In der Corona-Krise gelten die Arztpraxen als erster Schutzwall. Die Frage ist: Wie lange hält er? Denn die Niedergelassenen sind mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert – speziell die Hausärztinnen und Hausärzte. Ihnen fehlt es an Schutzausrüstung. Das geht so weit, dass einige Praxen vorübergehend schließen müssen oder ihre Versorgung zurückfahren, weil die Sicherheit – das heißt der Schutz vor dem Virus – für Ärztinnen und Ärzte, Angestellte und Patientinnen und Patienten nicht mehr gewährleistet ist. Diese Praxen fehlen dann wiederum in der (Regel-)Versorgung, sodass andere stärker belastet werden. Es gleicht einem Teufelskreis. Hinzu kommt: Der Normalbetrieb muss am Leben gehalten werden – es gilt, auch Menschen ohne Covid-19-Symptome zu versorgen. In der jetzigen Situation fühlen sich nicht wenige Niedergelassene überrollt, vermissen Kollegialität, während andere gerade in dieser Zeit Solidarität wahrnehmen. Wir haben zwei Hausärztinnen mit unterschiedlichen Erfahrungen in der Corona-Krise befragt: Dr. Petra Reis-Berkowicz aus Bayern und Dr. Karin Harre aus Brandenburg.
Nachgefragt bei Dr. Michael de Ridder, Rettungsmediziner
Berlin (pag) – Sind Ärzte auf Triage-Entscheidungen vorbereitet, wollen wir von Dr. Michael de Ridder wissen, der viele Jahre eine Rettungsstelle in Berlin-Kreuzberg geleitet hat. Er stellt klar: Jede Behandlungsentscheidung hat sich am Bedarf des einzelnen Patienten zu orientieren. Dass in Italien der 70-jährige beatmungspflichtige Corona-Patient wegen seiner geringeren Lebenserwartung gegenüber dem 30-jährigen per se den Kürzeren zieht, ist für ihn unethisch und nicht vertretbar.
Sind Ärzte auf Triage-Entscheidungen vorbereitet?
Dr. Michael de Ridder:Triage-Entscheidungen zu treffen erfordert erfahrene Fachärzte, das heißt Internisten und Chirurgen mit breiter rettungsmedizinischer und intensivmedizinischer Ausbildung und Praxis; auch Pflegekräfte sind unbedingt hinzuzuziehen – nur so können rasch medizinisch und ethisch vertretbare Behandlungsentscheidungen getroffen werden. Transparenz gegenüber Patienten, Angehörigen und eventuell juristischen Vertretern ist zudem unabdingbar. Wir dürfen davon ausgehen, dass an deutschen Krankenhäusern kompetente Notfallmediziner in ausreichender Zahl vorhanden sind.
Wie bewerten Sie die aktuellen klinisch-ethischen Empfehlungen diverser deutscher intensiv- und notfallmedizinischer Fachgesellschaften zur Zuteilung von Ressourcen?
de Ridder:Denen schließe ich mich weitestgehend an. Grundsätzlich gilt: Jede Behandlungsentscheidung hat sich am Bedarf des einzelnen Patienten zu orientieren, das heißt, ihr ist eine medizinische und individualethische Beurteilung des Krankheitszustandes des Patienten zugrunde zu legen. Mit anderen Worten: Zwei Menschenleben sind nicht wertvoller als ein einzelnes, und das Leben eines 20-Jährigen ist nicht wertvoller als das eines 60-Jährigen.
Dieses Prinzip wird in Italien offenbar nicht verfolgt.
de Ridder:Die italienischen Fachgesellschaften haben Empfehlungen herausgegeben, die bei Nichtvorhandensein ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen als Kriterium nicht die individuelle medizinische Behandlungsbedürftigkeit zugrunde legen, sondern das Kriterium der Maximierung der Jahre geretteten Lebens. Das bedeutet: Der 70-jährige beatmungspflichtige Corona-Patient zieht wegen seiner geringeren Lebenserwartung gegenüber dem 30-jährigen per se den Kürzeren! Dieses Vorgehen halte ich für unethisch und damit nicht vertretbar.
Sie haben in der Vergangenheit nicht mit Kritik am Medizinbetrieb gespart. Wird dieser dem Stresstest durch Corona standhalten?
de Ridder:Auch wenn unser Gesundheitssystem – gemessen an den Kriterien Leistungsfähigkeit und Verteilungsgerechtigkeit – als das beste der Welt gelten darf, wird es diesen Stresstest nur bestehen können, wenn zugleich die unserer Gesellschaft jetzt empfohlenen und verordneten Präventionsmaßnahmen strikt befolgt werden. Die so oft zitierten Begriffe „Solidargesellschaft“ und „Solidarisches Gesundheitssystem“, die im internationalen Vergleich so oft zur Charakterisierung unserer Gesellschaft herangezogen werden, müssen sich nun beweisen, sollen sie nicht zu einer Worthülse verkommen.
Wie sieht es mit den materiellen Ressourcen aus?
de Ridder:Wir verfügen aktuell über 28.000 Intensivbetten und 25.000 Beatmungsplätze und sind damit bestens aufgestellt. Das Nadelöhr bei der derzeitigen intensivmedizinischen Versorgung stellen indes die 4.800 fehlenden Intensivschwestern und -pfleger dar! Wichtig ist dabei: Höchste Priorität bei allen dem Infektionsschutz geltenden Maßnahmen muss den Pflegekräften sowie den Ärzten und Ärztinnen gelten, denn sie sind unsere derzeit wichtigste Ressource. Ohne ihre Arbeitsfähigkeit wird unsere Krankenversorgung zusammenbrechen.
Sind Sie optimistisch, dass die Verantwortlichen in Politik und System aus dieser Krise die richtigen Lehren ziehen werden?
de Ridder:Optimismus? Zu früh. Hoffnung? Ja. In diesen Corona-Zeiten ist oft von „Systemrelevanz“ die Rede und davon, was oder wer systemrelevant ist. Dass auch Kranken- und Altenpflegekräfte sowie Supermarktkassierer und -kassiererinnen tatsächlich systemrelevant sind, sollte nun allen, insbesondere Politikern, klar geworden sein. Selbiges immer aufs Neue rhetorisch zu benennen, ja, wie kürzlich im Bundestag und auf den Balkonen der Großstädte mit Beifall zu würdigen, ist eine schöne Geste – nicht mehr und nicht weniger. Anerkennung muss von Dauer sein und muss sich auch materiell widerspiegeln: Also hoffe ich kurzfristig auf ein kräftiges Gehalts- bzw. Lohnplus für diese Berufsgruppen. Über die Medizin hinaus birgt Corona für mich eine weitere Aufforderung.
Welche?
de Ridder:Über die Priorisierung persönlicher und gesellschaftliche Werte und Desiderate, Komponenten von dem, was wir Lebenszufriedenheit nennen, neu nachzudenken: zur Besinnung kommen und im Interesse aller nach einer neuen, besseren Ordnung suchen – Triage eben. Eine gewaltige Herausforderung. Corona kann vielleicht zu einem Impulsgeber werden; sie anzunehmen und nach neuen Antworten auf vermeintlich alte Fragen zu suchen wäre schon ein großer Gewinn, und die Corona-Erfahrung wäre, wenn das Virus irgendwann seine Macht verloren haben sollte, nicht folgenlos verpufft.
Ersteinschätzung, Triage und das Manchester-Triage-System
Strukturierte Triage-Instrumente werden außer im Katastrophenfall auch in der regulären Medizin in Notaufnahmen eingesetzt, hier auch als Ersteinschätzung bezeichnet. Obwohl die Ersteinschätzung eigentlich als Spezialfall der Triage angesehen werden könnte, unterscheidet sie sich von ihr in einem wesentlichen Punkt: Im außerklinischen Bereich gilt es, die lokal oder temporal limitiert verfügbaren Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, d. h. das Ziel möglichst vieler Überlebender zu erreichen. Im klinischen Bereich ist die Grundannahme aber, dass ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, um alle Patienten optimal zu behandeln. Dadurch gibt es keinen Konflikt zwischen individuellem und Gesamtnutzen. In deutschsprachigen Notaufnahmen hat sich das Manchester-Triage-System durchgesetzt, das symptombasierte, schnelle, verlässliche und reproduzierbare Entscheidungen nach einem Punktesystem ermöglicht. Durch die strukturierte Vorgehensweise ist zu erwarten, dass schwer erkrankte Notfallpatienten zeitnah erkannt werden und umgehend die notwendige Diagnostik und Therapie erhalten.
Zur Person
Dr. Michael de Ridder war viele Jahre im ärztlichen Beruf tätig. Zuletzt arbeitete er als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses und als Geschäftsführer des von ihm mitbegründeten Vivantes Hospiz. Als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin befasst er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin, ein von ihm veröffentlichtes Buch trägt den Titel „Welche Medizin wollen wir?“
Warum die alten Strukturen jungen Medizinern nicht mehr passen
Berlin (pag) – Die Babyboomer haben das Gesundheitswesen geprägt. Doch die jungen Ärzte, die jetzt nachrücken, stellen vieles infrage – ihre Arbeitsbedingungen, ihre Ausbildung, aber auch Versorgungskonzepte. Wie stark sind die Beharrungskräfte, was muss sich ändern?
