Vom Leuchtturm Kiel zum 
Versorgungsstandard

Shared Decision Making hat es im Gesundheitssystem (noch) schwer

Berlin/Kiel (pag) – Seit Langem wird Shared Decision Making in Fachkreisen diskutiert. Flächendeckend durchgesetzt hat es sich bisher nicht. Wenig verwunderlich, denn hinter dem Konzept steht nicht weniger als ein Paradigmenwechsel im Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Mittlerweile kommt aber Bewegung in die Sache.

© iStock.com, Vladgrin, Bearbeitung: pag, Anna Fiolka
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2017, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel: Der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt SHARE TO CARE fällt. „Making SDM A REALITY“ setzt in Pionierarbeit die Prozesse partizipativer Entscheidungsfindung (auf Englisch Shared Decision Making, SDM) in einem kompletten Krankenhaus der Maximalversorgung um. Das SHARE TO CARE-Programm umfasst vier Module: Training der Ärztinnen und Ärzte, digitale Entscheidungshilfen, Qualifizierung von Pflegekräften und Patientenaktivierung. Am UKSH werden dabei insgesamt 80 Entscheidungshilfen produziert, die wissenschaftlich fundierte, strukturiert aufbereitete und verständliche Informationen bieten. Genutzt werden können sie von Patienten zur Vorbereitung auf die gemeinsame Entscheidung mit Medizinern. „Heute gehört das UKSH zu den weltweit führenden Kliniken in der Anwendung von SDM“, betont das Klinikum auf seiner Website.

Präferenzen und Prioritäten

Das Projekt in Kiel zeigt hierzulande erstmals, dass SDM in allen Bereichen einer ganzen Klinik mit positiven Effekten etabliert werden kann. Der Ansatz beinhaltet eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung, in der Arzt und Patient relevante Informationen austauschen und sich gemeinsam auf eine optimale Behandlungsoption einigen. Dabei informiert der Arzt über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten mit jeweiligen Vor- und Nachteilen. Der Patient teilt seine Präferenzen und Behandlungserfahrungen. Insbesondere Auswirkungen etwaiger Entscheidungen auf den Alltag des Patienten sind entscheidend.

SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic - Own work, CC BY-SA 4.0
SHARE TO CARE: Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, fällt 2017 der Startschuss für das vom Innovationsfonds geförderte Pilotprojekt. © Imrohopic – Own work, CC BY-SA 4.0

Johannes Förner, Patientenbeirat am Deutschen Krebsforschungszentrum, sieht darin immense Vorteile: „SDM berücksichtigt Präferenzen und Prioritäten der Patienten bei der Entscheidungsfindung für ein Therapieschema.“ Speziell in der Krebstherapie werde meist auf maximale Lebensverlängerung geschaut, „obwohl dies für den jeweiligen Patienten vielleicht gar nicht so wichtig ist und er lieber eine optimale Lebensqualität erreichen würde.“

Prof. Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wirbt bereits 2015 auf einem Kongress des Bundesverbandes Managed Care für das Konzept: SDM steigere die Gesundheitskompetenz der Patienten. Eine Kompetenz, die defizitär in der Bevölkerung ausgebildet ist. Die Patientenzufriedenheit steige, auch für Ärzte gestalte sich die Kommunikation angenehm.
Fest steht mittlerweile auch, dass sich die Compliance der Patienten durch die gemeinsame Entscheidungsfindung erhöht. Zwar bedeutet diese initial mehr Aufwand für Ärzte – die Schulung der Mitarbeiter dauert etwa einen Arbeitstag. Mittel- bis langfristig wird aber Zeit eingespart – etwa durch effizientere Gespräche und weniger Rückfragen. Allerdings eignet sich das Konzept nur für Krankheitsbilder, bei denen aus medizinischer Sicht mehrere Handlungsmöglichkeiten mit jeweils eigenen Vor- und Nachteilen existieren.

Trotz aller Vorteile ist Shared Decision Making bislang vor allem im angelsächsischen Raum präsent. „In den UK gehört SDM bereits zum Standardrepertoire des National Health Service in der personalisierten Medizin“, berichtet Förner. In den USA sei SDM stark abhängig von der jeweiligen Klinik, werde aber häufiger praktiziert als in Deutschland. Hierzulande ist der Ansatz noch längst kein Versorgungsstandard, auch wenn es politisch so gewollt ist. Dieser politische Wille ist beispielsweise im Patientenrechtegesetz nachzulesen. Dort heißt es, dass sich Arzt und Patient „partnerschaftlich begegnen und gemeinsam über die Behandlung entscheiden“. Laut §§ 13 bis 15 SGB I sind die Sozialversicherungsträger zur Aufklärung, Beratung und Auskunft verpflichtet.

Für SHARE TO CARE-Geschäftsführer Dr. Jens Ulrich Rüffer ist eine Ursache dafür, dass Wunsch und Wirklichkeit so auseinanderklaffen und SDM aktuell noch nicht systematisch im Gesundheitssystem eingesetzt wird, die bisher fehlende konkrete Prozessanleitung für alle Beteiligten (lesen Sie hierzu auch das Interview „Das reine Wollen reicht nicht“, Seite 16).

In die Regelversorgung

„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz
„Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr.“ Der SDM-Siegeszug ist für Patientenbeirat Förner nur eine Frage der Zeit. © stock.adobe.com, goodluz

Immerhin: Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, das Programm SHARE TO CARE in die Regelversorgung zu überführen. Darauf will Rüffer allerdings nicht warten. „Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt“, weiß er. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Von den momentan laufenden Pilotprojekten hofft der Mediziner, dass sie „genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten:
Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung“.

Auch Patientenvertreter Förner hat einige vielversprechende Initiativen fest im Blick: Etwa das groß angelegte Vorhaben an den sechs bayerischen Universitätskliniken, das sich dem Bereich Prostatakrebs widmet. „Bayern versucht hier eine systematische Implementierung von SDM“, berichtet er. Ein anderes Beispiel ist Bremen, wo SHARE TO CARE für den hausärztlichen Bereich adaptiert wird. Das Ziel: SDM in allen Hausarztpraxen im Bundesland verankern. Der SDM-Siegeszug ist für Förner nur eine Frage der Zeit: „Aufzuhalten ist SDM meiner Meinung nach nicht mehr. Wir können es verzögern oder aber auch beschleunigen.“

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Drahtseilakt zwischen Autonomie und Anleitung Grundsätzlich geht es um einen Wandel des Arzt-Patienten-Verhältnisses. SDM vollführt den Drahtseilakt zwischen den Autonomiebestrebungen des Patienten und seinem Bedarf nach Anlehnung und Anleitung durch den Arzt. Die althergebrachte Vorstellung, dass Patienten stillschweigend mit jeder ärztlichen Entscheidung mitgehen, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Erstmals konkret wurde die Idee des SDM vom US-amerikanischen Bioethiker Dr. Robert Veatch in den frühen 70er-Jahren ins Spiel gebracht. 1982 stellte eine Kommission des US-Präsidenten fest, dass man zwar grundsätzlich immer besser in der Lage sei, Krankheiten effektiv zu behandeln, gleichzeitig aber weitverbreitet Über-, Unter- und Fehlbehandlung herrsche. Die vorgeschlagene Lösung: SDM.
Mittlerweile hat das Konzept Einzug in die Gesetzgebung und Politik zahlreicher Länder gehalten. Wissenschaftler sehen einen Paradigmenwechsel in Richtung Patientenzentrierung und Beteiligung, der sich vor allem in den 80ern vollzieht. Stichwort Forschung: Seit den 70ern wurden mehr als 6.000 wissenschaftliche Artikel zum Thema veröffentlicht, seit 2013 sind es über 500 pro Jahr.

