Der Sachverständigenrat präsentiert zahlreiche Vorschläge
Berlin (pag) – Der Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege (SVR) hat Ende Mai sein neues Gutachten „Preise innovativer Arzneimittel in einem lernenden Gesundheitssystem“ vorgestellt. Das Werk wird einen Monat später auf einem Symposium des Gremiums diskutiert, auf dem gleichzeitig das 40-jährige Bestehen des Rates zelebriert wird. Und deshalb stehen nicht nur Arzneimittelpreise im Mittelpunkt der Veranstaltung, sondern auch Politikberatung. Es geht um das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik.

Für Prof. Norbert Lammert ist das Verhältnis ein gelegentlich spannungsvolles, das auch durch gegenseitiges Misstrauen geprägt werde. Für ihn weniger ein Kommunikationsproblem, sondern ein Resultat der prinzipiell sehr unterschiedlichen Aufgabenstellung. „Wissenschaft will wissen, was ist und warum es so ist, wie es ist. Politik will ändern, was ist oder verhindern, dass sich verändert, was ist“, so der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags. Er erkennt zwischen Wissenschaft und Politik ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Weder könne sich die Politik gänzlich und schon gar nicht dauerhaft von wissenschaftlichen Erkenntnissen isolieren, noch sei die Wissenschaft völlig unabhängig von den Rechten und Ressourcen, die ihr das jeweilige politische System zur Verfügung stellt oder gelegentlich auch verweigert. Lammert bringt es wie folgt auf den Punkt: „Das Parlament ist ahnungslos, aber legitimiert für Entscheidungen. Die Wissenschaft verfügt über die Ahnungen, derer die Politik entbehrt, hat aber keine Legitimation, verbindliche Entscheidungen herbeizuführen.“ Entscheidend ist für ihn auch, dass sich Politiker immer wieder um Kompromisse bemühen müssten, während diese für Wissenschaftler „beinahe eine Kapitulationserklärung“ darstellten. Mit diesem Spannungsverhältnis müssten beide Seiten intelligent und gelassen umgehen. Es gelte folgende Arbeitsteilung: Die Wissenschaft ist für verlässliche Befunde zuständig, die Politik für verantwortliche und verantwortbare Entscheidungen.
„Segnungen der Innovationen“

Vor dem Hintergrund dieser Reflektionen erläutert der SVR-Vorsitzende Prof. Michael Hallek die Intention des neuen Gutachtens. „Es geht darum, unser System solidarisch zu halten“, so der Onkologe, der nach eigener Aussage genau um die „Segnungen der Innovationen in der Medizin“ weiß. Auch in zehn bis 20 Jahren sollten daher alle Patienten, die innovative Medikamente benötigen, diese verordnet bekommen können – und zwar unabhängig vom finanziellen und sozialen Status.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken dankt ihm für die Expertise, die viel Lob auf Kassenseite und Kritik seitens der Industrie geerntet hat (siehe Infokasten). Die Politikerin lobt das Wissenschaftlergremium als stets verlässlichen Impulsgeber für die Politik: analytisch, kritisch und zugleich konstruktiv. Seine Gutachten wirkten weit über den tagespolitischen Horizont hinaus und könnten dabei helfen, „politische Prioritäten richtig zu setzen“.
Das System und der Einzelne
Warken kündigt an, die Vorschläge des Rates im Rahmen des Pharmadialogs, der zügig wieder eingesetzt werden soll, zu beraten. Ihr ist es besonders wichtig, Forschung und Entwicklung weiter zu fördern und zu erleichtern. Neben einem Abbau bürokratischer Hürden, zum Beispiel bei der Planung und Durchführung klinischer Studien, gehörten dazu auch ein „ermöglichender Datenschutz“ sowie eine ausgebaute und etablierte elektronische Patientenakte. „Denn von Forschung und klinischen Studien in Deutschland profitieren besonders Patientinnen und Patienten, deren Erkrankungen bisher nicht ausreichend behandelt werden können“, sagt sie. Gute Rahmenbedingungen für die pharmazeutische Industrie nutzten jedoch nicht nur einer besseren Versorgung der Patienten mit neuen Arzneimitteln. Die Pharmaindustrie habe einen hohen Stellen.wert für die Forschung und Wirtschaft in Deutschland. Ihre Förderung ist für die Politikerin daher sowohl aus gesundheitspolitischen als auch aus forschungs- und wirtschaftspolitischen Gründen unerlässlich. Es gelte, im internationalen Wettbewerb nachzuziehen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Warkens Resümee: „Es gilt immer abzuwägen, wie das System als Ganzes verbessert werden kann und zugleich das Wohl des einzelnen Patienten im Blick zu halten.“
Reaktionen auf das Gutachten
Auf Kassenseite lobt etwa der AOK-Bundesverband die aktuellen „wegweisenden Vorschläge“ des SVR. Die „klare Aufforderung für eine dynamische, bedarfsgerechte Preisbildung einerseits und die ebenso klare Absage an eine Standortförderung auf GKV-Kosten auf der anderen Seite“ sind sehr zu begrüßen, sagt Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender.
