Herausforderungen beim Übergang ins GKV-System

Dr. Johannes Bruns: Innovationen begleiten und unterstützen

Berlin (pag) – Herausforderungen und Fallstricke der komplexen Regulatorik von Innovationen erläutert Dr. Johannes Bruns im Interview. Er findet, dass offene Fragen kein Grund sein sollten, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Damit die Fragen verstärkt in der Versorgung geklärt werden können, mahnt er unter anderem eine grundlegende Perspektiverweiterung des Gemein-samen Bundesausschusses an.

Dr. Johannes Bruns © pag, Fiolka

Paragraf 2 SGB V verspricht Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Was bedeutet das grundsätzlich für die Regulatorik von Innovationen?

Bruns: Innovationen kommen überwiegend von außen in das Gesundheitssystem. Je nach Art der Innovationen existieren unterschiedliche Zugänge. Arzneimittel haben sicherlich den privilegiertesten Zugang, weil sie durch eine externe Bewertung, die Zulassung, direkt abgebildet sind. Allerdings bestehen im System selbst Unterschiede: Im niedergelassenen Bereich ist die Zulassung vorgreiflich für die Verschreibung nach Muster 16 – insofern besteht ein unmittelbarer Zugang.

Komplexer sieht es bei den Krankenhäusern aus.

Bruns: Dort gibt es den sogenannten Kalkulations- oder Abbildungsvorbehalt. Rechtlich darf das Krankenhaus Innovationen einsetzen. In der Regel ist die Finanzierung nicht so schnell geklärt. Dafür braucht es eine Abbildung in Einzelverträgen oder nach Kalkulation in den DRGs. Medikamente, die Marktzugang in Deutschland und einen Preis haben, müssen – unterjährig – an einem Stichtag in das System eingepflegt werden, dann bekommen sie eine Bewertung, zum Beispiel ein Zusatzentgelt. Für Innovationen, wie ATMPs, die zwar einen Preis mitbringen aber zusätzlich zum Arzneimittelpreis noch eine Versorgungsleistung benötigen, die ggf. nicht abgebildet ist, besteht kein unmittelbarer Zugang in der Versorgung. Vielmehr entsteht eine zeitliche Hürde. Der Arzt oder die Ärztin ist zwar berufsrechtlich abgesichert, der Einsatz und die Finanzierung des Produkts hängen aber von der Zusage zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen ab. Das verursacht Hemmnisse im Zugang von Innovationen im stationären Bereich.

Arzneimittelinnovationen sind hierzulande einzigartig schnell?

Bruns: Nirgendwo sonst in Europa ist durch die Zulassung und Markteinführung durch den Hersteller unmittelbar eine Finanzierung gesichert. Wir haben unwesentliche zeitliche Verzögerungen durch die Markteinführung, aber neue Arzneimittel sind hier trotzdem schneller als in den anderen europäischen Ländern verfügbar. Spannend ist vor diesem Hintergrund das Thema EU-HTA, das eine europaweite Bewertung vorsieht. Aber die Grundidee, so in den europäischen Ländern den Arzneimittelzugang wie in Deutschland zu erreichen, ist nicht zu erwarten. Denn ich glaube, dass weder die Franzosen noch die Italiener oder die Bulgaren ihre Medikamente aufgrund des europäischen HTA-Verfahrens schneller in den Markt bringen, weil es eben eine ökonomische, nationale Frage ist.

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Sind die klassischen Innovationszugänge noch zeitgemäß angesichts der Innovationssprünge, wie es sie zum Beispiel in der Onkologie aktuell gibt?

Bruns: Grundsätzlich stellen sich bei allen Innovationen beim Übergang in die Versorgung sehr häufig Fragen, die nicht alle abschließend in Phase-3-Studien geklärt wurden oder geklärt werden können. Zum Beispiel in der personalisierten Medizin: Handelt es sich um das richtige Medikament für eine bestimmte Patientengruppe? Offene Fragen sollten aber kein Grund sein, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Diese sollten daher verstärkt in der Versorgung geklärt werden – das fordern wir als Deutsche Krebsgesellschaft schon seit Langem.

