und Staudinger sind überzeugt, dass Deutschland für diese Aufgabe gut gerüstet ist. Allerdings sei das vorherrschende Verständnis von Gesundheitspolitik als Förderung des Versorgungssystems auszuweiten: Die Gesundheit der Bevölkerung ist als Handlungsfeld verschiedener abgestimmter Bereiche politischer Gestaltung zu verstehen.
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Links zu den Publikationen
OECD: Health for Everyone?
https://www.oecd-ilibrary.org/sites/3c8385d0-en/index.html?itemId=/content/publication/3c8385d0-en&mimeType=text/html
WHO: Ein Leben in Gesundheit und Wohlstand für alle
http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0020/412751/hersi-executive-summary-de_KB.pdf?ua=1
Leopoldina: Gesundheitliche Ungleichheit im Lebensverlauf
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Leo_Forum_02_Gesundheitliche_Ungleichheit_01.pdf
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[post_title] => Gesundheit für alle? [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => gesundheit-fuer-alle [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-11-13 11:33:32 [post_modified_gmt] => 2019-11-13 10:33:32 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2432 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2452 [menu_order] => 90 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [340] => WP_Post Object ( [ID] => 2454 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-11-12 19:44:27 [post_date_gmt] => 2019-11-12 18:44:27 [post_content] =>Spahn geht es um einen Ausgleich zwischen familiärer- bzw. Eigenverantwortung und dem, was die Gesellschaft im Rahmen der Pflegeversicherung finanziert. Auch Gerechtigkeitsfragen seien dabei zu diskutieren – etwa, wenn es darum geht, wie ein erspartes Vermögen eingesetzt werde. Spahn versteht, dass sich viele Familien eine bessere Planbarkeit wünschen. Die Schlussfolgerung „Pflegevollversicherung für alle“ lehnt er allerdings ab. Damit würden Signale für die Frage gesetzt: „Wie viel Verantwortung übernehmen wir noch füreinander?“
Bereits im vergangenen Jahr hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken die Erklärung „Gerechte Pflege in einer sorgenden Gesellschaft – Zur Zukunft der Pflegearbeit in Deutschland“ veröffentlicht. Im Fokus steht dabei die häusliche Pflege. Probleme bei der Pflege durch Angehörige, durch sogenannte Live-in-Pflegekräfte aus dem Ausland sowie durch professionelle Pflegekräfte werden beschrieben und Reformoptionen genannt. „Eine zentrale Herausforderung bei der Entwicklung einer sorgenden Gesellschaft in Deutschland besteht darin, gerechte Pflege zu etablieren“, heißt es. Gerechte Pflege stehe für sich wechselseitig ergänzende Zielsetzungen. Dazu gehören: Alle Pflegebedürftigen haben Zugang zu guter Pflege. Die Pflegearbeit von Angehörigen ist sozial abgesichert und mit Erwerbsarbeit gut vereinbar. Sie wird durch öffentlich (ko-)finanzierte professionelle Dienstleistungen verlässlich unterstützt. Qualitativ hochwertige Pflegeheime und Pflege-Wohn-Gemeinschaften garantieren flächendeckend eine gute wohnortnahe Versorgung. Die Wertschätzung von Sorgearbeit kommt in guten Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen für AltenpflegerInnen und für die MitarbeiterInnen haushaltsbezogener Dienstleistungen zum Ausdruck.
Aktuell fordert die DAK eine grundlegende Sozialreform. Viele Pflegebedürftige seien einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt, weil sie die steigenden Kosten einer Heimversorgung nicht zahlen könnten. Die Kasse legt ein Konzept zur langfristigen Entlastung der Pflegebedürftigen vor. Durch eine neue Finanzarchitektur mit steigenden Steuerzuschüssen könnten die Eigenanteile der Versicherten bis zum Jahr 2045 gedeckelt werden. „Das Ziel ist eine faire Lastenverteilung zwischen Beitragszahlern, Steuerzahlern und Pflegebedürftigen.“ Auch der Verband der Privaten Krankenversicherung hat ein Konzept für eine Finanzreform der Pflegeversicherung erarbeitet. „Deutschland braucht einen neuen Generationenvertrag in der Pflege“, postuliert der Verband.
Bei der Veranstaltung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat Minister Spahn einen Gesetzesentwurf für Mitte kommenden Jahres angekündigt.
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[caption id="attachment_2484" align="aligncenter" width="1200"]
Weiterführender Link
Zur Erklärung des Zentralkommitees:
https://www.zdk.de/veroeffentlichungen/erklaerungen/detail/Gerechte-Pflege-in-einer-sorgenden-Gesellschaft-Zur-Zukunft-der-Pflegearbeit-in-Deutschland--248M/
Die 32.000 Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre mit Diabetes Typ 1 müssen täglich die Herausforderungen des Erwachsenwerdens und die Therapie bewältigen. Das überfordert viele Patienten. „Das führt im schlimmsten Fall zu psychischen Belastungen oder Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Essstörungen“, berichtet Neu. Betroffen seien 15 Prozent der Erkrankten.
Die Kinder gut zu erziehen und ihre Therapie kompetent zu begleiten, überlastet viele Eltern. Das zeigt eine von Prof. Karin Lange geleitete Studie. „Für die Familien tut sich mit der Diagnose der Boden auf“, berichtet sie. Viele Mütter treten beruflich zurück oder geben den Beruf auf. Das wirke sich finanziell aus. Zudem bestimme der Diabetes den Alltag. Die betroffenen Eltern wünschten sich eine kontinuierliche kompetente Hilfe bei der Erziehung und im Umgang mit der Erkrankung, schildert Lange. Doch es fehlt an Strukturen, sagt sie. Es gebe nicht genug Diabetesberater für Eltern, Kitas und Schulen. Gute soziale Strukturen seien aber entscheidend dafür, ob die Kinder ein Leben lang mit dem Diabetes gut umgehen können.
„Bislang fehlt es an Abrechnungsmöglichkeiten“, berichtet Prof. Bernhard Kulzer, Leiter des Forschungsinstituts der Diabetes Akademie Bad Mergentheim. Er schlägt vor, multimodale Komplexziffern wie in der Schmerztherapie für die Diabetesbehandlung von Kindern und Erwachsenen einzuführen. Diese sollten psychiatrische, psychosomatische, oder psychologisch-psychotherapeutische Leistungen abbilden. Kulzer spricht sich auch für eine Anpassung des Disease Management Programms (DMP) Diabetes aus: Die psychoonkologischen Leistungen des DMP Brustkrebs könnten die Vorlage sein.
[post_title] => Kinder mit Diabetes: Herausforderung Alltag [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => kinder-mit-diabetes-herausforderung-alltag [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-11-13 10:01:02 [post_modified_gmt] => 2019-11-13 09:01:02 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2432 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2456 [menu_order] => 110 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [342] => WP_Post Object ( [ID] => 2458 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-11-12 19:44:43 [post_date_gmt] => 2019-11-12 18:44:43 [post_content] =>Den Auftakt der Tagung bildet die Angehörigenperspektive – zwei anonyme Berichte von betroffenen Ehefrauen werden vorgelesen. Einer trägt die Überschrift: „Was Demenz mit der Liebe macht“. Darin wird die Frage gestellt, ob der Wunsch nach Nähe und Sexualität mit der Diagnose Demenz endet. Die Ehefrau schreibt, dass Erkrankte sexuelle Wesen bleiben, auch wenn ihnen solche Bedürfnisse meist nicht zugestanden werden. „Sie sind aber da.“
Es fällt nicht nur Angehörigen schwer, über dieses Thema zu sprechen, auch Pflegende ringen um einen angemessenen Umgang. Vermutlich, weil Asexualität noch immer wichtiger Baustein der Altersidentität ist. Ältere dürften keinen Sex haben, sondern sollten sich bescheiden zurückhalten, schildert Christian Müller-Hergl eine gängige Vorstellung. Wer sich dem erfolgreichen Altern als beständige Optimierungsaufgabe verweigere, könne rasch als „dirty old man“ oder „unwürdige Greisin“ abgetan werden, erläutert der Wissenschaftler der Universität Witten/Herdecke und der Hochschule Osnabrück.
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[caption id="attachment_2480" align="aligncenter" width="1200"]Zwar betonten Pflegekräfte oft, eine positive Einstellung zur Sexualität im Alter zu haben. Müller-Hergl berichtet aber, dass es sich in konkreten Situationen oft anders verhält. „Wenn Herr Meyer abends zu Frau Möller oder manchmal auch zu Frau Schmidt geht, wird es schwierig.“ Auf diesen Aspekt ihrer Arbeit würden Pflegende nicht wirklich vorbereitet, findet er. Allerdings hätten Studien gezeigt, dass Fortbildungen dazu nicht die Haltung von Mitarbeitern in Institutionen beeinflussten. „Das heißt: Auch dann, wenn sie aufgeklärt sind, bleiben sie bei ihrer restriktiven Haltung.“ Das betreffe vor allem die Jungen, je älter die Mitarbeiter seien, desto toleranter seien sie. Einer aktuellen Studie zufolge sind sich Pflegende und Angehörige mehrheitlich darin einig, dass intimer Kontakt zwischen Demenzpatienten, die anderweitig verheiratet sind, zu verhindern ist. Begründet wird das mit der „reduced capacity“ der Betroffenen. Allerdings weist Müller-Hergl darauf hin, dass intimer Kontakt zwischen unverheirateten Demenzpatienten von beiden Gruppen akzeptiert werde – in diesem Fall scheine das Argument der reduced capacity keine Rolle zu spielen, folgert der Wissenschaftler.
Im Anschluss stellt Pflegewirt Peter Offermanns wichtige Fragen: In welchem Umfang sollen andere über die Beziehung von Bewohnern entscheiden dürfen? Haben andere das Recht, Verhaltensnormen aufzustellen – solange nicht gegen Gesetze verstoßen wird? „Demenzpatienten können Entscheidungen treffen“, hebt Offermanns hervor. Sein Appell lautet, offen für Lösungen zu sein, welche die Lebensqualität der Klienten verbessern. Dafür gibt er den Tagungsteilnehmern folgende Grundsätze mit auf den Weg: Wir korrigieren unsere Vorstellung vom asexuellen Alter. Wir setzen Heterosexualität nicht als allgemeingültig voraus. Wir sind vorbereitet auf Konfrontationen mit den sexuellen Wünschen unserer Bewohner. Wir können darüber unvoreingenommen reden. Es ist noch ein langer Weg.
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[caption id="attachment_2376" align="aligncenter" width="1200"]Die Zahlerperspektive vermittelt im Anschluss Prof. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer. Er weist darauf hin, dass innovative Präparate häufig bereits für eine initiale Therapie hunderttausende Euro kosteten – wenn man das kombiniere, kommt man oft auf über eine halbe Million Euro pro Patient, rechnet der Kassenchef vor. „Das sind Summen, die in einem Solidarsystem schwer aufzuwenden sind.“ Finanzierungsansätze wie Risk-Sharing oder Pay for Performance hält Straub für nicht hinreichend und nachhaltig, um das Problem zu lösen. Man benötige hierzulande einen übergreifenden Konsens, wie mit den globalen Pricing-Strategien der Hersteller umzugehen sei. „Es bedarf einer intensiven und offenen Diskussion darüber, was wir bezahlen können und was wir bezahlen wollen.“
Die Diskussion über Arzneimittelpreise sei hierzulande relativ ruhig geworden, merkt Thomas Müller aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) an. Ganz anders in den USA, wo es sich um ein Top-Thema handele. Er erwartet, dass die starke Preisdiskussion in Amerika zu einem hohen Kostendruck in Europa führen werde. Für den Leiter der Abteilung Arzneimittel im BMG müssen Preise eine Balance schaffen – und zwar zwischen Anreiz und Bezahlbarkeit. Innovationen benötigten Anreize und mit Preisen setzte man diese für einen Wertschöpfungszyklus, der einen Zeitraum von 20 Jahren umfassen kann. Innovative Medikamente müssten aber auch bei möglichst vielen Patienten ankommen. Dabei stießen die Renditeerwartungen der Hersteller auf komplett unterschiedlich aufgestellte Gesundheitssysteme. Deutschlands sehr komfortable Situation lasse sich nicht mit der von Bulgarien, Polen oder Portugal vergleichen, führt Müller aus.
Auch die aktuelle gesundheitspolitische Gesetzgebung kommt bei der Expertendiskussion nicht zu kurz, insbesondere das GSAV. Das Gesetz sieht eine anwendungsbegleitende Datenerhebung vor. Die Grundidee sei, den Mangel an Evidenz vor der Zulassung mit möglichst guter Evidenz nach der Zulassung auszugleichen, erläutert der Ministeriumsvertreter. „Wir brauchen begleitende Datenerhebung nach Produkteinführung“, begrüßt Dr. Matthias Suermondt, Vice President Gesundheitspolitik und Marktzugang von Sanofi-Aventis Deutschland, den Ansatz des GSAV. Allerdings stecke der Teufel im Detail. Aus eigenen Erfahrungen wisse man, wie lange Registerstudien brauchen, um „in die Gänge zu kommen“. Bei kleinen Patientenzahlen hält Suermondt außerdem europäische Lösungen für sinnvoll.
Er geht auch auf die Schwierigkeiten der von Straub erwähnten Erstattungsmodelle wie Pay for Performance ein. Zentral sei dabei die Frage: Woran wird der Erfolg gemessen? Noch vergleichsweise einfach sei es, wenn – wie bei den CAR-T-Zell-Therapien – auf Heilung gehofft wird. Gehe es aber um Überlebensverlängerung, welche Rolle spielen dann Lebensqualität und Progression Free Survival? „Das sind Endpunkte, die unheimlich schwierig in ein Vertragswerk zu fassen sind“, erklärt Suermondt. Er appelliert, dass Kassen und Unternehmen noch enger zusammenarbeiten müssten und Datentransparenz zu einem früheren Zeitpunkt herzustellen sei, sodass auf Basis gemeinsamer Patientenzahlen über Verträge gesprochen wird. Es sei noch viel zu tun, hält Suermondt fest, doch die Chancen und Möglichkeiten, die sich ergeben könnten, seien die Anstrengungen wert.
Ebenfalls auf dem Hauptstadtkongress wird die zweite wissenschaftliche Studie zur künftigen Krebsversorgung präsentiert. Erstellt hat sie das Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald im Auftrag der DGHO. Demnach wird die Zahl der Krebsneuerkrankungen zwischen 2014 und 2025 voraussichtlich um etwa zehn Prozent auf über 520.000 pro Jahr zunehmen. Auch die Zahl der Menschen, die mit Krebs leben, wird hierzulande stark ansteigen. Die Versorgungsstrukturen müssen dieser Entwicklung angepasst werden, fordert daher die Fachgesellschaft.
Einige Ergebnisse der Studie: Den stärksten Zuwachs an Patientenzahlen zeigen Krebsentitäten, die im Alter häufig sind: bei Männern der Prostatakrebs, bei Frauen der Brustkrebs. Die höchsten relativen Zuwachsraten werden für Männer beim Harnblasenkrebs, für Frauen beim Magen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs erwartet. Die Zehn-Jahres-Prävalenz von Krebserkrankungen nimmt zwischen 2014 und 2025 deutlich zu: um etwa acht Prozent auf fast drei Millionen Patienten. Mit der demografischen Alterung steigt die Zahl der Patienten, die neben Krebs an mindestens einer weiteren chronischen Erkrankung leiden.
Prof. Maike de Wit von der Arbeitsgemeinschaft der Hämatologen und Onkologen im Krankenhaus fordert Versorgungsstrukturen, die es erlauben, die Kompetenz der spezialisierten Zentren in der Fläche verfügbar zu machen. Andernfalls riskiere man, dass „ganze Landstriche oder alte Menschen bei der Krebsversorgung abgehängt werden“. Sinnvoll seien mehr Möglichkeiten für die Delegation ärztlicher Leistungen und mehr Anstrengungen, um Medizinische Versorgungszentren auch an kommunalen Krankenhäusern zu implementieren. Für den DGHO-Vorsitzenden Prof. Carsten Bokemeyer sind die Studienergebnisse ein Aufruf, die Krebsprävention voranzutreiben. „Das Krebsrisiko steigt mit dem Alter deutlich an, aber es ist nicht unbeeinflussbar.“
Weiterführender Link
Studie: „Deutschlandweite Prognose der bevölkerungsbezogenen Morbiditätserwartung für häufige Krebserkrankungen“
https://www.dgho.de/publikationen/schriftenreihen/demografischer-wandel/dgho_gpsr_xiv_web.pdf
Um Gesundheitsdaten für Forschungszwecke verfügbar zu machen, gilt es, eine Vielzahl von Fragen zu klären – methodischer, juristischer, ethischer Art. Dieser Aufgabe widmet sich das Projekt „Ethical Governance für ein lernendes Gesundheitssystem“, an dem ceres-Wissenschaftler mit Kollegen von der Forschungsstelle Datenschutz und dem Institut für europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges), Goethe-Universität Frankfurt, arbeiten.
[caption id="attachment_2304" align="aligncenter" width="1200"]Einen Zwischenbericht gibt es kürzlich bei einer Tagung in Berlin. Ein lernendes Gesundheitssystem, hebt dort Peter Bröckerhoff hervor, nutzt systematisch Daten aus der Versorgung für die Forschung. Umgekehrt werden Forschungsergebnisse schnell in der Versorgung implementiert. Ziel dieses Lernkreislaufes sei für Patienten eine Verbesserung der Behandlungsqualität. Gesamtgesellschaftlich gehe es um nachhaltige Gerechtigkeit und Solidarität. Der ceres-Wissenschaftler betont, dass ein lernendes Gesundheitssystem auf Zusammenarbeit basiere. Dafür sei im gegenwärtigen System ein Kulturwandel notwendig. „Dieser muss von allen Akteuren getragen, gefördert und aktiv gestaltet werden.“
Nicht alle Tagungsteilnehmer überzeugt die Vision. Eine kritische Nachfrage kommt etwa von Prof. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Er findet, dass es bereits jetzt ein lernendes System gebe, das vielleicht etwas langsamer und schwieriger lerne. Bei einem anders lernenden, digital unterstützten System will er wissen: „Wenn wir über eine Solidarität genannte Relativierung des Datenschutzes reden, dann würde ich als Bürger schon gerne wissen, was ich dafür bekomme.“
Bei der Veranstaltung setzt sich Rebekka Weiß, Bitkom, mit der Frage auseinander, ob Unternehmen zu Gemeinwohlzwecken Daten mit Forschern teilen sollten. Der Rechtswissenschaftler Prof. Steffen Augsberg, Universität Gießen, beschäftigt sich damit, ob die Preisgabe personenbezogener Daten zu Zwecken eines lernenden Gesundheitssystems eine – ethische – Solidaritätspflicht sei. Im folgenden lesen Sie die Ausführungen der beiden.
In der jüngeren Vergangenheit wird intensiv über die sogenannte Datenspende nachgedacht. Insbesondere in der medizinischen Forschung verbinden sich mit der Nutzung großer Datenmengen – „Big Data“ – große Erwartungen und Hoffnungen. Die Datenspende soll dazu beitragen, die hierfür erforderlichen Daten zu gewinnen. Könnte sich hieraus sogar eine (ethische) Pflicht ergeben, die eigenen Daten zur Verfügung zu stellen und damit anderen Menschen zu helfen? Diese Frage kehrt die gängige Perspektive des Datenschutzes um: Üblicherweise wird zur Legitimation der Preisgabe personenbezogener Daten allein darauf abgestellt, ob sie von den Betroffenen konsentiert und/oder diesen zumutbar ist. Dass es ein schützenswertes Recht auf Privatheit gibt, das der Offenlegung solcher Daten prinzipiell widerstreitet, bedeutet indes nicht das Ende der Debatte. Denn es handelt sich hierbei nicht um einen absoluten Wert, sondern um eine abwägungsfähige und -bedürftige (Rechts-)Position.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass beim Umgang mit personenbezogenen Daten nicht auf eine vergleichsweise eindimensionale, schutzzentrierte Sichtweise abzustellen ist. Vielmehr muss das zugrunde liegende komplexere Geflecht einer Vielzahl, teilweise durchaus widersprüchlicher Rechte und Pflichten berücksichtigt werden. Das hat der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme „Big Data und Gesundheit“ ausführlich herausgearbeitet. Demnach zählen zu den normativ und evaluativ das Selbstverständnis des datengebenden Individuums wie seine Funktion und Position in der Gesellschaft beeinflussenden Werten neben Privatheit und Intimität auch Freiheit und Selbstbestimmung, Souveränität und Macht, Schadensvermeidung und Wohltätigkeit sowie Gerechtigkeit und Solidarität. Auch mit Blick auf den Schutz von Daten ist dementsprechend eine individuelle wie gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Anderen, insbesondere in spezifisch hilfsbedürftigen und vulnerablen Positionen, zu berücksichtigen.