„Das reine Wollen reicht nicht“

Dr. Jens Ulrich Rüffer über typische Denkfehler bei Shared Decision Making

Für Dr. Jens Ulrich Rüffer ist die bisher fehlende Prozessanleitung der „Misssing Link“ der vergangenen Jahrzehnte, der eine breite Implementierung in der Praxis verhinderte. Im Interview erläutert der Experte für Medizinkommunikation, warum es noch immer vielen Ärzten an einem wirklichen Verständnis für die partizipative Entscheidungsfindung mangelt.

© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag
© iStock.com, Ieromin, Berarbeitung pag

Welchen Weg hat Shared Decision Making in Deutschland hinter sich?

Jens Ulrich Rüffer: Wir blicken hierzulande auf eine patriarchalische Geschichte. Lange Zeit war es üblich, dass Ärzte Befunde erhoben und hinter verschlossenen Türen über Diagnosen und Behandlungsmethoden brüteten. Erst seit den 70er-Jahren sind Ärzte verpflichtet, Diagnosen mitzuteilen. Meilensteine sind die Patientenrechtegesetze, die zwischen den 90er bis in die Nullerjahre eingeführt wurden. Seitdem haben Patienten den gesetzlichen Anspruch, Diagnosen zu erfahren und zwischen Behandlungsmethoden zu wählen. Berechtigt sind Patienten außerdem, über deren Vor- und Nachteile informiert zu werden. Als Garant hierfür dient Shared Decision Making. Von einem theoretischen Konzept entwickelte sich SDM in den letzten Jahren hin zu konkreten Verfahrensweisen.

Wieso? Trifft der Arzt nicht grundsätzlich Entscheidungen im Sinne seines Patienten?

Rüffer: Es geht um die Frage der Präferenzen. Abgesehen vom medizinischen Wissen des Arztes bringt der Patient individuelle Bedürfnisse mit ins Behandlungszimmer. Bleiben sie vom Arzt unbeachtet, wirkt sich das direkt auf die Behandlung aus: ihre Erfolgschancen sinken. Somit ist SDM mehr als Idealismus – eine Partizipative Entscheidung erhöht auch die Adhärenz.

Welche Vorteile hat SDM außerdem?

Rüffer: Aus ethischer Sicht ist bereits die Schaffung von SDM ein Wert. In unserem groß angelegten Projekt am Kieler Standort des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein konnten wir weitere Vorteile nachweisen: Patienten kommen besser informiert durch Therapien und sind seltener Entscheidungskonflikten ausgesetzt. Ferner fallen die Arztgespräche tendenziell kürzer aus. Es gibt sogar Kosteneinsparungen.

Sie sprechen das Projekt SHARE TO CARE in Kiel an, bei dem sie gezeigt haben, dass man SDM in einer gesamten Klinik einsetzen kann. Wie sind Sie vorgegangen?

Rüffer: Das SHARE TO CARE-Programm setzt sich aus vier Modulen zusammen. Zwei davon richten sich an das Gesundheitssystem. Die anderen beiden zielen auf Patienten ab. Zunächst beinhaltet das Programm ein Training für Ärztinnen und Ärzte.

Wie sieht das Training konkret aus?

Rüffer: Das Training ist per se sehr simpel. Insgesamt bemisst es sich auf vier Stunden. In der ersten wird den Ärzten in einem Online-Training Grundlagenwissen zu SDM anhand von Lehrbeispielen vermittelt. Anschließend werden zwei reale Entscheidungsgespräche auf Video aufgezeichnet. Dazu gibt es ein individuelles Videofeedback von speziell ausgebildeten Trainern mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Nach dem Konzept sollte sich pro Station beziehungsweise Ambulanz ein bis zwei Personen zu einem Decision Coach weiterbilden. Diese können aus diversen Berufen kommen, stammen in der Regel aber aus dem Pflegebereich.

Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche
Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov
Für Patienten gibt es Entscheidungshilfen in Form der „Drei Fragen“- Methode: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? © iStock.com, Denis Novikov

Und wie sieht es auf der Patientenseite aus?

Rüffer: Für sie gibt es Entscheidungshilfen – zumindest für die wichtigsten Indikationen. Weiterhin nutzen wir die „Drei Fragen“-Methode. Das können Sie sich wie einen Leitfaden für ein Arzt-Patienten-Gespräch vorstellen. Sie lauten: Welche Therapieoptionen habe ich? Welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit treffen diese auf mich zu? Ein Stück weit spiegeln die Fragen auch das Patientenrechtegesetz wider.

Welche weiteren Aspekte beinhaltet SDM?

Rüffer: SDM ist in Gänze als ein Werkzeugkasten vorstellbar. Im Einzelfall muss entschieden werden, welche Tools in ein System implementierbar sind. Wir haben uns für die vier beschriebenen entschieden – und ziehen eine positive Bilanz. In anderen Projekten konnten mit anderer Auswahl nicht dieselben Effekte erzielt werden. Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist auch die Intensität der Maßnahmen. Es ist ein lernendes System – aber SHARE TO CARE setzt heute einen Standard.

Ist es nicht auch ein Stück weit eine individuelle Einstellung, wie offen und gleichberechtigt ich als Arzt beziehungsweise Patient ein Behandlungsgespräch führe?

Rüffer: Wir wissen, dass SDM-Elemente in Behandlungsgesprächen nur in geringem Ausmaß stattfinden. Gleichzeitig behaupten neun von zehn Ärzten, sie praktizierten Partizipative Entscheidungsfindung.

© stock.adobe.com, Rido
© stock.adobe.com, Rido

Wird da gelogen?

Rüffer: Nein. Als Vorwurf ist es nicht zu verstehen. Vielmehr erkenne ich darin einen ärztlichen Willen zum SDM. Nur fehlt an vielen Stellen heute noch ein tieferes Verständnis. Dazu gehört die Einsicht des Arztes, dass er hauptverantwortlich dafür ist, dass der Patient ein Thema erfasst und seine Präferenzen mit den Behandlungsoptionen abgleicht. Ärzte scheinen schnell bereit zu sagen, sie hätten das getan. In der Praxis bestätigt sich das nicht. Das reine Wollen reicht nicht. Es fehlte bisher die Prozessanleitung.

Das müssen Sie genauer erklären.

Rüffer: Ein Vergleich: Fährt man Auto, tut man das bisweilen mit der inneren Haltung, dass man vorsichtig fahren möchte. Dann möchte ich in einer 30er-Zone auch nur 30 fahren. Fehlt es allerdings an einem Tachometer, an Bremsen oder einem richtigen Gaspedal, wird es schwierig, mein Ziel zu erreichen. Deutlich leichter ist es, wenn ich adäquat ausgerüstet bin und einen Tempomat habe, den ich auf 30 einstellen kann. Der SDM-Prozess ist wie dieses Hilfsmittel. Ich schätze, das ist der Missing Link der letzten Jahrzehnte, welcher für eine breitflächige Implementierung fehlte. In theoretische Diskussionen ist die Thematik schon längst eingezogen. Die Umsetzung in der Praxis stand dagegen auf der Stelle. Nun haben wir einen Prozess erarbeitet, der Ärzten mit unseren kombinierten Optionen SDM ermöglicht.

Das ist ein wohlwollender Blick. Was ist mit Widerständen von Ärzten, die ihr althergebrachtes Selbstbild gefährdet sehen?