Ein Generationswechsel steht an: Die Babyboomer werden in dieser Dekade die letzte Phase ihres Berufslebens antreten, um sich danach in den Ruhestand zu verabschieden. Begonnen hat dieser Prozess bereits in den vergangenen Jahren, er wird jetzt aber deutlich an Dynamik gewinnen. Ende 2018 sind 68 Prozent der in Praxen tätigen Ärztinnen und Ärzte mindestens 50 Jahre alt. Knapp jeder Dritte von ihnen (31 Prozent) ist bereits 60 Jahre und älter. Beispiel Rheinland-Pfalz: Dort geht nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bis 2026 die Hälfte der aktuell niedergelassenen Ärzte in den Ruhestand – vorausgesetzt, dass sie im Alter von 68 Jahren ihre Tätigkeit aufgeben. Nicht nur in Rheinland-Pfalz, sondern bundesweit suchen immer mehr Ärzte vergeblich einen Praxisnachfolger. Das gilt insbesondere auf dem Land. Auch Kliniken tun sich immer schwerer damit, offene Stellen wiederzubesetzen. Deshalb spielen die Babyboomer im gegenwärtigen Versorgungssystem eine so wichtige Rolle und gehören noch nicht zum alten Eisen.
Geprägt wurden sie durch ganz andere Erfahrungen als ihre jungen Kollegen der Generation Y. Der Nachwuchs ist gefragt wie nie, während sich Babyboomer als Berufsanfänger in einer ausgeprägten Ärzteschwemme behaupten mussten. „Auf einer halben Stelle voll arbeiten“, beschreibt der niedergelassene Urologe Dr. Götz Geiges im Interview seine damaligen Erfahrungen. Medizinstudent Lukas Hinkelmann weiß noch nicht, ob er sich die vorherrschenden Arbeitsbedingungen im Klinikbetrieb „antun“ möchte. (Das Gespräch mit vier Ärzten – Babyboomer und Generation Y – lesen Sie auf Seite 5)
Vereinbarkeit und Flexibilität
Was der medizinische Nachwuchs von seiner Berufstätigkeit erwartet, hat die KBV im „Berufsmonitoring Medizinstudierende 2018“ ergründen lassen. Der Befragung zufolge stehen ganz oben auf der Wunschliste die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geregelte Arbeitszeiten, die aber Flexibilität ermöglichen, und auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu sein. Für Frauen – ihr Absolventenanteil beträgt im Jahr 2015 rund 67 Prozent – sei insbesondere Teilzeittätigkeit attraktiv. Als Folge dessen konstatiert der Bericht eine Angebotsverknappung: Die Zahl der berufstätigen Frauen habe von 2000 bis 2007 um 17,1 Prozent zugenommen, das Volumen der von ihnen geleisteten Wochenstunden dagegen nur um 9,1 Prozent. Für Babyboomer sind starre Strukturen und ausgeprägte Hierarchien Teil ihrer Sozialisation, die Jungen fühlen sich davon mehrheitlich abgeschreckt. Im Monitoring-Bericht sind folgende Kommentare dazu nachzulesen:
„Besonders die starke hierarchische Trennung zwischen Ärzten und Pflegepersonal in Krankenhäusern ist in meinen Augen nicht zeitgemäß und toxisch für das Arbeitsklima und die Zusammenarbeit.“
„Ich wünsche mir sehr, dass die starre Hierarchie v.a. in den Krankenhäusern nicht weiter unterstützt wird und ein kollegiales Zusammenarbeiten aller Angestellten möglich ist.“
„Das Arbeitsklima in den Kliniken ist die größte Herausforderung. Es wird Zeit, dass die Alphamännchen ihre Chefarztposten räumen und Platz machen für eine Medizin des Miteinanders.“
Grundsätzlich ist es für den medizinischen Nachwuchs eine attraktive Option, angestellt zu arbeiten – sei es im Krankenhaus oder im ambulanten Sektor, dort beispielsweise in einem medizinischen Versorgungszentrum. Die Einbindung in ein medizinisches Team ist vielen wichtig. Sich selbst niederzulassen reizt dagegen immer weniger, als abschreckend werden das Investitionsrisiko und die Bürokratie empfunden. „Wir ambulanten Ärzte sind ein Auslaufmodell“, konstatiert etwa Praxisinhaber Geiges.
Umbau des Systems
Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die bisherige Versorgungsorganisation mit zwei starr voneinander getrennten Sektoren und der Dominanz der Einzelpraxis im niedergelassenen Bereich kein Zukunftsmodell sein wird. Wenig überraschend ist es daher, dass sich immer mehr junge Mediziner organisieren, um das hiesige System nach ihren Vorstellungen umzubauen, zu verbessern. Umtriebig ist etwa die Initiative Hashtag Gesundheit. Auch das Bündnis Junge Ärzte macht von sich reden. Auf dem Ärztetag im vergangenen Jahr stellte Dr. Thomas Maibaum den Antrag, dass in Gremien und Ausschüssen der Bundesärztekammer (mit mehr als fünf Mitgliedern) eine junge Ärztin oder ein junger Arzt kooptiert werden. Die Begründung: „Wie unter anderem in den Diskussionsforen junger Ärztinnen und Ärzte im Vorfeld der Ärztetage ersichtlich wird, sind die Probleme und die Problemlösungsstrategien der jungen Kolleginnen und Kollegen different zu denen der älteren Kollegen.“ Trotzdem seien Ärztinnen und Ärzte unter 50 Jahren kaum in berufspolitischen Gremien vertreten. Allen Unterschieden zum Trotz sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass Ärzte verschiedener Generationen auch vieles eint. Ihre Wünsche und Werte liegen oft gar nicht allzu weit auseinander.* Ein Grundthema, das alle umtreibt, ist die fortschreitende Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung der Versorgung. Um dieser Herausforderung angemessen zu begegnen, ist ein generationsübergreifendes Engagement vonnöten.
* Babyboomer und Generation Y als Beschäftigte: Was eint, was trennt? K. Zok, M. Pigorsch, H. Weirauch. In: Fehlzeitenreport 2014.
Generationen-Guide
Leben, um zu arbeiten: Die Babyboomer, geboren zwischen 1946 und 1964, haben das Wirtschaftswunder erlebt und gehören zum geburtenreichsten Jahrgang. Viele rückten die Arbeit in den Mittelpunkt ihres Lebens, sie prägten den Ausdruck Workaholic.
Arbeiten, um zu leben: Generation X ist die Sandwich-Generation zwischen den jüngeren Ypsilonern und den älteren Babyboomern. Ihre jüngsten Vertreter sind Ende dreißig, Anfang vierzig, die ältesten befinden sich in ihren Fünfzigern. Über sie wird geschrieben, dass das berufliche Vorankommen ihr wichtigstes Ziel bei der Suche nach einem Job sei.
Arbeiten und Leben verbinden ist für die Generation Y – gesprochen Why (engl. warum) wichtig. Die Millennials hinterfragen vieles, streben nach Selbstverwirklichung, arbeiten gern im Team und sind hervorragend vernetzt, heißt es über sie.
„OK Boomer“ sagen die Millennials zu Babyboomern, die ihrer Meinung nach vom modernen Leben nun wirklich keine Ahnung mehr haben.
Berlin (pag) – Babyboomer, die sich gleich zu Beginn ihres Berufslebens in einer Ärzteschwemme behaupten mussten, treffen auf die Generation Y. Von den Ypsilonern heißt es, dass sie vieles infrage stellen, etwa das Arztsein unter den aktuellen Bedingungen des Versorgungsbetriebs. Was verbindet die verschiedenen Arztgenerationen – und was trennt sie? Gerechte Gesundheit hat zum gemeinsamen Gespräch geladen, um genau das herauszufinden.
Aktuell ist Digitalisierung das Top-Thema im Gesundheitswesen. Was waren die spannenden Fragen und kontroversen Themen, als Sie angefangen haben zu praktizieren?
Dollman:Wir mussten uns wahnsinnig nach der Decke strecken, um eine Stelle zu bekommen. Damals gab es einen ganz schwierigen Arbeitsmarkt. Mittlerweile bilde ich viele Mediziner aus und wenn ich denen erzähle, was wir alles anstellen mussten, um einen Job zu bekommen, kommt es mir so vor, als würde ich vom Krieg erzählen.
Dollman:Viel Extra-Arbeit war ganz normal. Ich habe am Moabiter Krankenhaus in der Chirurgie angefangen, dort ging es sehr hierarchisch zu. Der Chefarzt hat beispielsweise verlangt, dass die Assistenten samstags seine Patienten visitieren. Dienstpläne haben keinen interessiert. Wir mussten alle am Wochenende antreten, außerhalb unserer Arbeitszeit. Das hat uns sehr beschäftigt, auch das AiP fanden wir unfair, dagegen haben wir noch gegen Ende meiner Studienzeit demonstriert.
Geiges:Ich war der erste AiP-Jahrgang und gehörte auch zu den Ersten, die ein mündliches Examen machen durften. Mein erstes Gehalt betrug 806 DM netto. Zum Vergleich: Für die Miete musste ich in Wangen im Allgäu 800 DM bezahlen. Ohne Dienste hätte ich mich nicht finanzieren können. Durch diesen Mechanismus wurde man vom System aufgesaugt und instrumentalisiert.
Das hat Ihre Generation stark geprägt?
Dollman:Bis zum heutigen Tag. Allerdings haben wir damals auch etwas Gutes mitbekommen: Wir sammelten unglaublich viel Berufserfahrung in sehr wenigen Jahren. Während der Unizeit haben wir uns auch damit beschäftigt, wie Medizin in anderen Ländern organisiert ist – vor allem in Entwicklungsländern. Barfußmedizin heißt das.
Aulenkamp:Barfußmedizin?
Dollman:Ja, wir haben geguckt, wie Medizin in Afrika organisiert ist, was es dort für Strukturen gibt und wie man sich engagieren kann. Dazu gab es Initiativen und Vorlesungsreihen.