Gerade im Gesundheitssystem liegt auf der Hand, dass eine wechselseitige Unterstützung dem spezifischen Charakter von Gesundheitsrisiken entspricht. Niemand kann darauf vertrauen, gesund zu bleiben, und deshalb sind alle daran interessiert, im Falle des Falles die bestmögliche Versorgung zu erhalten. Eine (ethische) Pflicht zur Preisgabe bedeutet dies aber noch nicht. Im Abwägungsprozess zu berücksichtigen wären etwa die – unter Big-Data-Bedingungen indes zunehmend wenig aussagekräftige – Sensibilität der Daten, deren Ersetzbarkeit, zu befürchtende Auswirkungen bei Missbrauch und Ähnliches. Letztlich müssten der konkrete Kontext und individuelle Besonderheiten miteinbezogen werden. Das verdeutlicht, warum sich eine pauschale Antwort auf die titelgebende Frage verbietet. Es verweist zugleich darauf, dass es bessere Optionen gibt, Chancen und Risiken von Big Data gerecht werdende Datensouveränität zu gewährleisten – dazu enthält die genannte Stellungnahme eine Vielzahl von Empfehlungen.
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[caption id="attachment_2311" align="alignleft" width="1200"]Daten sind die Basis der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft. Nicht ohne Grund haben sich längst Vergleiche von Daten mit Gold, Öl und Wasser etabliert. Obwohl Daten anders als Bodenschätze beliebig reproduzierbar, kopierbar und in größerem Umfang verfügbar sind, wird seit Längerem diskutiert, ob Daten nicht aus bestimmten Gründen geteilt werden müssten.
Als erste Hürde zeichnet sich aber schnell das Datenschutzrecht ab. Die DSGVO legt in mehr oder weniger unflexiblen Tatbeständen fest, unter welchen Umständen die Daten überhaupt erhoben werden dürfen. Gesundheitsdaten unterliegen sogar besonders strengen Regeln. Zwar sieht die DSGVO Erleichterungen für Forschung vor. Eine Datenteilungspflicht kann daraus aber nicht abgeleitet werden.
Als Ausweg aus dem engen Korsett der DSGVO wird die Anonymisierung gesehen. Anonyme Daten unterliegen nicht dem Datenschutz und so könnte man annehmen, dass diese einfach ge- und verteilt werden könnten. Allerdings ist häufig unklar, welche Merkmale von einem Datensatz entfernt werden sollen, um die notwendige Anonymität der Daten sicherzustellen. Es wird sogar die These vertreten, dass echte Anonymität kaum zu erreichen sei, da durch eine Kombination verschiedener Merkmale immer die Gefahr bestehe, dass Daten doch auf eine bestimmte Person zurückgeführt werden können. Neben dieser technischen Dimension muss aber vor allem eines Berücksichtigung finden: Anonymisierung passiert weder einfach noch von allein. Sie muss geplant, implementiert, nachverfolgt und die technischen Verfahren aufgebaut und angepasst werden. Diese Investitionen werden kaum getätigt werden, wenn am Ende des Investitions- und Innovationszyklus eine Datenteilungspflicht steht und die Früchte der Arbeit quasi kostenfrei abfließen. Eine Datenteilungspflicht – auch für anonyme Daten – kann daher immer auch die Innovationskraft bremsen. Und: Für viele innovative Verfahren benötigen die Anwender eben doch personenbezogene Daten. Die Investitionen, die notwendig sind, um Daten auf hohem Niveau auszuwerten, daraus neue Verfahren zu entwickeln und den Mehrwert in innovative Anwendungen zu übertragen, sind hoch. Alle Einzelstränge der Datenerhebung erfordern nicht nur Technologie, sondern durch den regulatorischen Rahmen dauerhafte Beratung. Auch bestehende Haftungsrisiken durch die Rechtsunsicherheiten und die zahlreichen komplexen Abwägungsmechanismen, die die DSGVO bereithält, müssen eingepreist werden.
Was wir brauchen ist daher keine Verpflichtung zum Teilen von Daten, sondern einen besseren, kontrollierten Zugang zu Daten. Dabei sollte vor allem auch Datenpooling erleichtert und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Einrichtungen und Unternehmen verbessert werden. So könnten dann vor allem hochwertige Datensätze verbesserten Zugängen unterliegen. Mit einem flexibilisierten Rahmenwerk könnten auch Forscher verbesserten Zugriff erhalten und Gemeinwohlzwecke durch private und öffentliche Forschung vorangetrieben werden.
Schon vor dem GSAV steht das Thema Importförderklausel bei einigen Akteuren auf der Agenda. Bereits 2015 spricht sich der bayerische Pharmagipfel dafür aus, diese zu streichen. Auch einige Kassen halten das Instrument mittlerweile für verzichtbar – nicht zuletzt, weil die damit verbundenen Einsparungen als überschaubar gelten. Ein „zahnloses Bürokratiemonster“ nennt es Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Er tritt im Sommer vergangenen Jahres – gemeinsam mit dem Vorsitzenden der hiesigen Kassenärztlichen Vereinigung und dem Chef des Deutschen Apothekerverbandes – für dessen Abschaffung ein.
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Der Fall Lunapharm zeigt die Brisanz des Themas. Die Task Force, die den Skandal untersucht, findet in ihrem Bericht deutliche Worte. Die Experten schreiben, dass die Erfüllung dieser Quote die Patientensicherheit gefährde: Importe würden zunehmend „als Zugangsweg für minderwertige, gestohlene oder gefälschte Arzneimittel genutzt“. Lange, grenzüberschreitende und intransparente Lieferketten erhöhten das Risiko dafür, dass solche Medikamente hierzulande eingeschleust würden.
Hinzu kommt: Lunapharm ist insofern kein Einzelfall, als dass bereits 2014 gestohlene Arzneimittel, dieses Mal aus italienischen Kliniken, nach Deutschland gelangten. Prof. Wolf Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Mitglied der Lunapharm Task Force, betont im Interview mit Gerechte Gesundheit, dass insbesondere Krebsmedikamente im Fadenkreuz von kriminellen Netzwerken stehen. Als Zielland Nummer eins für gefälschte beziehungsweise gestohlene Arzneimittel gelte Deutschland.
Lunapharm ist ein Anlass für das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung. Doch insbesondere die Importförderklausel ist im Gesetzgebungsprozess Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Mal heißt es, die Klausel wird gestrichen, dann soll sie wieder erhalten bleiben. Als wichtige Einflussgröße pro Quotenerhalt gilt Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Zu dessen Wahlkreis Saarlouis gehört die 30.000-Seelen-Kreisstadt Merzig. Dort befindet sich der Sitz des größten Arzneimittelimporteurs Deutschlands, Kohlpharma.
Das am 6. Juni vom Bundestag mit dem Stimmen der Großen Koalition angenommene Gesetz sieht schließlich vor, dass die Klausel bestehen bleibt – allerdings mit Einschränkungen: Biotechnologisch hergestellte Arzneimittel und Zytostatika werden wegen besonderer Anforderungen an Transport und Lagerung von dieser Regelung ausgenommen. Der GKV-Spitzenverband wird verpflichtet, bis Ende 2021 einen umfassenden Bericht zu erstellen, den das Bundesgesundheitsministerium bewertet. Auch der Bundestag soll sich mit dem Bericht befassen, um zu klären, ob die Importregelung weiterhin notwendig ist. Neu geordnet wird die Preisabstandsgrenze: Unter Berücksichtigung der Abschläge muss bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis bis einschließlich 100 Euro der Abstand mindestens 15 Prozent betragen, bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis von über 100 Euro bis einschließlich 300 Euro mindestens 15 Euro und bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis von über 300 Euro mindestens fünf Prozent.
Bei der Opposition kommt der Erhalt der Importförderklausel nicht gut an. „Wer es mit Arzneimittelsicherheit ernst meint, muss die Vertriebswege massiv vereinfachen“, fordert Sylvia Gabelmann (Die Linke) in der Bundestagssitzung. Eindeutig Position bezogen hat im Vorfeld auch der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann. Er meint: „Unabhängig wie man zum Arzneimittelimport insgesamt steht, eine Importförderklausel ist heute ordnungspolitisch wie sozialpolitisch nicht mehr zu rechtfertigen.“
[caption id="attachment_2321" align="alignright" width="1200"]Einige Tage nach der Bundestagssitzung verteidigt der CDU-Bundestagsabgeordnete Tino Sorge die Regelung auf einem Symposium der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen. „Wir haben eine ganz gute Kompromissformel gefunden“, sagt er. Die Vorstandsvorsitzende des Verbands der Ersatzkassen, Ulrike Elsner, findet, dass es sich um ein wichtiges Steuerungsinstrument in puncto Bezahlbarkeit handele. Dagegen kritisiert der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker, Prof. Frank Dörje, die Gesetzesregelung auf dem Symposium als „halbseidene Lösung“, die schädlich für Patienten sei.
Einhellig fällt auch seitens der Pharmaindustrie die Kritik am Fortbestand der Quote aus. Dr. Martin Zentgraf, Vorstand des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, sagt: „Wer auf die Abschaffung der Importförderklausel verzichtet, konterkariert den Anspruch nach mehr Sicherheit.“ Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller sieht es ebenfalls kritisch, dass sich der Gesetzgeber nicht dazu durchringen konnte, die Importförderklausel komplett abzuschaffen: „Das hätte die Arzneimittelsicherheit deutlich erhöht.“
Nicht wenige Akteure dürften bei der Abschaffung der Importförderklausel auch auf den Bundesrat gesetzt haben. Das Gesetz ist zustimmungspflichtig und bereits im Dezember vergangenen Jahres hat die Länderkammer in einer Entschließung die Streichung der Quote verlangt. Diese Forderung wiederholt der Rat in seiner Stellungnahme zum Gesetz vom 15. März. Die Argumentation: Die Klausel sei eine bürokratische Doppelregulierung ohne großes Einsparpotenzial. Durch neuere preisregulierende Gesetze und aktuelle Rabattvereinbarungen habe sie erheblich an Bedeutung verloren. Der Importzwang berge hingegen die Gefahr nicht mehr nachvollziehbarer Handelswege.
Folgerichtig hat der Gesundheitsausschuss des Bundesrates dem Ländergremium empfohlen, dem Gesetz nicht zuzustimmen, sondern den Vermittlungsausschuss anzurufen. Diesen Antrag lehnt der Bundesrat am 28. Juni jedoch ab und stimmt für das Gesetz und damit für den Erhalt der Quote.
[post_title] => Sicherheit hat ihren Preis [post_excerpt] => Über das politische Tauziehen um die Importförderklausel bei Arzneimitteln [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => sicherheit-hat-ihren-preis [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-08-12 11:45:47 [post_modified_gmt] => 2019-08-12 09:45:47 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2238 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2283 [menu_order] => 50 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [348] => WP_Post Object ( [ID] => 2285 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-08-12 11:45:53 [post_date_gmt] => 2019-08-12 09:45:53 [post_content] =>Für die WHO ist Adipositas eine der größten Public-Health-Herausforderungen unserer Zeit. Die Erkrankung habe bereits epidemische Ausmaße erreicht: Weltweit sterben mindestens 2,8 Millionen Menschen jährlich an den Folgen von Übergewicht und Fettsucht. Schätzungen zufolge sind in der Europäischen Region der WHO 23 Prozent aller Frauen und 20 Prozent aller Männer adipös. Übergewicht und Adipositas sind erhebliche Risikofaktoren für eine Reihe chronischer Krankheiten wie Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs. Der Trend zur Fettleibigkeit macht auch vor Deutschland nicht Halt. Das belegen verschiedene Auswertungen des Robert Koch-Instituts, Mikrozensus-Daten und Versorgungsreports von Krankenkassen wie der Barmer oder der DAK. Die Krankheit ist leicht zu diagnostizieren, eine simple Waage reicht. Ab einem Body Mass Index (BMI) von 30 kg/m² gelten übergewichtige Personen als behandlungsbedürftig. Aber werden sie auch behandelt? Und wie? Tatsächlich lässt sie die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung vielfach im Stich.
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Viele Krankenkassen und ihre medizinischen Expertenprüfdienste wie MDK und MDS gehen noch immer vom Dogma des regulierbaren Energieausschusses aus. Damit verweisen sie therapeutische Maßnahmen in die Eigenverantwortung der Versicherten. Die Konsequenz: Eine stadiengerechte Adipositas-Behandlung findet in der GKV nicht statt.
Fakt ist: Fettsucht ist nicht notwendigerweise ein unabwendbares Schicksal, es gibt wirksame Behandlungen. Eine leitliniengerechte konservative Basistherapie umfasst sowohl Ernährungsberatung als auch Bewegungs- und Verhaltenstherapie. Eine solche multimodale Therapie bietet beispielsweise Prof. Thomas Kurscheid in seiner privatärztlichen Praxisgemeinschaft in Köln an. Langzeitdaten von über 10.000 Patienten zeigen, dass die Betroffenen drei Jahre nach Abschluss des Programms noch immer durchschnittlich 7,5 Kilo leichter sind, berichtet er. „Man muss bedenken, dass sie ohne Programm in den drei Jahren eher 15 bis 20 Kilo schwerer als ihr Ausgangsgewicht geworden wären.“ Patienten, die in Kurscheids Praxis kommen, haben bereits viele Versuche übernommen, ihr Gewicht zu reduzieren. Meistens sind sie wiederholt gescheitert oder rückfällig geworden. „Diese Patienten sind verzweifelt und haben eine Odyssee durch die Institutionen und diverse Anbieter hinter sich“, hat der Spezialist beobachtet.
Der Mediziner behandelt seine Patienten privatärztlich: Das Programm Optifast 52 läuft über 52 Wochen und wird zwar mittlerweile von fast 100 Kassen erstattet – aber nur auf Kulanz. Damit bleibt das grundsätzliche Problem, dass multimodale Therapien nicht im Leistungskatalog verankert sind, bestehen. „Eine strukturierte Behandlung findet in der Regelversorgung derzeit nicht statt“, räumt auch Bernd Lemke von der AOK Plus ein. Die Kasse bietet ihren Versicherten ab einem BMI von 35 exklusive und strukturierte Versorgungsprogramme in ausgewählten Kliniken in Sachsen und Thüringen an.
Zu einem ungeschönten Blick auf das Adipositas-Problem gehört aber auch die Tatsache, dass die konservative Therapie irgendwann an Grenzen stößt. „Ab einem BMI von 40 oder 50 ist eine dauerhafte Gewichtsreduktion mit konservativer Therapie sehr unwahrscheinlich“, sagt Prof. Martina de Zwaan, Präsidentin der Deutschen Adipositas Gesellschaft. Auf lange Sicht seien chirurgische Maßnahmen am erfolgreichsten. Das Problem: Die Kostenübernahme sei eine Einzelfallentscheidung und müsse oft von den Betroffenen eingeklagt werden, kritisiert die Expertin (Lesen Sie hierzu das Interview mit Prof. de Zwaan). Wenig verwunderlich ist es da, dass die OP-Zahlen hierzulande weitaus niedriger sind als in vielen anderen Ländern. „Wir sind absolutes Schlusslicht in Europa und weltweit“, sagt ein Chirurg, der anonym bleiben möchte, in einem Zeit-Interview. Er klagt an, dass hierzulande nur 0,2 Prozent aller Patienten operiert werden, bei denen die OP vom Gewicht her medizinisch sinnvoll wäre. Die Antragsverfahren würden von den Kassen systematisch in die Länge gezogen.
Was solche Hürden für die Betroffenen bedeuten, weiß Michael Wirtz aus eigener Erfahrung. Er selbst brachte vor seiner Operation 160 Kilo auf die Waage. Wirtz ist Vorstandsmitglied der AdipositasHilfe Deutschland und berät andere Betroffene. Er erinnert sich an den Fall einer Frau, die wegen ihres hohen Blutdrucks bereits Arbeitsverbot hatte. Dennoch hat der MDK die Operation nicht befürwortet, die Patientin konnte sich die Operation nicht leisten. „Die Klinik hat es dann auf die eigene Kappe genommen“, erzählt Wirtz.
[caption id="attachment_2333" align="alignleft" width="1200"]Im vergangenen Jahr hat er eine Petition für eine bedarfsgerechte Adipositasversorgung gestartet. Er moniert, dass die Adipositasbehandlung immer erst beginne, wenn es bereits zu spät ist. „Was uns ärgert, ist, dass Betroffene die konservative Behandlung vor einer Operation meist selbst zahlen müssen.“ Die teuren Folgeerkrankungen werden dagegen alle übernommen. „Dann zahlt die Kasse den chirurgischen Eingriff und danach kümmert sich wieder niemand um die Nachbehandlung“, berichtet der Selbsthilfevertreter.
Diese eklatante Unterversorgung hat die DAK bereits vor einigen Jahren in einem Versorgungsreport konstatiert. Kassenchef Andreas Storm räumte kürzlich auf einer Diskussionsveranstaltung ein: „Wir wissen eigentlich, was wir machen müssten, aber es ist nicht im Katalog der Regelleistungen der Kassen enthalten.“ Zu einem ähnlichen Urteil ist der Autor des „Weißbuch Adipositas“ gekommen, das vor einigen Jahren erschienen ist. „Wir sehen bei Adipositas Behandlungsdefizite entlang der gesamten Versorgungskette“, sagt Holger Bleß. Das nennt man Systemversagen. Dieser Befund ist immer noch aktuell.
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Während die Grunderkrankung nach wie vor eher dem Lifestyle-Bereich zugeordnet wird, läuft der Reparaturbetrieb bei den Folgeerkrankungen auf Hochtouren. Das Weißbuch führt vor Augen, wie vor allem die Begleit- und Folgekrankheiten von Adipositas die Behandlungskosten in die Höhe schießen lassen: So gehen der Analyse zufolge zwei Drittel der direkten Behandlungskosten auf die Therapie einer hinzugekommenen Diabeteserkrankung, einer koronaren Herzkrankheit oder eines Bluthochdruck und 13 Prozent auf die Versorgung des Übergewichts zurück. Studien, die das Weißbuch unter die Lupe nimmt, nennen unter Berücksichtigung der Therapiekosten für Begleiterkrankungen und aller anderen verbundenen Ausgaben jährliche Gesamtkosten in Deutschland von bis zu 30 Milliarden Euro – viel Geld, das man sparen könnte, wenn es ganzheitliche und langfristige Therapieangebote gäbe.
Der ganzen Misere liegt zugrunde, dass Adipositas hierzulande als chronische Erkrankung nicht anerkannt ist. Deshalb sind die Patienten vielfach auf den Good Will ihrer Kasse angewiesen. Dabei hat die WHO bereits 2000 – also vor 19 Jahren – festgestellt, dass Fettsucht eine chronische Erkrankung ist. Die Politik hat diese Feststellung bisher nicht berücksichtigt. Vielleicht, weil Adipositas immer noch stark als „Schuld“ des Patienten begriffen wird. Andere Faktoren, ob genetischer oder psychischer Natur, werden dabei ignoriert. Ignoriert wird auch, dass die Schuldfrage bei der Behandlung von Diabetes, Lungenkrebs oder eines Skiunfalls nicht gestellt wird.
