Prof. Woopen und Prof. Katzenmeier über widersprüchliche Standards
Berlin (pag) – Konflikte, die sich aus divergierenden medizinischen Standards ergeben, müssen angegangen werden. Dafür plädieren Prof. Christiane Woopen und Prof. Christian Katzenmeier. Für die Medizinethikerin und den Juristen ist das eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, über die man sich endlich verständigen sollte – doch die Politik scheut das Thema. Die Leidtragenden sind Ärzte und Patienten.
Mediziner, Ökonomen, Ethiker, Haftungs- und Sozialrechtler beurteilen den medizinischen Standard zum Teil recht unterschiedlich. Was bedeutet das für den behandelnden Arzt?
Woopen: Er ist den verschiedenen Ansprüchen ausgesetzt. Er will seinem ärztlichen Ethos gerecht werden und für den Patienten das Beste tun. Dieser kommt mit bestimmten Wünschen und Erwartungen auf ihn zu, die es zu berücksichtigen gilt. Der Arzt unterliegt gleichzeitig den Rahmenbedingungen, die ihm das Sozialrecht vorgibt. Außerdem hat er eigene wirtschaftliche Interessen oder Notwendigkeiten. Im Gesundheitssystem trägt der Arzt bei Fragen der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit eine Verantwortung. Nicht zuletzt muss er darauf achten, dass er haftungsrechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen wird.
Katzenmeier: Diesen zum Teil divergierenden Anforderungen kann ein Arzt kaum noch gerecht werden. Er gerät zunehmend in Bedrängnis und ist moralisch überfordert.
Das dürfte auch Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis haben?
Woopen: Der Umstand, dass sich der Arzt nicht ausschließlich auf medizinische und psychosoziale Faktoren konzentriert, sondern auch wirtschaftliche Erwägungen berücksichtigen muss, kann das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis untergraben. Der Patient fragt sich, ob ihm wirklich die für ihn beste Therapie angeboten wird. Und der Arzt dürfte ihm auch nicht vorenthalten, wenn es eine Behandlung gibt, die ihm möglicherweise nutzen könnte, die aber von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen wird. Informiert er den Patienten nicht darüber, nimmt er ihm eine Entscheidungsmöglichkeit, nämlich die Therapie aus eigener Tasche zu bezahlen, falls er dafür die Mittel hat.
Wie kann man das heilen?
Katzenmeier: Man könnte versuchen, das Problem durch die Statuierung zusätzlicher Aufklärungs- und Informationspflichten zu lösen. Damit stellt man Transparenz her, der Patient weiß, welche Leistungen nicht in der GKV abgerechnet, aber von ihm möglicherweise privat finanziert werden können. Die Lösung ist freilich nicht unproblematisch. Langfristig kann dadurch eine Zwei-Klassen-Medizin befördert werden. Und sie birgt die Gefahr, dass die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient sich weiter wandelt in eine reine Geschäftsbeziehung.
Von noch mehr Aufklärungspflichten dürften Ärzte nicht begeistert sein. Haben Sie weitere Lösungsansätze diskutiert?
Katzenmeier: Ein Patentrezept haben wir nicht gefunden, haben das aber auch nicht erwartet. Wir möchten die Diskussion entfachen, das Bewusstsein für die Problematik stärken und verschiedene Ansätze aufzeigen. An sich müssten die Politik und die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen um eine Lösung bemüht sein. Stattdessen wird bis heute schlicht immer wieder behauptet, eine Rationierung finde nicht statt. Das ist falsch, natürlich wird im Gesundheitswesen rationiert.
Das dürfte der Gesundheitsminister aber vehement bestreiten.
Katzenmeier: Nicht nur der aktuelle. Alle Gesundheitsminister, egal welcher Partei sie angehören, scheuen das Thema wie der Teufel das Weihwasser. Verständlicherweise, denn das Eingeständnis, dass die Mittel begrenzt sind und man eben nicht jedem in jeder Situation alles angedeihen lassen kann, ist potenziell wahlentscheidend.
Momentan ist der Druck angesichts voller Kassen wahrscheinlich nicht übermäßig groß.
Katzenmeier: Richtig, aber sobald die nächste Krise kommt, wird sich dieses Problem verschärfen. Dann sind Konzepte für den Umgang mit der Knappheit unausweichlich.