Also ein längerer Beobachtungsprozess?

Bruns: Ein Übergangsprozess. Vor diesem Hintergrund wurde die Anwendungsbegleitende Datenerhebung eingeführt. Als Deutsche Krebsgesellschaft haben wir vor einigen Jahren auch das Thema Wissen generierende onkologische Versorgung forciert, bei dem Daten aus der Versorgung helfen sollen, offene Fragen zu klären. Ein solches Vorgehen spiegelt sich bereits – allerdings nicht für Arzneimittel – im Paragrafen 137 e SGB V wider. Und wenn man noch weiter in der Gesetzeshistorie zurückgeht, ist und war es der Paragraf 137 c SGB V, der Studien möglich machen sollte, die genau solche Fragestellungen, auch im Krankenhaus, auflösen könnten. Es ist sogar geregelt, wer innerhalb der Studie welche Leistungen bezahlt. Das wissenschaftliche Begleiten und das Unterstützen von Innovationen beim Übergang ins System sind für die Weiterentwicklung des GKV-Systems wichtig.

Aber?

„Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung passt nicht in die Denk- und Handlungswelt des G-BA. Er will über Innovationen abschließend und juristisch belastbar abschließend entscheiden.“ © stock.adobe.com, Gorodenkoff

Bruns: Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung passt nicht in die Denk- und Handlungswelt des G-BA. Er will über Innovationen abschließend und juristisch belastbar entscheiden. Dies ist auch das Interesse der Partner im G-BA. Offene Fragen aus der Beratung mit eigenen Instrumenten zu klären, um dann bessere Entscheidungen zu treffen, bedarf einer grundlegenden Perspektiverweiterung des G-BA.

Was für eine Innovationsbegleitung bräuchte es?

Bruns: Ein Modell, das immer wieder diskutiert wird, sieht eine Kofinanzierung der Industrie vor. Dafür gäbe es auch gute Gründe, denn durch einen veränderten oder gar beschleunigten Zulassungsprozess bei der Zulassungsbehörde werden Hersteller entlastet, eine aufwendige Phase-3-Studie zu machen. Mit diesen Ersparnissen könnte man einen „Topf“ füllen, aus dem Innovationen bezahlt werden könnten, um noch fehlende Informationen zu ermitteln.

Offenbar ziehen immer kompliziertere medizinische Innovationen immer komplexere Strukturen in der Regulatorik nach sich. Sehen Sie die Gefahr, dass der Bogen irgendwann überspannt sein könnte, oder ist er das bereits?

Bruns: Ich möchte daran erinnern, dass bei den ersten Überlegungen zu einem Innovationsfonds die Idee der Poolbildung aus GKV-Geldern und Industriegeldern diskutiert wurde, um klinische Fragestellungen des G-BA zu klären. Wir wissen heute, was aus dem Innovationsfonds geworden ist: Der ganze Bereich klinischer Innovation ist bei der Gestaltung des Fonds sukzessive herausgelassen worden. Es geht nicht mehr um medizinische Innovationen, sondern größtenteils um Versorgungsmodellvorhaben und Versorgungsforschung. Die klinischen Fragestellungen – sei es zu Medikamenten, sei es zu DiGA – bleiben dagegen außen vor.

Die Zulassungsbehörden sind mit ihren Entscheidungen flexibler geworden und akzeptieren auch andere Evidenzgrundlagen. Das setzt sich allerdings bei den HTA-Behörden nicht so fort, was zu Problemen bei der Nutzenbewertung führt.

Bruns: Genau, weil vom G-BA für die Arzneimittelbewertung – bei anderen Innovationen ist es ähnlich – regelhaft randomisiert kontrollierte Studien verlangt werden, ist bei deren Fehlen ein nicht belegter Zusatznutzen die Folge.