Die Petition des Selbsthilfeaktivisten Michael Wirtz hat noch nicht viel bewegt. Nur knapp 7.000 Unterschriften sind zusammengekommen. Das seien nicht viele, wenn man bedenkt, dass fast jeder vierte Bundesbürger betroffen ist und allein 16 Millionen an Adipositas erkrankt sind, meint Wirtz. Selbststigmatisierung sei auch ein Grund für die geringe Resonanz. Er will trotzdem am Ball bleiben. „Ich habe den Eindruck, in der Politik kommt die Unterversorgung langsam an“, sagt er vorsichtig optimistisch.
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[caption id="attachment_2340" align="aligncenter" width="1200"]Eine lebensstilbedingte Adipositas ist ein multifaktorielles Krankheitsbild. Welche Behandlung erfahren Menschen, die zum Hausarzt gehen? Wie ist der Weg durch das System?
de Zwaan: Adipositas ist medizinisch und sozialrechtlich, aber nicht gesundheitspolitisch als Krankheit anerkannt. Es gibt keine GKV-Regelversorgung. Menschen mit Adipositas sind die ungeliebten Patienten in Hausarztpraxen – der Hausarzt kann nicht für sie tätig werden und nichts an ihnen verdienen: eine unendliche Quelle der Frustration für beide Seiten. Betroffene hören vom Hausarzt lediglich: „Sie müssen abnehmen.“ Dabei wird erwartet, dass sie sich quasi selbst therapieren.
Sind Ärzte selbst mit ihrem Latein am Ende?
de Zwaan: Hausärzte sind nicht dafür ausgebildet, Adipositas zu behandeln. Sie können die Diagnose stellen, eine Anamnese erheben und die Folgekrankheiten behandeln. Eine leitliniengerechte konservative Basistherapie umfasst Ernährungsberatung, Bewegungs- und Verhaltenstherapie und erfordert letztlich einen lebenslangen gesunden Lebensstil in einer übergewichtfördernden Umwelt. Hausärzte könnten bei entsprechender Indikation Patienten auch an adipositaschirurgische Zentren überweisen und die lebenslang notwendige Nachsorge übernehmen. Deren Finanzierung ist aber auch nicht geregelt. Die Kostenübernahme einer medizinisch indizierten adipositaschirurgischen Maßnahme ist eine Einzelfallentscheidung. Sie muss von Betroffenen oft eingeklagt werden; zudem werden selbst zu zahlende Vorleistungen erwartet. Insgesamt ist die Situation desolat.
Wie können Betroffene sich Hilfe holen?
de Zwaan: Es gibt Adipositasambulanzen, ernährungsmedizinische Schwerpunktpraxen und qualitätsgesicherte Selbstzahlerprogramme. Über § 43 SGB V „Ergänzende Leistungen zur Rehabilitation“ haben die Krankenkassen die Möglichkeit, Leistungen zu bezuschussen – ohne Rechtsanspruch auf Kostenübernahme. Die adipositaschirurgischen Selbsthilfegruppen sind eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene. Im konservativen Bereich gibt es kaum Selbsthilfegruppen. Leider kommt es immer noch vor, dass Krankenkassen Betroffene mit Präventionskursen therapieren wollen.
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Sie haben gerade eine Patientenleitlinie zur „S3-Leitlinie Prävention und Therapie der Adipositas“ herausgegeben. Darin wird ausdrücklich vor Abzocke wie Wundermittel etc. gewarnt. Sind fettleibige Menschen dafür besonders anfällig und warum?
de Zwaan: Der Leidensdruck drängt Betroffene in den „grauen Markt“, weil es keine medizinische Regelversorgung gibt.
Hat ein adipöser Mensch mit einem BMI von 40 oder 50 überhaupt eine Chance, durch Lebensveränderung normalgewichtig zu werden und zu bleiben?
de Zwaan: Ab BMI 40 oder 50 ist eine dauerhafte Gewichtsreduktion mit konservativer Therapie sehr unwahrscheinlich. Eine Wiedererlangung des Normalgewichts zu erwarten ist unrealistisch. Auch mit chirurgischen Maßnahmen können nur etwa zwei Drittel bis drei Viertel des Übergewichts reduziert werden. Auch wenn das Gewicht meistens wieder leicht ansteigt, sind auf lange Sicht chirurgische Maßnahmen am erfolgreichsten.
Die Begleiterkrankungen von Adipositas werden besser behandelt als die Krankheit selbst. Wie erklären Sie sich das?
de Zwaan: Der „Reparaturbetrieb Medizin“ verdient gut am Status Quo. Es gibt gesundheitspolitische Fehlanreize, z.B. verdienen Krankenkassen über den Morbi-RSA an Krankheit – Gesundheit herzustellen oder präventiv erfolgreich zu sein, wird nicht belohnt. Bekannt ist beispielsweise auch das Phänomen der Überinsulinisierung; dabei besteht mit früher Lebensstilintervention bei Diabetes Typ 2 – letztlich: eine Adipositastherapie in Studien – eine gute Chance auf zeitweilige Remission. Heute sind rund ein Fünftel der Bevölkerung von Adipositas betroffen; man befürchtet, durch Einführung einer Regelversorgung für Adipositas eine Kostenlawine loszutreten.
Dabei dürfte doch eher das Gegenteil der Fall sein, oder?
de Zwaan: Ja, der DAK-Versorgungsreport Adipositas aus 2016 belegt eindrucksvoll, dass mit höheren Kosteneinsparungen bei durch Adipositas bedingten Erkrankungen zu rechnen ist. Betroffenen wird diskriminierend suggeriert, sie seien selber schuld an ihrer Erkrankung; Patienten internalisieren diese Diskriminierung aus Scham. Diese verhindert derzeit noch eine Politisierung, das Erreichen einer kritischen Masse, die sich laut genug politisch wehrt und eine Regelversorgung einfordert. Patienten mit Lipödem waren da gerade sehr erfolgreich.
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Von mehreren Kinderherzzentren in Deutschland werde berichtet, dass im Schnitt 30 Prozent der Betten wegen Pflegekräftemangels gesperrt sind. Grund für den Pflegekräftemangel sei insbesondere die bereits vor Jahren erfolgte Reduzierung von Ausbildungsplätzen in der Kinderkrankenpflege, die sich aktuell im klinischen Alltag massiv auswirkt. „Angesichts zahlreicher nicht besetzbarer Planstellen bleibt den Kliniken oft nichts anders übrig, als Intensivbetten unbelegt zu lassen“, sagt ABAHF-Sprecher Kai Rüenbrink. Werden Notfälle aufgenommen, müssten oft lange geplante Operationen verschoben werden. Für das Kind und die Eltern, die sich vom Arbeitgeber eigens haben beurlauben lassen, sei das eine Katastrophe.
Jährlich kommt es in Deutschlands Kinderherzkliniken zu über 23.300 Aufnahmen für die Behandlung von angeborenen Herzfehlern. Gerade in der kinderkardiologischen und kinderherzchirurgischen Intensivpflege benötigten die Pflegekräfte ein fundiertes Fachwissen und viel Erfahrung, um den hohen Ansprüchen gerecht zu werden. „Wir Ärzte müssen uns auf ihr Wissen und Können verlassen können“, sagt Prof. Hans Heiner Kramer, emeritierter Direktor der Klinik für angeborene Herzfehler und Kinderkardiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Deswegen brauche man eine ausreichende Anzahl von Kinderkrankenpflegekräften, die eine Intensivweiterbildung durchlaufen haben.
[caption id="attachment_2351" align="aligncenter" width="1200"]Im April hat der Gemeinsame Bundesausschuss beschlossen, die Richtlinie Kinderherzchirurgie zu ändern: Vorgegeben werden soll unter anderem ein erforderliches Verhältnis von mindestens einer Pflegekraft je zwei Patientinnen oder Patienten. Kinderkardiologe Kramer hält das für sinnvoll. „Denn ist ein Kind frisch operiert, braucht es auch nachts umfangreiche Betreuung. Selbst für die beste Pflegekraft wäre es nicht zu schaffen, nachts drei Kinder zu versorgen.“
Um den zahlreichen herzkranken Kindern und ihren Familien angesichts des Pflegenotstands eine Stimme zu verleihen, hat sich im Frühjahr 2018 die „Task Force Notfall Kinderintensivpflege“ gegründet. Ihr gehören auch Mitglieder des ABAHF an. Die Task Force forderte in einem Brandbrief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn verbesserte Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte. Dem Aktionsbündnis gehören an: Bundesverband Herzkranke Kinder, Bundesvereinigung Jemah, Fontanherzen, Herzkind, Interessengemeinschaft Das Herzkranke Kind und die Kinderherzstiftung der Deutschen Herzstiftung.
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Erst kürzlich hat eine Initiative von 20 Organisationen, die sich für Verbesserungen in der Versorgung drogenabhängiger Inhaftierter einsetzt, einen Sechs-Punkte-Forderungs-katalog erarbeitet mit der Überschrift: „Prison Health is Public Health“.
Weiterführender Link
Sechs-Punkte-Forderungskatalog „Prison Health is Public Health“
www.aidshilfe.de/sites/default/files/documents/6eckpunktepapier_haft_09042019.pdf
In einem Maßnahmenkatalog wird unter anderem gefordert, den Transport von mobilen Patienten zum Augenarzt sicherzustellen. In der OVIS-Studie (Ophtalmologische Versorgung in Seniorenheimen) nennen rund 50 Prozent der Bewohner den Transport als größte Hürde für einen Besuch beim Arzt. „Das muss natürlich organisiert und finanziert sein“, betont Holz, Direktor der Universitätsaugenklinik Bonn. „Es kann nicht sein, dass jemand sehbehindert wird oder erblindet, weil der Transport fehlt.“
Zu den häufigsten im Rahmen der Studie festgestellten Augenerkrankungen zählen: altersbedingte Makuladegeneration (AMD), Grauer und Grüner Star. Bei rund der Hälfte der Studienteilnehmer liegt ein Grauer Star vor, bei knapp 40 Prozent werden Zeichen einer AMD festgestellt und bei rund 21 Prozent besteht der Verdacht oder die gesicherte Diagnose eines Grünen Stars. Nicht selten fehle die passende Brille.
Die moderne Augenheilkunde könne diese Erkrankungen fast immer aufhalten oder den Verlauf zumindest verzögern, meint Augenarzt Dr. Peter Heinz. „Voraussetzung ist aber eine frühzeitige Diagnose, bevor der Patient überhaupt eine Sehverschlechterung wahrnimmt.“ Laut der OVIS-Studie liegt bei den Heimbewohnern der letzte Besuch beim Augenarzt durchschnittlich vier Jahre zurück.
Wie die Experten erläutern, führt schlechtes Sehen zu einer steigenden Unselbstständigkeit und sozialer Isolation. Das Risiko für Depressionen und Stürze ist erhöht. „Wir müssen die Defizite in der Versorgung anpacken“, appelliert Holz. Als Blaupause könne die zahnmedizinische Versorgung in Heimen dienen. Diese funktioniere aufgrund klarer Anreize gut, heißt es vor Journalisten.
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Zur OVIS-Studie
Ärzte befragten und untersuchten rund 600 Bewohner in 32 Heimen. Sie analysierten Lebenssituation, Augenarztbesuche und allgemeinen Gesundheitszustand. So hielten sie die Krankheitsgeschichte und die erhobenen Augenuntersuchungen fest.
In einer Stellungnahme konstatieren die beiden Akademien, dass das Embryonenschutzgesetz dem gesellschaftlichen Wandel und der Vielfalt heutiger Familienformen nicht mehr gerecht werde.
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Wo Reformbedarf besteht:
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Weiterführender Link
Stellungnahme: „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung“
www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Stellungnahme_Fortpflanzungsmedizin_web.pdf
288 Dossierbewertungen haben die Kölner Wissenschaftler im Rahmen des AMNOG-Verfahrens seit 2011 erstellt (Stand 31. Dezember 2018). Auffällig ist: Bei Arzneimitteln gegen Krebs ist der Anteil mit mindestens einem Anhaltspunkt für einen Zusatznutzen seit Jahren am höchsten, bei psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen ist der Anteil hingegen „besonders niedrig“, schreibt Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittel. In vielen Fällen habe das IQWiG die von Herstellern eingereichten Studien nicht verwenden können, weil sie den gesetzlich vorgegebenen Ansprüchen nicht genügten, z.B. entsprach die Vergleichstherapie nicht der derzeitigen Versorgung.
[caption id="attachment_2362" align="aligncenter" width="1200"]Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hat deshalb im vergangenen Jahr einen Runden Tisch und ein Symposium veranstaltet, das Thema lautete: Wie sollen die Studien in der Psychiatrie in Zukunft aussehen? Das IQWiG hält die Sensibilisierung der Beteiligten für einen wichtigen Schritt. In diesem Zusammenhang verweist Kaiser darauf, dass das Institut im vergangenen Jahr erstmals einen Zusatznutzen für ein psychiatrisches Krankheitsbild ableiten konnte. Die Rede ist von Cariprazin, das seit 2017 für Erwachsene mit Schizophrenie zugelassen ist. Der Ressortleiter hebt hervor, dass die Nutzenbewertung auf einer randomisierten, doppelblinden, in Europa durchgeführten multizentrischen Parallelgruppenstudie zum Vergleich von Cariprazin mit Risperidon beruhte.
Erst zu Jahresbeginn hat die Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie (GESENT) das AMNOG als Hindernis für die Versorgung bestimmter Patientengruppen mit innovativen Medikamenten bezeichnet. Ein Kritikpunkt: Die AMNOG-Kriterien seien für den Zusatznutzennachweis bei neuropsychiatrischen Arzneimitteln nicht anwendbar. „Faktoren wie Langfristigkeit und Komplexität des Krankheitsverlaufs, die bei der Beurteilung therapeutischer Effekte in Neurologie und Psychiatrie von Bedeutung sind, haben im starren AMNOG-System keinen Platz.“ GESENT wurde 2005 von Vertretern der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und der Industrie gegründet.
[post_title] => Psychiatrie ist (noch) das Sorgenkind im AMNOG-Prozess [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => psychiatrie-ist-noch-das-sorgenkind-im-amnog-prozess [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-08-12 11:46:40 [post_modified_gmt] => 2019-08-12 09:46:40 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2238 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2297 [menu_order] => 120 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [355] => WP_Post Object ( [ID] => 2299 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-08-12 11:46:48 [post_date_gmt] => 2019-08-12 09:46:48 [post_content] =>Prof. Frank Dörje, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker, stellt fest: Versorgungsengpässe seien „kein abnehmendes, sondern ein zunehmendes Thema“. Auch Dr. Michael Horn, Abteilungsleiter beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), meint, dass Lieferengpässe zunehmend zu Versorgungsproblemen führen. Das Problem ist multikausal, genannt werden unter anderem folgende Schlagwörter: Globalisierung, Konzentration von Produktionsstätten, GMP-Mängel, steigender Bedarf. Dörje, der die Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen leitet, geht auf globale Preisdifferenzen ein, als Beispiel nennt er polyvalente Immunglobuline. Diese seien auf dem Weltmarkt ein knappes Gut – „und es ist eben so, dass Europa schlechte Preise zahlt“. Die Folge: Die Pharmafirmen allozierten die Mengen dort, wo der Markt besser ist. Der US-Markt und der chinesische Markt nehmen mehr auf als Europa, berichtet Dörje. „Wir haben einen Weltmarkt, den wir alle gemeinsam machen“, betont er und appelliert: „Wenn wir mit Kampfpreisen arbeiten, müssen wir über Risiken und Nebenwirkungen sprechen.“
[caption id="attachment_2365" align="aligncenter" width="1200"]Die Nebenwirkungen dieser Entwicklung bekommen Krankenhäuser zu spüren, sie haben bei Engpässen mit Arzneimittelumstellungen zu kämpfen. Damit verbunden ist ein, so Dörje, hoher und aufwendiger Informationsbedarf. Lieferengpässe wirkten sich unmittelbar auf die Arzneimitteltherapiesicherheit aus. „Jede Umstellung, die nicht gewünscht ist, ist eine zu viel.“
Zur Einordnung: Im Klinikum rechts der Isar sind vergangenes Jahr (Stichtag 4. Oktober) 133 Lieferengpässe aufgetreten – mehr als drei pro Woche. Von Engpässen betroffen sind Dörje zufolge insbesondere Injektionen (44,4 Prozent) und Infusionen (27,8 Prozent). Diese werden hauptsächlich bei hochkritisch Kranken eingesetzt, erläutert der Krankenhausapotheker. Er fordert eine Lagerhaltungsverpflichtung für Pharmaunternehmen sowie eine Meldepflicht für das BfArM-Register.
Das Bundesinstitut leitet einen Jour Fixe, der die Versorgungssituation bewertet. Bei einer Sondersitzung haben die Teilnehmer kürzlich Kriterien zur nachhaltigen Verbesserung der Lieferfähigkeit versorgungsrelevanter Basistherapeutika in Krankenhäusern erarbeitet. Es geht um die Schaffung robuster Lieferketten und angemessene Preise. „Wir müssen den Trend der Monopolisierung und Oligopolisierung durch vertragliche Maßnahmen zurückdrängen“, appelliert Horn. Mit dem eigenen Handeln sei dafür Sorge zu tragen, „dass wir eine stabile Versorgung haben und nicht von einzelnen wenigen Produktionsstätten abhängig sind“.
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Protokoll zur Sondersitzung des Jour Fixe
www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Zulassung/amInformationen/Lieferengpaesse/Protokolle/Protokoll_180307.pdf?__blob=publicationFile&v=3
Künftig reiche ein „behaupteter medizinischer Bedarf aus, damit eine neue Leistung von der GKV im ambulanten Bereich bezahlt werden muss. Das Versprechen auf Heilung soll Studienerkenntnisse zu Nutzen und Risiken ersetzen“, kritisiert Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, die Pläne von Jens Spahn. Das geplante Implantateregister-Errichtungsgesetz sieht im Kontext der Methodenbewertung weitgehende Befugnisse für das Bundesgesundheitsministerium vor. Vertreter der Selbstverwaltung befürchten, dass das Ministerium neben der Rechts- auch die Fachaufsicht über den Gemeinsamen Bundesausschuss bekommt.
[caption id="attachment_2369" align="alignleft" width="1200"]Bereits einige Wochen zuvor hat der GKV-Verwaltungsratsvorsitzende Uwe Klemens den „Generalangriff“ des Ministers auf die Selbstverwaltung kritisiert. Auf dem Presseseminar des GKV-Spitzenverbandes nennt er einige Beispiele: Das MDK-Reformgesetz sieht vor, die Selbstverwaltung aus den Gremien des Medizinischen Dienstes zu verdrängen. Dem Faire-Kassenwahl-Gesetz zufolge soll die Selbstverwaltung im Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes abgeschafft werden. Das Terminservice- und Versorgungsgesetz hat die Gesellschafterstruktur der gematik neugeordnet und damit in die Personalhoheit der Selbstverwaltung eingegriffen. Der alternierende Verwaltungsratsvorsitzende Dr. Volker Hansen betont, dass die soziale Selbstverwaltung Garant für eine qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Gesundheitsversorgung sei.
Dagegen räumt Franz Knieps ein, dass manches an den konkreten Arbeitsformen der Selbstverwaltung zu kritisieren sei: „Zu viele Multifunktionäre, zu wenig Junge, zu wenig Frauen, erstarrte Rituale, zu langsame Entscheidungsprozesse, zu viel Selbstbezogenheit.“ Der Vorstand des BKK-Dachverbandes sieht vor allem diejenigen gefordert, die Selbstverwalter in die Gremien entsenden – „also Gewerkschaften, Unternehmen, Arbeitgeberverbände, Ärzteverbände“, schreibt er in einer Zeitungskolumne. Gesetzgeber und Exekutive fragt er, ob sie die Selbstverwaltung nicht einerseits mit Aufgaben überfrachteten und sie andererseits mit kleinlichen Ausführungsbestimmungen und überbordender Aufsicht lähmten. „Kritisch wird es vor allem dann, wenn der Staat der Selbstverwaltung die Lösung komplexer Verteilungskonflikte überantwortet, die er selbst nicht lösen will und kann.“
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Viele Teilnehmerinnen – egal ob Ärztin, Kassenmanagerin oder Politikerin – haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Sie müssen sich in reinen Männerrunden behaupten, in denen sie oft als Störfaktor wahrgenommen werden. Sie spüren die gläserne Decke, „die oftmals betondick ist“, wie es die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther auf den Punkt bringt. Sie werden mit Sprüchen, dass das System für intelligente Frauen noch nicht bereit sei, konfrontiert. Ihre Kompetenz wird auf der Visite vom Chefarzt offen hinterfragt.