Geiges:Für mich war HIV/Aids das bestimmende Thema. Ich werde nie vergessen, wie uns ein junger Virologe, der gerade aus den USA kam, seine Eindrücke geschildert hat. In den 80er Jahren ist diese aus heutiger Sicht unvorstellbare Panik ausgebrochen.
Aulenkamp:Ich finde es spannend, dass uns diese Themen auch heute noch beschäftigen. Die Barfußmedizin von damals ist jetzt der Public-Health-Austausch. Dazu gibt es bei der Bundesvertretung der Medizinstudierenden einen eigenen Bereich. Und zu HIV/Aids klären viele Medizinstudierende in den Schulen auf – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Was treibt die junge Generation an, mit welcher Motivation gehen Sie in den Arztberuf?
Aulenkamp:Mein damaliger Antrieb war, verstehen zu wollen, wie der Körper funktioniert, und Menschen helfen zu können. Mir ist Engagement und einen Beitrag zu leisten schon immer wichtig gewesen und als Mediziner kann man sehr konkret helfen.
Haben Sie den Eindruck, dass Sie aufgrund der günstigen Arbeitsmarktsituation Ihren Arbeitsplatz heute stärker mitgestalten können?
Aulenkamp:Überhaupt nicht, der Wandel ist so schleppend. Deshalb engagieren sich mittlerweile viele junge Ärztinnen und Ärzte, um etwas verändern zu können. Ich kenne viele, die sich nach ihrem Studium eben nicht in den klinischen Alltag einspannen lassen wollen. Auch das Thema Überstunden ist noch immer aktuell: Bei Freunden von mir ist ein Drittel der Arbeitszeit unbezahlt.
Hinkelmann:Ich habe den Eindruck, dass die günstige Stellensituation der einzige Unterschied zu früher ist.
Ihr Ziel steht bereits fest, Herr Hinkelmann: Später wollen Sie in der Psychiatrie arbeiten.
Hinkelmann:Das stimmt. Allerdings gibt es immer wieder Phasen, in denen ich mich frage, ob ich wirklich in die Klinik gehen und mir die aktuellen Arbeitsbedingungen antun soll. Hoffentlich habe ich nach meinen Famulaturen keine Zweifel mehr, wenn ich in der Praxis erlebt habe, was ich bewirken kann.
Den Klinikbetrieb haben Sie bereits aus der Perspektive des Krankenpflegers erlebt.
Hinkelmann: Die Bedingungen sind sehr ähnlich. Den Beruf des Pflegers würde ich sehr gerne ausüben, aber nicht unter den gegenwärtigen Bedingungen. Ein befreundeter Mitauszubildender meinte während der Ausbildung zu mir, dass selbst wenn 95 Prozent der Arbeitszeit blöd sind, die restlichen fünf Prozent, in denen Zeit ist, sich richtig mit Patienten zu beschäftigen, genug motivieren, weiterzumachen.
Geiges:Diese fünf Prozent, die es wert machen, werden allerdings instrumentalisiert.
Beide Generationen haben das Gefühl, über die Maße beansprucht zu werden. Demoralisiert das System?
Dollman:Es stellt eine Menge Forderungen an uns, darunter leiden wir. Aber früher war es wirklich schlimmer. Wir bemühen uns heutzutage, die Ausbildung sehr ernst zu nehmen. Die jungen Ärzte haben ganz andere Forderungen an uns und die Ausbildung – was ich gut finde, weil das bei uns früher zu kurz kam. Heutzutage werben wir um die Jungen und versuchen, für sie gute Bedingungen zu schaffen.
Aber?
Dollman:Obwohl ich den Beruf immer wieder ergreifen würde, weil es ein toller Job ist, Ärztin zu sein, sind die Bedingungen in der Medizin immer noch schwierig. Wir sind halbe Manager geworden und müssen uns sehr viel mit Ökonomisierung auseinandersetzen. Das ist ein Grundthema geworden.
Aulenkamp:Ökonomie an sich ist nichts Schlechtes, die Frage ist für mich, wo die Kommerzialisierung anfängt.
Dollman:Bei meinen Chefarztbesprechungen geht es um Finanzen, um unser Überleben als Wirtschaftsunternehmen. Das können wir nicht ignorieren. Schreiben wir rote Zahlen, können wir unsere Arbeit nicht mehr ordentlich machen. Das sitzt uns die ganze Zeit im Nacken.
Geiges:Als Niedergelassener erlebe ich genau das gleiche: Wenn ich keine schwarze Null mehr schreibe und pleitegehe, kann ich nichts Gutes mehr bewegen – und ich glaube, dass wir gute Medizin machen. Andererseits denke ich auch, dass wir Mediziner uns nicht wundern dürfen.
Warum?
Geiges:Das Hamsterrad wurde zwar von anderen hingestellt, aber wir Mediziner sind hineingestiegen und haben es beschleunigt – und zwar in vielen Bereichen.
Können Sie welche nennen?
Geiges:Damals waren es die Kollegen, die zu immer mehr Diensten bereit waren. Heute sind es die Abrechnungsziffern, die nicht budgetiert sind. Die laufen wie geschnitten Brot und andere eben nicht.
Haben sich die Ärzte das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen? Was können die jungen Ärzte anders machen?
Hinkelmann:Ich finde das schwierig, weil ich auch die Situation in der Pflege kenne und die ist noch wesentlich schlechter.
Aber der Arzt ist im Unterschied zum Pfleger ein freier Beruf. Deshalb sollte man vermuten, dass er mehr Gestaltungsspielräume hat.
Aulenkamp:Aber wir lernen gar nicht, wie man gestalten kann und bekommen dafür viel zu wenige Tools und Methoden an die Hand! Früher waren für mich BWLer der Feind im Krankenhaus, bis ich in einer Studierendengruppe mit vielen BWLern war. Dort habe ich verstanden, dass es darum geht, wie wir als Menschen effizient zusammenarbeiten, was für Tools und Methoden man benutzen kann, um Konflikte zu lösen, Kommunikation zu verbessern und Prozesse effizient zu gestalten – damit es besser und nicht billiger wird. Dafür gibt es in den Gesundheitsfachberufen leider wenig Verständnis und der Fokus darauf fehlt. Manchmal fehlt die Zeit dafür. Daher lässt man sich so oft den Löffel aus der Hand nehmen und die Gestaltung übernimmt jemand anderes.
Wo passiert das?
Aulenkamp:Im niedergelassenen Bereich kommen die MVZ von anderen Trägern, von denen sich die Jungen anstellen lassen, weil sie sich um alles kümmern. Diese teilweise privaten Träger gehen mit der Zeit, was unserer Berufsgruppe manchmal schwerfällt. Ähnlich sehe ich das mit der Digitalisierung: Entweder machen es die großen Firmen von außen oder wir schauen, dass wir es selbst anpacken. Gestalten und nicht nur verwalten
Also reicht ein Medizinstudium heute nicht mehr? Sollten angehende Ärzte Wirtschaftswissenschaften gleich mit studieren?
Aulenkamp:Ein Studium sollte jeden befähigen, selbst zu denken sowie danach zu handeln, und das findet im Medizinstudium leider kaum statt. Ein Arzt ist nicht nur medizinischer Experte, sondern auch Kommunikator, Gelehrter, er ist Manager und Verantwortungsträger. Zu diesem Konstrukt zählen sieben Rollen und im Medizinstudium geht es leider zu sehr um den medizinischen Experten. Auch in der Weiterbildung und im klinischen Alltag sind die anderen Rollen unterrepräsentiert und es fällt schwer, dafür Raum zu schaffen. Anschließend wundert man sich im Gesundheitswesen, dass die Leute die anderen Rollen nicht gut ausfüllen.
Hinkelmann:Im Medizinstudium wird das Bulimielernen praktiziert: Auswendig lernen und für die Klausur wieder auskotzen. Wer das beherrscht, kann gut Medizin studieren. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, parallel Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Meine Motivation dafür ist, dass ich mich in dem Denken, das mir im Medizinstudium beigebracht wird, nicht ausschließlich wiederfinden kann.
Aber man braucht doch das Fachwissen.
Hinkelmann:Natürlich, aber die Frage ist, in welchen Veranstaltungsformen es vermittelt wird. In den Modellstudiengängen werden zwar neue Ideen umgesetzt. Leider sind die Veranstaltungen, die etwa problemorientiertes Lernen aufgreifen, die unbeliebtesten im ganzen Studium. Was aber sicher auch an der Sozialisierung der Dozenten liegt, die es dann trotz neuer Formate auf die übliche Weise lehren.
Wenn Sie das Medizinstudium reformieren könnten…
Aulenkamp: …würden Führung und Management, alles rund um Arbeitskultur, mehr im Vordergrund stehen.
Traut sich der Nachwuchs deswegen nicht in die Niederlassung? Weil er so wenig über Personalführung, Betriebswirtschaft etc. weiß?
Geiges:Wir ambulanten Ärzte sind ein Auslaufmodell. Die neuen Kollegen werden nicht mehr bereit sein, 60- bis 70-Stunden-Wochen zu akzeptieren.
Hinkelmann:Definitiv nicht.
Geiges:Ich sehe daher die Digitalisierung auch als Versuch, die Lücken aufzufüllen, die fehlende Manpower zu kompensieren.
Dollman:Deshalb finde ich die Versorgungsforschung so wichtig, um herauszufinden, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen. Wenn zum Beispiel ein 85-jähriger Patient eine aufwendige kardiologische Intervention bekommt, wird sehr viel Hightech aus dem Regal geholt. Dann werden 20.000 Euro ausgegeben, ohne dass der Nutzen für den Patienten wirklich klar ist. Vielleicht wäre eine gut ausgebildete Pflegekraft auf der Intensivstation die bessere Investition gewesen. Es ist immer eine sehr technische Richtung, in die das Geld fließt. Bei dieser Ressourcenallokation sollten wir Ärzte uns gemeinsam mit der Pflege sehr viel stärker einbringen. Aber die Diskussion gehört auch noch mehr in die Gesellschaft, denn Patienten und Angehörige haben ebenfalls Ansprüche.