Beim BKK Dachverband findet neben den dynamischen Preisanpassungen auch das globale Budget mit Abschlägen bei Überschreitung Zustimmung. Dagegen konstatiert Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland: „Dort, wo Forschung, Entwicklung und Versorgung auf hohem Niveau stattfinden sollen, braucht es ein verlässliches wirtschaftliches Fundament – dazu gehört auch eine faire und innovationsfreundliche Preisgestaltung mit gesamtwirtschaftlichem Blick und nicht nur die Abbildung einer lang bekannten Wunschliste der Kostenträger.“
Die Vorschläge des Gutachtens im Einzelnen
Bepreisung innovativer Arzneimittel im AMNOG-Verfahren
- verbindliche Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) einige Monate vor Einreichung des Dossiers durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA)
- reguläre Nutzenbewertung von Orphan Drugs, der Orphan-Drug-Status wird im Rahmen der Preisbildung berücksichtigt
- Kosten-Nutzwert-Bewertungen unter Verwendung einer indikationsübergreifenden Maßeinheit routinemäßig bei einer definierten Auswahl von Arzneimitteln durchführen
- anstelle freier Preisfestsetzung in den ersten sechs Monaten: extern festgelegter Interimspreis, der sich an den Kosten der zVT orientiert, die Differenz zwischen Interimspreis und dem später verhandelten Erstattungsbetrag wird rückwirkend ausgeglichen
- der GKV-SV kann von den Preisverhandlungen zurückzutreten, dabei werden Zusatznutzen, der geforderte Preis sowie Behandlungsalternativen berücksichtigt
- wirkstoffübergreifende Ausschreibungen für Krankenkassen
Europäischer Kontext
- das EU-Verfahren wird zur gemeinsamen Beschaffung für ausgewählte Arzneimittel genutzt – über die derzeitige Beschränkung auf Arzneimittel zur Bekämpfung schwerer grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren hinaus
- der Ausbau der Forschungs(daten)infrastruktur wird auf europäischer Ebene vorangetrieben, umfassende Vernetzung und Zusammenarbeit nationaler Register auf europäischer Ebene zur gemein.samen Datenerhebung und -nutzung
Instrumente für eine evidenzbasierte Bewertung innovativer Arzneimittel
- regelmäßige Überprüfung und ggf. Neubestimmung des Zusatznutzens, Stärkung der systematischen Anreize für pharmazeutische Unternehmen zur Studiendurchführung, bei hohem Erkenntnisinteresse der Solidargemeinschaft werden industrieunabhängige Studien durchgeführt, für die der G-BA Fördermittel bereitstellt
- Modernisierung der Forschungs(daten)infrastruktur, die die Anwendung innovativer Studiendesigns (z. B. registerbasierte Interventionsstudien) und den Zugang zu versorgungsnahen Daten für die Forschung ermöglicht, Grundlage dafür: eine vernetzte Gesundheitsregisterlandschaft mit funktionalen digitalen Prozessen und einem ermöglichenden Datenschutz
Weiterentwicklung der Preisbildungsinstrumente
- ein jährlich anzupassendes Arzneimittelbudget für patentgeschützte, hochpreisige Arzneimittel, welches sich an Veränderungen des Bruttoinlandsprodukts orientiert, bei Überschreitung der Budgetgrenze fallen einheitliche, prospektiv festgelegte prozentuale Preisabschläge auf alle eingeschlossenen Arzneimittel an
- stärkerer Fokus auf Preisanpassung im Zeitverlauf: Reduktionen des zVT-Erstattungspreises führen zu Senkungen des Preises des darauf referenzierenden Arzneimittels, eine neue Evidenzlage nach der frühen Nutzenbewertung führt möglichst konsequent zu einer Re-Evaluation und erneuten Preisverhandlungen, notwendig dafür: eine Monitoringstrategie zur systematischen Sichtung von neuer Evidenz für ausgewählte Arzneimittel
- bei teuren Einmalgaben kommen stärker erfolgsabhängige Vergütungsmodelle (Pay-for-Performance-Modelle) zum Einsatz
- stärkere Forschungsanstrengungen zur evidenzbasierten Ermittlung der Zahlungsbereitschaft der Solidargemeinschaft für den Zusatznutzen innovativer Arzneimittel, die Nutzung eines Maximalpreises als starre Entscheidungsregel für die Erstattung lehnt der Rat ab
Preisbildung und Standortförderung
- Ablehnung der im Medizinforschungsgesetz vorgesehenen Koppelung des Preises an Standortentscheidungen für klinische Forschung in Deutschland, laut SVR führt ein hohes Arzneimittelpreisniveau nicht zu mehr Industrieansiedlung
- Standortförderung von pharmazeutischen Unter.nehmen durch: Entlastung von unnötiger Bürokratie und steuerfinanzierte Fördermaßnahmen, Ausbau einer vernetzten, digitalen Forschungs(daten)infrastruktur, konsequenten Ausbau bestehender Wettbewerbsvorteile, Etablierung einer zentralen Anlaufstelle für die reibungslose Initiierung klinischer Studien, Einführung eines Innovationsmonitorings, das die Effekte innovativer Arzneimittel auf Ausgaben und Gesellschaft erfasst.
Weiterführender Link:
„Preise innovativer Arzneimittel in einem lernenden Gesundheitssystem“, 2025, Gutachten des SVR, PDF, 199 Seiten


