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Die Genomsequenzierung wird im Rahmen eines Modellprojekts nach Paragraph 64e SGB V erprobt, weil man ansonsten „lost in Regulation“ wäre, wie ein beteiligter Akteur sagt. Sind solche Modellvorhaben für die Einführung von komplexen Innovationen in einem geschützten Rahmen die richtige Antwort?

Bruns: Bei dem Modellprojekt handelt es sich sicherlich um die innovativste strukturelle Maßnahme in der Gesetzgebung der vergangenen Jahre. Hier ist es erstmalig möglich, leistungserbringerselektive, aber keine kassenselektiven Leistungen anzubieten. Das heißt, nicht die Zugehörigkeit zur Krankenkasse entscheidet, ob diese Leistung in Anspruch genommen werden kann. Ein weiterer Vorteil: Es wurde gesetzlich festgelegt, dass die Innovationen auch begleitet werden – nämlich durch Datenerhebung. Dreht man dieses Prinzip um, so könnte man Medikamente nur den Leistungserbringern zu Verfügung stellen, die an einer Datenerhebung teilnehmen.

Die Patienten sind alle betroffen…

Bruns: …aber Ärztinnen und Ärzte könnten das Medikament nur dann einsetzen, wenn sie auch die Daten liefern. Das ist das Entscheidende: Wir benötigen Daten, um Wissen in der Onkologie zu generieren. Das ist beim Paragrafen 64 e SGB V sehr gut gestaltet. Es gibt allerdings einen Nachteil.

Welchen?

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Bruns: Das Modell oder vor allem das Gesetz regelt nur die Diagnostik.

Können Sie das näher erläutern?

Bruns: Das Modellprojekt regelt nur die Kostenübernahme und Regularien für Diagnostik, nicht aber für die dann notwendige Therapie. Das Modellvorhaben ist nämlich so angedacht, dass sich die unterschiedlichen Teilnehmer als Konsortium oder als Studiengruppe verstehen müssen. Alle müssen sie die gleichen Qualitätsstandards erfüllen. Das ist Voraussetzung, um die Kosten der besonderen Diagnostik erstattet zu bekommen. Bei der dann vorgeschlagenen Therapie – bei der teilweise Medikamente eingesetzt werden, die gar nicht für diese Indikation zugelassen sind und die eine enge ärztliche Begleitung benötigen – gibt es keine Bezahlung. Das bedeutet: Selbst wenn sich alle Ärztinnen und Ärzte im Tumorboard einig sind, dass bei Marker X Medikament Y eingesetzt wird, müssen sie es dann selbst zahlen oder bei der Krankenkasse des jeweiligen Patienten beantragen. Zudem müsste sichergestellt werden, dass alle Patientinnen und Patienten, für die dann die Kostenübernahme geregelt ist, das gleiche Produkt eines Herstellers erhalten. Die Zentren müssen sich daher mit dem Hersteller darüber verständigen, dass dieser das Konsortium bedient und gegebenenfalls den Einsatz außerhalb der Zulassung gestattet. Das alles ist ein unglaublich komplizierter Prozess. An dieser Stelle würde ich dafür plädieren, die Off-Label-Kommission beim BfArM, die derzeit nur vom G-BA angerufen werden kann, in den Prozess zu integrieren.

Wie genau?

Bruns: Indem das Konsortium unmittelbar an die BfArM-Kommission einen Antrag für die Therapien stellt und dort gegebenenfalls eine bevorzugte Beratung stattfindet. Gibt die Kommission grünes Licht für den Off-Label-Einsatz, muss nicht jede einzelne Kasse wegen der Kostenübernahme angefragt werden. Der Einsatz der Therapie wäre dann sozialrechtlich finanziell abgesichert. Außerdem hätte man eine Systematik, wie die erfolgreichen Empfehlungen des Konsortiums – die mit dem Ergebnis einer möglichen Phase-1-Studie vergleichbar sind – wieder in einen Zulassungsprozess kommen könnten. Viele werden sagen, dass es sich im Modellvorhaben nur um Kolibris handelt.

Was entgegnen Sie denen?

