Dr. Johannes Bruns: Innovationen begleiten und unterstützen
Berlin (pag) – Herausforderungen und Fallstricke der komplexen Regulatorik von Innovationen erläutert Dr. Johannes Bruns im Interview. Er findet, dass offene Fragen kein Grund sein sollten, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Damit die Fragen verstärkt in der Versorgung geklärt werden können, mahnt er unter anderem eine grundlegende Perspektiverweiterung des Gemein-samen Bundesausschusses an.

Paragraf 2 SGB V verspricht Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Was bedeutet das grundsätzlich für die Regulatorik von Innovationen?
Bruns: Innovationen kommen überwiegend von außen in das Gesundheitssystem. Je nach Art der Innovationen existieren unterschiedliche Zugänge. Arzneimittel haben sicherlich den privilegiertesten Zugang, weil sie durch eine externe Bewertung, die Zulassung, direkt abgebildet sind. Allerdings bestehen im System selbst Unterschiede: Im niedergelassenen Bereich ist die Zulassung vorgreiflich für die Verschreibung nach Muster 16 – insofern besteht ein unmittelbarer Zugang.
Komplexer sieht es bei den Krankenhäusern aus.
Bruns: Dort gibt es den sogenannten Kalkulations- oder Abbildungsvorbehalt. Rechtlich darf das Krankenhaus Innovationen einsetzen. In der Regel ist die Finanzierung nicht so schnell geklärt. Dafür braucht es eine Abbildung in Einzelverträgen oder nach Kalkulation in den DRGs. Medikamente, die Marktzugang in Deutschland und einen Preis haben, müssen – unterjährig – an einem Stichtag in das System eingepflegt werden, dann bekommen sie eine Bewertung, zum Beispiel ein Zusatzentgelt. Für Innovationen, wie ATMPs, die zwar einen Preis mitbringen aber zusätzlich zum Arzneimittelpreis noch eine Versorgungsleistung benötigen, die ggf. nicht abgebildet ist, besteht kein unmittelbarer Zugang in der Versorgung. Vielmehr entsteht eine zeitliche Hürde. Der Arzt oder die Ärztin ist zwar berufsrechtlich abgesichert, der Einsatz und die Finanzierung des Produkts hängen aber von der Zusage zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen ab. Das verursacht Hemmnisse im Zugang von Innovationen im stationären Bereich.
Arzneimittelinnovationen sind hierzulande einzigartig schnell?
Bruns: Nirgendwo sonst in Europa ist durch die Zulassung und Markteinführung durch den Hersteller unmittelbar eine Finanzierung gesichert. Wir haben unwesentliche zeitliche Verzögerungen durch die Markteinführung, aber neue Arzneimittel sind hier trotzdem schneller als in den anderen europäischen Ländern verfügbar. Spannend ist vor diesem Hintergrund das Thema EU-HTA, das eine europaweite Bewertung vorsieht. Aber die Grundidee, so in den europäischen Ländern den Arzneimittelzugang wie in Deutschland zu erreichen, ist nicht zu erwarten. Denn ich glaube, dass weder die Franzosen noch die Italiener oder die Bulgaren ihre Medikamente aufgrund des europäischen HTA-Verfahrens schneller in den Markt bringen, weil es eben eine ökonomische, nationale Frage ist.

Sind die klassischen Innovationszugänge noch zeitgemäß angesichts der Innovationssprünge, wie es sie zum Beispiel in der Onkologie aktuell gibt?
Bruns: Grundsätzlich stellen sich bei allen Innovationen beim Übergang in die Versorgung sehr häufig Fragen, die nicht alle abschließend in Phase-3-Studien geklärt wurden oder geklärt werden können. Zum Beispiel in der personalisierten Medizin: Handelt es sich um das richtige Medikament für eine bestimmte Patientengruppe? Offene Fragen sollten aber kein Grund sein, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Diese sollten daher verstärkt in der Versorgung geklärt werden – das fordern wir als Deutsche Krebsgesellschaft schon seit Langem.
Also ein längerer Beobachtungsprozess?
Bruns: Ein Übergangsprozess. Vor diesem Hintergrund wurde die Anwendungsbegleitende Datenerhebung eingeführt. Als Deutsche Krebsgesellschaft haben wir vor einigen Jahren auch das Thema Wissen generierende onkologische Versorgung forciert, bei dem Daten aus der Versorgung helfen sollen, offene Fragen zu klären. Ein solches Vorgehen spiegelt sich bereits – allerdings nicht für Arzneimittel – im Paragrafen 137 e SGB V wider. Und wenn man noch weiter in der Gesetzeshistorie zurückgeht, ist und war es der Paragraf 137 c SGB V, der Studien möglich machen sollte, die genau solche Fragestellungen, auch im Krankenhaus, auflösen könnten. Es ist sogar geregelt, wer innerhalb der Studie welche Leistungen bezahlt. Das wissenschaftliche Begleiten und das Unterstützen von Innovationen beim Übergang ins System sind für die Weiterentwicklung des GKV-Systems wichtig.
Aber?