Geiges:Angesichts der Ökonomisierungsdiskussion finde ich es bemerkenswert, dass Sie, Frau Aulenkamp und Herr Hinkelmann, die Ökonomie mit im Blick haben beziehungsweise zusätzlich sogar studieren. Viele Ärzte studieren auch Jura oder BWL – aber kaum einer kommt auf die Idee, Philosophie mitzustudieren, wo Werte und Haltung eine Rolle spielen. Ich frage mich daher, welche Position wir Ärzte in der Gesellschaft einnehmen. Was ist unsere Kernmarke, unsere Kernbotschaft?
Was macht den Kern des Arztberufs aus? Und gibt es überhaupt einen unverrückbaren Kern oder ist der flexibel?
Hinkelmann:Für Patienten da zu sein und ihnen zu helfen, ist für mich das Wichtigste und das macht mir am meisten Freude.
Das sind die fünf Prozent.
Geiges:Die sind es, die uns alle antreiben.
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Martina Dollman: „Bei der Ressourcenallokation sollten wir Ärzte uns gemeinsam mit der Pflege sehr viel stärker einbringen.“
Die Anästhesistin und Intensivmedizinerin ist Chefärztin an den Havelland Kliniken. Sie teilt sich die Stelle mit einem Kollegen. Mit ihm führt sie auch eine Firma, die Workshops zu Hygiene, Infektion und Antiinfektiva anbietet.Dr. Götz Geiges: „Das Hamsterrad wurde zwar von anderen hingestellt, aber wir Mediziner sind hineingestiegen und haben es beschleunigt.“
Dr. Götz Geiges ist seit 2000 niedergelassener Urologe in Berlin. Er ist Mitglied in diversen Fachgesellschaften und hält Vorträge auf dem Gebiet der Uro-Onkologie, Infektiologie und Kinderurologie.
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Lukas Hinkelmann: „Ich frage mich immer wieder, ob ich wirklich in die Klinik gehen und mir die aktuellen Arbeitsbedingungen antun soll.“
Der Krankenpfleger studiert im sechsten Semester Medizin an der Charité. Später will er in der Psychiatrie arbeiten. Parallel zum Medizinstudium studiert er an der Fernuniversität Hagen Wirtschaftswissenschaften.Jana Aulenkamp: „Ein Studium sollte jeden befähigen, selbst zu denken, und das findet im Medizinstudium leider kaum statt.“ Jana Aulenkamp ist frischgebackene Ärztin. An der Ruhr-Universität Bochum promoviert sie zu chronischen postoperativen Schmerzen. 2018 war sie Präsidentin der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland.
Berlin (pag) – Die augenärztliche Versorgung von Seniorenheimbewohnern muss verbessert werden, fordert die Stiftung Auge. „Es fehlen die Strukturen, dass diese Medizin in die Seniorenheime kommt“, sagt deren Vorsitzender Prof. Frank G. Holz.
In einem Maßnahmenkatalog wird unter anderem gefordert, den Transport von mobilen Patienten zum Augenarzt sicherzustellen. In der OVIS-Studie (Ophtalmologische Versorgung in Seniorenheimen) nennen rund 50 Prozent der Bewohner den Transport als größte Hürde für einen Besuch beim Arzt. „Das muss natürlich organisiert und finanziert sein“, betont Holz, Direktor der Universitätsaugenklinik Bonn. „Es kann nicht sein, dass jemand sehbehindert wird oder erblindet, weil der Transport fehlt.“
Zu den häufigsten im Rahmen der Studie festgestellten Augenerkrankungen zählen: altersbedingte Makuladegeneration (AMD), Grauer und Grüner Star. Bei rund der Hälfte der Studienteilnehmer liegt ein Grauer Star vor, bei knapp 40 Prozent werden Zeichen einer AMD festgestellt und bei rund 21 Prozent besteht der Verdacht oder die gesicherte Diagnose eines Grünen Stars. Nicht selten fehle die passende Brille.
Die moderne Augenheilkunde könne diese Erkrankungen fast immer aufhalten oder den Verlauf zumindest verzögern, meint Augenarzt Dr. Peter Heinz. „Voraussetzung ist aber eine frühzeitige Diagnose, bevor der Patient überhaupt eine Sehverschlechterung wahrnimmt.“ Laut der OVIS-Studie liegt bei den Heimbewohnern der letzte Besuch beim Augenarzt durchschnittlich vier Jahre zurück.
Wie die Experten erläutern, führt schlechtes Sehen zu einer steigenden Unselbstständigkeit und sozialer Isolation. Das Risiko für Depressionen und Stürze ist erhöht. „Wir müssen die Defizite in der Versorgung anpacken“, appelliert Holz. Als Blaupause könne die zahnmedizinische Versorgung in Heimen dienen. Diese funktioniere aufgrund klarer Anreize gut, heißt es vor Journalisten.
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Zur OVIS-Studie
Ärzte befragten und untersuchten rund 600 Bewohner in 32 Heimen. Sie analysierten Lebenssituation, Augenarztbesuche und allgemeinen Gesundheitszustand. So hielten sie die Krankheitsgeschichte und die erhobenen Augenuntersuchungen fest.
Berlin (pag) – Die Erfolge bei der Behandlung von HIV sind beachtlich – von einer tödlichen zur chronischen Erkrankung, die unter Therapie nicht mehr ansteckend ist. Auch die Zahl der Neuinfektionen ist gesunken. Dennoch gibt es in der Versorgung nach wie vor Probleme. Über Diskriminierung im Gesundheitswesen und vernachlässigte Zielgruppen diskutieren Experten bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Pharmaunternehmen ViiV, MSD und Janssen.
Die Bundestagsabgeordnete Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen) benennt einige Herausforderungen. Zum Beispiel: In Deutschland gibt es geschätzt 11.400 Menschen mit HIV, die nicht wissen, dass sie infiziert sind. Etwa ein Drittel aller Menschen hat bei der HIV-Diagnose in Deutschland bereits ein sehr geschwächtes Immunsystem und knapp die Hälfte davon eine Aids-Erkrankung. „Das ist ein wirkliches Alarmzeichnen, dass wir bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht erreichen oder dass diese Menschen keinen Zugang zu den Präventionsmaßnahmen haben“, sagt die Politikerin. Sie stellt die Therapie als wichtigen Beitrag heraus, um die Übertragung der Krankheit zu vermeiden, befürchtet aber, dass zunehmend Menschen nicht in die Behandlung kommen. Dazu gehörten Geflüchtete, Menschen ohne Papiere, ohne Krankenversicherung.
Diese Gruppen sollten stärker in den Fokus genommen werden, empfiehlt Schulz-Asche. Eine weitere vernachlässigte Gruppe nennt Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen Aids-Hilfe: „Drogenkonsumenten werden für nicht-therapiefähig gehalten“, kritisiert sie.
„Kein Aids für alle“
Klumb berichtet außerdem, dass viele HIV-Infizierte noch immer Diskriminierung erleben – auch im Gesundheitswesen. Sie nennt: Verletzungen des Datenschutzes und der Schweigepflicht, unangemessene Hygienemaßnahmen sowie Sondertermine bis hin zu Behandlungsverweigerungen. Die Aids-Hilfe möchte mit ihrer Kampagne „Kein Aids für alle“ insbesondere Hausärzte sensibilisieren. Trotz deutlicher Indikation denken Allgemeinmediziner oft nicht an die Infektion. Allgemein sprechen Ärzte Klumb zufolge mit ihren Patienten nicht über Sexualität und Drogenkonsum. Eine späte HIV-Diagnose kann die Folge sein. Dabei handelt es sich um sogenannte „late presenter“ – Personen, die mit der Diagnose erst in einem sehr späten oder zu späten Stadium in die spezialisierte Behandlung kommen, erläutert Dr. Axel Baumgarten, Vorstandsmitglied der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter. „Das bedeutet immer einen schwerwiegenderen Verlauf, teilweise mit Aids-definierenden Erkrankungen.“
Als weitere Versorgungsbaustelle erwähnt der Arzt die Komorbiditäten. Der Charakter der chronischen HIV-Infektion habe sich so verändert, „dass wir nicht mehr über zahlreiche schwerwiegende Aids-definierende Erkrankungen reden, sondern dass wir bei den Patienten weitere Begleiterkrankungen sehen“. Verursacht durch eine jahrelange chronische Infektion im Körper, durch jahrzehntelange Medikamenteneinnahme oder den Prozess des Älterwerdens. Die Herausforderung bestehe darin, die zunehmenden Begleiterkrankungen mit der Spezifität einer chronischen Infektionserkrankung in Einklang zu bringen. Hinzu kommt eine von Baumgarten prognostizierte große Lücke des ärztlichen Nachwuchses in diesem Bereich.
Eine ärztliche und eine ökonomische Perspektive auf das Thema
Berlin (pag) – Die Debatte um die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ebbt nicht ab. Während die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) in einer Stellungnahme davor warnt, dass die Dominanz betriebswirtschaftlicher Ziele die Patientenversorgung gefährde, erklärt der Publizist und Ökonom Hartmut Reiners die Ökonomisierung zum Mythos. Beide stellen hier ihre Sichtweise dar.