Bruns: Es könnte auch sein, dass entscheidende und innovative Beobachtungen gemacht werden. Wie beispielsweise bei den ATMPs, bei denen anfangs auch viele sehr skeptisch waren.

Was schlussfolgern Sie daraus?

Das Interview mit Dr. Bruns führten opg-Herausgeberin Lisa Braun (im Foto links) und pag-Redakteurin Antje Hoppe. Die Fotos erstellte Anna Fiolka.

Bruns: Der Paragraph 64 e ist eine echte Innovation, da er die Möglichkeit bietet, passende Leistungserbringer – sprich spezialisierte Zentren – zu identifizieren, um die passenden Patientinnen und Patienten mit der passenden Diagnostik zu behandeln. Allerdings sind die Zentren mehr oder weniger barfuß unterwegs, wenn es anschließend um die Therapie geht. Hier haben wir dringenden Nachbesserungsbedarf.

Wenn wir den Nutzen und Wert von medizinischen Innovationen begutachten, denken wir ausschließlich in den Logiken des SGB V. Wir sehen nicht, welcher Nutzen insgesamt gestiftet wird, Stichwort Pflege, 
Erwerbsfähigkeit, Arbeitsplatz. Ist die isolierte GKV-Betrachtung überhaupt noch passend oder müssen 
wir größer denken?

Bruns: Den Versuch, größer zu denken, gibt es schon lange. Gesundheitsökonomische Betrachtungen sind sogar im AMNOG mit angelegt, allerdings haben wir aktuell keine Daten, mit denen wir solche Auswirkungen adäquat erfassen könnten. Bei Patientinnen und Patienten, die beispielsweise im Rahmen des Modellvorhabens behandelt werden, sind wir schon froh, medizinische Daten generieren zu können.

 

Zur Person
Dr. Johannes Bruns ist seit 2006 Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft. Zuvor leitete der Chirurg die Abteilung für medizinische Grundsatzfragen/Leistungen beim Verband der Angestellten Krankenkassen e. V. (VdAK, heute vdek). Weitere berufliche Stationen waren die Abteilung für Unfallchirurgie an der Universität Bonn und der Bundestag.

 

Hinweis:

Das Interview ist gekürzt. Der vollständige Text ist in der OPG-Spezial-Ausgabe „Wie Innovationen in die Versorgung kommen“, erschienen im April 2025, nachzulesen. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Bestellung finden Sie unter diesem Link.

 

Innovationszugänge modernisieren

Genomsequenzierung, ATMPs und Co. verlangen nach neuer Regulatorik

Berlin (pag) – Extrem ausgeklügelte Mechanismen regulieren hierzulande die Einführung von Innovationen in die Welt der GKV. Diese unterscheiden sich nicht nur nach Art der Innovation, sondern auch nach den Sektoren. Das Problem: Die Regularien werden immer komplexer und die Innovationen drohen im Regulationsdickicht verloren zu gehen. Zeit, neue Wege zu beschreiten.

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Ein neuer Weg wird mit dem Modellprojekt Genomsequenzierung beschritten, das im vergangenen Jahr gestartet ist. Das Ziel: Patienten mit einer seltenen Erkrankung oder einer fortgeschrittenen Krebserkrankung soll mit einer schnelleren Diagnosestellung oder einer zielgerichteteren Therapierempfehlung geholfen werden. Mit dem 2021 verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wurde die rechtliche Grundlage gelegt, um die hochmoderne und komplexe Diagnostik in der Versorgung zu erproben und mögliche zukünftige Anwendungsfälle zu identifizieren. Vertragspartner sind der GKV-Spitzenverband und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD). Es nehmen über 20 Universitätsstandorte teil, der Kassenverband zahlt für die fünfeinhalbjährige Laufzeit 700 Millionen Euro. Für VUD-Generalsekretär Jens Bussmann ist das Modellvorhaben Neuland. Aber ohne die Initiative wäre die Genomsequenzierung „lost in regulation“. Er sieht das Projekt daher als ein positives Beispiel für die Einführung von Innovationen. So äußert sich Bussmann im vergangenen Jahr auf dem genomDE-Symposium. Seit April dieses Jahres steht fest, dass genomDE bis Ende 2025 fortgeführt wird. Dahinter steht die Absicht, die bisher für das Modellvorhaben Genomsequenzierung erarbeiteten Konzepte weiter auszubauen.