Bruns: Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung passt nicht in die Denk- und Handlungswelt des G-BA. Er will über Innovationen abschließend und juristisch belastbar entscheiden. Dies ist auch das Interesse der Partner im G-BA. Offene Fragen aus der Beratung mit eigenen Instrumenten zu klären, um dann bessere Entscheidungen zu treffen, bedarf einer grundlegenden Perspektiverweiterung des G-BA.
Was für eine Innovationsbegleitung bräuchte es?
Bruns: Ein Modell, das immer wieder diskutiert wird, sieht eine Kofinanzierung der Industrie vor. Dafür gäbe es auch gute Gründe, denn durch einen veränderten oder gar beschleunigten Zulassungsprozess bei der Zulassungsbehörde werden Hersteller entlastet, eine aufwendige Phase-3-Studie zu machen. Mit diesen Ersparnissen könnte man einen „Topf“ füllen, aus dem Innovationen bezahlt werden könnten, um noch fehlende Informationen zu ermitteln.
Offenbar ziehen immer kompliziertere medizinische Innovationen immer komplexere Strukturen in der Regulatorik nach sich. Sehen Sie die Gefahr, dass der Bogen irgendwann überspannt sein könnte, oder ist er das bereits?
Bruns: Ich möchte daran erinnern, dass bei den ersten Überlegungen zu einem Innovationsfonds die Idee der Poolbildung aus GKV-Geldern und Industriegeldern diskutiert wurde, um klinische Fragestellungen des G-BA zu klären. Wir wissen heute, was aus dem Innovationsfonds geworden ist: Der ganze Bereich klinischer Innovation ist bei der Gestaltung des Fonds sukzessive herausgelassen worden. Es geht nicht mehr um medizinische Innovationen, sondern größtenteils um Versorgungsmodellvorhaben und Versorgungsforschung. Die klinischen Fragestellungen – sei es zu Medikamenten, sei es zu DiGA – bleiben dagegen außen vor.
Die Zulassungsbehörden sind mit ihren Entscheidungen flexibler geworden und akzeptieren auch andere Evidenzgrundlagen. Das setzt sich allerdings bei den HTA-Behörden nicht so fort, was zu Problemen bei der Nutzenbewertung führt.
Bruns: Genau, weil vom G-BA für die Arzneimittelbewertung – bei anderen Innovationen ist es ähnlich – regelhaft randomisiert kontrollierte Studien verlangt werden, ist bei deren Fehlen ein nicht belegter Zusatznutzen die Folge.

Die Genomsequenzierung wird im Rahmen eines Modellprojekts nach Paragraph 64e SGB V erprobt, weil man ansonsten „lost in Regulation“ wäre, wie ein beteiligter Akteur sagt. Sind solche Modellvorhaben für die Einführung von komplexen Innovationen in einem geschützten Rahmen die richtige Antwort?
Bruns: Bei dem Modellprojekt handelt es sich sicherlich um die innovativste strukturelle Maßnahme in der Gesetzgebung der vergangenen Jahre. Hier ist es erstmalig möglich, leistungserbringerselektive, aber keine kassenselektiven Leistungen anzubieten. Das heißt, nicht die Zugehörigkeit zur Krankenkasse entscheidet, ob diese Leistung in Anspruch genommen werden kann. Ein weiterer Vorteil: Es wurde gesetzlich festgelegt, dass die Innovationen auch begleitet werden – nämlich durch Datenerhebung. Dreht man dieses Prinzip um, so könnte man Medikamente nur den Leistungserbringern zu Verfügung stellen, die an einer Datenerhebung teilnehmen.
Die Patienten sind alle betroffen…
Bruns: …aber Ärztinnen und Ärzte könnten das Medikament nur dann einsetzen, wenn sie auch die Daten liefern. Das ist das Entscheidende: Wir benötigen Daten, um Wissen in der Onkologie zu generieren. Das ist beim Paragrafen 64 e SGB V sehr gut gestaltet. Es gibt allerdings einen Nachteil.
Welchen?