Über das Phänomen der „Ökonomisierung der Medizin“ diskutieren derzeit Diabetologen genauso intensiv wie Onkologen oder Gynäkologen auf ihren Kongressen. Sie alle wehren sich gegen ein Denken, das den Arzt als reinen Dienstleister, den Patienten als Kunden und die Behandlung als eine Ware in einem betriebswirtschaftlich ausgerichteten Prozess, den es nach arztfremden Kriterien zu optimieren gilt, versteht. Allerdings ist der Begriff der Ökonomisierung nicht unumstritten. Kritikern zufolge suggeriert er, dass die Medizin ein ökonomiefreier Raum sein könne. Dabei sei jede medizinische Entscheidung auch eine über den Verbrauch von Ressourcen.
Dr. Monika Nothacker Fehlanreize behindern patientenorientierte Medizin
Die AWMF und ihre Fachgesellschaften nehmen eine zunehmende Dominanz betriebswirtschaftlicher Ziele vor allem im stationären Gesundheitssektor wahr, die sich negativ auf die Patientenversorgung auswirken und diese gefährden. Deshalb sah sich die AWMF veranlasst, zusammen mit Fachgesellschaftsvertretern ein Positionspapier zu erarbeiten. Der Begriff „Ökonomisierung“ wird dabei verwendet – und zwar im Sinne der Definition der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer: Als eine Entwicklung in der Medizin, bei der betriebswirtschaftliche Erwägungen – jenseits ihrer Dienstfunktion – zunehmende Definitionsmacht über individuelle und institutionelle Handlungsziele in der Patientenversorgung gewinnen. Völlig unstrittig ist, dass in unserem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem eine angemessene, effiziente und gerechte Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel geboten ist. „Ökonomisierung“ jedoch belastet Ärzte und Pflegende sowie die weiteren Gesundheitsberufe. Es bestehen Fehlanreize gegen eine patientenorientierte, wissenschaftliche Medizin durch das Vergütungssystem, die Anzahl und Ausstattung von Krankenhäusern bzw. Fachabteilungen und deren Grundfinanzierung. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, werden Maßnahmen auf allen Ebenen des Gesundheitssystems vorgeschlagen. Es bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller Akteure, den Patienten und seine Gesundheit wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Auf der Ebene Patient-Arzt ist der Ausbau der sprechenden Medizin von Nöten, eine Stärkung der gemeinsamen Entscheidungsfindung und der interdisziplinären Abstimmung. Durch die konsequente Implementierung von Leitlinien und von laienverständlichen Formaten wie „Gemeinsam Klug Entscheiden“ sollen mögliche Überdiagnostik und Übertherapie klar adressiert werden, aber auch Fehlentwicklungen im Sinne einer Unterversorgung.
Krankenhausleitungen haben den Auftrag, Wertemanagement- und Führungskonzepte zu verwirklichen, die medizinische und wirtschaftliche Erwägungen gleichermaßen berücksichtigen, anstatt sich vorrangig an betriebswirtschaftlichen Anforderungen auszurichten. Dafür bedarf es einer gemeinsamen Führung (Ärztliche – und Pflegedirektion, kaufmännische Leitung). Die Vergütung nach Fallpauschalen ist im Sinne einer patientenorientierten Medizin anzupassen, Fehlanreize für Interventionen sind zu korrigieren. Die „sprechende Medizin“ einschließlich der interdisziplinären Abstimmung sollte besser vergütet werden. Der Krankenhaussektor insgesamt kann nicht weiter isoliert betrachtet werden. Die Planung muss im Rahmen sektorübergreifender Konzepte nach Bedarf erfolgen. Dabei sind vorhandene stationäre Überkapazitäten abzubauen und geeignete teilstationäre und ambulante Strukturen zu entwickeln und vorzuhalten. Definierte Qualitätsanforderungen sollten für alle Krankenhausbereiche vorliegen.
ZUR PERSON
Dr. Monika Nothacker hat unter anderem als Oberärztin der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe des Urban-Klinikums in Berlin gearbeitet. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF).
Die AWMF hat kürzlich eine Stellungnahme zu „Medizin und Ökonomie – Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung“ publiziert.
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Hartmut Reiners Mediziner müssen ihre Disziplin selbst hinterfragen
Das Gesundheitswesen ist ein wachsender Wirtschaftszweig. Es ist auch in Ordnung, dass Ärztinnen und Ärzte auf den vorderen Plätzen der Einkommensskala liegen. Aber die Debatte über die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist nicht frei von Heuchelei. Das zeigt die aktuelle Klage von Ärztefunktionären über den Vormarsch von Kapitalanlegern im Gesundheitswesen, zu denen ironischerweise auch ärztliche Versorgungswerke gehören.
Das vor allem auf zahnärztliche MVZ gerichtete Anlegerinteresse wurde durch die von den Zahnärzteverbänden erfolgreich geforderte Ausgliederung von Zahnersatz aus den Sachleistungen der GKV geweckt. Seit 2005 steigen die Erträge von Zahnarztpraxen stärker als deren Umsätze, wobei die Umsatzrenditen von Großpraxen deutlich höher sind als die von Kleinpraxen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes machen Zahnarztpraxen mit Privatpatienten im Durchschnitt 51,3 Prozent des Umsatzes, ihr Reinertrag liegt bei 175.000 Euro pro Inhaber und Jahr. Praxen mit einem Umsatz von 1 bis 1,5 Millionen Euro haben einen Privatanteil von 57,7 Prozent und einen Reinertrag je Praxisinhaber von 320.000 Euro. Bei einem Umsatz von über 1,5 Millionen Euro liegen diese Werte bei 63,4 Prozent beziehungsweise 377.000 Euro. Solche Profitchancen bleiben den berüchtigten Finanzhaien nicht verborgen. Deren Interesse an den MVZ würde durch die Wiedereingliederung von Zahnersatz in die GKV-Sachleistungen wohl abnehmen, von der Einführung einer Bürgerversicherung ganz zu schweigen.
An der medizinischen Basisversorgung haben Investoren kaum Interesse, weil dort nicht so viel zu verdienen ist. Die Tatsache, dass zum Beispiel mit einer Kardiologenpraxis mehr als doppelt so viel Gewinn erzielt werden kann als mit einer Hausarztpraxis ist Konsequenz einer Geringschätzung der Allgemeinmedizin im deutschen Medizinsystem. Sie hat auf die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen einen mindestens so großen Einfluss wie die Vergütungssysteme, die selbst eher Ausdruck als Ursache der Hegemonie der Fachmedizin in der Medizinergemeinde sind. Das damit verbundene Nebeneinander von Unter- und Überversorgung im Gesundheitswesen ist eine Ressourcenverschwendung, deren Beseitigung ein ökonomischer und ein medizinisch-ethischer Imperativ ist. Es geht sicher auch um die Erwartungen, die von der Gesellschaft an die Medizin gerichtet werden. Aber diese werden von den Medizinern maßgeblich beeinflusst. Sie müssen ihre Disziplin selbst hinterfragen, wenn es um die zutiefst ökonomische Frage eines angemessenen Ressourcenverbrauchs im Gesundheitswesen geht.
ZUR PERSON
Hartmut Reiners ist Gesundheitsökonom und Publizist. Er arbeitete unter anderem im brandenburgischen und nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium sowie im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO).
In seinem jüngst erschienenen und vollständig überarbeiteten Buch setzt er sich mit „Mythen der Gesundheitspolitik“ auseinander. Ein Mythos ist für ihn, dass die Ökonomisierung des Gesundheitswesens die Heilkunst zerstöre.
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Prof. Woopen und Prof. Katzenmeier über widersprüchliche Standards
Berlin (pag) – Konflikte, die sich aus divergierenden medizinischen Standards ergeben, müssen angegangen werden. Dafür plädieren Prof. Christiane Woopen und Prof. Christian Katzenmeier. Für die Medizinethikerin und den Juristen ist das eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, über die man sich endlich verständigen sollte – doch die Politik scheut das Thema. Die Leidtragenden sind Ärzte und Patienten.
Mediziner, Ökonomen, Ethiker, Haftungs- und Sozialrechtler beurteilen den medizinischen Standard zum Teil recht unterschiedlich. Was bedeutet das für den behandelnden Arzt?
Woopen: Er ist den verschiedenen Ansprüchen ausgesetzt. Er will seinem ärztlichen Ethos gerecht werden und für den Patienten das Beste tun. Dieser kommt mit bestimmten Wünschen und Erwartungen auf ihn zu, die es zu berücksichtigen gilt. Der Arzt unterliegt gleichzeitig den Rahmenbedingungen, die ihm das Sozialrecht vorgibt. Außerdem hat er eigene wirtschaftliche Interessen oder Notwendigkeiten. Im Gesundheitssystem trägt der Arzt bei Fragen der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit eine Verantwortung. Nicht zuletzt muss er darauf achten, dass er haftungsrechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen wird.
Katzenmeier: Diesen zum Teil divergierenden Anforderungen kann ein Arzt kaum noch gerecht werden. Er gerät zunehmend in Bedrängnis und ist moralisch überfordert.
Das dürfte auch Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis haben?
Woopen: Der Umstand, dass sich der Arzt nicht ausschließlich auf medizinische und psychosoziale Faktoren konzentriert, sondern auch wirtschaftliche Erwägungen berücksichtigen muss, kann das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis untergraben. Der Patient fragt sich, ob ihm wirklich die für ihn beste Therapie angeboten wird. Und der Arzt dürfte ihm auch nicht vorenthalten, wenn es eine Behandlung gibt, die ihm möglicherweise nutzen könnte, die aber von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen wird. Informiert er den Patienten nicht darüber, nimmt er ihm eine Entscheidungsmöglichkeit, nämlich die Therapie aus eigener Tasche zu bezahlen, falls er dafür die Mittel hat.
Wie kann man das heilen?