Woopen: Die Politik prozeduralisiert die Probleme, beispielweise mit der frühen Nutzenbewertung und den Preisverhandlungen zu neuen Arzneimitteln. Auf dieser Ebene wird versucht, Kostenströme zu kontrollieren. Aber es bleibt in gewisser Weise intransparent für die Öffentlichkeit. Und Intransparenz fördert Vertrauensverlust, wobei das Vertrauen in das hiesige Gesundheitswesen noch recht gut ist. Man meckert sicherlich auf hohem Niveau, wenn man hier von Missständen spricht. Dennoch gibt es Bereiche, wo strukturell Fragen von Verteilungsgerechtigkeit verletzt werden, was implizit eine Rationierung bedeutet. Die Menschen bekommen nicht das, was ihnen eigentlich zustünde.
Können Sie Beispiele nennen?
Woopen: Betrachtet man einzelne Patientengruppen, so stellt man fest, dass etwa Kinder und Jugendliche nicht ausreichend gut behandelt werden. Auch alte, multimorbide Menschen werden im Krankenhaus nicht angemessen versorgt, weil man dort der Komplexität ihrer Lage nicht gerecht wird. In aller Regel werden Menschen mit Demenz in einem Akut-Krankenhaus nicht ihrem Bedarf gemäß versorgt, ebenso Menschen mit Behinderungen.
Ärzte beklagen zunehmend eine Ökonomisierung, eine Vorrangstellung ökonomischer Kriterien vor medizinischen bei der Behandlung. Zu Recht?
Woopen: Mir wurde von angehenden Medizinern berichtet, dass ihnen bereits im Studium von an sich geeigneten Therapien abgeraten worden sei, wenn sich diese nicht gut abrechnen lassen. Für diese Steuerung – dass wirtschaftliche Kriterien den Ausschlag geben – wird bereits im Studium ein Bewusstsein gebildet. An den wirtschaftlichen Kriterien selbst wird nicht ausreichend gearbeitet, obgleich die sprechende Medizin zumindest in der ärztlichen Gebührenordnung wohl künftig stärker berücksichtigt werden soll. Jedes Vergütungssystem bringt irgendeinen Anreiz mit sich. Es liegt abgesehen von Machtstrukturen letztlich an der Haltung derjenigen, die es umsetzen, dies auf eine Art und Weise zu tun, die dem Patientenwohl nicht abträglich ist.
Wie sieht es mit den rechtlichen Konsequenzen aus: Ist es realistisch, dass ökonomische Erfordernisse, denen Ärzte im Sozialrecht, sprich in der GKV, unterliegen, bei der haftungsrechtlichen Rechtsprechung berücksichtigt werden?
Katzenmeier: Wir haben die Rechtsprechung der Zivilgerichte über Jahrzehnte analysiert und vereinzelte Fälle festgestellt, in denen sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitspostulate bei der Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt vage angedeutet wurden. Letzten Endes aber spielen sie in der Haftungsrechtsprechung keine Rolle. Grund für die Divergenz ist die Zweigleisigkeit der Gerichtsbarkeit: auf der einen Seite die Zivilgerichte, auf der anderen die Sozialgerichte. Zwischen den obersten Instanzen, dem Bundesgerichtshof und dem Bundessozialgericht, fand bisher so gut wie keine Kommunikation statt. Allerdings haben wir inzwischen einen hoffnungsvollen Anfang beobachtet.
Inwiefern?
Katzenmeier: Vor ein paar Jahren fand in der deutschen Richterakademie ein Treffen statt, bei dem Mitglieder der beiden Bundesgerichte sich über dieses Thema austauschten. Diesen Ansatz gilt es fortzusetzen. Auch wenn die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, das ist der zuständige Arzthaftungs-Senat, sozialrechtliche Maßgaben bis heute nicht explizit berücksichtigt, so scheinen die Senatsmitglieder doch sensibilisiert zu sein.
Woran machen Sie das fest?
Katzenmeier: Es hat keine weitere Verschärfung der Arzthaftung stattgefunden, wie das über Jahrzehnte zu beobachten war. Die Richter haben in jüngerer Zeit, wohl auch mit Rücksicht darauf, dass der Bogen nicht überspannt werden darf, etwas Einhalt geboten.
Gibt es denn viele Fälle von Ärzten, die verurteilt wurden, weil sie aus GKV-Rücksichtnahme weniger gemacht haben, als sie hätten machen sollen?
Katzenmeier: Die Zahl der Fälle, in denen das vor Gericht hart ausgetragen wurde, ist noch sehr gering. Doch werden Streitigkeiten zunehmen, wenn die öffentlichen Kassen nicht mehr so gefüllt sind.