Dass Spahn Änderungsbedarf erkennt, daran lässt er bei dem Treffen keinen Zweifel. In seiner Rede spricht der Minister Rahmenbedingungen an, die zu verbessern seien: Arbeitszeiten müssten familienfreundlicher gestaltet werden, eine bessere Planbarkeit der Berufe sei wichtig, ebenso sollte mobiles Arbeiten ermöglicht werden – Vertrauenskultur statt Präsenzlogik. Das klingt erst einmal gut, doch welche Wirkung solche Instrumente tatsächlich entfachen, steht auf einem anderen Blatt. Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat gerade erst gezeigt, dass Mütter und Väter durchweg mehr arbeiten, wenn sie Homeoffice machen oder ihre Arbeitszeit selbst bestimmen können. Mehr Zeit für Kinderbetreuung wenden hingegen nur die Frauen auf.
Für Spahn gehört auch die Altersdurchmischung zum Thema, eine ausgewogenere und abwechslungsreichere Besetzung von Gremien wünscht er sich ausdrücklich. Nicht zufällig kommt der Politiker in diesem Zusammenhang auf den GKV-Verwaltungsrat zu sprechen. Für diesen kann er sich sogar eine Frauenquote vorstellen, obwohl er grundsätzlich kein „allzu großer Fan“ davon sei. Tatsächlich taucht einige Wochen später ein entsprechender Passus im Entwurf des Faire-Kassenwahl-Gesetzes auf. Findet ein Umdenken statt? Bisher hat die Regierung ihre Steuerungsmöglichkeiten in diese Richtung nämlich nicht genutzt. Dabei sind die meisten Organisationen der sozialen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen als Körperschaften des öffentlichen Rechts Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Sie unterliegen, soweit sie bundesunmittelbar agieren, der Aufsicht der Bundesregierung beziehungsweise einer obersten Bundesbehörde.
„Ich plädiere für Tempo“, sagt deshalb Ulrike Ley, die Frauen in medizinischen Führungspositionen coacht. Hierzulande seien nur zehn Prozent solcher Positionen weiblich besetzt. Diese Zahl bewege sich nur sehr, sehr langsam nach oben. Wenn es im bekannten Tempo weitergehe, rechnet Ley vor, sei im Jahr 2276 die Gleichberechtigung vollzogen – „258 Jahre Wartezeit“. Hoffnungsvoll stimme dagegen, dass mittlerweile 30 Prozent Oberärztinnen sind. Darin stecke das Potenzial für Spitzenpositionen und die Chance, alte Machtverhältnisse zu kippen.
Die Autorin spricht in ihrem Vortrag über Karrierehürden für Frauen. Das größte Hindernis: männliche Dominanz am Arbeitsplatz. Das System sei von Männern geprägt. Frauen, die in Führung gehen wollten, passten dort nicht hinein. Sie werden unterschätzt, als Störung und als anstrengend wahrgenommen. „Mann zu sein ist in der Medizin noch immer die günstigste Aufstiegsprognose.“ Ley berichtet exemplarisch von einer Ärztin, die am ersten Tag nach der Elternzeit erfuhr, dass die ihr zugesagte Stelle der leitenden Oberärztin an einen männlichen Kollegen vergeben wurde. Zudem musste sie ihrem Chef voroperieren, der mutmaßte, sie habe das inzwischen verlernt. Die Medizinerin zog daraus die Konsequenz und kündigte – ein Verlust für alle, meint Ley: Die Ärztin habe ihre Karriere an der Uniklinik verloren, das Krankenhaus wiederum ihre Expertise, die Stelle konnte lange Zeit nicht nachbesetzt werden.
Männliche Dominanz in Führungsgremien wird durch den Thomas-Kreislauf konserviert. Dieser besagt, dass Menschen immer jene Menschen fördern, die ihnen ähnlich sind. „Thomas fördert Thomas, Klaus fördert Klaus, aber Klaus fördert eben nicht Marie“, erläutert Gesine Agena, frauenpolitische Sprecherin der Grünen, den Mechanismus auf der Veranstaltung. Einer Erhebung zufolge gab es seit der Wiedervereinigung mehr Staatssekretäre mit dem Vornamen Thomas als Frauen. Eine männliche Monokultur moniert auch ein Bericht der AllBright Stiftung aus dem vergangenen Jahr. Demnach war der Zuwachs an Frauen in den Vorständen der 160 deutschen Börsenunternehmen im Jahr 2017 so gering, dass er in etwa dem gleichzeitigen Zuwachs an Männern entspricht, die Thomas heißen.
[caption id="attachment_2087" align="alignright" width="500"]Viel wird an dem Abend über geeignete Instrumente debattiert, die Frauen den Weg in Spitzenpositionen ebnen sollen. Die Quote zum Beispiel, von Spahn für den GKV-Verwaltungsrat ins Spiel gebracht. Die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks sagt in der Bremer Landesvertretung selbstbewusst von sich: „Ich bin eine Quotenfrau.“ „Auch ich bin eine Quotenfrau im Vorstand“, meint Karen Walkenhorst, Vorständin der Techniker Krankenkasse. Andere meinen, dass die Quote bereits überholt sei. Sie sei zwar ein wichtiger Katalysator, damit sich fachliche Qualität von Frauen durchsetzen kann. Aber: „Quote war gestern, heute geht es um Parität“, meint etwa Ley.
Der ehemalige Telekom-Manager und Quotenpionier Thomas Sattelberg warnt davor, die Gleichberechtigung auf eine Quote zu reduzieren. „Alleinige Symbolpolitik an der Spitze geht genauso schief wie ausschließlich auf Graswurzelbewegungen von unten zu setzen“, sagt er. Für den FDP-Bundestagsabgeordneten sind Talententwicklung und Besetzungspolitik zwei Seiten der gleichen Medaille.
Ein weiterer Impuls von der Veranstaltung: Cornelia Prüfer-Storcks regt an, Rituale beim Ehrenamt zu überdenken, insbesondere Sitzungen straffer zu organisieren. Marathonsitzungen bis in die Nacht wirkten abschreckend auf Frauen, die auch noch einen Großteil des Haushaltes und der Kinderbetreuung stemmen. Die Grünen haben dafür ein interessantes Instrument etabliert, von dem Gesine Agena berichtet: Ist die Redeliste der Frauen erschöpft, wird die Versammlung befragt, ob die Debatte noch weiter fortgesetzt werden soll. Während Männer meist keine Scheu vor Wiederholungen hätten, sei der Umstand, dass sich Frauen nicht mehr zu Wort melden, oft ein Zeichen dafür, dass die Debatte zu Ende geführt wurde, erläutert sie.
Zu hoffen bleibt, dass das deutsche Gesundheitswesen mit seinen vielen, oft endlos erscheinenden Debattenrunden zumindest für eine solche Effizienzmaßnahme bald bereit ist.
[caption id="attachment_2088" align="alignright" width="500"]
DER HERRENCLUB
„Offensichtlich hat sich Schwarz-Rot damit abgefunden, dass die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ein Herrenclub ist.“ Dieses Fazit zieht vor einem Jahr die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther.
Anlass ist die Antwort der Bundesregierung zum „Frauenanteil in der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“, die aufschlussreiche Zahlen liefert. Zur Erinnerung: Der prozentuale Frauenanteil liegt bei den Krankenkassenbeschäftigten bei rund 70 Prozent. Der prozentuale Frauenanteil in den Vorständen der gesetzlichen Krankenkassen reicht dagegen von 0 Prozent (IKKen) bis hin zu rund 21 Prozent (BKKen). Und: Im Jahr 2016 betrug der Frauenanteil unter den berufstätigen Ärztinnen und Ärzten 46 Prozent. In den Ärztekammern aber erreicht – bis auf Bremen mit 60 Prozent – kein Vorstand einen entsprechenden Frauenanteil. Der Frauenanteil in den Kammerspitzen liegt zwischen neun Prozent in Baden-Württemberg und 30 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern. Als Konsequenz verlangen die Grünen verbindliche Vorgaben bei der Besetzung von Spitzenfunktionen im Gesundheitswesen.
Weiterführende Links
Deutscher Bundestag, Drucksache 19/4855 vom 10.10.2018: Mehr Frauen in Führungspositionen zur Organisation des Gesundheitswesens
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/048/1904855.pdf
Deutscher Bundestag, Drucksache 19/725 vom 13.02.2018: Frauenanteil in der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen
http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/007/1900725.pdf
Zur Person Die Herzchirurgin wurde im September 2017 als Direktkandidatin in den Deutschen Bundestag gewählt. Sie ist Mitglied im Gesundheitsausschuss und in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“. Vor ihrer politischen Tätigkeit arbeitete Schmidtke zuletzt als leitende Oberärztin und stellvertretende Chefärztin am Herzzentrum Bad Segeberg. Im Januar 2019 wurde sie zur Patientenbeauftragten der Bundesregierung ernannt.
.Zur Person Prof. Peter Dabrock ist evangelischer Theologe und seit 2010 Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, dessen Mitglied er seit 2012 ist. Dabrock ist außerdem Mitglied in zahlreichen Fachgesellschaften wie der Societas Ethica und der Akademie für Ethik in der Medizin.
[post_title] => Überfällig oder überflüssig? [post_excerpt] => Pro und Contra zur Widerspruchslösung [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => ueberfaellig-oder-ueberfluessig [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-05-10 09:54:42 [post_modified_gmt] => 2019-05-10 07:54:42 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2023 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2029 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [361] => WP_Post Object ( [ID] => 2031 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-05-09 15:44:11 [post_date_gmt] => 2019-05-09 13:44:11 [post_content] =>IMPFEN – WEITERE INITIATIVEN DER REGIERUNG Neben der Diskussion über eine mögliche Impfpflicht ist die Regierung auch anderweitig aktiv: Das Bundesministerium für Gesundheit will es Apothekern künftig ermöglichen, Grippeimpfungen vorzunehmen. Der Referentenentwurf zum „Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken“ sieht regionale Modellprojekte mit fünfjähriger Laufzeit vor, für die Apotheker mit den Krankenkassen Verträge abschließen können. Außerdem müssen sie sich vorher ärztlich schulen lassen. Das kürzlich verabschiedete Terminservice- und Versorgungsgesetz schiebt Exklusivverträgen mit einzelnen Herstellern über saisonale Grippeimpfstoffe den Riegel vor. Die Apothekenvergütung wird neu geregelt. Das Gesetz enthält auch für Praxen in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit bei der Verordnung saisonaler Grippeimpfstoffe eine wichtige Nachricht: Eine angemessene Überschreitung der Bestellmenge gegenüber den tatsächlich erbrachten Impfungen gilt grundsätzlich nicht als unwirtschaftlich. Unterdessen hat Brandenburg eine Masern-Impfpflicht für Kinder in Kitas beschlossen.
ZUR PERSON Prof. Cornelia Betsch hat an der Universität Erfurt eine DFG-Heisenberg-Professur für Gesundheitskommunikation. Zu ihren Forschungsinteressen zählen: evidenzbasierte Gesundheitskommunikation, individuelle und soziale Aspekte bei Gesundheitsentscheidungen, die Psychologie des Infektionsschutzes vor allem im Bereich Impfen und umsichtigem Gebrauch von Antibiotika sowie Risikowahrnehmung und -kommunikation im Gesundheitsbereich. Sie berät und arbeitet mit der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, dem Robert Koch-Institut und der Weltgesundheitsorganisation zusammen.
[post_title] => „Es muss einfacher werden, geimpft zu werden“ [post_excerpt] => Prof. Cornelia Betsch über Verbesserungsbedarf im Versorgungssystem [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => es-muss-einfacher-werden-geimpft-zu-werden [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-05-10 09:56:54 [post_modified_gmt] => 2019-05-10 07:56:54 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2023 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2036 [menu_order] => 50 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [364] => WP_Post Object ( [ID] => 2038 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-05-09 15:44:49 [post_date_gmt] => 2019-05-09 13:44:49 [post_content] =>ZUR PERSON Dr. Annegret Elisabeth Schoeller ist als Bereichsleiterin in der Bundesärztekammer für Arbeitsmedizin, öffentlicher Gesundheitsdienst, Rehabilitation sowie für Impfungen, Hygiene und Pandemieplanung zuständig. Zuvor arbeitete sie unter anderem im Öffentlichen Gesundheitsdienst und am Institut für Hygiene und Arbeitsmedizin, Gelbfieberimpfstelle der Universität-Essen-Gesamthochschule. Die Fachärztin für Arbeits- und Umweltmedizin ist unter anderem Mitglied des Expertenbeirats Influenza des Robert Koch-Instituts und der Nationalen Lenkungsgruppe Impfen der Gesundheitsministerkonferenz.
[post_title] => Neue Versorgungswege von Ärzten für Ärzte [post_excerpt] => Dr. Annegret Elisabeth Schoeller über Impfen außerhalb der Praxis [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => neue-versorgungswege-von-aerzten-fuer-aerzte [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-05-10 09:57:18 [post_modified_gmt] => 2019-05-10 07:57:18 [post_content_filtered] => [post_parent] => 2023 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=2038 [menu_order] => 60 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [365] => WP_Post Object ( [ID] => 2040 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-05-09 15:45:08 [post_date_gmt] => 2019-05-09 13:45:08 [post_content] =>STUDIE KREBS UND ARMUT Die aktuelle Studie „Krebs und Armut“, für die Patienten befragt und Daten der AOK Nordost ausgewertet wurden, ermittelt Gründe für die Veränderung der Erwerbstätigkeit von Betroffenen. . Die Interviewten nennen: • Leistungsfähigkeit durch Erkrankung/Therapie eingeschränkt: 79 % • keine Anpassung der Arbeitsbedingungen möglich: 23 % • andere Schwerpunktsetzung im Leben: 17 % • keine Beratung zur beruflichen Perspektive und Wiedereingliederung: 10 % • keine schrittweise Wiederaufnahme der Tätigkeit möglich: 9 % . Mehr zur Studie: http://www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/kua/
Was sind ATMP – Advanced Therapy Medicinal Products? Gentherapien, wozu auch CAR-T-Zelltherapien gehören, machen nur eine Untergruppe der sogenannten Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP, aus. Zu den Arzneimitteln für neuartige Therapien gehören außerdem medizinische Produkte auf Basis von Zellen (Zelltherapie) und Geweben (Tissue Engineering). Eine „sehr heterogene Produktgruppe“, sagt Dr. Throm. Von 2009 bis September 2018 waren zwölf ATMP in Europa zugelassen, wobei in vier Fällen die Zulassung zurückgenommen wurde oder ausgelaufen ist. Ihm zufolge laufen derzeit vier Zulassungsanträge für neue ATMP (Stand: Dezember 2018).
Hecken zu Qualitätsfragen und Zugangswegen Qualitätsanforderungen für die Anwendung komplexer Gentherapien wie CAR-T-Telltherapien sollte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht per Einzelbeschluss festlegen. Dies habe vielmehr durch eine allgemeinverbindliche Richtlinie nach Paragraf 92 zu erfolgen. Dafür macht sich der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken stark. Sein Argument: Damit werde der Behandlungserfolg, der möglicherweise durch die Therapie eintrete, nicht durch handwerkliche Fehler zunichte gemacht. Außerdem könne so die Lücke von sechs Monaten, bis der G-BA-Beschluss vorliegt, vermieden werden. Werden ATMPs als Arzneimittel eingeordnet, durchlaufen sie die frühe Nutzenbewertung, dies ist bei einer Einordnung als Behandlungsmethode nicht der Fall. Bei Arzneimitteln steht der pharmazeutische Charakter im Vordergrund, bei Behandlungsmethoden die komplexe Verabreichungsmethode. Wenn es nach Hecken ginge, durchliefen alle ATMPs den AMNOG-Weg – als Ausweg aus der Diskussion: „Wann ist die Verabreichung von mindestens gleicher Signifikanz für einen erfolgreichen Therapieausgang wie die aktive Wirkungsweise und das Wirkprinzip des Produktes?“
[post_title] => Neue Therapieprinzipen – altes System [post_excerpt] => Über die Notwendigkeit innovativer Finanzierungsmodalitäten [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => neue-therapieprinzipen-altes-system [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-05-13 11:19:08 [post_modified_gmt] => 2019-05-13 09:19:08 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1848 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1857 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [377] => WP_Post Object ( [ID] => 1862 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-02-11 17:06:16 [post_date_gmt] => 2019-02-11 16:06:16 [post_content] =>ZUR PERSON
Dr. Monika Nothacker hat unter anderem als Oberärztin der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe des Urban-Klinikums in Berlin gearbeitet. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF).
Die AWMF hat kürzlich eine Stellungnahme zu „Medizin und Ökonomie – Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung“ publiziert.
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ZUR PERSON
Hartmut Reiners ist Gesundheitsökonom und Publizist. Er arbeitete unter anderem im brandenburgischen und nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium sowie im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO).
In seinem jüngst erschienenen und vollständig überarbeiteten Buch setzt er sich mit „Mythen der Gesundheitspolitik“ auseinander. Ein Mythos ist für ihn, dass die Ökonomisierung des Gesundheitswesens die Heilkunst zerstöre.
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LUNAPHARM – WORUM ES GEHT Der in Brandenburg ansässige Groß- und Parallelhändler Lunapharm soll von einer griechischen Apotheke hochpreisige Krebsarzneimittel bezogen haben, die zuvor mutmaßlich in griechischen Krankenhäusern gestohlen wurden. Ein qualitätsgesicherter Transport und sachgerechte Lagerungsbedingungen sind bei illegalen Vertriebswegen nicht sichergestellt. Lunapharm brachte diese Arzneimittel dann in Deutschland über Apotheken, Großhändler und andere Importeure in den Verkehr. Task Force-Mitglied Prof. Wolf-Dieter Ludwig berichtet, dass es bereits 2013 einen deutlichen Hinweis gab, wonach die griechische Apotheke keine Arzneimittel in andere Länder hätte exportieren dürfen. Dieser Vorgang wurde Ende 2016 der Landesbehörde erneut bekannt. Unterdessen hat Lunapharm den bekannten PR-Berater Klaus Kocks engagiert. Medienberichten zufolge bereitet das Unternehmen eine Schadenersatzklage gegen die Brandenburger Landesregierung vor.
GSAV – GESETZ FÜR MEHR SICHERHEIT IN DER ARZNEIMITTELVERSORGUNG Der Gesetzesentwurf sieht eine Reihe von Maßnahmen vor, denn nicht nur der Lunapharm-Skandal, sondern auch der Fall Bottrop und der Fall Valsartan stellen die hiesige Arzneimittelsicherheit infrage. Um ein zweites Lunapharm zu verhindern, will das Ministerium beispielsweise die Koordinierungsfunktion des BfArM beziehungsweise Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) stärken sowie deren Rückrufkompetenzen erweitern. Dem FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann gehen die Pläne von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht weit genug, er will eine grundsätzliche Reform der Arzneimittelüberwachung. Gestärkte Kompetenzen von BfArM und PEI lösen nach Einschätzung von Ullmann die Probleme von Nichtüberwachung oder mangelhafter Überwachung in Ländern oder Gemeinden nicht. BfArM-Direktor Prof. Karl Broich begrüßt dagegen das GSAV: „Unsere Arbeit für die Patientensicherheit wird gestärkt!“, twittert er im November. Zuvor hat er in einem Interview gefordert, Lücken in der Arzneimittelaufsicht zu schließen. „Wir müssen als Bundesoberbehörde den Landesbehörden Anweisungen geben können, wenn wir für die Patienten Gefahr im Verzug sehen.“ Ziel müsse es sein, dass es künftig wie bei der amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde eine Anlaufstelle gibt, die eine schnelle Koordination und Kommunikation übernimmt.