Anspruchsvolle Finanzierungsfragen

Innovationen drohen im Regulationsdickicht verloren zu gehen. Zeit, neue Wege zu beschreiten. © iStock.com, gremlin; Bearbeitung: A. Fiolka

Tatsächlich soll der Ansatz des Modellprojekts demnächst „ein wenig kopiert“ werden, wie Thomas Müller vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei einer Tagung des Handelsblattes kürzlich verrät. Es geht um Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP), konkret wohl vor allem um CAR-T-Zelltherapien. Wichtig ist dem BMG-Abteilungsleiter Arzneimittel insbesondere, einen „bürokratiearmen Rahmen“ zu schaffen – sowohl für die Anwendung wie für die Eigenproduktion von CAR-T-Zellen. Auch die sehr anspruchsvollen Finanzierungsfragen sollen grundsätzlich geklärt und nicht mehr von jeder Klinik einzeln verhandelt werden.
Auf Nachfrage der Presseagentur Gesundheit erläutert Müller, dass es sich bei dem Modellvorhaben für universitäre ATMP-Innovationszentren um eine „Konzeptidee für einen weiteren innovativen Versorgungsansatz“ handele, mit dem Therapieoptionen im Bereich der ATMP in einem strukturierten, wissensgenerierenden und qualitätsgesicherten Versorgungsablauf und einem bundeseinheitlichen Erstattungsmodell Patientinnen und Patienten in spezialisierten universitären Einrichtungen zugänglich gemacht werden könnten. „Diese Konzeptidee wollen wir mit den Bundesoberbehörden – PEI und BfArM – und den Stakeholdern weiterentwickeln.“

ATMP-Register mitdenken

Mitgedacht und berücksichtigt werden sollen Müller zufolge auch das nach Paragraf 4c des Arzneimittelgesetzes zu erarbeitende Konzept zur Schaffung eines indikationsbezogenen ATMP-Registers sowie bereits vorhandene einschlägige Strukturen. Zu letzterem zählt insbesondere das vom Innovationsfonds geförderte Projekt INTEGRATE-ATMP (siehe Infokasten).

Was ist INEGRATE-ATMP?
Das Projekt INTEGRATE-ATMP entwickelt harmonisierte und qualitätsgesicherte Instrumente zur Sicherung der bestmöglichen Behandlungsqualität von Patientinnen und Patienten, die mit ATMPs therapiert werden. Dazu gehören strukturierte Pläne für die Vor- und Nachsorge, die in allen beteiligten Zentren angewendet werden. Eine telemedizinische Kommunikationsplattform und App sollen den direkten Austausch aller Beteiligten (Patienten, Ärzte und Case Managern) ermöglichen bzw. vereinfachen. Das im Rahmen des Projekts entstehende Register ist den Verantwortlichen zufolge so angelegt, dass es Daten zu unterschiedlichen Erkrankungen, die mit ATMPs behandelt werden, erfassen kann. Dabei soll es bereits bestehende Krankheitsregister nicht ersetzen, sondern mit ihnen verknüpft werden und in Zukunft auch um neue ATMP-Zulassungen erweiterbar sein.

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Modellvorhaben – sei es aktuell zur Genomsequenzierung oder zukünftig für ATMPs – zeigen, dass die bisherige Regulation neuartiger Innovationen derzeit offenbar an ihre Grenzen stößt. Beim AMNOG wird etwa intensiv darüber diskutiert, ob das Verfahren überhaupt noch zeitgemäß ist oder ein grundsätzliches Update benötigt. Die Grundsatzfrage, die dahintersteckt: Wie kann die Regulation von Innovationen möglichst schnell an den medizinischen Fortschritt angepasst werden? Wie passend ist sie für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie fürchtet etwa, dass der medizinische Fortschritt durch systemische Hürden ausgebremst werden könnte.