Rüffer: Widerstände gibt es definitiv. Interessanterweise finden sich jene traditionellen Haltungen vermehrt bei Kollegen, die in Lobbygruppen aktiv sind und seltener direkt mit Patienten arbeiten. Sicherlich ist damit auch eine Generationenfrage verbunden. Dennoch: Ich bin der Meinung, es stieße keine große Veränderung an, tauschten wir alle Ü40-Ärzte durch jüngere Kollegen aus. Denn: SDM ist kein Automatismus, keine reine Willensfrage. Es bedarf aktiven Trainings und einer bewussten Implementierung.

Die Einstellung der Ärzte muss sich nicht ändern?

Rüffer: Doch. Dazu gehört, dass Ärzte seit Langem die Effektivität von Interventionen überschätzen. Watchfull Waiting wiederum wird unterschätzt. Solche Phänomene lassen sich mit Partizipativer Entscheidungsfindung ausgleichen. Denn im Prozess werden sich Ärzte bewusst, dass zuweilen Therapieoptionen vorgezogen werden, die aus ärztlicher Sicht weniger erfolgsversprechend oder weniger invasiv sind. Das zu verstehen, ist vielmehr Inhalt als Macht und Deutungshoheit.

Wie gelingt die flächendeckende Implementierung?

Rüffer: Daran arbeiten wir mit SHARE TO CARE. Seit März empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss, unser Programm in die Regelversorgung zu überführen. Doch darauf wollen wir nicht warten. Die Hauptaktivitäten zu SDM finden hierzulande im Rahmen von Forschungsprojekten statt. Im Fokus stehen die Frage der Machbarkeit, außerdem die Reproduktion der Kieler Effekte und sektorenübergreifende Aspekte. Gegenwärtig entwickeln sich verschiedene Pilotprojekte, die hoffentlich genug Evidenz erzeugen, um die Erkenntnis herauszuarbeiten: Es braucht SDM, sei es über Selektivverträge oder in der Regelversorgung. Mitbedacht werden muss auch, dass man damit gleichzeitig Anreize für Personen mit anderem SDM-Verständnis schafft, sich in den Markt zu drängen. Möglicherweise entsteht dabei Pseudo-SDM.

Was verstehen Sie unter Pseudo-SDM? Drückt man Patienten eine Entscheidungshilfe in die Hand, und das war es dann?

Rüffer: Entscheidungshilfen allein erzeugen durchaus positive Effekte. Diese sind allerdings um Längen von den Kieler Ergebnissen entfernt. Denn an erster Stelle ist es eine Frage der Haltung: zu respektieren, dass Patienten eigene Präferenzen und Therapievorstellungen haben. Diese Haltung ist komplementär zu Werkzeugen wie Entscheidungshilfen, Decision Coaches oder den „Drei Fragen“. Erst wenn alle Rädchen ineinandergreifen, gedeiht Partizipative Entscheidungsfindung.

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© atp Verlag
© atp Verlag

Zur Person Dr. Jens Ulrich Rüffer treibt seit Jahrzehnten europaweit SDM-Projekte voran. Als Geschäftsführer von SHARE TO CARE hat der Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie zuletzt SDM in einer ganzen Klinik in Kiel implementiert. Außerdem hat er das Buch „Wenn eine Begegnung alles verändert: Ärztinnen und Ärzte erzählen“, in dem Mediziner von augenöffnenden Patientenbegegnungen berichten, mit herausgegeben.
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Wenn Überleben zur Glückssache wird

Zu oft übersehen: die seltenen Krebserkrankungen

Berlin (pag) – Zwar werden neue Fortschritte in der Onkologie kontinuierlich vermeldet, aber gerade bei den seltenen Krebserkrankungen ist die Situation immer noch äußerst unbefriedigend. Auf dem Kongress Vision Zero tauschen sich Expertinnen und Experten kürzlich über Defizite und Vorbilder aus. Patientenvertreter Markus Wartenberg hält fest: „Da gibt es ganz viel, was wir in den nächsten Jahren besser machen müssen.“

Annährend jeder vierte neue Krebspatient erkrankt hierzulande an einer seltenen Krebsform. Das sind rund 120.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Das Spektrum umfasst über 200 Diagnosen. Ein entscheiden-der Unterschied zwischen den häufigen und seltenen Krebsarten besteht hinsichtlich der Fünf-Jahres-Überlebensrate. „Mit 47 Prozent ist diese bei Rare Cancer signifikant schlechter als bei Common Cancer mit 65 Prozent“, berichtet Prof. Bernd Kasper bei Vision Zero.

© istockphoto.com, Sarawut
© istockphoto.com, Sarawut.

Netzwerke helfen

„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung
„Signifikant schlechtere“ Überlebensrate: Prof. Bernd Kasper © Deutsche Sarkom Stiftung

In seinem Impuls stellt der Ärztliche Geschäftsführer des Mannheim Cancer Centers die Herausforderungen seltener Krebserkrankungen am Beispiel der Sarkome dar. Dabei handelt es sich um seltene, bösartige Tumore, die vom Bindegewebe, Knochen und Muskeln ausgehen können. Genaue Zahlen zu Prävalenz und Inzidenz gibt es in Deutschland nicht, Experten gehen von bis zu 6.000 Fällen pro Jahr aus. Kasper weist auf die große Heterogenität dieser Krebsform hin: Es gebe 175 Subgruppen und -typen mit jeweils ganz unterschiedlichen Behandlungsstrategien. Rezidive könnten sogar noch nach 20 Jahren auftreten.
Trotz schwieriger Ausgangslage kann Kasper von einigen Erfolgen berichten: Mittlerweile existieren rund 20 zertifizierte Sarkom-Zentren, auch eine S3-Leitlinie gibt es. Auf europäischer Ebene haben sich zudem eine Reihe von Netzwerken zu seltenen Krebserkrankungen etabliert. Der Onkologe nennt unter anderem RareCareNet und Rare Cancers Europe. Als jüngste Initiative hebt er die 20 European Reference Networks (ERN) hervor. Davon kümmern sich vier um das Thema Krebs, das ERN EURACAN fokussiert sich auf seltene solide Krebsarten im Erwachsenenalter. Solche Netzwerke seien wichtig, um Informationen, aber auch Proben auszutauschen, heißt es auf der Veranstaltung.

„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung
„Späte und falsche Diagnosen“: Patientenvertreter Markus Wartenberg © Deutsche Sarkom Stiftung

Späte und falsche Diagnosen

Patientenvertreter Markus Wartenberg, Vorstand Deutsche Sarkom Stiftung, bedauert, dass der Schwung von der europäischen Ebene nicht in Deutschland angekommen zu sein scheint. Die von ihm vorgetragene Liste an Defiziten ist lang: „Wir sehen vor allem späte und falsche Diagnosen“, zum Teil seien die Patienten vier bis sechs Monate oder noch länger unterwegs. Es fehle die „Awareness“ bei den Erstbehandlern, dass Schwellungen etwas Bösartiges sein könnten. Probleme gebe es auch in der Pathologie, so Wartenberg, der den Anteil falscher Diagnosen auf 20 Prozent beziffert.
Stichwort Therapie: Probleme bereiten gerade in der Anfangsphase falsch durchgeführte Behandlungen und Biopsien sowie Operationen, die nicht von Experten durchgeführt werden. Wartenberg kritisiert insbesondere, dass nur maximal 40 Prozent der Patienten an zertifizierten Zentren behandelt werden. Die meisten würden dort viel zu spät landen, nach dem Motto: „Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht ein Sarkomzentrum.“ Die Folge: Den Betroffenen werden Spezialwissen und -verfahren sowie klinische Studien vorenthalten. Hinzu komme ein Mangel an innovativen Therapien und an organisierten Daten- und Gewebesammlungen, so der Patientenvertreter.