[post_title] => Weckruf Lunapharm [post_excerpt] => Wie es nach dem Medikamenten-Skandal weitergeht [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => weckruf-lunapharm [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-02-13 13:15:25 [post_modified_gmt] => 2019-02-13 12:15:25 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1848 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1865 [menu_order] => 40 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [379] => WP_Post Object ( [ID] => 1867 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-02-11 17:06:28 [post_date_gmt] => 2019-02-11 16:06:28 [post_content] =>ZUR PERSON Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Der Hämatologe und Onkologe war bis September 2017 Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Tumorimmunologie und Palliativmedizin im Helios Klinikum Berlin-Buch. Gegenwärtig arbeitet er ambulant in der Schwerpunktpraxis „Hämatologie Onkologie Berlin-Mitte“. Er ist Herausgeber des unabhängigen Informationsblattes „Der Arzneimittelbrief“, Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Fachgesellschaften und gehört als Vertreter der europäischen Ärzteschaft dem Management Board der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) an.
[post_title] => „Patientenwohl muss höchste Priorität eingeräumt werden“ [post_excerpt] => Prof. Wolf-Dieter Ludwig zur Arzneimittelsicherheit in Deutschland [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => patientenwohl-muss-hoechste-prioritaet-eingeraeumt-werden [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-02-13 13:15:54 [post_modified_gmt] => 2019-02-13 12:15:54 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1848 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1867 [menu_order] => 50 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [380] => WP_Post Object ( [ID] => 1869 [post_author] => 3 [post_date] => 2019-02-11 17:06:35 [post_date_gmt] => 2019-02-11 16:06:35 [post_content] =>Was ist eine Sepsis? Die Krankheit definiert der Mediziner Gründling als eine lebensbedrohliche Organdysfunktion, bedingt durch eine dysregulierte Antwort des Wirtes, also des Patienten, auf eine Infektion. Für Laien verständlicher ausgedrückt bedeutet es, dass das Immunsystem auf eine Infektion so ungünstig reagiert, dass es den Körper schädigt statt ihn zu schützen. Die Mortalitätsrate im Krankenhaus beträgt 2013 44 Prozent, bei septischen Schock sogar knapp 59 Prozent. Zum Vergleich: In England liegt der Wert bei 32,1 Prozent, in den USA bei 29 Prozent und in Australien bei 18,5 Prozent. Wer eine Sepsis überlebt, ist insbesondere bei den schweren Fällen mit gravierenden Spätfolgen konfrontiert. Dr. Illona Köster-Steinebach nennt etwa Amputationen, kognitive Defizite, Angststörungen, Depressionen und Lähmungen.
Wer engagiert sich?
• Todesfälle durch Sepsis nachhaltig zu reduzieren, ist das Ziel der Sepsis Stiftung, die sich für Forschung und Wissenschaft, Aufklärung und Prävention engagiert. Die Stiftung fordert unter anderem: ein nationales Aufklärungsprogramm, einen Sepsis-Check als Routineuntersuchung bei allen Infektionspatienten und verbindliche Behandlungsstandards. www.sepsis-stiftung.eu
• Die Deutsche Sepsis-Hilfe (DSH) ist eigenen Angaben zufolge die weltweit erste Organisation von Betroffenen und Angehörigen. 2007 wurde die DSH aus dem Kreis einer Betroffeneninitiative gegründet. Rund 300 eingetragene Mitglieder in Deutschland, aber auch Österreich, Frankreich, Italien, der Schweiz und Griechenland zählt der Verein zurzeit, heißt es in einer DSH-Broschüre. www.sepsis-hilfe.org
• Mehr über den Greifswalder Sepsis Dialog unter www.medizin.uni-greifswald.de/sepsis/en/home/
[post_title] => Sepsis – ein verkanntes Problem [post_excerpt] => Das „beste Gesundheitssystem der Welt“ hat Nachholbedarf [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => sepsis-ein-verkanntes-problem [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-11-12 12:54:12 [post_modified_gmt] => 2018-11-12 11:54:12 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1664 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1670 [menu_order] => 10 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [389] => WP_Post Object ( [ID] => 1672 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-11-07 17:23:31 [post_date_gmt] => 2018-11-07 16:23:31 [post_content] =>Alternativen zur Organspende? Die Nachfrage nach gespendeten Organen wird vermutlich immer größer bleiben als das Angebot, selbst wenn die Zahl der potenziellen Spender wieder steigen sollte. Der Verband der Krankenhausdirektoren verlangt daher intensives Nachdenken über Lösungen, die Alternativen zu Organspenden darstellen. Diese Forschung müsste gefördert und finanziert werden. Als Themen werden biologische Herzschrittmacher, Herzklappen, Knorpelzell- und Hautzellersatz, Diabetes und sogar die Möglichkeit eines nachwachsenden Herzens genannt. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft mahnt eine offene und ehrliche Informationskampagne an, bei der schwierige ethische Fragen nicht ausgegrenzt werden dürften: „Dazu gehören auch Debatten über alternative Verfahren wie beispielsweise die Erzeugung von Organen aus Stammzellen.“
[post_title] => Schlagzeilen und Missverständnisse zur Organspende [post_excerpt] => Die Widerspruchslösung löst keine Strukturprobleme [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => schlagzeilen-und-missverstaendnisse-zur-organspende [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-11-13 10:30:34 [post_modified_gmt] => 2018-11-13 09:30:34 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1664 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1672 [menu_order] => 15 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [390] => WP_Post Object ( [ID] => 1675 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-11-07 17:23:41 [post_date_gmt] => 2018-11-07 16:23:41 [post_content] =>Mobile Gesundheit PD Dr. Verina Wild, Ludwig-Maximilians-Universität München, untersucht mit ihrem Forschungsteam ethische, rechtliche und soziale Aspekte mobiler Gesundheitstechnologien. Ein noch relativ unerschlossenes Gebiet für die Wissenschaftler, die sechs Jahre lang vom BMBF unterstützt werden: „Wir sprechen über Dinge, die noch nicht gut definiert sind“, sagt die Medizinethikerin und meint teilweise synonym verwendete Begriffe wie mHealth, eHealth oder digitalHealth. Mobile Technologien, seien es Wearables, Sensoren oder Apps, seien allgegenwärtig und transformierten das traditionelle Versorgungssystem. „Gesundheit wird zunehmend auch außerhalb des medizinischen Kontextes angeboten und verhandelt.“ . Die nationalen Grenzen des Systems würden von internationalen virtuellen Patienten-Communitys oder global agierenden IT-Konzernen aufgebrochen. Das bleibe nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis von Patienten und Ärzten. Die Forschenden untersuchen beispielsweise die technische Manipulation mobiler Gesundheitstechnologien durch die Patienten selbst. Weitere Fragen, denen das interdisziplinäre Team nachgeht, lauten: Wie beeinflusst mHealth das Verhältnis von Eigenverantwortung für Gesundheit und Gerechtigkeit? Wie verändert self-tracking die Beziehung zum eigenen Körper?
. Weitere Informationen unter www.meta.med.uni-muenchen.de
[post_title] => Digitalisierung total [post_excerpt] => Ein Überblick zu Kommissionen, Räten und Agenturen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => digitalisierung-total [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-11-12 13:53:23 [post_modified_gmt] => 2018-11-12 12:53:23 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1664 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1675 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [391] => WP_Post Object ( [ID] => 1677 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-11-07 17:23:50 [post_date_gmt] => 2018-11-07 16:23:50 [post_content] =>Der Arzt: „Der Patient ist nicht standardisierbar“
Prof. Hans-Detlev Saeger, ehemaliger Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie an der Uniklinik Dresden
„Der Standard braucht Konstanten – aber welche?“, fragt Saeger. Er nennt unter anderem die Stichwörter Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Qualitätssicherung, wertbasierte Medizin, aber auch das Wirtschaftlichkeitsgebot. Die personalisierte Medizin mache die Ermittlung eines Standards nicht leichter. Der Arzt betont, dass auch Abwarten – „und nicht gleich die Knieendoprothese hinein zu hämmern“ – oder sogar das Auslassen einer Therapie in bestimmten Situationen Standard sein können. Grundsätzlich gilt: „Der Patient ist nicht standardisierbar.“
Der medizinische Gutachter: Operieren auf der Lernkurve
Prof. Hans-Friedrich Kienzle, Chefarzt der Chirurgischen Klinik Köln-Holweide i.R.
Aus Sicht des medizinischen Gutachters geht es darum, den Standard für den konkreten Einzelfall zu ermitteln. „Im Gutachten werden Standards geprüft, nicht entwickelt“, sagt er. Bei der Prüfung spielen der Facharztstandard, Richt- und Leitlinien und Dokumentation eine Rolle. „Ein Riesenproblem“ stelle ein Standard in Entwicklung dar, sagt Kienzle – wenn beispielsweise neue Operationsmethoden verwendet werden, die aber noch nicht flächendeckend zum Einsatz kommen. In solchen Fällen spiele die Aufklärung eine besonders wichtige Rolle. Eng damit ist das Problem der Lernkurve verbunden. Die rhetorische Frage des Gutachters: „Wer möchte auf der Lernkurve operiert werden?“
Die Sozialrichterin: „Der Einzelfall kann aus dem Blick geraten“
Dr. Anne Barbara Lungstras, Richterin am Sozialgericht Berlin
Der Standard wird vor Sozialgerichten meist dann relevant, wenn es darum geht, welche neuen Therapien zulasten der GKV erbracht werden dürfen. Am Beispiel der Kopforthese stellt die Richterin den Konflikt zwischen dem, was der Arzt rät, und dem, was die Krankenkasse zahlt, dar. Das Qualitätsgebot und Wirtschaftlichkeitsgebot bildeten die Pfeiler der Standardsetzung im Sozialgesetzbuch V. Der Standard werde nicht von Fall zu Fall durch den einzelnen Arzt festgelegt, sondern durch eine Vorabentscheidung. „Der Einfall kann aus dem Blick geraten“, räumt die Richterin ein. Ausnahmeregelungen – „Nikolaus-“, Seltenheits- und Systemversagensfälle – dienten der „Abfederung“. Mengenbegrenzende Maßnahmen haben Lungstras zufolge nichts mit der Standardbestimmung im SGB V zu tun, sie schränkten den GKV-Leistungskatalog in keiner Weise ein.
Der Haftungsrichter: Der Handlungskorridor eines Arztes
Wolfgang Frahm, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Schleswig
Zur Ermittlung des Standards nennt Frahm folgende Kriterien: Sorgfalt des Arztes, konkrete Behandlungssituation, individuelle Bedürfnisse des Patienten, der Zeitpunkt (ex ante), fachliche Erkenntnisse und Erfahrung sowie die Eingrenzung auf das betreffende Fachgebiet. Der Richter betont, dass sich der Arzt in einem Korridor bewegen dürfe – vom Goldstandard bis hin zur noch ausreichenden Behandlung. Vor Gericht spielen Sachverständige eine wichtige Rolle; wichtig sei bei ihnen Fachgleichheit, überragende Sachkunde, Objektivität, Unbefangenheit. Richtlinien des G-BA lässt der Bundesgerichtshof Rechtsnormqualität zukommen, sagt Frahm. „Was dort steht, ist Mindeststandard – auch für Privatversicherte.“
Die Ethikerin: Behandlungsbündnis zwischen Arzt und Patient
Prof. Christiane Woopen, ceres Universität zu Köln
Als zentral stellt Woopen das Patientenwohl heraus. Dafür hat der Deutsche Ethikrat drei Elemente bestimmt: selbstbestimmungsermöglichende Sorge, gute Behandlungsqualität sowie Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit. Arzt und Patient bildeten ein „Behandlungsbündnis“. Die Ethikerin wünscht sich, dass dieser Umstand bereits bei der Forschung berücksichtigt wird, etwa bei der Definition von Outcome-Parametern. Nutzenbewertungen, Leitlinien und Co., auf deren Grundlage der medizinische Standard erarbeitet werde, griffen in dieser Hinsicht noch zu kurz, kritisiert sie. „Für die Ethik sind die Patientenpräferenzen von vornherein genuiner Bestandteil dessen, was in einen medizinischen Standard einfließen sollte.“ Essenziell sei die Aufklärung der Patienten über mögliche Behandlungsalternativen.
Der Ökonom: Die Illusion, nicht zu rationieren
Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen
Nach der reinen gesundheitsökonomischen Lehre müsste bei der Entscheidung, ob neue Leistungen von der GKV erstattet werden, ein Abgleich zwischen gesellschaftlicher Zahlungsbereitschaft für Innovationen und deren Kosten-Nutzen-Relation vorgenommen werden. Das übliche Outcome-Maß seien dafür QALYs. Bei deren Ermittlung könnten gesellschaftliche Vorstellung von Gerechtigkeit durch Gewichte berücksichtigt werden. Hierzulande gebe es allerdings keine Schwellenwerte für die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft. Wasem appelliert: „Wir brauchen Ergebnisse ökonomischer Evaluation als Informationsgrundlage für einen qualitativen gesellschaftlichen Entscheidungsprozess.“ Bedauerlich sei, dass faktisch keine vernünftige gesundheitsökonomische Evaluation bei der Messung des Standards gemacht werde. „Das vermittelt die Illusion, wir rationieren nicht und machen alles.“
ZUR PERSON: DIE ETHIKERIN UND DER JURIST
Prof. Christiane Woopen: Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates ist an der Universität zu Köln Direktorin von ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health). Sie war Mitglied im „International Bioethics Committee“ der UNESCO und ist Vorsitzende des Europäischen Ethikrates (EGE). Woopen studierte Humanmedizin und Philosophie.
Prof. Christian Katzenmeier ist Direktor des Instituts für Medizinrecht der Universität zu Köln. Er veranstaltet seit 2008 die „Kölner Medizinrechtstage” und gibt die „Kölner Schriften zum Medizinrecht“ heraus. Außerdem ist er Schriftleiter der Zeitschrift „Medizinrecht“ und Mitherausgeber des „Heidelberger Kommentar Arztrecht-Krankenhausrecht-Medizinrecht“. Woopen und Katzenmeier leiten die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte interdisziplinäre Forschergruppe zu Medizin und Standard.
Mehr Informationen unter: www.ceres.uni-koeln.de/forschung/expertengruppen/medizin-und-standard/ [post_title] => „Der Arzt gerät in Bedrängnis“ [post_excerpt] => Prof. Woopen und Prof. Katzenmeier über widersprüchliche Standards [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => der-arzt-geraet-in-bedraengnis [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-11-12 12:57:23 [post_modified_gmt] => 2018-11-12 11:57:23 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1664 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1680 [menu_order] => 30 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [393] => WP_Post Object ( [ID] => 1682 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-11-07 17:24:03 [post_date_gmt] => 2018-11-07 16:24:03 [post_content] =>Zwölf Ziele Die zwölf Ziele, auf denen die ZEIG-Bewertung beruht, lauten: Qualitätssicherheit & -verbesserung; Versorgungssicherheit; Prävention & Gesundheitsförderung; Begrenzung der finanziellen Belastung der Versicherten; Solidarität & Gerechtigkeit, Effizienz(steigerung); Transparenz; Stärkung der Patientenrechte; Selbsthilfe, Selbstbestimmung & Eigenverantwortung; gute Arbeitsbedingungen, Autonomie & Einfluss der Akteure; wirtschaftlicher Erfolg. . Mehr Information: www.zeig-analyse.de
[post_title] => ZEIG: Innovationen auf dem Prüfstand [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => zeig-innovationen-auf-dem-pruefstand [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-11-12 12:57:39 [post_modified_gmt] => 2018-11-12 11:57:39 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1664 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1682 [menu_order] => 30 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [394] => WP_Post Object ( [ID] => 1684 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-11-07 17:24:11 [post_date_gmt] => 2018-11-07 16:24:11 [post_content] =>Rudolf Henke Der Aachener Internist ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags. Außerdem engagiert er sich als Präsident der Ärztekammer Nordrhein in der ärztlichen Selbstverwaltung. Henke ist außerdem erster Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Bei der AIDS-Hilfe Nordrhein-Westfalen ist er Kuratoriumsmitglied.
Kordula Schulz-Asche Von der hessischen Landespolitik wechselte die ausgebildete Krankenschwester 2013 in den Bundestag. Schulz-Asche lebte zwischenzeitlich in Afrika, wo sie für Entwicklungsorganisationen im Bereich Gesundheitsaufklärung tätig war. Bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit arbeitete sie im Projekt „HIV/AIDS-Bekämpfung in Entwicklungsländern“.
[post_title] => PrEP: Potenzial mit Nebenwirkungen [post_excerpt] => Politiker nehmen zur HIV-Prophylaxe Stellung [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => prep-potenzial-mit-nebenwirkungen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-08-15 10:57:21 [post_modified_gmt] => 2018-08-15 08:57:21 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1382 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1386 [menu_order] => 10 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [403] => WP_Post Object ( [ID] => 1388 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-08-08 14:06:24 [post_date_gmt] => 2018-08-08 12:06:24 [post_content] =>SELBSTVERWALTUNG IM ÜBERBLICK Das Prinzip der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen beschreibt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) wie folgt: Innerhalb gesetzlicher Rahmenbedingungen organisieren die Versicherten und Beitragszahler sowie die Leistungserbringer sich selbst in Verbänden, die in eigener Verantwortung die medizinische Versorgung der Bevölkerung übernehmen. Oberstes Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Krankenkassen, Ärzte und Krankenhäuser ist der Gemeinsame Bundesausschuss. Weitere Gremien sind etwa die paritätisch mit Ärzten- und Kassenvertretern besetzten regionalen Zulassungs-, Berufungs- und Beschwerdeausschüsse. Die soziale Selbstverwaltung bezeichnet wiederum die ehrenamtlichen Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber, die im Rahmen der Sozialwahlen gewählt werden. Sie bilden die Verwaltungsräte der gesetzlichen Krankenkassen. Bei der ärztlichen Selbstverwaltung handelt es sich um eine berufsständische Selbstverwaltung. Eine wichtige Aufgabe der Kammern ist die Fortbildung, die Kassenärztlichen Vereinigungen sind für die vertragsärztliche Versorgung der GKV-Versicherten zuständig. Mit dem Selbstverwaltungsstärkungsgesetz wurden die Kontrollmöglichkeiten des BMG über die Selbstverwaltung gestärkt. Man wolle diese vor Selbstblockaden schützen, sagte der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe bei der Verabschiedung des Gesetzes im vergangenen Jahr.
Weiterführende Links: Gutachten zur verfassungsrechtlichen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses: http://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/ministerium/details.html?bmg%5Bpubid%5D=3162 Eine Kurzzusammenfassung gibt es auf: http://www.gerechte-gesundheit.de/news/detail/bmg-veroeffentlicht-gutachten-zur-g-ba-legitimation.html [post_title] => Garant oder Bremser? [post_excerpt] => Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => garant-oder-bremser [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-08-14 14:11:25 [post_modified_gmt] => 2018-08-14 12:11:25 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1382 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1388 [menu_order] => 15 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [404] => WP_Post Object ( [ID] => 1390 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-08-08 14:06:33 [post_date_gmt] => 2018-08-08 12:06:33 [post_content] =>BRUSTKREBS UND UNANGENEHME WAHRHEITEN „Wir alle glauben, in einer menschlichen, solidarischen Gesellschaft zu leben, in der Menschen, die an einer tödlichen Krankheit leiden, jegliche medizinische und auch nicht-medizinische Unterstützung und Pflege erhalten, die sie brauchen. Wir glauben auch, dass weder Kosten noch Mühen gescheut werden, um diesen Menschen das Leben so angenehm wie möglich zu machen und dass es niemals Gesetze geben würde, die die Erforschung neuer, lebensrettender Therapien verhindern. Zumindest war dies meine feste Überzeugung, bis bei mir vor fast sechs Jahren Brustkrebs diagnostiziert wurde. Leider musste ich feststellen, dass es bei Gesetzgebern einen Mangel an tiefergehendem Wissen über das alltägliche Leben mit metastasiertem Brustkrebs gibt“, schreibt Suzanne Leempoels in dem Blog ‚The Metastatic Breast Cancer‘.