Nicht überzeugend funktioniert

Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel im BMG: „Wenn man zu komplex reguliert, erreicht man oft nicht das Angestrebte.“ © iStock.com, sesame

Dieser Aufgabe muss sich die neue Bundesregierung stellen, die im Koalitionsvertrag angekündigt hat, das AMNOG in Bezug auf Leitplanken und die personalisierte Medizin weiterentwickeln zu wollen. „Dabei ermöglichen wir den Zugang zu innovativen Therapien und Arzneien und stellen gleichzeitig eine nachhaltig tragbare Finanzierung sicher“, heißt es salomonisch.

Ob der Kurs der vergangenen Legislatur mit äußerst komplexen Regulierungen weitergeführt wird, dürfte dagegen eher fraglich sein. Im Bundesgesundheitsministerium scheint man von allzu komplexen Regulierungen derzeit nicht mehr angetan. Das legen zumindest Müllers Erfahrungen mit der Leitplanken-Regelung nahe. Er sagt bei der Pharma-Tagung: „Wenn man zu komplex reguliert, erreicht man oft nicht das Angestrebte.“ Insgesamt hätten die sehr komplexen Regeln zur Steuerung und Senkung der Arzneimittelausgaben – wie Leitplanken und der Kombinationsabschlag – nicht überzeugend funktioniert und zudem „politische Antikörperreflexe“ hervorgerufen. Zu AMNOG 2.0 gibt der ministerielle Abteilungsleiter Arzneimittel zu Protokoll, dass er nicht daran glaube, „dass wir beim AMNOG, was die Preisfindung angeht, noch wesentlich weiterkommen“. Das Verfahren habe zwar für die Evidenz viel gebracht, in Sachen Ausgabendämpfung funktioniere es allerdings nur bescheiden.

Vielleicht ist die Zeit reif für einen mutigen Neuaufschlag.

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Mehr Versorgungsperspektive im AMNOG
Bei einem Panel der Pharma-Tagung des Handelsblattes steht das Thema mehr Versorgungsperspektive im AMNOG im Mittelpunkt.
•  Für Han Steutel, Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (vfa), eine wichtige Ergänzung, um das Verfahren auf künftige Herausforderungen vorzubereiten.
•  Sabine Jablonka, Leiterin der Abteilung Arznei-, Heil- und Hilfsmittel beim AOK-Bundesverband, ist skeptisch, die Versorgungsperspektive sei bereits intensiv im AMNOG abgebildet. „Versorgungsbedarf statt Evidenz – das wird nicht funktionieren.“ 

•  Dr. Juliane Cornelsen, Leiterin der Abteilung Arzneimittel bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, hat dagegen den Eindruck, dass die therapeutische Relevanz dem Verfahren über die Jahre etwas abhandengekommen sei. Sie wünscht sich schnellere Anpassungen, etwa bei Endpunkten. „Da ist die Methodik aber an vielen Stellen sehr langsam.“
•  Prof. Bernhard Wörmann von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie fordert angesichts vieler maligner Erkrankungen, die mittlerweile chronifiziert seien: „Wir müssen Overall-Survival in der Onkologie wegkommen.“ Der medizinische Leiter der Fachgesellschaft hebt insbesondere die Bedeutung des Endpunktes Lebensqualität hervor.

Neuer Anlauf Registergesetz

Mögliche Inhalte, Herausforderungen und Chancen

Berlin/Köln (pag) – Inhalte des schon lange erwarteten Registergesetzes skizziert kürzlich Jana Holland, Bundesgesundheitsministerium (BMG), bei einer Veranstaltung von Pharma Deutschland. Durch das Ampel-Aus im vergangenen Jahr konnte der „fast fertige Referentenentwurf“ nicht mehr auf die Straße gebracht werden, berichtet sie.