Keine zweite Chance

Aus Perspektive der Betroffenen prangert Wartenberg an, dass die bisherigen Erfolge vor allem auf Einzelinitiativen basierten, die Krebs-Community und die Politik hätten organsiert bisher zu wenig getan. Beispielhaft nennt er den nationalen Krebsplan, der seltene Formen nicht berücksichtige. Er fordert daher mehr Verbund, mehr Zusammenarbeit: „Es kann nicht sein, dass bei Patienten mit seltenen Krebserkrankungen das Überleben zur Glückssache wird.“ Je nachdem, wo sie zuerst behandelt werden, falle die Prognose günstiger oder weniger günstig aus. „Der erste Behandlungsschritt hat keine zweite Chance“, ergänzt Prof. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Kinderonkologie und -hämatologie der Charité Berlin. Wartenberg fordert eine Multi-Stakeholder-Initiative für die seltenen Krebsarten, eine nationale Strategie oder einen Aktionsplan, „um das ganze wirklich voranzutreiben“.

Eine Blaupause könnte die onkologische Pädiatrie sein, von der Privat-Dozentin Dr. Ines Brecht, Universitätsklinikum Tübingen, auf dem Kongress berichtet. Man habe effektive Strukturen und ein enges Netzwerk aufgebaut, die als vorbildliches Modell für den Umgang mit seltenen Tumoren dienen könnten, so die Fachärztin für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Durch kontinuierliches Sammeln von Daten und Proben sei es gelungen, die Evidenz für Behandlungen konsequent zu verbessern. Als Beispiel nennt sie die Heilungsraten bei Leukämie, die in den 70er- und 80er-Jahren bei bis zu 40 Prozent lagen. Jetzt beträgt die Rate über 90 Prozent – „und zwar langfristig mit wenig Nebenwirkungen“, berichtet Brecht. Stolz ist die Pädiaterin auch darauf, dass 90 Prozent der jungen Patienten in klinischen Studien und Registern eingeschlossen sind. „Davon sind wir im adulten Bereich meilenweit entfernt“, sagt Sarkom-Experte Kasper. Von den zertifizierten Zentren werde gefordert, dass gerade einmal fünf Prozent der Patienten in Studien eingeschlossen sind.

Trotz beeindruckender Erfolge müssen aber auch in der Kinderonkologie noch einige Herausforderungen gemeistert werden. Brecht spricht beispielsweise von Datenschutzregularien, „die uns erdrücken.“ Sie verlangt zu dem Thema eine ethische Debatte, in die auch Patienten eingeschlossen werden. Die Klinikerin fragt: „Ist es moralisch, den Datenschutz so wichtig werden zu lassen, dass Patienten nicht mehr am medizinischen Fortschritt teilhaben?“

RCT oder anders denken?
Stichwort Studien: In der onkologischen Pädiatrie habe man im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (Randomized controlled trials, RCT) Standardtherapien gegeneinander verglichen und so einen „soliden Fortschritt“ erzielt, berichtet Brecht. Sie sagt aber auch, dass man bei besonders seltenen Tumoren anders denken müsse. Unter europäischen Forschern gelte daher: „If you work on frequent cancers, do randomised trials. If you work on rare cancers, find friends.“ berichtet PD Dr. Ines Brecht vom Universitätsklinikum Tübingen.

Jeder darf alles?
Der Onkologe Prof. Peter Reichardt kritisiert, dass jeder Arzt Erwachsene mit seltenen Krebsbehandlungen behandeln dürfe. Das Motto laute: „Jeder glaubt, das kriegen wir schon hin.“ Der Leiter des Sarkomzentrums Berlin-Brandenburg am Helios Klinikum Berlin-Buch befürwortet daher regulierende Eingriffe, die eben dies verhindern. Reichardt wird auf dem Kongress deutlich: „Dass ein approbierter Arzt in der Medizin, von Mindestmengen abgesehen, fast alles darf, auch jedes Medikament verordnen, ist in jeder anderen Branche undenkbar.“

 

MVZ – es ist kompliziert


Berlin (pag) – Die Debatte um Medizinische Versorgungszentren (MVZ) geht weiter: Eine neue Studie will mehr Evidenz schaffen, während ein Fachgespräch im Bundestag zum Politikum wird. Fest steht: Das Thema ist noch immer höchst kontrovers.

Der Gesundheitsausschuss hat sich kürzlich mit „Private Equity im Gesundheitswesen“ befasst. Dabei geht es vor allem um die sogenannten investorengetragenen Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ). Deren Anteil liegt laut Martin Hendges, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, im zahnärztlichen Bereich bei 30 Prozent – Tendenz steigend. Er kritisiert: Die Investoren suchten sich nur lukrative Standorte aus. An der Versorgung vulnerabler Gruppen hätten iMVZ nur einen verschwindend geringen Anteil. Viele seien überdies in den Händen sehr weniger Großinvestoren.

Prof. Andreas Ladurner, Hochschule Aalen, hebt dagegen die Bedeutung der Zentren für die Versorgung hervor. Sie erlaubten eine skalierbare Organisation der ambulanten Versorgung mit einem professionellen Management.

Das Rad zurückdrehen?

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Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, rät bei der Sitzung von einer stark regulativen Gesetzgebung ab, die womöglich vor Gerichten nicht standhalten könnte. Es mache keinen Sinn, das Rad wieder zurückzudrehen, denn 20 Jahre nach Einführung der MVZ 2004 gebe es keine Anhaltspunkte dafür, dass diese eine schlechtere Versorgung gewährleisteten. Der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns findet diese Aussagen Gassens „irreführend und befremdlich“. „Wir stehen weiter hin vollumfänglich hinter der Initiative des Bundesrates, die großflächige Verbreitung von iMVZ, die von Finanzinvestoren beherrscht werden, im deutschen Gesundheitswesen wirksam zu begrenzen“, betonen Dr. Christian Pfeiffer, Dr. Peter Heinz und Dr. Claudia Ritter-Rupp. Sie befürchten eine Kettenbildung und Monopolisierung im Gesundheitswesen.

Einen weiteren Impuls liefert die Studie von Prof. Frank-Ulrich Fricke, TH Nürnberg, im Auftrag des Verbandes der Akkreditierten Labore in der Medizin und des Bundesverbandes der Betreiber Medizinischer Versorgungszentren. Der Titel: „Evidenz hilft: Beeinflusst die Übernahme durch private, nicht-ärztliche Kapitalgeber das Abrechnungsverhalten von MVZ?“. Fricke kommt zu dem Schluss, dass die Untersuchung der Vorwürfe mit Routinedaten ohne besonderen Aufwand möglich wäre. Die Auftraggeber halten regelmäßig Auffälligkeitsprüfungen für sinnvoll, zumal sie meist automatisiert durchführbar seien. Für Fricke liefert die explorative Studie einen praktikablen Ansatz, der vergleichende Untersuchungen des Abrechnungsverhaltens von ambulanten Einrichtungen auf Basis vorhandener Daten ermöglicht. Ob die Übernahme durch nicht-ärztliche Kapitalgeber das Abrechnungsverhalten beeinflusst, beantwortet der Ökonom indes nicht, denn die Fallstudie ist nicht repräsentativ: Lediglich 17 Einrichtungen in neun KV-Regionen haben teilgenommen – zu wenige, „um generalisierende Aussagen über die Machbarkeit der Untersuchung hinaus treffen zu können“, schränkt Fricke ein.

Braucht Deutschland eine Menopause-Strategie?

Warum ein „Da müssen Sie durch“ nicht mehr angemessen ist

Berlin (pag) – Die Menopause stellt noch immer ein gesellschaftliches Tabu dar, in der Gesundheitspolitik ist sie ein weißer Fleck. Das Thema sichtbarer zu machen, ist das Ziel eines kürzlich stattgefundenen Parlamentarischen Abends, auf dem über Strategien und ideologische Grabenkämpfe diskutiert wird.