Woopen: Man könnte dann etwa darüber nachdenken, dass die Gutachter ausdrücklich die ökonomischen Einflüsse, die sich zum Teil sehr subtil in üblichen Behandlungen und in institutionellen Rahmenbedingungen etwa innerhalb eines Krankenhauses niederschlagen, mit diskutieren. Wenn sie das reflektierten, wäre zumindest ein Schritt in Richtung Bewusstseinsbildung und Transparenz getan.
Sie sehen skeptisch aus, Herr Katzenmeier.
Katzenmeier: Ich wäre vorsichtig. Wenn medizinische Sachverständige ökonomische Gesichtspunkte in den Haftungsprozess hineintragen, kann das auf der Richterbank eine Gegenreaktion provozieren. Deswegen würde ich eher bei der Formulierung der Leitlinien ansetzen und überlegen, ob und wie dort Kostenaspekte mitberücksichtigt werden können. Leitlinien nehmen die Richter zur Hand, um das Sachverständigengutachten abzuklopfen.
Woopen: Kostenbezogene Leitlinien finde ich im Einzelfall schwer umzusetzen. Zum Beispiel verändern sich die Preise von Arzneimitteln. Aus Kliniken hört man zudem, dass bei derselben Erkrankung ältere Menschen andere Medikamente bekommen als jüngere. Die Begründung: Bei einem 80-Jährigen sei es nicht so dramatisch, wenn er – vielleicht für eine weniger aggressive Therapie – weniger Lebensjahre dazugewinnt als bei einem 40-Jährigen. Das kann man auch anders sehen. Fakt ist, dass es sich um eine eingeführte Praxis handelt, die sich aber schwerlich in Leitlinien wiederfindet.
In Ihrer Gruppe haben Sie auch darüber diskutiert, ob man die aufwändig generierten, sozialrechtlichen Standards der Haftungsrechtsprechung zur Adaption empfiehlt.
Katzenmeier: Das stimmt. Allerdings sehen wir auch insoweit Schwierigkeiten, nicht zuletzt, was die demokratische Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses anbelangt, der die sozialrechtlichen Standards erarbeitet.
Würde das Haftungsrecht stärker für ökonomische Gegebenheiten geöffnet, könnte es weiterhin seiner Schutzfunktion zugunsten der Betroffenen gerecht werden?
Katzenmeier: Es geht nicht darum, den Patientenschutz oder die Patientenrechte zu verkürzen. Es geht im Gegenteil um die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass möglichst viele kranke Menschen mit den verfügbaren Ressourcen möglichst gut versorgt werden. Das ist eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Darüber müssen wir uns verständigen.
Wo findet diese Verständigung in Zukunft statt?
Woopen: Mit einem Gesetz lässt sich das schlecht lösen. Das Thema wird an verschiedenen Orten verhandelt werden, weil auf der institutionellen Ebene keine Brücke zwischen den unterschiedlichen Anforderungen existiert. Die Auseinandersetzung kann in einer Klinik stattfinden oder in einer Praxisgemeinschaft, im Gemeinsamen Bundesausschuss und im Ministerium. Oder auch in den Gerichten. Unser Anliegen ist zunächst, dass nicht länger weggeguckt und das Verständnis für die Konflikte gestärkt wird._
ZUR PERSON: DIE ETHIKERIN UND DER JURIST
Prof. Christiane Woopen: Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates ist an der Universität zu Köln Direktorin von ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health). Sie war Mitglied im „International Bioethics Committee“ der UNESCO und ist Vorsitzende des Europäischen Ethikrates (EGE). Woopen studierte Humanmedizin und Philosophie.
Prof. Christian Katzenmeier ist Direktor des Instituts für Medizinrecht der Universität zu Köln. Er veranstaltet seit 2008 die „Kölner Medizinrechtstage” und gibt die „Kölner Schriften zum Medizinrecht“ heraus. Außerdem ist er Schriftleiter der Zeitschrift „Medizinrecht“ und Mitherausgeber des „Heidelberger Kommentar Arztrecht-Krankenhausrecht-Medizinrecht“. Woopen und Katzenmeier leiten die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte interdisziplinäre Forschergruppe zu Medizin und Standard.
Mehr Informationen unter: www.ceres.uni-koeln.de/forschung/expertengruppen/medizin-und-standard/