KOSTEN IN DER ONKOLOGIE 2015 IM VERGLEICH Folgende Zahlen setzt Prof. von Kalle ins Verhältnis: Die Gesamtausgaben im deutschen Gesundheitssystem betragen 344 Milliarden Euro. 20 Milliarden, also etwa sechs Prozent, werden für die Behandlung von Krebs ausgegeben: „stationär, ambulant, Onkologika, alles – ein Fünfzehntel für eine Erkrankung, die ein Viertel von uns umbringt, und dann wundern wir uns, dass es nicht so richtig klappt.“ Der Anstieg von Ausgaben für Onkologika entspricht etwa dem des Bruttosozialprodukts und ungefähr auch dem der übrigen Medikamentenausgaben, „ganz sicher nicht überdurchschnittlich und ganz sicher nicht unangemessener Weise“. Von den 20 Milliarden Ausgaben für Krebs entfallen vier Milliarden auf Medikamente, davon wiederum etwa die Hälfte auf patentgeschützte. „Die so genannten teuren Medikamente machen ungefähr ein Prozent unserer Gesundheitsaufwendungen aus“, sagt von Kalle und bilanziert: „Wir haben die Möglichkeit, großartige Dinge in der Zukunft zu tun. Das, was wir bisher tun, ist kein Kostentreiber, der uns – bisher jedenfalls – über Gebühr finanziell belastet.“
[post_title] => Vision Zero für Krebs [post_excerpt] => Über neue Maßstäbe im Kampf gegen eine Volkskrankheit [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => vision-zero-fuer-krebs [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-08-14 14:09:14 [post_modified_gmt] => 2018-08-14 12:09:14 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1382 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1390 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [405] => WP_Post Object ( [ID] => 1392 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-08-08 14:06:43 [post_date_gmt] => 2018-08-08 12:06:43 [post_content] =>STERBEHILFE: PRO UND CONTRA Befürworter der Sterbehilfe argumentieren, dass jedem das Recht und die persönliche Freiheit zustehe, selbstständig über den eigenen Tod zu entscheiden. Vor allem geht es darum, eigenständig Leiden zu verkürzen, das durch Palliativmedizin nicht verhindert werden kann. Religiöse Maßstäbe könnten nicht für alle Menschen gelten. Die Gegner betonen, dass es nicht dem Menschen obliege, über Leben und Tod zu entscheiden. Sterben sei ein natürlicher Prozess und könne mit Schmerztherapien menschenwürdig gestaltet werden. Sie befürchten eine Ökonomisierung des Todes. Ärzte verpflichte der Hippokratische Eid, Patienten am Leben zu erhalten. Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
STERBEHILFE: ASSISTIERT, PASSIV, INDIREKT Verschiedene Begriffe werden im Kontext der Sterbehilfe verwendet. Beim assistierten Suizid reichen Angehörige oder Freunde dem Betroffenen auf Wunsch ein Medikament, das zum Tod führt und das von ihm selbst eingenommen wird. Im Falle des ärztlich assistierten Suizids wird es von einem Mediziner zur Verfügung gestellt. Passive Sterbehilfe meint den Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen wie künstliche Beatmung. Indirekte Sterbehilfe bedeutet, dass schmerzlindernde Medikamente gegeben werden, die unter Umständen lebensverkürzend wirken können. Tötung auf Verlangen bezeichnet die Tötung durch Dritte, der Arzt verabreicht dem Betroffenen auf Wunsch ein Mittel, das unmittelbar zum Tod führt, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Todeswünsche können der DGP zufolge unterschiedlich ausgeprägt sein. Das Kontinuum reiche von dem Wunsch, dass der Tod durch ein rasches Fortschreiten der Erkrankung bald eintreten möge, bis hin zur maximalen Form der Planung eines Suizids respektive Wünschen nach Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen. .
Weiterführender Link: Zusammenfassung der Befragung von Palliativmedizinern zu Suizidassistenz und Sterbebegleitung: http://www.dgpalliativmedizin.de/pressemitteilungen/2015-09-22-10-57-50.html [post_title] => Das heiße Eisen [post_excerpt] => Sterbehilfe – Einstellungen, Urteile und Tabus [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => das-heisse-eisen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-08-14 14:07:07 [post_modified_gmt] => 2018-08-14 12:07:07 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1382 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1392 [menu_order] => 25 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [406] => WP_Post Object ( [ID] => 1394 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-08-08 14:06:51 [post_date_gmt] => 2018-08-08 12:06:51 [post_content] =>ZUR PERSON Der Jurist Jochen Taupitz ist ein renommierter Experte für Gesundheitsrecht und Medizinethik. Er forscht unter anderem zu: Fortpflanzungsmedizin, Stammzellforschung, Sterbehilfe, Persönlichkeitsrecht, Patientenverfügungen. Der Ordinarius für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Mannheim ist seit 1998 außerdem Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Taupitz ist Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Er ist ferner Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deuschland. Von 2012 bis 2016 war er stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. .
[post_title] => „Die Situation ist verworren“ [post_excerpt] => Prof. Jochen Taupitz zur Sterbehilfe in Deutschland [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => die-situation-ist-verworren [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-08-14 14:04:25 [post_modified_gmt] => 2018-08-14 12:04:25 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1382 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1394 [menu_order] => 30 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [407] => WP_Post Object ( [ID] => 1396 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-08-08 14:06:59 [post_date_gmt] => 2018-08-08 12:06:59 [post_content] =>REFERENZWERTE FÜR PREISFINDUNG Um etwa bei der Preisfindung für Medikamente und medizinische Verfahren Grenzen setzen zu können, ist ein Referenzwert erforderlich. International wird dazu oft der sogenannte „Wert eines statistischen Lebensjahres“ herangezogen. Um die Zahlungsbereitschaft zu ermitteln, verwenden Ökonomen zwei verschiedene Ansätze. Bei den methodisch anspruchsvolleren Studien werden Menschen befragt, wie viel sie für eine Maßnahme zu zahlen bereit sind, die ihr Sterblichkeitsrisiko senkt – beispielsweise für die Anschaffung eines Airbags. Diese Methode funktioniert nur, wenn die Reduktion des Sterblichkeitsrisikos genau beziffert werden kann. Der andere Ansatz beruht auf indirekten Methoden, die Zahlungsbereitschaft wird aus beobachtetem Verhalten abgeleitet. Die Ökonomen untersuchen beispielsweise, um wie viel höher der Arbeitslohn ausfallen muss, damit Menschen eine riskantere Beschäftigung annehmen.
[post_title] => Zum Wert eines Lebensjahres [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => zum-wert-eines-lebensjahres [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-08-09 13:34:09 [post_modified_gmt] => 2018-08-09 11:34:09 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1382 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1402 [menu_order] => 50 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [411] => WP_Post Object ( [ID] => 1404 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-08-08 14:07:30 [post_date_gmt] => 2018-08-08 12:07:30 [post_content] =>DAS SMARTPHONE NAVIGIERT DURCH DIE THERAPIEPFADE So schildert Hans Nickl die Situation in einer großen Klinik in Shanghai: In der Eingangshalle stehen 20 Terminals, bei denen die Patienten per Smartphone „einchecken“. Auf dem Handy erscheint der Therapiepfad: der zuständige Arzt mit Bild, die Stationen, die aufzusuchen sind, empfohlene Medikamente inklusive Preise. Die Arzneimittel können später direkt in der Krankenhausapotheke abgeholt werden, bezahlt wird ebenfalls per Smartphone.
WAS PASSIERT BEI EINEM TELEMATIKTARIF? Hirsch beschreibt das Prinzip wie folgt: Wählt der Versicherte einen solchen Tarif, unterwirft er sich einem laufenden Telemonitoring, bei dem gesundheitsrelevante Daten aufgezeichnet, überprüft und an den Versicherer übermittelt werden. Bei diesen Daten handelt es sich insbesondere um sportliche Aktivitäten, Schrittzahlmessungen, die Wahrnehmung von Vorsorgeterminen, Nichtrauchen bis hin zum Einkauf gesunder Lebensmittel. Damit wollen diese Krankenversicherer nach eigenen Angaben mehr als nur Versicherungsschutz bieten – es sollen klare Präventionsanreize gegeben werden, um das Leben des Kunden zu verbessern. Für viel Aufregung sorgte Ende 2014 die Generali-Versicherung, die angekündigte, einen Telematik-Tarif für eine Risikolebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung einzuführen.
[caption id="attachment_1210" align="alignright" width="1200"]DIE GKV UND DIE SOLIDARITÄTSDEBATTE In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird das Thema Solidarität und Wettbewerb momentan heiß diskutiert. Anlass ist ein Sonderbericht des Bundesversicherungsamtes zum Wettbewerb in der GKV. Der Präsident des Amtes, Frank Plate, kritisiert: „Wenn sich Krankenkassen nur noch als Unternehmen begreifen und ihre Marktbehauptung in den Vordergrund ihrer Bemühungen stellen, haben sie ihren Auftrag in der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Kranken-versicherung vergessen.“ Er moniert konkret Wahltarife, Satzungsleistungen, Bonusprogramme, aber auch Selektivverträge, die häufig nicht zu der vom Gesetzgeber gewollten tatsächlichen Verbesserung der Versorgung führten. Stattdessen nutzten die Kassen diese „scheinbaren Leistungen“, um neue Mitglieder zu gewinnen oder aktuelle Mitglieder zu halten – ohne für sie einen echten Mehrwert zu schaffen. Auch die Diskriminierung von älteren Versicherten bringt das Amt zur Sprache – Politiker der großen Koalition erkennen Handlungsbedarf für den Gesetzgeber.
[caption id="attachment_1375" align="alignright" width="500"]DAS "MUSTERDORF" Alt Rehse wurde von 1934 an zu einem nationalsozialistischen Mustergut und -dorf umgestaltet. Im Zuge des Neubaus wurden – mit Ausnahme eines nun als Dorfkrug genutzten Gebäudes, der Kirche und des Pfarrhauses – die alten Wohnbauten abgerissen. Der Ort war insofern einzigartig, weil nur dort ein komplettes Ensemble von Grund auf neu gebaut wurde. Alles sollte der nationalsozialistischen Ideologie folgen: Angefangen von der Architektur der neu errichteten Gebäude des Ortes über die Auswahl der Teilnehmer und der Dozenten bis hin zu einem 1937 errichteten erbbiologischen Forschungsinstitut auf dem Gelände der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“. Quelle: www.gutshaus-ar.de
[caption id="attachment_1233" align="alignleft" width="500"]Demenzprädiktion versus Gendiagnostik Auf den ersten Blick scheint es, erläutern Beck und Schicktanz, dass Biomarker auf eine späteinsetzende Erkrankung wie Altersdemenz keine neuen Fragen im Vergleich zur genetischen Testung von spät auftretenden neurologischen Krankheiten aufwerfen. Warum wird nur die genetische Diagnostik besonders geregelt, fragen sie. Gerade bei der Demenzprädiktion mache die Art der Diagnostik keinen relevanten Unterschied für die Betroffenen. Mit Blick auf die Ähnlichkeiten spreche viel dafür, die besonderen Voraussetzungen für die Gendiagnostik auf die Untersuchung zur Demenzprädiktion zu übertragen. Auf den zweiten Blick aber erkennen die beiden Wissenschaftlerinnen, dass die Demenzprädiktion ein „neu zu diskutierender Sonderfall“ sei. Das machen sie an sozialen Faktoren fest: Demenz gelte momentan als einer der häufigsten und sozial bedrohlichsten Krankheiten, sie werde kulturell sehr unterschiedlich interpretiert und die biografischen Erfahrungen damit seien recht verbreitet und: Eine ethische und öffentliche Debatte dazu befindet sich noch in den Anfängen.
Das Diskursverfahren Ziel des Vorhabens „Prä-Diadem“ ist ein ethisch-rechtlicher Diskurs mit Auszubildenden in Gesundheitsberufen, Wissenschaftlern, Angehörigen und Betroffenen über Entscheidungskonflikte, die durch Fortschritte in der Demenz-Diagnostik entstehen. Die Teilnehmenden sollen Kriterien für eine Kommunikations- und Vermittlungsleitlinie erarbeiten, an Falldiskussionen erproben und verfeinern. Die Ergebnisse des Diskurses und die Lehrmaterialien werden veröffentlicht und Lernenden, Lehrenden sowie der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Beginn des Verfahrens ist eine Konferenz am 22./23. Juni 2018 in Göttingen. Das Verbundprojekt des IEGUS Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft, Bochum/Berlin, und des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen, wird von Prof. Dr. Silke Schicktanz und Prof. Scott Stock Gissendanner geleitet. . . Weitere Informationen unter: www.praediadem.de
ZUM HINTERGRUND Bei Frühtests, die mittels Biomarker Vorboten der Krankheit aufspüren, bevor die ersten Symptome auftreten, können verschiedene Verfahren angewendet werden: zum Beispiel die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), ein bildgebendes Verfahren der Nuklearmedizin, oder eine Analyse der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit. Ferner werden momentan blutblasierte Biomarker-Tests entwickelt. Der Biophysiker Prof. Gerwert sieht den von ihm entwickelten Bluttest als mögliches Eingangsscreening, um überhaupt das Krankheitsrisiko zu identifizieren. Im zweiten Schritt würde dann ein PET-Scan oder eine Analyse der Rückenmarksflüssigkeit erfolgen, erläutert der Forscher. Unter Biomarkern sind charakteristische biologische Merkmale zu verstehen, die objektiv gemessen werden und auf einen krankhaften Prozess im Körper hinweisen können. Die Identifikation von Biomarkern, die mit Demenz im Zusammenhang stehen, ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Grob kann man beispielsweise zwischen genetischen und neurologischen Biomarkern unterscheiden. Eine Übersicht der Verfahren zur Diagnostik der Alzheimer-Krankheit kann in der Stellungnahme der Bundesärztekammer nachgelesen werden: http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/WB/SN_Alzheimer_Risikodiagnostik.pdf
[post_title] => Wollen wir das wissen? [post_excerpt] => Chancen und Risiken der Demenzvorhersage [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => wollen-wir-das-wissen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-05-17 13:21:25 [post_modified_gmt] => 2018-05-17 11:21:25 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1116 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1128 [menu_order] => 16 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [421] => WP_Post Object ( [ID] => 1131 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-05-15 00:20:40 [post_date_gmt] => 2018-05-14 22:20:40 [post_content] =>ZUR PERSON Prof. Klaus Gerwert ist seit 1993 Leiter des Lehrstuhls für Biophysik der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Zusammen mit klinischen Forschern gründete er 2010 als Sprecher PURE (Protein Research Unit Ruhr within Europe). Schwerpunkt des europäischen Proteinforschungskonsortiums ist die Früherkennung von Krankheiten wie Krebs, Parkinson, Multiple Sklerose oder Alzheimer. Gerwert ist außerdem Gründungsdirektor des Bund-Land-finanzierten Forschungsbaus für molekulare Proteindiagnostik (ProDi). Mehr über den von ihm entwickelten Test können Sie hier nachlesen: www.bph.rub.de/pressemitteilungen/061.htm
[post_title] => "Warum die Früherkennung von Alzheimer so wichtig ist" [post_excerpt] => Prof. Klaus Gerwert über neue Biomarker-Tests [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => warum-die-frueherkennung-von-alzheimer-so-wichtig-ist [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-05-17 13:21:45 [post_modified_gmt] => 2018-05-17 11:21:45 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1116 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1131 [menu_order] => 18 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [422] => WP_Post Object ( [ID] => 1134 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-05-15 00:20:49 [post_date_gmt] => 2018-05-14 22:20:49 [post_content] =>ZUR PERSON Prof. Michael Rapp ist seit 2013 Professor für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Potsdam. Zuvor arbeitete er unter anderem als Chefarzt der Klinik für Gerontopsychiatrie am Asklepios Fachklinikum Brandenburg a.d. Havel. Seit vergangenem Jahr ist Rapp Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (Zusatzbezeichnung Geriatrie) ist Vorsitzender der Ethikkommission der Universität Potsdam.
[post_title] => „Hoch bedeutsame psychologische und soziale Folgen“ [post_excerpt] => Prof. Michael Rapp über Herausforderungen der Demenzprädiktion [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => hoch-bedeutsame-psychologische-und-soziale-folgen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-05-17 13:22:02 [post_modified_gmt] => 2018-05-17 11:22:02 [post_content_filtered] => [post_parent] => 1116 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=1134 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [423] => WP_Post Object ( [ID] => 1136 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-05-15 00:20:59 [post_date_gmt] => 2018-05-14 22:20:59 [post_content] =>Überall Gesundheit Health in all Policies (Gesundheit in allen Politikfeldern) zielt darauf ab, alle politischen Bereiche aktiv in Themen einzubinden, die für Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung relevant sind. Das bedeutet, auch Stadtplanung, Bildungs- und Sozialpolitik sowie Umweltpolitik tragen zu dieser intersektoralen Gesundheitspolitik bei. Der Bericht einer kalifornischen Task Force für Health in all Policies identifiziert etwa 34 Empfehlungen, die von Grünflächen bis hin zu bezahlbarem gesunden Essen und einem sicheren Wohnumfeld reichen.
Doch Hilfe kann nicht nur von außen kommen, auch die zahlreichen Akteure der Szene selbst sind gefragt. Identitätsfindung statt Abgrenzung, Netzwerken statt Zersplittern, große Themen anstelle deren Atomisierung – diese Parolen nennt Dr. Bärbel-Maria Kurth in ihrem Vortrag auf dem Zukunftsforum. „Wir sind dabei, ein gemeinsames Selbstverständnis zu schaffen“, sagt die RKI-Abteilungsleiterin. Allen Beteiligten ist bewusst, welche Herausforderungen angesichts der äußerst heterogenen Community – vom Gesundheitsamt Marzahn bis zum akademischen Public-Health-Lehrstuhl – damit verbunden sind. Zur Vernetzung der Szene soll das im Dezember 2017 zum zweiten Mal veranstaltete Symposium des Zukunftsforums beitragen. Mittlerweile koordiniert eine fast 30-köpfigen Steuerungsgruppe die Aktivitäten des Forums. Eine am RKI angesiedelte Geschäftsstelle unterstützt sie dabei. Es gibt noch weitere Indizien dafür, dass sich hierzulande langsam etwas bewegt: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) etwa schreibt zur Stärkung der Public-Health-Forschung die Förderung von Forschergruppen aus. Und bereits 2016 hat die Gesundheitsministerkonferenz einen Beschluss zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes gefasst.Stichwort Public Health „Public Health ist die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller“, definiert das Zukunftsforum. Deutschlands Rückstand bei Public Health wird oft historisch begründet, als Konsequenz der Pervertierung der Bewegungen der sozialen Medizin und der sozialen Hygiene durch die nationalsozialistische Rassenhygiene. Prof. Oliver Razum und Dr. M. Luisa Vázquez sehen einen weiteren Grund für die deutsche Schwäche: strukturelle Grenzen, die sich aus der mangelnden Verzahnung zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und Public Health ergeben. Hier sehen sie politischen Handlungsbedarf.