Einen Tag vor der Veranstaltung im März unterschreibt US-Präsident Joe Biden eine Verordnung zur Förderung der Gesundheitsforschung für Frauen. Es sollen unter anderem Forschungslücken zu frauenspezifischen Krankheiten und Phänomenen wie Endometriose und Menopause geschlossen werden. Vielleicht ein Zeichen, dass sich der Umgang mit den Wechseljahren wandelt. Hierzulande sind davon immerhin neun Millionen Frauen betroffen.
Die allermeisten von ihnen wissen wenig über diesen Lebensabschnitt, der bis zu zehn Jahre dauern kann. Dass die Beschwerden, die in den Wechseljahren auftreten können, sehr vielfältig und auch unspezifisch sind, macht es nicht einfacher. In der (frühen) Perimenopause können das beispielsweise Wassereinlagerungen, Schwindel und Herzrasen sein, in der Postmenopause neben den landläufig bekannten Hitzewallungen auch Gelenkschmerzen oder zunehmende Kopfschmerzen beziehungsweise Migräne. Die Symptome treten in sehr unterschiedlicher Intensität auf: Ein Drittel der Frauen hat keine oder nur minimale klimakterische Beschwerden. Zwei Drittel leiden darunter, bei der Hälfte von ihnen ist die Lebensqualität dadurch beträchtlich eingeschränkt.

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Nicht nur ein gynäkolgisches Thema

Oft können die betroffenen Frauen ihre Beschwerden nicht richtig einordnen. Und das geht offenbar nicht nur ihnen so, sondern auch vielfach den konsultierten Ärztinnen und Ärzten. Dass das Wissen in der Ärzteschaft zu diesem Thema noch ausbaufähig ist, wird während des Parlamentarischen Abends rasch deutlich. Das betrifft sowohl die Symptome als auch die zur Verfügung stehenden Therapien, mit denen die Beschwerden gelindert werden können. „Da müssen Sie durch“, ist ein Satz, den die ratsuchenden Frauen oft zu hören bekommen.
Dieser Aussage widerspricht Dr. Katrin Schaudig, Präsidentin der Deutschen Menopause Gesellschaft, auf der Veranstaltung nachdrücklich. Ein erster wichtiger Schritt ist für sie, dass sowohl Frauen als auch Ärzte wissen, was in dieser Phase passiert. Die Gynäkologin macht sich daher für eine Awareness-Kampagne stark, auch mahnt sie an, dass die ausführliche Beratung in der Arztpraxis besser honoriert werden müsse. Ein weiteres Anliegen Schaudigs ist, dass die Menopause nicht nur als gynäkologisches Thema verstanden wird, sondern dass sich auch Hausärzte und Arbeitsmediziner damit stärker beschäftigen.

Teure Ignoranz

Besonders intensiv diskutieren Politiker, Ärzte, Unternehmer und Betroffene bei dem Termin darüber, wie mit den Wechseljahren am Arbeitsplatz umgegangen wird. Eine deutschlandweite Befragung des Forschungsprojektes MenoSupport zeigt, dass es noch reichlich Luft nach oben gibt. Die wichtigsten Ergebnisse: Von den über 2.000 befragten Frauen wollen knapp 20 Prozent der über 55-Jährigen früher in Rente gehen beziehungsweise sind bereits in Rente gegangen. Knapp ein Viertel der Befragten mit Wechseljahressymptomen reduzierte bereits ihre Arbeitsstunden und knapp ein Drittel war aufgrund der Symptome krankgeschrieben oder nahm unbezahlten Urlaub. „Das können wir uns als Gesellschaft in vielerlei Hinsicht nicht leisten“, kommentiert Schaudig mit Blick auf den Fachkräftemängel diese  Produktivitätsausfälle. Bei Unternehmen wie Edeka, welche die Brisanz bereits erkannt haben, klärt sie die Belegschaft über die Wechseljahre auf.

Vorbild Großbritannien

Auf politischer Ebene passiert dagegen derzeit noch nicht besonders viel. Im Koalitionsvertrag ist das Thema ausgespart. Die Union hat allerdings eine Kleine Anfrage zu den „Auswirkungen der Menopause auf Frauen“ im Oktober vergangenen Jahres gestellt. Begleitet wurde diese von einem Statement zum Weltmenopausetag am 18. Oktober, das Dorothee Bär und die Berichterstatterin der CDU/CSU-Bundestagfraktion für geschlechterspezifische Gesundheit, Diana Stöcker, unterzeichnet haben. 
Letztere verlangt, dass die betroffenen Frauen mit all den Einschränkungen gesundheitlicher, aber in Folge auch wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art, nicht allein gelassen werden dürften. Die Politikerin sieht mehr Forschungsbedarf, „auch um die Frauen aus der Stigmatisierung zu holen und zudem Arbeitgeber zu sensibilisieren, wie dies bereits in anderen europäischen Ländern der Fall ist“.
Wenn über internationale Vorbilder diskutiert wird, richtet sich der Blick meist nach Großbritannien. Dort wurde im Februar 2022 eine Menopause-Taskforce etabliert. Diese adressiert im Wesentlichen folgende Bereiche: Gesundheitsversorgung, Bildung und Aufmerksamkeit für die Bevölkerung und Gesundheitsberufe, Unterstützung am Arbeitsplatz sowie Forschung. Ob eine so umfassende Strategie auch hierzulande auf die Beine gestellt werden kann, bleibt abzuwarten.

 

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Hormonersatztherapie (HRT) – ja oder nein?
Kein Thema wird im Kontext der Wechseljahre so kontrovers diskutiert wie die Hormonersatztherapie. Eine ideologische Lagerbildung kritisiert Schaudig, die fordert: „Wir müssen weg kommen von dem Schwarz-Weiß-Denken.“ Eine Gruppe fordere Hormone für alle, während die andere den Einsatz grundsätzlich ablehne. Eine Hormonersatztherapie „mit der Gießkanne“ verurteilt die Gynäkologin, nicht aber bei Frauen mit einem Leidensdruck, denn die Risiken seien „relativ niedrig“. Wichtig sei jedoch eine sorgfältige Aufklärung.
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Weiterführende Links

Department of Health & Social Care (UK), Policy paper, Women‘s Health Strategy for England, Updated 30 August 2022, Website

Prof. Dr. Andrea Rumler, Julia Memmert, HWR Berlin, Forschungsprojekt MenoSupport, Ergebnisse der ersten deutschlandweiten Befragung zum Thema Wechseljahre am Arbeitsplatz, Stand 04/2024, Präsentationsfolien, PDF, 45 Seiten

 

Alzheimer: Fortschritt als Stresstest

Berlin (pag) – Die Zahl der Alzheimerpatientinnen und -patienten nimmt zu, gleichzeitig werden innovative Therapien erwartet, die eine besondere Betreuung der Betroffenen erforderlich machen. Ärzteorganisationen sehen dringenden politischen Handlungsbedarf und vermissen eine gesellschaftliche Debatte zu den bevorstehenden Kosten.