Katzenmeier: Man könnte versuchen, das Problem durch die Statuierung zusätzlicher Aufklärungs- und Informationspflichten zu lösen. Damit stellt man Transparenz her, der Patient weiß, welche Leistungen nicht in der GKV abgerechnet, aber von ihm möglicherweise privat finanziert werden können. Die Lösung ist freilich nicht unproblematisch. Langfristig kann dadurch eine Zwei-Klassen-Medizin befördert werden. Und sie birgt die Gefahr, dass die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient sich weiter wandelt in eine reine Geschäftsbeziehung.
Von noch mehr Aufklärungspflichten dürften Ärzte nicht begeistert sein. Haben Sie weitere Lösungsansätze diskutiert?
Katzenmeier: Ein Patentrezept haben wir nicht gefunden, haben das aber auch nicht erwartet. Wir möchten die Diskussion entfachen, das Bewusstsein für die Problematik stärken und verschiedene Ansätze aufzeigen. An sich müssten die Politik und die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen um eine Lösung bemüht sein. Stattdessen wird bis heute schlicht immer wieder behauptet, eine Rationierung finde nicht statt. Das ist falsch, natürlich wird im Gesundheitswesen rationiert.
Das dürfte der Gesundheitsminister aber vehement bestreiten.
Katzenmeier: Nicht nur der aktuelle. Alle Gesundheitsminister, egal welcher Partei sie angehören, scheuen das Thema wie der Teufel das Weihwasser. Verständlicherweise, denn das Eingeständnis, dass die Mittel begrenzt sind und man eben nicht jedem in jeder Situation alles angedeihen lassen kann, ist potenziell wahlentscheidend.
Momentan ist der Druck angesichts voller Kassen wahrscheinlich nicht übermäßig groß.
Katzenmeier: Richtig, aber sobald die nächste Krise kommt, wird sich dieses Problem verschärfen. Dann sind Konzepte für den Umgang mit der Knappheit unausweichlich.
Woopen: Die Politik prozeduralisiert die Probleme, beispielweise mit der frühen Nutzenbewertung und den Preisverhandlungen zu neuen Arzneimitteln. Auf dieser Ebene wird versucht, Kostenströme zu kontrollieren. Aber es bleibt in gewisser Weise intransparent für die Öffentlichkeit. Und Intransparenz fördert Vertrauensverlust, wobei das Vertrauen in das hiesige Gesundheitswesen noch recht gut ist. Man meckert sicherlich auf hohem Niveau, wenn man hier von Missständen spricht. Dennoch gibt es Bereiche, wo strukturell Fragen von Verteilungsgerechtigkeit verletzt werden, was implizit eine Rationierung bedeutet. Die Menschen bekommen nicht das, was ihnen eigentlich zustünde.
Können Sie Beispiele nennen?
Woopen: Betrachtet man einzelne Patientengruppen, so stellt man fest, dass etwa Kinder und Jugendliche nicht ausreichend gut behandelt werden. Auch alte, multimorbide Menschen werden im Krankenhaus nicht angemessen versorgt, weil man dort der Komplexität ihrer Lage nicht gerecht wird. In aller Regel werden Menschen mit Demenz in einem Akut-Krankenhaus nicht ihrem Bedarf gemäß versorgt, ebenso Menschen mit Behinderungen.
Ärzte beklagen zunehmend eine Ökonomisierung, eine Vorrangstellung ökonomischer Kriterien vor medizinischen bei der Behandlung. Zu Recht?
Woopen: Mir wurde von angehenden Medizinern berichtet, dass ihnen bereits im Studium von an sich geeigneten Therapien abgeraten worden sei, wenn sich diese nicht gut abrechnen lassen. Für diese Steuerung – dass wirtschaftliche Kriterien den Ausschlag geben – wird bereits im Studium ein Bewusstsein gebildet. An den wirtschaftlichen Kriterien selbst wird nicht ausreichend gearbeitet, obgleich die sprechende Medizin zumindest in der ärztlichen Gebührenordnung wohl künftig stärker berücksichtigt werden soll. Jedes Vergütungssystem bringt irgendeinen Anreiz mit sich. Es liegt abgesehen von Machtstrukturen letztlich an der Haltung derjenigen, die es umsetzen, dies auf eine Art und Weise zu tun, die dem Patientenwohl nicht abträglich ist.
Wie sieht es mit den rechtlichen Konsequenzen aus: Ist es realistisch, dass ökonomische Erfordernisse, denen Ärzte im Sozialrecht, sprich in der GKV, unterliegen, bei der haftungsrechtlichen Rechtsprechung berücksichtigt werden?
Katzenmeier: Wir haben die Rechtsprechung der Zivilgerichte über Jahrzehnte analysiert und vereinzelte Fälle festgestellt, in denen sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitspostulate bei der Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt vage angedeutet wurden. Letzten Endes aber spielen sie in der Haftungsrechtsprechung keine Rolle. Grund für die Divergenz ist die Zweigleisigkeit der Gerichtsbarkeit: auf der einen Seite die Zivilgerichte, auf der anderen die Sozialgerichte. Zwischen den obersten Instanzen, dem Bundesgerichtshof und dem Bundessozialgericht, fand bisher so gut wie keine Kommunikation statt. Allerdings haben wir inzwischen einen hoffnungsvollen Anfang beobachtet.
Inwiefern?
Katzenmeier:Vor ein paar Jahren fand in der deutschen Richterakademie ein Treffen statt, bei dem Mitglieder der beiden Bundesgerichte sich über dieses Thema austauschten. Diesen Ansatz gilt es fortzusetzen. Auch wenn die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, das ist der zuständige Arzthaftungs-Senat, sozialrechtliche Maßgaben bis heute nicht explizit berücksichtigt, so scheinen die Senatsmitglieder doch sensibilisiert zu sein.
Woran machen Sie das fest?
Katzenmeier: Es hat keine weitere Verschärfung der Arzthaftung stattgefunden, wie das über Jahrzehnte zu beobachten war. Die Richter haben in jüngerer Zeit, wohl auch mit Rücksicht darauf, dass der Bogen nicht überspannt werden darf, etwas Einhalt geboten.
Gibt es denn viele Fälle von Ärzten, die verurteilt wurden, weil sie aus GKV-Rücksichtnahme weniger gemacht haben, als sie hätten machen sollen?
Katzenmeier:Die Zahl der Fälle, in denen das vor Gericht hart ausgetragen wurde, ist noch sehr gering. Doch werden Streitigkeiten zunehmen, wenn die öffentlichen Kassen nicht mehr so gefüllt sind.
Woopen: Man könnte dann etwa darüber nachdenken, dass die Gutachter ausdrücklich die ökonomischen Einflüsse, die sich zum Teil sehr subtil in üblichen Behandlungen und in institutionellen Rahmenbedingungen etwa innerhalb eines Krankenhauses niederschlagen, mit diskutieren. Wenn sie das reflektierten, wäre zumindest ein Schritt in Richtung Bewusstseinsbildung und Transparenz getan.
Sie sehen skeptisch aus, Herr Katzenmeier.
Katzenmeier:Ich wäre vorsichtig. Wenn medizinische Sachverständige ökonomische Gesichtspunkte in den Haftungsprozess hineintragen, kann das auf der Richterbank eine Gegenreaktion provozieren. Deswegen würde ich eher bei der Formulierung der Leitlinien ansetzen und überlegen, ob und wie dort Kostenaspekte mitberücksichtigt werden können. Leitlinien nehmen die Richter zur Hand, um das Sachverständigengutachten abzuklopfen.
Woopen: Kostenbezogene Leitlinien finde ich im Einzelfall schwer umzusetzen. Zum Beispiel verändern sich die Preise von Arzneimitteln. Aus Kliniken hört man zudem, dass bei derselben Erkrankung ältere Menschen andere Medikamente bekommen als jüngere. Die Begründung: Bei einem 80-Jährigen sei es nicht so dramatisch, wenn er – vielleicht für eine weniger aggressive Therapie – weniger Lebensjahre dazugewinnt als bei einem 40-Jährigen. Das kann man auch anders sehen. Fakt ist, dass es sich um eine eingeführte Praxis handelt, die sich aber schwerlich in Leitlinien wiederfindet.
In Ihrer Gruppe haben Sie auch darüber diskutiert, ob man die aufwändig generierten, sozialrechtlichen Standards der Haftungsrechtsprechung zur Adaption empfiehlt.
Katzenmeier:Das stimmt. Allerdings sehen wir auch insoweit Schwierigkeiten, nicht zuletzt, was die demokratische Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses anbelangt, der die sozialrechtlichen Standards erarbeitet.
Würde das Haftungsrecht stärker für ökonomische Gegebenheiten geöffnet, könnte es weiterhin seiner Schutzfunktion zugunsten der Betroffenen gerecht werden?
Katzenmeier: Es geht nicht darum, den Patientenschutz oder die Patientenrechte zu verkürzen. Es geht im Gegenteil um die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass möglichst viele kranke Menschen mit den verfügbaren Ressourcen möglichst gut versorgt werden. Das ist eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Darüber müssen wir uns verständigen.
Wo findet diese Verständigung in Zukunft statt?
Woopen: Mit einem Gesetz lässt sich das schlecht lösen. Das Thema wird an verschiedenen Orten verhandelt werden, weil auf der institutionellen Ebene keine Brücke zwischen den unterschiedlichen Anforderungen existiert. Die Auseinandersetzung kann in einer Klinik stattfinden oder in einer Praxisgemeinschaft, im Gemeinsamen Bundesausschuss und im Ministerium. Oder auch in den Gerichten. Unser Anliegen ist zunächst, dass nicht länger weggeguckt und das Verständnis für die Konflikte gestärkt wird._
ZUR PERSON: DIE ETHIKERIN UND DER JURIST
Prof. Christiane Woopen: Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates ist an der Universität zu Köln Direktorin von ceres (Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health). Sie war Mitglied im „International Bioethics Committee“ der UNESCO und ist Vorsitzende des Europäischen Ethikrates (EGE). Woopen studierte Humanmedizin und Philosophie.