Doch wie überzeugend kann Deutschland eine solche Führungsrolle verkörpern, wenn die eigenen Hausaufgaben bei Public Health noch längst nicht erledigt sind? Experten mahnen beispielsweise eine engere Verzahnung mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an. Einen solch ganzheitlichen Ansatz unterstütze Deutschland schließlich auch bei seiner globalen Gesundheitsstrategie, argumentieren Prof. Oliver Razum, Universität Bielefeld, und die spanische Wissenschaftlerin Dr. M. Luisa Vázquez. In einem Editorial für das Fachjournal International Journal of Public Health fragen sie: „Germany is promoting holistic health system strengthening as part of its global health strategy – so why not also at home?“ (Als Teil seiner globalen Gesundheitsstrategie fördert Deutschland die gesamtheitliche Stärkung des Gesundheitssystems – warum also nicht auch zuhause?) Ja, warum wohl nicht? Wer die Scharmützel zwischen dem GKV-Spitzenverband und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in der Prävention beobachtet, bekommt eine Ahnung davon, dass für solch eine Mission ein extrem langer politischer Atem erforderlich ist.Die Vorgeschichte Mit Big Data und Gesundheit hat sich der Ethikrat bereits auf seiner Jahrestagung im Mai 2015 auseinandergesetzt. Die angekündigte Stellungnahme ließ aber auf sich warten. Dabrock erklärt die Verzögerung mit einer inhaltlichen Neuausrichtung – ursprünglich sollte es vor allem um Wearables gehen. Der Rat sieht diese jetzt als „ein Oberflächenphänomen einer sehr viel tiefer liegenden Fragestellung“. Auch hat inzwischen der turnusgemäße Wechsel von Ratsmitgliedern stattgefunden: Lediglich zwölf der 26 aktuellen Ratsmitglieder waren 2015 im Amt. Seinerzeit diskutierten die Experten recht kontrovers über das Thema. Dabrock befürchtete etwa, dass ohne eine möglichst internationale Regulierung die quantitative Verdichtung von Big-Data-getriebenen Prognosen zu einem qualitativen Verlust von Freiheit führen könne, der jedoch als Steigerung der Selbstbestimmung verkauft werde. Dagegen betonte Prof. Claudia Wiesemann, dass es auch gewichtige moralische Gründe für Big Data gebe, vor allem bei der Erforschung der Orphan Diseases – seltene Erkrankungen, die eine kritische Masse an Informationen und Daten benötigten. Diese Patientengruppen würden durch gute Big-Data-Forschung „entdiskriminiert“. Die aktuelle Stellungnahme enthält ein Sondervotum der Medizinerin Dr. Christiane Fischer. Sie wendet sich gegen eine zentrale Speicherung von Patientendaten, statt freiwilliger Selbstkontrollen will sie gesetzliche Regelungen.
MammaPrint und Leitlinien Das Leitlinienprogramm Onkologie hat Ende 2017 eine Aktualisierung der S3-Leitlinie zum Mammakarzinom vorgelegt. Wie das IQWiG betont, haben die Autoren die vom Institut geäußerten Zweifel am Genexpressionstest MammaPrint wörtlich übernommen. Unverändert bleibe jedoch die Empfehlung für die Biomarker-Tests in bestimmten Situationen. Dagegen hat die American Society of Clinical Oncology (ASCO) jüngst ihre Leitlinie in Hinblick auf den Test MammaPrint aktualisiert und dieses Update im Journal of Clinical Oncology (JCO) publiziert. Gestützt auf Daten der MINDACT-Studie kommen die amerikanischen Onkologen zu dem Schluss, MammaPrint könne bei bestimmten Gruppen von Patientinnen mit frühem Brustkrebs jene besser erkennen, die keine Chemotherapie benötigen. Deshalb könne er die Entscheidung über die Therapie erleichtern. Ein Autoren-Team des IQWiG widerspricht in einem Leserbrief: MINDACT liefere zwar als erste prospektive randomisierte kontrollierte Studie wertvolle Erkenntnisse zu den Biomarker-Tests. Den Befund der ASCO-Autoren hält das Institut jedoch für falsch.
[caption id="attachment_1056" align="alignright" width="850"]Was sind Biomarker und Genexpressionstests? Ein Biomarker ist ein objektiv erkennbares biologisches Merkmal wie etwa ein Protein, Enzym oder Hormon, dessen Vorhanden- sein oder vermehrtes Auftreten in Gewebe und Körperflüssigkeiten ein unverwechselbares physiologisches Kennzeichen ist oder auf einen Krankheits-zustand hindeutet. Biomarker dienen zum Beispiel zu prognostischen, diagnostischen oder differenzialdia-gnostischen Zwecken, zur Überwachung des klinischen Ansprechens auf eine Therapie, als Risikoindikatoren für später auftretende Krankheiten sowie als Surrogat-Endpunkt in klinischen Studien, wenn dieser als valider Ersatz für einen klinischen Endpunkt herangezogen werden kann. Genomische Merkmale können prognostische Biomarker sein, die es erlauben, den Verlauf einer Krankheit individuell vorherzusagen. Sie sind mithilfe von Genexpressionstests bestimmbar.
[post_title] => Die doppelte Unsicherheit im System [post_excerpt] => Was tut sich bei Biomarker-Tests für Brustkrebspatientinnen? [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => die-doppelte-unsicherheit-im-system [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-02-13 12:02:30 [post_modified_gmt] => 2018-02-13 11:02:30 [post_content_filtered] => [post_parent] => 914 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=932 [menu_order] => 16 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [436] => WP_Post Object ( [ID] => 934 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-02-13 09:38:25 [post_date_gmt] => 2018-02-13 08:38:25 [post_content] =>ZUR PERSON Prof. Jürgen Wasem ist Vorsitzender der sogenannten „AMNOG-Schiedsstelle“. Diese wird angerufen, wenn sich Hersteller und GKV-Spitzenverband nach der frühen Nutzenbewertung nicht auf einen Erstattungsbetrag für das neue Arzneimittel einigen können. Der Gesundheitsökonom von der Universität Duisberg-Essen ist darüber hinaus ein gefragter Mann im Gesundheitswesen: Er gehört unter anderem dem wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs an und ist unparteiischer Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses für die vertragsärztliche Versorgung in der GKV.
Ob sich ein Pharmaunternehmen dafür entscheidet, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, hängt maßgeblich vom Spruch der Schiedsstelle ab. Damit entscheiden Sie als Vorsitzender indirekt, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Sind Sie dafür ausreichend legitimiert? Wasem: Die Frage ist berechtigt, weil die Legitimation eine sehr indirekte ist. Man kann argumentieren, dass der Gesetzgeber, der die Schiedsstelle implementiert hat, demokratisch legitimiert ist – und insofern ist es auch die Schiedsstelle. Vergleichbar ist dies mit der Frage nach der ausreichenden demokratischen Legitimierung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Es gibt Konstellationen, bei denen ich mich wirklich frage, ob ich ausreichend legitimiert bin, eine solche Entscheidung zu treffen. Nämlich wenn ich nicht der Forderung des Herstellers hinreichend nachgebe und das Arzneimittel deshalb vom Markt geht. Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht. Also eine gesellschaftliche Debatte? Wasem: Richtig, wir brauchen eine gesellschaftliche geführte Debatte über die Zahlungsbereitschaft. Die Politik dürfte eine solche Debatte eher scheuen, oder? Wasem: Die Politik will sie nicht führen, weil damit implizit die Rationierungsdebatte angesprochen ist. Sie vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste. Allerdings wäre eine solche Debatte vor dem Hintergrund des komplexen AMNOG-Verfahrens eine Herausforderung ... Wasem: Eine Diskussion über die Zahlungsbereitschaft für ein eindimensionales Konstrukt wie das QALY als Endpunkt ist einfacher zu führen. Da haben es die Engländer mit ihrem System besser. In Deutschland müssen wir mit den unterschiedlichen Kategorien von Zusatznutzen umgehen, hinter denen sich wiederum ganz unterschiedliche Dinge verbergen. Das kann Mortalität oder Lebensqualität sein, mal sind es geringere Nebenwirkungen. Die Zahlungsbereitschaft zu einem Konstrukt wie beträchtlichen, erheblichen oder geringen Zusatznutzen zu debattieren, ist eine echte Herausforderung. Aber ich fände es trotzdem gut, wenn wir uns trauten, diese Diskussion zu führen. Aus Sicht der Politik hat sich diese Diskussion mit dem AMNOG erledigt.Der Nikolausbeschluss Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.
Wasem: Die Einschätzung der Politik lautet, dass man beim AMNOG allenfalls ein Fine-Tuning auf der technischen Ebene durchführen und diese Grundsatzfrage nicht stellen muss. Es sind dann die Vertragspartner und im Falle der Nicht-Einigung auf einen Erstattungsbetrag die indirekt demokratisch legitimierte Schiedsstelle, die die Allokations- und letztlich auch Rationierungsentscheidungen treffen müssen. Wobei man sehen muss: Wenn ein Arzneimittel die Kriterien des Nikolaus-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, müssen die Krankenkassen den Versicherten es auch dann zur Verfügung stellen, wenn der Hersteller es vom deutschen Markt genommen hat – dann müssen die Kassen es nämlich importieren, wenn der Arzt es für die Versorgung seines Patienten als notwendig erachtet. Von der unbeantworteten Grundsatzfrage nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft abgesehen: Wo stößt das AMNOG an Grenzen, wo ein reines Fine-Tuning nicht ausreicht? Wasem: Ich sehe zwei grundsätzliche Probleme. Zum einen können AMNOG-Beschlüsse und Vereinbarungen durch regionale Instanzen konterkariert und limitiert werden. Wenn die regionale Quote nur zwei Prozent beträgt, dann kann der Zusatznutzen beträchtlich und der Preis vernünftig sein, trotzdem wird das Arzneimittel kein Leben entfalten. Und das zweite Problem? Wasem: ... besteht nach wie vor darin, dass der GKV-Spitzenverband in der Nutzenbewertung stark involviert ist und anschließend die Preisverhandlungen führt. Das eigentliche Konzept sieht ja vor, dass der G-BA eine neutrale Nutzenbewertung durchführt und sich dafür eines wissenschaftlichen Instituts bedient, das auch den Anspruch hat, neutral zu sein. Nach dieser neutralen Nutzenbewertung geht es dann in die Preisverhandlungen. Fakt ist aber natürlich, dass der GKV-Spitzenverband im G-BA eine starke Position hat. Mein Eindruck ist, dass er versucht, die G-BA-Entscheidungen so auszugestalten, dass er daran nahtlos in der Schiedsstelle anknüpfen kann. Also eine fehlende Trennung zwischen Nutzenbewertung und Preisverhandlung? Wasem: Genau, dieses grundsätzliche Problem lässt sich mit dem Bild von den Spießen veranschaulichen: Es ist unbestritten, dass früher die Hersteller die deutlich längeren Spieße hatten. Oder um Franz Knieps zu zitieren: „Früher saß die Pharmaindustrie im Panzer und wir hatten die Fußtruppen. Jetzt ist es umgekehrt.“ Das trifft es ganz gut. Seitens des Gemeinsamen Bundesauschusses heißt es, dass es für Therapieneuheiten keine Kosten-, wohl aber eine Evidenzgrenze gebe. Stimmen Sie dem zu? Wasem: Die Spielräume, die der G-BA bei der Festsetzung der zweckmäßigen Vergleichstherapie und bei der Interpretation der Studien hat, nutzt der GKV-Spitzenverband mit seiner starken Position zumindest gelegentlich, um die Preisverhandlungen zu präformieren. Analysen, die Nutzenbewertungen international vergleichen, zeigen, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind. An manchen Stellen sieht man gut, dass die frühe Nutzenbewertung nicht unangreifbar das einzig denkbare Operationalisierungsverfahren gewählt hat und dass Spielräume genutzt werden. Nach wie vor ist die zweckmäßige Vergleichstherapie ein zentrales Thema. Inwiefern? Wasem: In zweierlei Hinsicht: Immer wenn eine ZVT gewählt wird, gegen die ein Hersteller nicht getestet hat, hat er ein massives Problem. Und: Wird kein Zusatznutzen nachgewesen, gilt die billigste ZVT als oberste Preisgrenze. Es gibt viele Konstellationen, bei denen es plausibel ist, dass ein Medikament gar nicht besser als die ZVT, sondern gleich gut sein will. Aber wenn es gegenüber der Vergleichstherapie geplantermaßen keinen Zusatznutzen hat, wird nur der Preis der billigsten ZVT herangezogen. Das bedeutet? Wasem: Hinter diese beiden Konstellationen kann man ein Fragezeichen setzen, ob es sich dabei immer um die einzig denkbare Ausgestaltung des G-BA-Beschlusses handelt. Innerhalb der gesetzten Rahmenbedingungen ist es zwar die pure Evidenz, aber sie wird eben vorher geframt. Wenn ich entscheide, was die ZVT ist, kann ich eine State-oft-the-art-Evidenz-Analyse machen, aber bei der Auswahl der ZVT denkt der GKV-Spitzenverband eben schon weiter. Angesichts des geplanten Arztinformationssystems stellt sich die Frage, wo und bei wem die Deutungshoheit über den pharmazeutisch-medizinischen Fortschritt liegt – beim G-BA, der die AMNOG-Beschlüsse fällt, bei den Fachgesellschaften, die Leitlinien formulieren oder beim einzelnen Verordner? [caption id="attachment_1016" align="alignright" width="800"]Der Nikolausbeschluss Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.
[post_title] => Was ist der Gesellschaft der Zusatznutzen wert? [post_excerpt] => Prof. Jürgen Wasem vermisst Leitplanken für Zahlungsbereitschaft [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => was-ist-der-gesellschaft-der-zusatznutzen-wert [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-02-13 11:44:39 [post_modified_gmt] => 2018-02-13 10:44:39 [post_content_filtered] => [post_parent] => 914 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=936 [menu_order] => 20 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [438] => WP_Post Object ( [ID] => 938 [post_author] => 3 [post_date] => 2018-02-13 11:06:41 [post_date_gmt] => 2018-02-13 10:06:41 [post_content] =>PALLIATIVE GERIATRIE – WAS IST DAS? Palliative Geriatrie beschreibt einen interdiszi-plinär angelegten Betreuungsansatz für hochbetagte, von Demenz betroffene und/oder sterbende Menschen, der sowohl kurative als auch palliative Maßnahmen vereint. 2004 starteten das „Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie“, ein Projekt der Unionhilfswerk Senioren-Einrichtungen gemein-nützige GmbH. Die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie (FGPG) ist eine Organisation von Altenpflegern, Wissenschaftlern, Ärzten, Hospizen und Palliative Care Fachkräften sowie Ehrenamtlichen. Sie wurde 2015 gegründet.
RATIONIERUNG BEI DEN BESONDERS VERLETZLICHEN Obwohl die Alten in unserer Gesellschaft ein wichtiger Faktor seien, gibt es Jox zufolge noch immer eine „Abwertung des Alten“. Ältere Menschen sind dem Mediziner zufolge aufgrund ihrer altersbedingten funktionellen Einschränkungen, der oft chronischen Multimorbidität, zunehmend löchrig werdenden sozialen Netzen und der Inkongruenz mit gesellschaftlichen Imperativen wie Mobilität, Technologie und Leistung eine vulnerable Bevölkerungsgruppe. Damit sieht Jox folgende Risiken im Gesundheitswesen verbunden: mangelnde Aufklärung, Unterbehandlung und Vernachlässigung, implizite und explizite Altersrationierung, Überbehandlung sowie ungerechtfertigte Zwangsbehandlung.
[post_title] => „Das ist doch kein Leben!“ [post_excerpt] => Mangel und Rationierung bei Palliative Care in der Geriatrie [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => das-ist-doch-kein-leben [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 14:22:56 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 13:22:56 [post_content_filtered] => [post_parent] => 737 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=751 [menu_order] => 14 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [450] => WP_Post Object ( [ID] => 753 [post_author] => 3 [post_date] => 2017-11-09 16:45:53 [post_date_gmt] => 2017-11-09 15:45:53 [post_content] =>ZUR PERSON Prof. Ferdinand M. Gerlach ist seit 2012 Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Dem Gremium gehört er bereits seit 2007 an, von 2011 bis 2012 war er dessen stellvertretender Vorsitzender. Seit 13 Jahren ist Gerlach Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2010 bis 2016 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Der Facharzt für Allgemeinmedizin hat zudem Public Health studiert und als niedergelassener Arzt in Bremen, Kiel und Frankfurt gearbeitet.
[post_title] => „Das Ein-Tresen-Prinzip ist absolut notwendig“ [post_excerpt] => Prof. Ferdinand M. Gerlach über Reformpläne zur Notfallversorgung [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => das-ein-tresen-prinzip-ist-absolut-notwendig [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 14:07:50 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 13:07:50 [post_content_filtered] => [post_parent] => 737 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=755 [menu_order] => 18 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [452] => WP_Post Object ( [ID] => 757 [post_author] => 3 [post_date] => 2017-11-09 16:46:54 [post_date_gmt] => 2017-11-09 15:46:54 [post_content] =>Statements und Fotos v.l.n.r.: Prof. Edmund Neugebauer, Medizinischen Hochschule Brandenburg: „RCTs negieren den Kontext einer Gesundheitsleistung.“ Prof. Jürgen Windeler, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: „In Deutschland gibt es kaum Register von hoher Qualität.“ Privatdozentin Dr. Monika Klinkhammer-Schalke, Tumorzentrum Regensburg: „Register begleiten im Gegensatz zu RCTs alle Patienten.“
[post_title] => Was leisten Register für die Nutzenbewertung? [post_excerpt] => [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => was-leisten-register-fuer-die-nutzenbewertung [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 14:15:32 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 13:15:32 [post_content_filtered] => [post_parent] => 737 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=770 [menu_order] => 32 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [459] => WP_Post Object ( [ID] => 772 [post_author] => 3 [post_date] => 2017-11-09 16:48:10 [post_date_gmt] => 2017-11-09 15:48:10 [post_content] =>LSG MAHNT GESETZLICHE REGELUNG ZUR MISCHPREISBILDUNG AN Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg verlangt vom Gesetzgeber eine Regelung zur Mischpreisbildung. Es sieht „erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der praktizierten Mischpreisbildung“, weil der Mischpreis keine nutzenadäquate Vergütung darstelle und er keine Grundlage im Gesetz finde. Dringend notwendig sei daher eine gesetzliche Regelung, die die Mischpreisbildung in einem Fall wie bei Albiglutid zulasse, zumindest aber eine Übereinkunft in der Rahmenvereinbarung, so das Gericht weiter. „Der Mischpreis ist nicht tot aber behandlungsbedürftig“, reagiert Prof. Jürgen Wasem, Vorsitzender der Schiedsstelle nach § 130b SGB V, auf das LSG-Urteil. Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), verlangt: „Der Gesetzgeber sollte nicht warten, bis möglicherweise das Bundessozialgericht eine Entscheidung trifft, sondern in der neuen Legislaturperiode eine Lösung anstreben.“ Das Urteil verunsichere alle Beteiligten. Es bestehe die Gefahr, dass Ärzte innovative Arzneimittel aus Angst vor Regressen nicht mehr verordnen. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, wertet dagegen das Urteil als „klares Zeichen an Pharmafirmen und Ärzte“. Es gebe keinen Freibrief für neue Arzneimittel. Auch wenn diese einen Zusatznutzen in Teilbereichen hätten, seien sie nicht generell wirtschaftlich. „Das entscheidet sich erst bei der konkreten Verordnung“, sagt Litsch. Anlass des Verfahrens ist das Mittel Albiglutid, gegen den von der Schiedsstelle festgesetzten Erstattungsbetrag hatte der GKV-Spitzenverband geklagt. Das LSG hat der Klage stattgegeben. [post_title] => Innovationen versus Bezahlbarkeit [post_excerpt] => Debatte über Reformbedarf beim AMNOG-Verfahren [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => innovationen-versus-%e2%80%a8bezahlbarkeit [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 13:50:02 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 12:50:02 [post_content_filtered] => [post_parent] => 437 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=482 [menu_order] => 10 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [464] => WP_Post Object ( [ID] => 485 [post_author] => 3 [post_date] => 2017-08-12 14:03:07 [post_date_gmt] => 2017-08-12 12:03:07 [post_content] =>
DIE STUDIENERGEBNISSE IM EINZELNEN
Brustkrebs: Die gemessene Inzidenz, das heißt die Häufigkeit der Neuerkrankungen, ist – vermutlich durch Screeningmaßnahmen – im Betrachtungszeitraum angestiegen, gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf. Die Überlebenschancen jeder einzelnen Patientin haben sich deutlich erhöht. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität während der Zeit der Erkrankung ist leicht gesunken. Insgesamt ist daher ein deutlicher Rückgang der DALYs zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückgeht.