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Die Therapiekosten seien hoch, ebenso die Anzahl derjenigen, die für diese Behandlungen infrage kommen, prognostiziert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Damit die Patienten von den Therapien profitieren, müsse die Behandlung so früh wie möglich einsetzen. Bei den ersten kognitiven Einschränkungen sei zu klären, ob tatsächlich Alzheimer zugrunde liege. Hierfür sei eine spezialisierte Diagnostik einschließlich Nervenwasser-Untersuchung erforderlich. Zwar rechtfertigten sogenannte Lumbalpunktionen keine stationäre Aufnahme, andererseits werden sie nicht flächendeckend in den Facharztpraxen angeboten, erläutert die Fachgesellschaft. Nach der Diagnostik warten weitere Herausforderungen: eine umfassende Patientenaufklärung über die Therapien, und die spezialärztlich überwachte Infusion der Medikamente. Die DGN sieht Diagnostik und Therapie als „Stresstest“ für die ambulanten neurologischen Versorgungsstrukturen – und zwar qualitativ und quantitativ. Bei Zulassung der neuen Alzheimer-Medikamente werden nicht nur ausreichend viele Infusionsplätze in Ambulanzen, Praxen und MVZs benötigt, „sondern auch speziell geschultes und ausgebildetes Personal sowie ein entsprechendes Frühdiagnostik-Angebot mit den dafür notwendigen Labor- und Bildgebungskapazitäten“, führt DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit aus. Für Dr. Klaus Gehring, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte (BVDN), wird zukünftig eine große Herausforderung, „all diese Menschen auch in der Fläche gut zu versorgen“.

Bezahlbarkeit sicherstellen

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt die Zahl der Demenz-Neuerkrankungen pro Jahr auf über 430.000 Fälle, etwa bei drei Vierteln aller Fälle liegt eine Alzheimer-Erkrankung zugrunde. Eine wissenschaftliche Arbeit aus 2023 rechnet vor, dass für eine Therapie mit dem Antikörper Lecanemab in 27 europäischen Ländern insgesamt 5,4 Millionen Patientinnen und Patienten infrage kommen, was zu jährlichen Therapiekosten in Höhe von 133 Milliarden Euro führen würde. Die jährlichen Therapiekosten pro Patientin/Patient werden auf knapp 25.000 Euro beziffert. In Abhängigkeit von der Zahl behandelter Patientinnen und Patienten pro Jahr würden Alzheimer-Therapeutika rasch Rang eins der verordnungsstärksten Arzneimittelgruppe belegen und noch vor den Ausgaben für Krebsmedikamente liegen. Hinzu kämen die erforderlichen Investitionen in die Versorgungsstruktur. Die DGN und die Berufsverbände sind sich daher einig: „Das sind Ausgaben, die gesamtgesellschaftlich konsentiert sein müssen und es fehlt eine öffentliche Debatte zu diesem wichtigen Thema.“ Sie sehen die Gesundheitspolitik in der Pflicht, denn es müsse geklärt werden, wie die Versorgung in der Fläche und die Bezahlbarkeit sicher gestellt werden können.

„Vieles muss sich verändern – auch wir“

Berlin (pag) – Die „Grundsätze der medizinischen Versorgung von morgen“ haben die jungen Ärztinnen und Ärzte im Hartmannbund in einem Whitepaper formuliert. „Wir können und wollen den Status quo nicht mehr akzeptieren und können uns diesen auch absehbar nicht mehr leisten“, sagt Dr. Moritz Völker, Vorsitzender des Arbeitskreises, anlässlich der Veröffentlichung.

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Der Mediziner kritisiert: „Wir arbeiten in alten Strukturen, die sich nie wirklich an eine veränderte Versorgungsrealität angepasst haben und bewegen uns auf eine Versorgungskrise zu, die mittlerweile mehr braucht als kleine Weichenstellungen.“

In dem siebenseitigen Whitepaper definiert der ärztliche Nachwuchs Leitplanken für eine gute Gesundheitsversorgung. Überschrieben ist die Publikation mit dem Motto „Vieles muss sich verändern – auch wir“. Die Autoren verlangen eine strategische Zukunftsgestaltung, kein bloßes Taktieren oder Feinjustierungen. Wichtig sei auch eine klare Kommunikation, die alle Beteiligten einbezieht, heißt es in dem Papier.

Zu den Leitplanken der Versorgung von morgen gehören unter anderem interprofessionelle Teams. Zum Stichwort zeitgemäßes Arbeiten fallen die Stichwörter Digitalisierung, KI, Klimaresilienz und Ökologie. Dem zunehmenden Arbeitsdruck solle mit Innovation und Veränderungsbereitschaft begegnet werden. Dazu heißt es unter anderem: „Wir fordern eine klar strukturierte, funktionsfähige Entlastung, die Raum für Weiterbildung und gute Versorgung schafft.“ Das könne unter anderem durch Umverteilung, Umstrukturierungen und klügere Einsetzung des vorhandenen Personals ermöglicht werden. Die Arbeitgeber im Gesundheitswesen müssten noch vielmehr als bisher neue Arbeitsmodelle und moderne Arbeitsmöglichkeiten etablieren, um zukünftig konkurrenzfähig zu sein. Zusätzlich müsse der technische Fortschritt auch in der Versorgung ankommen und die Tätigkeit der dort Arbeitenden entlasten. Das komme am Ende allen qualitativ zugute.

Solidarität versus Egozentrik

Das Whitepaper adressiert darüber hinaus sehr grundsätzliche Themen. Die Ärzte unterstreichen beispielsweise, dass Medizin und Gesundheitsversorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Daseinsvorsorge verstanden werden müssen. Kritisch merken die Autoren an, dass die solidarische Versorgung in einer „immer mehr egozentrisch orientierten Gesellschaft“ in den Hintergrund gerate. Sie appellieren, dass Gesundheit nicht separat behandelt werden dürfe, sondern in allen Aspekten mitzudenken sei.

Weiter heißt es, dass eine gute Medizin auch ohne ökonomische Zwänge funktioniere. Zurzeit habe die Ökonomie das Gesundheitswesen in „zu vielen Bereichen“ fest im Griff. Zwar widerspreche gewinnorientiertes Denken nicht per se dem medizinisch Notwendigen. „Es lenkt dieses aber zu oft, bestimmt die reale Versorgung und schränkt die Möglichkeiten ein, dem Berufsethos entsprechend Medizin machen zu können.“ Eine junge Generation lerne bereits, Indikationen anhand ihrer Abrechnungsfähigkeit zu stellen. Zwingend erforderlich sei, die Rahmenbedingungen wieder in Einklang mit den Wert- und Lebensvorstellungen der Mediziner zu bringen.

Weiterführender Link:

Whitepaper „Die Grundsätze der medizinischen Versorgung von morgen aus Sicht der jungen Ärztinnen und Ärzte“
https://www.hartmannbund.de/wp-content/uploads/2023/10/2023-10-04_Whitepaper.pdf

 

Leitlinien im Praxistest

Bei der Implementierung gibt es noch Luft nach oben

Berlin (pag) – Leitlinien sollen die medizinische Versorgung verbessern und gelten als wichtiges Instrument, um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu verhindern. Doch werden sie diesem Anspruch gerecht? Der AOK-Bundesverband und das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) ziehen aufgrund einer Versorgungsanalyse eine gemischte Bilanz.

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Dass es bei der Implementierung von Leitlinien im Versorgungsalltag noch Luft nach oben gibt, zeigt der auf einer Pressekonferenz vorgestellte Versorgungs-Report des WIdO anhand von mehreren Beispielen.

Beispiel Herzinfarkt: Den AOK-Routinedaten zufolge erhalten Patientinnen und Patienten nach einem Herzinfarkt meist die in den Leitlinien vorgesehenen Medikamente wie Statine oder Blutverdünner. Die Daten offenbaren aber deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. „Frauen sind schlechter versorgt als Männer. Sie erhalten deutlich seltener die angezeigten invasiven Therapieverfahren“, sagt Christian Günster, der beim WIdO die Qualitäts- und Versorgungsforschung leitet. Bei älteren Frauen ab 80 Jahren liege die Behandlungsrate fast zehn Prozent niedriger als bei Männern des gleichen Alters.