Prof. Christian Katzenmeier ist Direktor des Instituts für Medizinrecht der Universität zu Köln. Er veranstaltet seit 2008 die „Kölner Medizinrechtstage” und gibt die „Kölner Schriften zum Medizinrecht“ heraus. Außerdem ist er Schriftleiter der Zeitschrift „Medizinrecht“ und Mitherausgeber des „Heidelberger Kommentar Arztrecht-Krankenhausrecht-Medizinrecht“. Woopen und Katzenmeier leiten die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte interdisziplinäre Forschergruppe zu Medizin und Standard.
Die Kluft zwischen medizinisch Machbarem und praktisch Finanzierbarem
Berlin (pag) – Der medizinische Standard ist wichtig für die individuelle Behandlung des Patienten, aber auch für eine gute und gerechte Versorgung. Das Problem: Mediziner bestimmen ihn anders als Ökonomen oder möglicherweise Ethiker. Besonders heikel wird es für den Arzt, wenn Anforderungen des Haftungs- und des Sozialrechts kollidieren. Eine Tagung in Berlin zeigt, dass der Austausch zwischen den Disziplinen überfällig, aber auch sehr mühsam ist.
Mit den verschiedenen Lesarten des medizinischen Standards hat sich eine von Prof. Christiane Woopen und Prof. Christian Katzenmeier geleitete Expertengruppe beschäftigt. Ihre Arbeit stellt die Gruppe auf einer Tagung in Berlin vor.
Keine Patentlösung habe man gefunden, dämpft Katzenmeier die Erwartungen. Wichtig sei es, das Problembewusstsein zu schärfen. Entsprechend eindringliche Worte findet der Jurist in seinem Vortrag – um so bedauerlicher, dass sich kaum ein politischer Vertreter auf der Veranstaltung blicken lässt, in deren Mittelpunkt insbesondere die Divergenzen zwischen Sozial- und Haftungsrecht stehen. Dabei handelt es sich um kein akademisches Problem, denn die Spannungen zwischen Sorgfalts- und Wirtschaftlichkeitserwägungen bedrängen den Arzt und wirken sich nachteilig auf die Patientenversorgung aus, lautet der Tenor der Veranstaltung.
Die Kluft zwischen „Verheißung und Erfüllung“
Katzenmeier führt aus, dass sich das Haftungsrecht am medizinisch Machbaren orientiere und damit tendenziell die optimale Behandlung verlange. Dem gegenüber dürfen nach Sozialversicherungsrecht Leistungen nur erbracht werden, wenn sie notwendig und wirtschaftlich seien. Er formuliert die brisante Frage: „Wenn die Finanzierung des medizinischen Standards durch Krankenkassen nicht mehr gesichert ist, kann die Rechtsordnung den Arzt verpflichten, Maßnahmen zu treffen, die er möglicherweise nicht liquidieren kann?“
Bei den derzeit vollen Kassen würden zwar gegenwärtig nur selten derartige Fälle vor Gericht ausgetragen, das werde sich aber in Zukunft ändern, prophezeit der Rechtswissenschaftler. Angesichts des Kostenanstiegs, der begrenzten finanziellen Ressourcen und des medizinischen Fortschritts sieht er im Gesundheitswesen eine Kluft zwischen dem in der Medizin theoretisch Machbaren und dem praktisch Finanzierbaren – „eine Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“. Der Arzt werde in Zukunft bei seiner Indikationsstellung mehr als bisher nicht nur den Nutzen für den individuellen Kranken, sondern auch die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen zu bedenken haben.
Priorisierung anstelle verdeckter Rationierung
Rationierungen hält Katzenmeier für unumgänglich. Allerdings sei der Arzt vor Ort, der über Heilung oder Rettung eines konkreten Menschenlebens entscheide, von der Vorenthaltung effektiver medizinischer Leistungen moralisch überfordert. Der Ort der Entscheidung sei dafür der gesundheitspolitische Diskurs. Anstelle der derzeit praktizierten verdeckten Rationierung spricht sich der Experte für ein priorisierendes Verfahren aus. Dieses könnte mehr Transparenz, Rationalität, Nachvollziehbarkeit und Akzeptanz in die Patientenversorgung tragen.
Auffällig ist, dass auf der Tagung die größten Gefechte nicht zwischen Ethikern und Ökonomen oder Ärzten und Juristen ausgetragen werden, sondern innerhalb der rechtswissenschaftlichen Zunft. Besonders weit liegen die Vorstellungen des Sozialrechtlers Prof. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, und des Justiziars des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Dr. Dominik Rothers, auseinander.
Verfassungsrechtlich heikel
Kingreen zufolge kann die Diskrepanz zwischen sozialrechtlichem und haftungsrechtlichem Standard in ein verfassungsrechtliches Dilemma führen. „Es ist verfassungsrechtlich heikel, wenn ein Arzt wegen einer Behandlung in Anspruch genommen werden würde, zu der er zwar nach den Maßstäben der Leitlinien haftungsrechtlich verpflichtet war, die er aber krankenversicherungsrechtlich wegen fehlender Wirtschaftlichkeit gar nicht erbringen dürfte.“ Er warnt davor, diese Diskrepanz durch Aufklärungspflichten des Arztes zu minimieren, denn damit würde das Spannungsverhältnis ins Arzt-Patienten-Verhältnis abgeschoben. Auch die Idee, den krankenversicherungsrechtlichen Standard zum Maßstab für das Haftungsrecht zu machen, ist aus Kingreens Sicht problematisch – wegen der umstrittenen demokratischen Legitimation des G-BA. Der Justiziar des Ausschusses hält dagegen ein problematisches Auseinanderfallen der sozial- und haftungsrechtlichen Standards für konstruiert. Die Diskrepanz führe nicht zu Problemen, da beide aus der gleichen Quelle, der Evidenzbasierten Medizin, schöpften.
Sprachprobleme und implizite ökonomische Einflüsse
In der Diskussion konstatiert Prof. Ina Kopp, Leitlinienexpertin der Arbeitsgemeinschaft Medizinisch Wissenschaftlicher Fachgesellschaften, ein Sprachproblem, das eine Verständigung zwischen den Disziplinen erschwere: In der Medizin werde – etwa bei der Leitlinienarbeit – nie vom Standard gesprochen, „wir sprechen immer von der Qualität“. Zwischen dem, was in der Medizin im Sinne der Qualität als Nutzen bewertet werde, und dem, was der G-BA allein schon aus Machbarkeitsgründen in Richtlinien gießen könne, bestehe „ein Delta“.
Ein weiteres Thema sind implizite ökonomische Einflüsse. Für den Gesundheitsökonomen Prof. Jürgen Wasem sind fehlende gesundheitsökonomische Evaluationen bei der Messung des Standards einer der Gründe dafür, dass der G-BA Gefahr laufe, bei der Nutzenbewertung implizite ökonomische Erwägungen anzustellen. „Nur verbirgt er das in einer entsprechenden Ausgestaltung der Nutzenbewertung.“ Wasem mahnt eine bessere Transparenz über Kosten an, „sonst lügen wir uns als Gesellschaft in die Tasche“.
Vera von Pentz, Richterin am Bundesgerichtshof und stellvertretende Vorsitzende des VI. Zivilsenats, warnt vor einer ökonomischen Infiltration der haftungsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen. „Bei uns im Senat haben wir den Eindruck, dass der Standard schleichend herabgesetzt wird.“ Das passiere, wenn der medizinische Sachverständige eine Leistung als nicht mehr geboten bewertet, weil sie in der GKV nicht ersatzfähig sei und deswegen immer seltener praktiziert werde. Lege er das im Gutachten nicht offen, hätten die Richter keine Chance zu erkennen, dass die haftungsrechtlich maßgeblichen Sorgfaltsanforderungen von dem geringeren sozialrechtlichen Standard beeinflusst wurden. Es vollziehe sich eine Konvergenz der Standards – ohne dass jemand, mit Ausnahme des Sachverständigen, eine Entscheidung getroffen hat.
„Das ist ungut“, sagt Vera von Pentz.
Der Arzt: „Der Patient ist nicht standardisierbar“ Prof. Hans-Detlev Saeger, ehemaliger Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie an der Uniklinik Dresden „Der Standard braucht Konstanten – aber welche?“, fragt Saeger. Er nennt unter anderem die Stichwörter Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Qualitätssicherung, wertbasierte Medizin, aber auch das Wirtschaftlichkeitsgebot. Die personalisierte Medizin mache die Ermittlung eines Standards nicht leichter. Der Arzt betont, dass auch Abwarten – „und nicht gleich die Knieendoprothese hinein zu hämmern“ – oder sogar das Auslassen einer Therapie in bestimmten Situationen Standard sein können. Grundsätzlich gilt: „Der Patient ist nicht standardisierbar.“
Der medizinische Gutachter: Operieren auf der Lernkurve Prof. Hans-Friedrich Kienzle, Chefarzt der Chirurgischen Klinik Köln-Holweide i.R.