Bruns: Das Modell oder vor allem das Gesetz regelt nur die Diagnostik.
Können Sie das näher erläutern?
Bruns: Das Modellprojekt regelt nur die Kostenübernahme und Regularien für Diagnostik, nicht aber für die dann notwendige Therapie. Das Modellvorhaben ist nämlich so angedacht, dass sich die unterschiedlichen Teilnehmer als Konsortium oder als Studiengruppe verstehen müssen. Alle müssen sie die gleichen Qualitätsstandards erfüllen. Das ist Voraussetzung, um die Kosten der besonderen Diagnostik erstattet zu bekommen. Bei der dann vorgeschlagenen Therapie – bei der teilweise Medikamente eingesetzt werden, die gar nicht für diese Indikation zugelassen sind und die eine enge ärztliche Begleitung benötigen – gibt es keine Bezahlung. Das bedeutet: Selbst wenn sich alle Ärztinnen und Ärzte im Tumorboard einig sind, dass bei Marker X Medikament Y eingesetzt wird, müssen sie es dann selbst zahlen oder bei der Krankenkasse des jeweiligen Patienten beantragen. Zudem müsste sichergestellt werden, dass alle Patientinnen und Patienten, für die dann die Kostenübernahme geregelt ist, das gleiche Produkt eines Herstellers erhalten. Die Zentren müssen sich daher mit dem Hersteller darüber verständigen, dass dieser das Konsortium bedient und gegebenenfalls den Einsatz außerhalb der Zulassung gestattet. Das alles ist ein unglaublich komplizierter Prozess. An dieser Stelle würde ich dafür plädieren, die Off-Label-Kommission beim BfArM, die derzeit nur vom G-BA angerufen werden kann, in den Prozess zu integrieren.
Wie genau?
Bruns: Indem das Konsortium unmittelbar an die BfArM-Kommission einen Antrag für die Therapien stellt und dort gegebenenfalls eine bevorzugte Beratung stattfindet. Gibt die Kommission grünes Licht für den Off-Label-Einsatz, muss nicht jede einzelne Kasse wegen der Kostenübernahme angefragt werden. Der Einsatz der Therapie wäre dann sozialrechtlich finanziell abgesichert. Außerdem hätte man eine Systematik, wie die erfolgreichen Empfehlungen des Konsortiums – die mit dem Ergebnis einer möglichen Phase-1-Studie vergleichbar sind – wieder in einen Zulassungsprozess kommen könnten. Viele werden sagen, dass es sich im Modellvorhaben nur um Kolibris handelt.
Was entgegnen Sie denen?
Bruns: Es könnte auch sein, dass entscheidende und innovative Beobachtungen gemacht werden. Wie beispielsweise bei den ATMPs, bei denen anfangs auch viele sehr skeptisch waren.
Was schlussfolgern Sie daraus?

Bruns: Der Paragraph 64 e ist eine echte Innovation, da er die Möglichkeit bietet, passende Leistungserbringer – sprich spezialisierte Zentren – zu identifizieren, um die passenden Patientinnen und Patienten mit der passenden Diagnostik zu behandeln. Allerdings sind die Zentren mehr oder weniger barfuß unterwegs, wenn es anschließend um die Therapie geht. Hier haben wir dringenden Nachbesserungsbedarf.
Wenn wir den Nutzen und Wert von medizinischen Innovationen begutachten, denken wir ausschließlich in den Logiken des SGB V. Wir sehen nicht, welcher Nutzen insgesamt gestiftet wird, Stichwort Pflege, Erwerbsfähigkeit, Arbeitsplatz. Ist die isolierte GKV-Betrachtung überhaupt noch passend oder müssen wir größer denken?
Bruns: Den Versuch, größer zu denken, gibt es schon lange. Gesundheitsökonomische Betrachtungen sind sogar im AMNOG mit angelegt, allerdings haben wir aktuell keine Daten, mit denen wir solche Auswirkungen adäquat erfassen könnten. Bei Patientinnen und Patienten, die beispielsweise im Rahmen des Modellvorhabens behandelt werden, sind wir schon froh, medizinische Daten generieren zu können.
Zur Person
Dr. Johannes Bruns ist seit 2006 Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft. Zuvor leitete der Chirurg die Abteilung für medizinische Grundsatzfragen/Leistungen beim Verband der Angestellten Krankenkassen e. V. (VdAK, heute vdek). Weitere berufliche Stationen waren die Abteilung für Unfallchirurgie an der Universität Bonn und der Bundestag.
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