Beispiel Restless-Legs-Syndrom: In der aktuellen Leitlinie wird die Behandlung mit dem Medikament Levodopa aufgrund von hohen Risiken nicht mehr empfohlen. Die WIdO-Analyse zeigt, dass etwa ein Viertel der diagnostizierten Patientinnen und Patienten dennoch eine Dauertherapie mit diesem Mittel erhalten. „30 Prozent aus dieser Gruppe wurden sogar länger als zwei Jahre damit therapiert“, kritisiert Günster. Möglicherweise betrieben viele Betroffene zudem „Ärztehopping“, um an das Präparat zu gelangen. „Hier gibt es noch viel zu tun, um eine leitliniengerechte Arzneimittel-Therapie zu erreichen“, betont der Versorgungsforscher.
 

© stock.adobe.com, Jess rodriguez
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Beispiel Kontroll-Koronarangiographien nach Erweiterungen der Herzkranzgefäße mit einem Ballonkatheter (PCI): Hierzu gebe es seit 2016 eine Negativ-Empfehlung. Der routinemäßige diagnostische Herzkatheter wird nicht mehr empfohlen, wenn nicht zu erwarten ist, dass daraus eine therapeutische Konsequenz folgt. Hier erkennt Günster ein Umsteuern. Seit Veröffentlichung der neuen Empfehlungen sei es zu einem deutlichen Rückgang bei den Kontroll-Koronarangiographien gekommen.

Der WIdO-Experte spricht von einer „sehr gemischten“ Bilanz zur Leitlinien-Umsetzung in der Praxis. Auf dem Podium diskutieren die Expertinnen und Experten daher verschiedene Ansätze für eine raschere Implementierung. Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband, nennt insbesondere eine „gut aufgeräumte Krankenhauslandschaft mit klar verteilten Aufgaben“. Eine Erfolgsgeschichte seien die zertifizierten Krebszentren. Im ambulanten Setting sieht der AOK-Vertreter vor allem die mangelnde Transparenz zur Behandlungsqualität als Schwierigkeit.

 

„Da hinken wir hinterher“

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, vom Bundestag im November 2019 verabschiedet, hat der Gesetzgeber der Leitlinienerstellung bereits einen deutlichen Booster verpasst: Die Erstellung oder Aktualisierung kompletter Leitlinien kann über Mittel des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert werden. Außerdem kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mit Evidenzrecherchen beauftragt werden. Dr. Monika Nothacker weiß diese Unterstützung zu schätzen. Die stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) beschreibt in der Pressekonferenz die Anforderungen, welche bei der Leitlinienerstellung zu beachten sind. Dazu zählen die repräsentative Beteiligung, auch von Betroffenen-Organisationen, die formale Evidenzbasierung sowie die strukturierte Konsensfindung. Das sei viel Arbeit, was auch für die Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen gelte – „da hinken wir immer hinterher“, räumt Nothacker ein.
Fortschritte erkennt sie dagegen bei der Verbreitung von Leitlinien. Fachgesellschaften publizierten mittlerweile Kurz- und Langversionen sowie Patientenfassungen. Außerdem werden Leitlinien inzwischen auf großen Kongressen vorgestellt und in Qualitätsmanagementsysteme integriert. „Wir sind außerdem sehr dahinter her, dass die Leitlinien auch digital an den Point of Care kommen“, meint Nothacker. Allerdings gebe es dafür viele Hürden. Bereits 2021 hat die AWMF eine nationale Strategie gefordert, um evidenzbasiertes Wissen in digitale Gesundheitsanwendungen, Patienteninformationen oder Arztinformationssysteme zu integrieren.

V.l.: Dr. Kai Behrens (AOK-Pressesprecher), Dr. Gerhard Schillinger, Dr. Monika Nothacker, Christian Günster und Prof. Jürgen Wolf (Nationales Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs) bei der Vorstellung des Versorgungsreports © pag, Fiolka
V.l.: Dr. Kai Behrens (AOK-Pressesprecher), Dr. Gerhard Schillinger, Dr. Monika Nothacker, Christian Günster und Prof. Jürgen Wolf (Nationales Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs) bei der Vorstellung des Versorgungsreports © pag, Fiolka

Lebende Leitlinien als Ziel

Mehr zu Weiterentwicklungsmöglichkeiten von Leitlinien ist in dem Versorgungsreport „Leitlinien – Evidenz für die Praxis“ nachzulesen. Nothacker, Prof. Jörg Meerpohl, Prof. Holger Schünemann und Prof. Ina B. Kopp gehen in einem gemeinsamen Aufsatz unter anderem auf „Living Guidelines“ ein. Ziel sei es, diejenigen Empfehlungen zu identifizieren, die eine häufige Aktualisierung benötigen – zum Beispiel alle zwei bis vier Monate – und dafür Evidenzrecherchen in kurzen Abständen durchzuführen. Bislang wurden die meisten „Living Guidelines“ im Kontext der Corona-Pandemie erstellt. Dabei spielte die strukturierte Zusammenarbeit zwischen universitären Teams und Leitliniengruppen eine wichtige Rolle, schreiben sie. „Die erfolgreiche Zusammenarbeit kann als mögliche Blaupause für künftige Entwicklungen evidenzbasierter Leitlinien gesehen werden.“
Eine noch weitergehende Vision sind digitale Leitlinienformate, die eine Einpassung in ein digitales „Evidenz-Ökosystem“ mit direkter Anbindung an die Nutzenden ermöglichen. Dessen Kern, so beschreiben es die Experten, sei ein strukturiertes Datenformat für alle Produkte, das einen ungehinderten Austausch von Versorgungs- und Studiendaten erlaubt – „bis hin zur ‚Übersetzung‘ in allgemeinverständliche Formate“. Als Voraussetzung dafür nennen die Wissenschaftler gemeinsame Plattformen, Schnittstellen sowie einen Willen und eine Kultur des Teilens. Bis dahin dürfte es noch ein weiter Weg sein.

© stock.adobe.com, vegefox.de
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DEAL und die dynamische Evidenzaktualisierung
Mit der Aktualisierung von Leitlinien beschäftigt sich das Projekt DEAL des Innovationsfonds. Die Abkürzung steht für „Dynamische Evidenzaktualisierung für Aktuelle Leitlinienempfehlungen“. Das Projekt untersucht und bewertet die Machbarkeit eines digital unterstützten „Living Recommendations“-Prozesses. Der DEAL-Prozess beinhaltet die systematische Identifizierung, Bewertung und Aufbereitung neuer Evidenz zu ausgewählten Leitlinien- und Impfempfehlungen mit hohem Aktualisierungsbedarf („HAP-Empfehlungen“) in kurzen Intervallen mit anschließender Entscheidungsfindung zu möglichen Empfehlungsänderungen. In einem zweiten Projektteil wird eine Kriterienliste für die Identifizierung von Leitlinienempfehlungen mit hoher Aktualisierungspriorität entwickelt. Das Projekt wird für 21 Monate mit insgesamt circa 629.000 Euro gefördert.

Weiterführender Link:

Christian Günster, Jürgen Klauber, David Klemperer, Monika Nothacker, Bernt-Peter Robra, Caroline Schmuker (Hrsg.), WIdO, Versorgungs-Report Leitlinien – Evidenz für die Praxis, PDF, 311 Seiten
https://mwv-open.de/site/books/10.32745/9783954668007/download/9414/

Herzgesellschaften wollen RCT-Hürden abbauen

Düsseldorf (pag) – Eine internationale Initiative fordert neue Richtlinien für klinische Studien. Auch mehrere kardiologische Fachgesellschaften aus Deutschland stehen hinter dem Vorhaben.