Herzinfarkt: Die durch vorzeitigen Tod verlorenen Lebensjahre (Years of Life Lost, kurz YLLs) sind bei Männern eindeutig zurückgegangen. Bei den Frauen ergibt sich durch eine Verschiebung der Altersverteilung ein konstanter Verlauf der YLLs, obwohl diese sich innerhalb der gleichen Alterskohorten ebenfalls reduzieren. Die Krankheitsfolgen bzw. die durch Krankheit beeinträchtigten Lebensjahre (Years Lived with Disability, kurz YLDs) sind beim Herzinfarkt wenig relevant und bleiben auf niedrigem
Niveau nahezu konstant. Entsprechend nehmen auch die DALYs bei Männern ab, bei den Frauen dagegen nicht. Der stärkste Effekt ergibt sich auf der Bevölkerungsebene, da die Häufigkeit der Neuerkrankungen sehr deutlich zurückgeht.
Schlaganfall: Wie beim Herzinfarkt gehen auch beim Schlaganfall die YLLs bei Männern deutlicher zurück als bei Frauen. Die Krankheitsfolgen (YLD) bleiben auf niedrigem Niveau nahezu konstant. Die DALYs nehmen bei Männern deutlich, bei Frauen leicht ab.
Diabetes: Die DALYs bei Diabetes nehmen in beiden Geschlechtern konstant ab. Der Effekt wird vor allem durch die Reduzierung von Folgeerkrankungen (YLD) erzielt. Die YLLs spielen bei Diabetes eine vergleichsweise geringe Rolle, gehen aber ebenfalls leicht zurück.
Prostatakrebs: Auch bei Prostatakrebs ist die gemessene Inzidenz – vermutlich durch Screeningmaßnahmen – zunächst angestiegen, sie nimmt seit vier bis fünf Jahren aber wieder ab. Gleichzeitig tritt die Ersterkrankung geringfügig später auf. Wie beim Brustkrebs gilt: Die Überlebenschancen der Patienten haben sich deutlich erhöht, während die Beeinträchtigung der Lebensqualität bei der Erkrankung praktisch konstant ist. Insgesamt ist daher ein deutlicher Rückgang der DALYs zu verzeichnen, der insbesondere auf die höheren Überlebensraten zurückzuführen ist.
Das Nominierungsprozedere funktioniert wie folgt: Für eine Berufung der Unparteiischen schlagen die Trägerorganisationen des G-BA dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) spätestens zwölf Monate vor Ablauf der Amtszeit geeignete Kandidaten vor. Das BMG wiederum übermittelt die Vorschläge an den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages. Bei Bedenken kann der einer Berufung mit einer Zweidrittel-Mehrheit widersprechen, sofern er die Unabhängigkeit oder die Unparteilichkeit der vorgeschlagenen Personen als nicht gewährleistet ansieht. So erläutert es der G-BA auf seiner Website.
Die Nominierungen sorgen offenbar nicht nur im Gesundheitswesen für viel Unmut, sondern auch in der Politik: Am 28. Juni zieht der Gesundheitsausschuss des Bundestages die Notbremse und lehnt in einer geheimen Abstimmung die beiden Kandidaten Deh und Lindemann einstimmig ab. Mit dieser Entscheidung habe der Ausschuss „Rechtsgeschichte“ geschrieben, teilt der Vorsitzende des Gremiums, Dr. Edgar Franke (SPD), mit. Zuvor hat bereits das BMG Bedenken gegen den als zweiten stellvertretenden Unparteiischen vorgeschlagenen Dr. Hans-Joachim Helming formuliert (siehe Infokasten). Die neuen Kandidaten stehen bis Redaktionsschluss noch nicht fest.WAS DIE GUTACHTER AUSSERDEM EMPFEHLEN Die Reformkommission schlägt verbesserte Antrags- und Stellungnahmerechte für Außenstehende vor, gemeint sind Firmen, „die sich als wichtige Innovatoren für das Gesundheitssystem erweisen könnten“. Gerade für kleinere und mittlere Unternehmen sowie für Start-ups, die für mögliche Innovationen besonders vielversprechend sind, könne das aufwändige Antragsverfahren eine „hohe Marktzutrittshürde darstellen“, so die Autoren. Weitere Ideen: Bei der Auswahl des Designs von Studien, mit denen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erprobt werden, sollen regelmäßig wissenschaftliche Evaluationen durch Externe vorgenommen werden. Für Streitfälle sei eine unabhängige Methodenschiedsstelle einzurichten. Die Kommission wurde im September 2016 von der Stiftung Münch eingesetzt. Ihr gehören neben Prof. Dr. Justus Haucap der Wissenschaftstheoretiker Prof. Dr. Stephan Hartmann, LMU München, sowie der Jurist Prof. Ferdinand Wollenschläger, Universität Augsburg, an. Die gesamten Vorschläge können im Internet nachgelesen werden: www.stiftung-muench.org/wp-content/uploads/2017/05/16.pdf
[post_title] => Zoff um G-BA-Personalien [post_excerpt] => Es knirscht in der gemeinsamen Selbstverwaltung [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => zoff-um-g-ba-personalien [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 13:51:35 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 12:51:35 [post_content_filtered] => [post_parent] => 437 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=487 [menu_order] => 12 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [466] => WP_Post Object ( [ID] => 489 [post_author] => 3 [post_date] => 2017-08-12 15:59:19 [post_date_gmt] => 2017-08-12 13:59:19 [post_content] =>WAS IST EIN INTERESSENKONFLIKT? „Interessenkonflikte bezeichnen Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird.“ Zitat aus den AWMF-Empfehlungen „zum Umgang mit Interessenkonflikten bei Aktivitäten medizinischer Fachgesellschaften“. Eine umfangreiche Darstellung des Thema bietet „Interessenkonflikte in der Medizin – Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten“, herausgegeben von Klaus Lieb, David Klemperer, Wolf-Dieter Ludwig. Auch Prof. Claudia Spies, Ärztin an der Charité, erkennt Fortschritte, „immer mehr Kollegen sind sich bewusst, Interessen zu haben“, sagt sie (das vollständige Interview mit Prof. Spies können Sie ebenfalls in dieser Ausgabe lesen). Aber es gibt auch andere Stimmen: Prof. Christoph Stein, ebenfalls Arzt an der Charité, kritisiert auf der Transparency-Veranstaltung, dass es in der Ärzteschaft und an den medizinischen Fakultäten „kein Problembewusstsein“ gebe. Jeder Arzt macht individuelle Erfahrungen, eine grundsätzliche Einschätzung fällt daher schwer. Möglich, dass das Thema in der Wissenschaft einen anderen Stellenwert hat als im Versorgungsalltag. Unstrittig dürfte dagegen mittlerweile sein, dass niemand ohne Interessenkonflikte ist, sie sind in der Medizin allgegenwärtig, heißt es etwa in dem von Ludwig und Kollegen herausgegebenen Buch. Auch das JAMA-Magazin hebt hervor: „Recognition that each Physician has COIs and that COIs and dishonesty are at different ends of the spectrum is the first step in an thoughtful conversation about how to protect professional judgment and integrity.“
Fazit Unsere Recherche zeigt, wie vielschichtig das Thema Interessenkonflikte ist. Vor mehreren Jahren haben Ludwig und seine Kollegen die Hoffnung formuliert, mit ihrem Buch das Thema aus der „Schmuddelecke“ zu holen und einer sachlichen und kritischen Diskussion zuzuführen. Diese hat an einigen Stellen bereits begonnen, dennoch hat der Appel nichts an Aktualität eingebüßt.
[post_title] => Wenn Interessen kollidieren [post_excerpt] => Über primäre und sekundäre Motive in der Medizin [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => wenn-interessen-kollidieren [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 13:54:54 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 12:54:54 [post_content_filtered] => [post_parent] => 437 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=489 [menu_order] => 13 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [467] => WP_Post Object ( [ID] => 491 [post_author] => 3 [post_date] => 2017-08-12 15:59:33 [post_date_gmt] => 2017-08-12 13:59:33 [post_content] =>ZUR PERSON Prof. Claudia Spies ist Direktorin der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt Operative Intensivmedizin der Charité (Campus Mitte und Campus Virchow-Klinikum). Sie ist außerdem ärztliche Leiterin des Charité-Centrums für Anästhesiologie, OP-Management und Intensivmedizin. Seit 2009 sitzt sie im Präsidium der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), im vergangenen Jahr hat sie den Vorsitz der AWMF-Leitlinienkommission übernommen. Von 2011 bis 2014 war Spies Prodekanin für Studium und Lehre der Charité.
[post_title] => Warum „Blame and Shame“ nicht weiterführt [post_excerpt] => Prof. Claudia Spies über Interessenkonflikte, Evidenz und Verantwortung [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => warum-blame-and-shame-nicht-weiterfuehrt [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 13:54:27 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 12:54:27 [post_content_filtered] => [post_parent] => 437 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=491 [menu_order] => 14 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [468] => WP_Post Object ( [ID] => 493 [post_author] => 3 [post_date] => 2017-08-12 15:59:46 [post_date_gmt] => 2017-08-12 13:59:46 [post_content] =>STUDIE: WIE VIELE VERSORGUNGSKRITISCHE ARZNEIMITTEL FEHLEN? Aus einer vom Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (AKDA) durchgeführten Umfrage bei Krankenhausapotheken geht hervor, dass eine bedenkliche Anzahl versorgungskritischer Arzneimittel in Kliniken fehlen. Betroffen seien im wesentlichen Arzneimittel, die nur für den Klinikmarkt hergestellt werden, darunter viele Lösungen zur Injektion wie Antibiotika, Krebsmedikamente und Anästhetika. „Insgesamt sind Arzneimittel mit 280 verschiedenen Wirkstoffen nicht verfügbar gewesen, darunter 30, die die jeweilige Klinikapotheke als versorgungskritisch einstuft“, so der ADKA-Präsident Rudolf Bernard. Von den betroffenen Arzneimitteln dieser 30 Wirkstoffe meldeten die verantwortlichen Hersteller lediglich acht an das BfArM. Befragt wurden Krankenhausapotheken mit einer Versorgungsrelevanz von über 30.000 Betten und damit über sechs Prozent der nationalen Krankenhauskapazitäten.
Aus einer vom Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (AKDA) durchgeführten Umfrage bei Krankenhausapotheken geht hervor, dass eine bedenkliche Anzahl versorgungskritischer Arzneimittel in Kliniken fehlen. Betroffen seien im wesentlichen Arzneimittel, die nur für den Klinikmarkt hergestellt werden, darunter viele Lösungen zur Injektion wie Antibiotika, Krebsmedikamente und Anästhetika. „Insgesamt sind Arzneimittel mit 280 verschiedenen Wirkstoffen nicht verfügbar gewesen, darunter 30, die die jeweilige Klinikapotheke als versorgungskritisch einstuft“, so der ADKA-Präsident Rudolf Bernard. Von den betroffenen Arzneimitteln dieser 30 Wirkstoffe meldeten die verantwortlichen Hersteller lediglich acht an das BfArM. Befragt wurden Krankenhausapotheken mit einer Versorgungsrelevanz von über 30.000 Betten und damit über sechs Prozent der nationalen Krankenhauskapazitäten.DER FALL OSIMERTINIB – DAS PROBLEM DER MARKTRÜCKNAHMEN
Zu einem versorgungsrelevanten Arzneimittelengpass kam es Ende des vergangenen Jahres beim Lungenkrebsmedikament Osimertinib. Vorausgegangen war ein Streit des Herstellers mit dem GKV-Spitzenverband über den angemessenen Preis.
Im Vorfeld hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Rahmen des AMNOG-Verfahrens den Zusatznutzen von Osimertinib auf Basis der vorgelegten Daten als „nicht belegt“ festgelegt. Dies hatte den Hersteller zur Marktrücknahme bewogen. Zwar hätten alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht, „den Schaden aber haben die Patientinnen und Patienten getragen“, kritisiert Prof. Diana Lüftner aus dem DGHO-Vorstand. Mittlerweile könne das Medikament – wenn auch mit administrativem Mehraufwand – über internationale Apotheken bezogen werden.
WAS JOURNALISTEN VOM RSA-STREIT HALTEN Im „Presse-Club Gerechte Gesundheit“ debattieren Fachjournalisten über den Morbi-RSA. Auszüge dieser Diskussion lesen Sie in „Den Lobby-Nebel beiseite blasen“.
[post_title] => Begehrlichkeiten beim Morbi-RSA [post_excerpt] => Faire Wettbewerbsbedingungen für Krankenkassen gestalten [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => begehrlichkeiten-beim-morbi-rsa-faire-wettbewerbsbedingungen-fuer-krankenkassen-gestalten [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2019-03-28 10:23:42 [post_modified_gmt] => 2019-03-28 09:23:42 [post_content_filtered] => [post_parent] => 54 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=133 [menu_order] => 11 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [480] => WP_Post Object ( [ID] => 136 [post_author] => 2 [post_date] => 2017-05-06 14:18:55 [post_date_gmt] => 2017-05-06 12:18:55 [post_content] =>LSG: MISCHPREIS RECHTSWIDRIG Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat die Mischpreisbildung für Arzneimittel für rechtswidrig erklärt – und zwar für jene Mittel, bei denen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seinem Nutzenbewertungsbeschluss zugleich Patientengruppen mit und ohne Zusatznutzen bildet. So lautet im Kern der Beschluss des LSG im Einstweiligen Rechtsschutz (ER)-Verfahren zu Albiglutid vom 1. März 2017 (Az. L 9 KR 437/16 KL ER). Damit hat das Gericht eine Entscheidung der Schiedsstelle vom 6. April 2016 außer Vollzug gesetzt. Der von der Schiedsstelle festgesetzte Betrag lag nur knapp unter den Preisvorstellungen des Herstellers. Dagegen hat der GKV-Spitzenverband geklagt (L 9 KR 213/16 KL). Das Verfahren ist noch offen.
[caption id="attachment_302" align="aligncenter" width="2128"]WIRTSCHAFTLICHE SEKUNDÄREFFEKTE „Stellen Sie sich vor, es werden jährlich 400.000 Patienten in Deutschland dokumentiert behandelt“, sagt Hallek. Das sei eine weltweit einzigartige klinische Forschungsplattform und damit äußerst attraktiv für Konzerne, deren Anliegen es sei, Patienten schnell in Studien zu rekrutieren und über zügig dokumentierte Behandlungsqualität zu verfügen. „Das ist ein riesiger Wirtschaftsfaktor“, sagt der Kliniker. Er geht von herausragenden Sekundäreffekten für die Gesundheitswirtschaft aus, wenn jede neue Innovation zuerst in dem System getestet werde.
[post_title] => Onkologische Versorgung weiter gedacht [post_excerpt] => Fortschritt soll sicher und schneller Patienten erreichen [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => onkologische-versorgung-weiter-gedacht-fortschritt-soll-sicher-und-schneller-patienten-erreichen [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 13:35:59 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 12:35:59 [post_content_filtered] => [post_parent] => 54 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=138 [menu_order] => 13 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [482] => WP_Post Object ( [ID] => 141 [post_author] => 2 [post_date] => 2017-05-06 14:25:30 [post_date_gmt] => 2017-05-06 12:25:30 [post_content] =>TEILNEHMER DES „PRESSE-CLUBS GERECHTE GESUNDHEIT“ • Dr. Dieter Keller: Der Betriebswirt und promovierte Politikwissenschaftler arbeitet als Berlin-Korrespondent der Südwest Presse. Er berichtet über Wirtschafts- und Sozialpolitik. • Andreas Mihm: Mihm ist Korrespondent der F.A.Z. in Berlin. Der Volkswirt schreibt über Gesundheits-, Wirtschafts- und Energiepolitik. • Gerhard Schröder: Schröder, ebenfalls Volkswirt, ist Wirtschaftsredakteur beim Deutschlandradio. Die Schwerpunkte seiner Berichterstattung sind: Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik. • Peter Thelen: Der Volkswirt ist Parlamentskorrespondent des Handelsblatts in Berlin. Er berichtet vor allem über soziale Sicherungssysteme, Arbeitsmarkt sowie Tarifpolitik. • Moderiert wurde das Gespräch von Lisa Braun, Herausgeberin Gerechte Gesundheit.
[post_title] => Den Lobby-Nebel beiseite blasen [post_excerpt] => „Presse-Club Gerechte Gesundheit“ debattiert über Morbi-RSA [post_status] => publish [comment_status] => closed [ping_status] => closed [post_password] => [post_name] => den-lobby-nebel-beiseite-blasen-presse-club-gerechte-gesundheit-debattiert-ueber-morbi-rsa [to_ping] => [pinged] => [post_modified] => 2018-01-22 13:37:12 [post_modified_gmt] => 2018-01-22 12:37:12 [post_content_filtered] => [post_parent] => 54 [guid] => http://www.gerechte-gesundheit-magazin.de/?page_id=141 [menu_order] => 15 [post_type] => page [post_mime_type] => [comment_count] => 0 [filter] => raw ) [483] => WP_Post Object ( [ID] => 144 [post_author] => 2 [post_date] => 2017-05-06 14:33:51 [post_date_gmt] => 2017-05-06 12:33:51 [post_content] =>Immer wieder nehmen Paare Angebote von Kliniken im Ausland wahr, um ihren Kinderwunsch mithilfe von Reproduktionstechnologien zu erfüllen, die in Deutschland verboten sind. Dazu gehört auch die Eizellspende. Bei der Veranstaltung des Ethikrates setzen sich Experten mit Gerechtigkeitsproblemen dieser Praxis auseinander.
[caption id="attachment_316" align="alignright" width="1178"]STICHWORT PFLEGEBEDÜRFTIGKEITSBEGRIFF Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wirkt seit Anfang dieses Jahres, anstelle von bisher drei Pflegestufen existieren fünf Pflegegrade, „was eine differenzierte Einschätzung des benötigten Pflegeaufwandes ermöglicht“, so der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Er geht davon aus, dass aufgrund der erweiterten Kriterien das Auftragsaufkommen 2017 im Vergleich zu 2015 um 32 Prozent ansteigen wird. Im Zusammenhang mit der Pflegereform seien jetzt „auch die Begutachtungsaufträge seit Ende vergangenen Jahres bundesweit deutlich angestiegen“, sagt der MDS und beziffert die Zahlen im ersten Quartal auf 70.000 bis 80.000 neue Leistungsempfänger, die durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff hinzugekommen seien und nun Anspruch auf Leistungen aus der Pflegekasse haben. Bislang habe es bei Anträgen auf Pflegebedürftigkeit eine Anerkennungsquote von 75 Prozent gegeben; mit Beginn der neuen Begutachtungssystematik sei die Quote auf 83 Prozent gestiegen: „Es soll in Richtung 90 Prozent gehen“, sagt MDS-Geschäftsführer Dr. Peter Pick. Er geht davon aus, dass sich die Zahl derjenigen, die zum ersten Mal einen Anspruch als Pflegebedürftiger zugesprochen bekommen, bis Ende des Jahres auf 200.000 erhöhen wird. Die Bundesregierung rechnet mit 500.000 zusätzlichen Personen, die nun Anspruch auf Leistungen aus der Pflegekasse haben werden.
[caption id="attachment_348" align="aligncenter" width="2000"]Erreichen Innovationen schnell genug die richtigen Patienten? Gefährden teure neue Therapien auf Dauer die solidarische Finanzierung unseres Versorgungssystems? Und bleibt aufgrund der Ökonomisierung das Patientenwohl auf der Strecke? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich Gerechte Gesundheit. Seit Jahren begleiteten wir die Debatte zu Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenallokation, denn die gesellschaftliche Diskussion, wie viel uns Gesundheit wert ist, hat längst begonnen. Wir bringen sie auf den Punkt.
Die Presseagentur Gesundheit hat vor acht Jahren das Portal gerechte-gesundheit.de inklusive Newsletter aufgebaut. Wir haben uns dem Thema buchstäblich verschrieben, unsere treue und kontinuierlich wachsende Leserschaft ist für uns der größte Ansporn, auch weiterhin kritisch nachzufragen und uns nicht auf Altbewährtem auszuruhen. Aber auch für Ihre Anregungen sind wir jederzeit dankbar.
Die Finanzierung der Initiative erfolgt seit 2017 durch ein Fundingkonzept: Sponsoren aus dem Gesundheitswesen unterstützen Portal und Newsletter, Bedingung ist dabei unsere redaktionelle Unabhängigkeit. Wir bedanken uns dafür bei folgenden Partnern:
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