Aus Sicht des medizinischen Gutachters geht es darum, den Standard für den konkreten Einzelfall zu ermitteln. „Im Gutachten werden Standards geprüft, nicht entwickelt“, sagt er. Bei der Prüfung spielen der Facharztstandard, Richt- und Leitlinien und Dokumentation eine Rolle. „Ein Riesenproblem“ stelle ein Standard in Entwicklung dar, sagt Kienzle – wenn beispielsweise neue Operationsmethoden verwendet werden, die aber noch nicht flächendeckend zum Einsatz kommen. In solchen Fällen spiele die Aufklärung eine besonders wichtige Rolle. Eng damit ist das Problem der Lernkurve verbunden. Die rhetorische Frage des Gutachters: „Wer möchte auf der Lernkurve operiert werden?“
Die Sozialrichterin: „Der Einzelfall kann aus dem Blick geraten“ Dr. Anne Barbara Lungstras, Richterin am Sozialgericht Berlin
Der Standard wird vor Sozialgerichten meist dann relevant, wenn es darum geht, welche neuen Therapien zulasten der GKV erbracht werden dürfen. Am Beispiel der Kopforthese stellt die Richterin den Konflikt zwischen dem, was der Arzt rät, und dem, was die Krankenkasse zahlt, dar. Das Qualitätsgebot und Wirtschaftlichkeitsgebot bildeten die Pfeiler der Standardsetzung im Sozialgesetzbuch V. Der Standard werde nicht von Fall zu Fall durch den einzelnen Arzt festgelegt, sondern durch eine Vorabentscheidung. „Der Einfall kann aus dem Blick geraten“, räumt die Richterin ein. Ausnahmeregelungen – „Nikolaus-“, Seltenheits- und Systemversagensfälle – dienten der „Abfederung“. Mengenbegrenzende Maßnahmen haben Lungstras zufolge nichts mit der Standardbestimmung im SGB V zu tun, sie schränkten den GKV-Leistungskatalog in keiner Weise ein.
Der Haftungsrichter: Der Handlungskorridor eines Arztes Wolfgang Frahm, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Schleswig
Zur Ermittlung des Standards nennt Frahm folgende Kriterien: Sorgfalt des Arztes, konkrete Behandlungssituation, individuelle Bedürfnisse des Patienten, der Zeitpunkt (ex ante), fachliche Erkenntnisse und Erfahrung sowie die Eingrenzung auf das betreffende Fachgebiet. Der Richter betont, dass sich der Arzt in einem Korridor bewegen dürfe – vom Goldstandard bis hin zur noch ausreichenden Behandlung. Vor Gericht spielen Sachverständige eine wichtige Rolle; wichtig sei bei ihnen Fachgleichheit, überragende Sachkunde, Objektivität, Unbefangenheit. Richtlinien des G-BA lässt der Bundesgerichtshof Rechtsnormqualität zukommen, sagt Frahm. „Was dort steht, ist Mindeststandard – auch für Privatversicherte.“
Die Ethikerin: Behandlungsbündnis zwischen Arzt und Patient Prof. Christiane Woopen, ceres Universität zu Köln
Als zentral stellt Woopen das Patientenwohl heraus. Dafür hat der Deutsche Ethikrat drei Elemente bestimmt: selbstbestimmungsermöglichende Sorge, gute Behandlungsqualität sowie Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit. Arzt und Patient bildeten ein „Behandlungsbündnis“. Die Ethikerin wünscht sich, dass dieser Umstand bereits bei der Forschung berücksichtigt wird, etwa bei der Definition von Outcome-Parametern. Nutzenbewertungen, Leitlinien und Co., auf deren Grundlage der medizinische Standard erarbeitet werde, griffen in dieser Hinsicht noch zu kurz, kritisiert sie. „Für die Ethik sind die Patientenpräferenzen von vornherein genuiner Bestandteil dessen, was in einen medizinischen Standard einfließen sollte.“ Essenziell sei die Aufklärung der Patienten über mögliche Behandlungsalternativen.
Der Ökonom: Die Illusion, nicht zu rationieren Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen
Nach der reinen gesundheitsökonomischen Lehre müsste bei der Entscheidung, ob neue Leistungen von der GKV erstattet werden, ein Abgleich zwischen gesellschaftlicher Zahlungsbereitschaft für Innovationen und deren Kosten-Nutzen-Relation vorgenommen werden. Das übliche Outcome-Maß seien dafür QALYs. Bei deren Ermittlung könnten gesellschaftliche Vorstellung von Gerechtigkeit durch Gewichte berücksichtigt werden. Hierzulande gebe es allerdings keine Schwellenwerte für die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft. Wasem appelliert: „Wir brauchen Ergebnisse ökonomischer Evaluation als Informationsgrundlage für einen qualitativen gesellschaftlichen Entscheidungsprozess.“ Bedauerlich sei, dass faktisch keine vernünftige gesundheitsökonomische Evaluation bei der Messung des Standards gemacht werde. „Das vermittelt die Illusion, wir rationieren nicht und machen alles.“
Berlin (pag) – Im mecklenburgischen Dorf Alt Rehse, einst Standort der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“, soll ein Lern- und GeDenkOrt entstehen. Dieser soll zur Auf-arbeitung der Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus beitragen. Bund und Land wollen das Projekt mit einem Millionen-Betrag unterstützen – Bedingung ist allerdings, dass sich auch Ärzte beteiligen.
„In Deutschland gibt es rund 400.000 Ärzte und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihnen das Gedenken an die finstere medizinische Geschichte egal ist“, sagt Dr. Manfred Richter-Reichhelm. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung appelliert an die deutsche Ärzteschaft, die noch benötigten 900.000 Euro aufzubringen. „Wenn jeder Arzt drei Euro spendet, können wir das Projekt realisieren“, meint Richter-Reichhelm. Gleichzeitig würde die Ärzteschaft damit ein klares Zeichen gegen rechts setzen.
Führerschule und „Rassenhygiene“
Der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund ließ in Alt Rehse die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ errichten. Zwischen 1935 und 1941 diente das NS-Musterdorf der „weltanschaulichen Schulung“ von bis zu 12.000 Ärzten, Apothekern, Hebammen und anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen.
„In Alt Rehse, wo Mediziner ideologisch unter anderem auf die Euthanasie vorbereitet wurden, sind besondere Einblicke in die Verstrickung der Ärzteschaft in die verbrecherische NS-Ideologie der ‚Rassenhygiene’ und in die Grenzverschiebung medizinethischer Fragen möglich“, heißt es in einer Broschüre über die Initiative. Angesichts der Bedeutung des Ortes soll dort ein Ausstellungs-, Dokumentations- und Bildungszentrum aufgebaut werden. Das Zentrum wird seit über zehn Jahren von vielen Einzelpersonen und Initiativen vorbereitet. Aktuell informiert in dem Dorf die Dauerausstellung „Alt Rehse und der gebrochene Eid des Hippokrates“ interessierte Besucher.
Nicht nur Geschichte
Doch der geplante Lern- und GeDenkOrt Alt Rehse will nicht nur Geschichte präsentieren, sondern neue Akzente im wissenschaftlichen, pädagogischen und touristischen Angebot setzen. Ein Schwerpunkt soll sich der Ethik im Gesundheitswesen in Gegenwart und Zukunft widmen. In der Broschüre werden Veranstaltungen angekündigt, die sich im Rahmen der Aus- und Weiterbildung „an alle medizinischen Berufsgruppen, überdies an Geschichtsinteressierte und ein breites Publikum“ richten. Geplant sind außerdem kulturelle Aktivitäten wie Lesungen, Vorträge und musikalische Veranstaltungen. Und: Der Lern- und GeDenkOrt wird eine Dauerausstellung zur Geschichte und Bedeutung der „Führerschule“, zur DDR-Geschichte des Ortes und thematisch ergänzende Wechselausstellungen bieten.
Die organisatorischen und finanziellen Hintergründe
Der Träger des Lern- und GeDenkOrtes Alt Rehse ist die Gutshaus Alt Rehse gGmbH (GAR). Diese wiederum wurde 2009 von den Vereinen Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse und Beth Zion gegründet. 2014 trat als weiterer Gesellschafter die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) der Gesellschaft bei.
Der Lern- und GeDenkOrt wird vom Bund und vom Land Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen der Bundesgedenkstättenförderung unterstützt. Seit 2016 stehen die Mittel bereit, um das 1993 errichtete ehemalige „Limnologische Institut“ umzubauen. Die Pläne sollen bis 2021 umgesetzt werden. Die Verhandlungen über den Erwerb der Liegenschaft sind bereits mit dem Eigentümer erfolgreich abgeschlossen worden. Um den Eigenanteil in Höhe von rund 900.000 Euro abzusichern, der für den Abruf der Mittel der Bundesgedenkstättenförderung – je 1,65 Millionen Euro von Bund und Land – und für den laufenden Bildungsbetrieb notwendig ist, benötigt die Gutshaus Alt Rehse gGmbH allerdings weitere Unterstützung und Spenden.
Ihre Spende zählt
Per Überweisung
Stichwort: 3 Euro gegen das Vergessen
Bank: Deutsche Apotheker- und Ärztebank
BIC: DAAEDEDDXXX
IBAN: DE95 3006 0601 0001 5742 13
Alt Rehse wurde von 1934 an zu einem nationalsozialistischen Mustergut und -dorf umgestaltet. Im Zuge des Neubaus wurden – mit Ausnahme eines nun als Dorfkrug genutzten Gebäudes, der Kirche und des Pfarrhauses – die alten Wohnbauten abgerissen. Der Ort war insofern einzigartig, weil nur dort ein komplettes Ensemble von Grund auf neu gebaut wurde. Alles sollte der nationalsozialistischen Ideologie folgen: Angefangen von der Architektur der neu errichteten Gebäude des Ortes über die Auswahl der Teilnehmer und der Dozenten bis hin zu einem 1937 errichteten erbbiologischen Forschungsinstitut auf dem Gelände der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“. Quelle: www.gutshaus-ar.de