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Die Good Clinical Trials Collaborative (GCTC), eine gemeinnützige Organisation, verlangt die Richtlinien für randomisierte kontrollierte klinische Studien (RCT) zu überarbeiten. Im Mittelpunkt stehen ein Abbau von Bürokratie und finanzieller Hürden sowie die Öffnung für nationale elektronische Gesundheitsdaten, die unter pragmatischem Einsatz von Datenschutz für die Auswahl von Probanden nutzbar sein sollen.

Diesen Vorstoß begrüßen Fachgesellschaften und Patientenvertretung der deutschen Herzmedizin. Ähnliche Forderungen haben sie bereits in einem 2020 veröffentlichtem Positionspapier zur Nationalen Herz-Kreislauf-Strategie formuliert. Darin geht es um eine bessere finanzielle Ausstattung der kardiovaskulären Forschung, neue Forschungsprogramme für individualisierte Herz-Medizin, ein konzentriertes Programm zu KI-basierter kardiovaskulärer Forschung sowie politische und finanzielle Unterstützung beim Einrichten von Registern und für industrieunabhängige klinische Studien.

Klinische Forschung ins 21. Jahrhundert überführen

„Der Vorstoß der GCTC geht daher genau in die richtige Richtung“, sagt Prof. Stephan Baldus. Klinische Studien sollten in naher Zukunft smarter – das heißt kostengünstiger, effektiver und mit weniger Abbruchsrisiko – durchgeführt werden. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie begrüßt den Vorschlag, neben RCTs auch Daten aus den elektronischen Patientenakten dafür zu nutzen. Es werde Zeit, die klinische Forschung generell „ins 21. Jahrhundert zu überführen“.

Den kardiologischen Fachgesellschaften zufolge wurden die Rahmenbedingungen für RCTs in den letzten Jahren stark verkompliziert, sodass eine Durchführung wichtiger Studien mittlerweile oft zu komplex, zu kostspielig und zu langwierig geworden sei. „Statt neue, sichere Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Arzneimitteln und Verfahren zu ermöglichen, stehen die Richtlinien der Erforschung dieser mittlerweile im Weg“, heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung. Die Folge sei, dass RCTs oft abgebrochen oder gar nicht erst durchgeführt werden, was zu Lasten der Patientinnen und Patienten gehe und oft knappe Forschungsressourcen verschwende. Die GCTC fordert Lehren der COVID-Forschung auf RCTs in sämtlichen Bereichen zu übertragen. Flankierend sind dafür eine schnellere Digitalisierung und sichere, Cloud-basierte Technologien für die elektronische Patientenakte wichtig.

Auch für eine verbesserte Versorgung von herzkranken Kindern hierzulande seien diese Schritte unumgänglich. „Seit der letzten Novelle des Arzneimittelgesetzes sind die bürokratischen Hürden so groß geworden, dass ein einzelnes Zentrum ohne einen gut geölten Apparat für Studienlogistik im Hintergrund keine wissenschaftsinitiierten Studien mehr durchführen kann“, berichtet Prof. Matthias Gorenflo, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler. Über solche Strukturen verfügten nur wenige Zentren, sodass sei diese Art der klinischen Forschung im Grunde zum Erliegen gekommen sei. Auch deshalb mahnen die Kardiologen eine kostengünstigere, pragmatische klinische Forschung an, die sich Real-World-Daten zunutze macht, und die Erkenntnisse aus RCTs validiert und komplementiert.

Endoprothesenregister: Chance nicht vertun

Berlin (pag) – Über zwei Millionen Datensätze von gelenkersetzenden Operationen sind seit seiner Gründung vor zehn Jahren an das Endoprothesenregister Deutschland (EPRD) übermittelt worden. Ziel ist es, die Versorgungsqualität und -forschung nachhaltig zu verbessern. Damit dient das EPRD auch als Blaupause für das kommende Implantateregister – zumindest könnte es das.

„Das EPRD ist eine gemeinsame Erfolgsgeschichte von Medizin, Herstellern und Krankenkassen zum Wohle der Patienten“, sagt Marc Michel, Vorstand beim Bundesverband Medizintechnologie, der neben dem AOK-Bundesverband, dem Verband der Ersatzkassen (vdek) sowie über 750 Kliniken an der Registerarbeit beteiligt ist. Endoprothetische Eingriffe an Knie und Hüfte zählen zu den häufigsten Operationen in Deutschland: 400.000 Menschen erhalten jährlich ein neues Gelenk. Das Register erhält, analysiert und bewertet Daten, mit denen die Qualität des Versorgungsprozesses und der Implantate beurteilt und ein hoher Patientenschutz sichergestellt werden soll. Initiiert wurde das Register von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC).

Am 1. Januar 2025 soll zusätzlich ein von der Bundesregierung geplantes Implantateregister mit eigener Behörde in den Regelbetrieb starten. Dieses sieht eine gesetzliche Verpflichtung für Kliniken vor, ihre Daten an das Register zu übermitteln. Für Prof. Bernd Kladny, DGOOC-Generalsekretär, ist es unverständlich, dass auf die Erfahrungen sowie auf den Datenschatz des EPRD dabei nicht zurückgegriffen werden soll. Ulrike Elsner, Vorsitzende des vdek, befürchtet einen Rückschritt: Das EPRD verfüge über mehr Informationen als das zukünftige Implantateregister. Das neue Register müsse also mindestens äquivalente Daten erheben, um Vergleichsmöglichkeiten für die Hersteller zu schaffen. Diese betonen außerdem die Notwendigkeit, übermäßige Bürokratie und doppelte Datenerfassung zu vermeiden. „Das EPRD hat sich nun über zehn Jahre bewährt. Die Politik sollte diese international anerkannte und oft als Benchmark bezeichnete Institution nutzen“, verlangt Michel.

Waren viele OPs überhaupt nötig?

Unterdessen kritisiert die DAK Gesundheit, dass häufig Knieoperation stattfinden, ohne dass zuvor alle fachärztlichen oder physiotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden. Bis zu elf Prozent der Operationen bei Kniearthrose könnten durch eine bessere Versorgung vermieden werden und ein Knieersatz um sieben Jahre verzögert werden. Zu diesem Ergebnis kommt der Versorgungsreport der Kassen. Demnach ist fast jeder Vierte mindestens einmal im Leben von Kniearthrose betroffen. Im Laufe der Erkrankung scheitert bei jedem Fünften der Gelenkerhalt, sodass ein künstliches Kniegelenk eingesetzt werden muss. „Unser Report wirft die Frage auf, ob viele angesetzte Knie-Operationen überhaupt notwendig waren“, sagt DAK-Chef Andreas Storm. Risikofaktoren müssten durch Prävention verringert und konservative Therapiemöglichkeiten besser ausgeschöpft werden.

Auf einer Pressekonferenz mit diesen Ergebnissen konfrontiert sagt PD Stephan Kirschner, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik: Die DAK liege „nicht ganz falsch“. Bei der medikamentösen Therapie und bei der Krankengymnastik gebe es „einen gewissen Nachholbedarf“ und „in Einzelfällen Unterversorgung“. Er sieht aber auch die Patienten in der Verantwortung. Diese müssten aktiv nach Physiotherapie fragen.

 

„Das EPRD hat sich über zehn Jahre bewährt“, sagt Marc D. Michel vom BVMed (links). „Unverständlich“ sei, dass die Politik nicht auf die Erfahrungen und den Datenschatz des Registers zurückgreifen will, kritisiert Bernd Kladny von der DGOOC © pag, Fiolka

 

Weiterführender Link:

Versorgungsreport der DAK:
 Knieschmerzen/Gonarthrose – Wie eine bessere Versorgung Gelenkersatz vermeiden kann
www.dak.de/dak/download/report-2592292.pdf