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Zur Erinnerung: Bereits 2020 veröffentlichte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen Rapid Report, der sich mit der Thematik befasst („Konzepte zur Generierung versorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a SGB V“). Für Holland ein Paradigmenwechsel. Ein Jahr später folgt das „Gutachten zur Weiterentwicklung medizinischer Register zur Verbesserung der Dateneinspeisung“, das die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) und das BQS Institut für Qualität & Patientensicherheit im Auftrag des Ministeriums erstellen. Der Koalitionsvertrag der Ampel verspricht dann ein Medizinregistergesetz. 2022 finden Stakeholderprozesse wie Fachgespräche und Workshops mit Registerbetreibern, Datennutzenden etc. statt, berichtet Holland, BMG-Referatsleiterin Medizinische Datenbanken und Register. 2023 werden im BMG Eckpunkte des Gesetzes formuliert, im vergangenen Jahr dann der nahezu fertige Referentenentwurf. „Dieses Thema ist schon sehr lang in unserem Haus in der Überlegung“, fasst sie die Vorgeschichte zusammen. Die Ausgangslage ist noch immer nahezu unverändert: Die Registerlandschaft zeichnet sich durch fehlende Transparenz aus, die circa 400 medizinischen Register sind äußerst heterogen, das ebenso heterogene Normengeflecht sorgt bei den nicht spezialgesetzlich geregelten Registern für Rechtsunsicherheiten.

Kein Korsett

„Wir wollen keines der Register in ein Korsett zwingen“, betont Jana Holland vom BMG. © privat

Der Fokus des künftigen Gesetzes soll daher auf diesen Registern liegen. Die Kernelemente lauten: Transparenz, Qualität, Datenverarbeitung und -nutzung. Zur Qualifizierung der Register sind nach derzeitigem Stand Mindestkriterien vorgesehen, deren Erfüllung allerdings nur auf freiwilliger Basis vorgesehen ist, wie Holland betont. „Wir wollen keines der Register in ein Korsett zwingen.“ Sie spricht von einem Angebot, sich unter den „Schirm der Bundesgesetzgebung“ zu begeben – mit der Maßgabe, dann einen Qualifizierungsprozess zu durchlaufen. Es solle allerdings kein neues Qualifizierungsverfahren eingeführt werden, sondern man wolle bei bisher bereits stattfindenden Prüfungen ansetzen.

Auf diesen Mindestkriterien könnten für bestimmte Zwecke weitere Zusatzkriterien aufgesattelt werden – beispielsweise für das Thema Nutzenbewertung. Diese Zusatzkriterien werden aber nicht Teil des Registergesetzes sein, stellt die BMG-Vertreterin klar. Durch die Mindestkriterien werden die Register allerdings bereits für weitere Verfahren vorbereitet. Holland stellt als einen Vorteil der Qualifizierung die erleichterte Datenverarbeitung dar.

„Nicht nur an eine Daten-, sondern auch an eine Forschungsinfrastruktur denken“, lautet der Appell von IQWiG-Leiter Dr. Thomas Kaiser. © IQWiG

Nach bisherigen Überlegungen soll das Gesetz außerdem eine Zentralstelle für medizinische Register als „Kümmerer“ etablieren. Diese soll ausdrücklich nicht selbst Register betreiben, sondern Prozesse wie das Registerverzeichnis begleiten oder das Qualifizierungsverfahren durchführen. „Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, den Schwerpunkt des Kümmerns auf die Forschung zu legen“, sagt später IQWiG-Leiter Dr. Thomas Kaiser in seinem Vortrag. „Nicht nur an eine Daten-, sondern auch an eine Forschungsinfrastruktur denken“, lautet sein Appell auf der Veranstaltung.

Stichwort Datenzusammenführung und Datennutzung: Dafür sei die Einführung eines Unique Identifiers wichtig. 
Man brauche eine Nummer oder eine Kennziffer in den Registern, um Daten personengenau zusammenführen zu können. „Hier ist die Überlegung, allen Registern, auch denjenigen, die nicht qualifiziert sind, die Erhebung der Krankenversichertennummer zu ermöglichen.“ Dies sieht Holland als Einstieg in die sukzessive Einführung einer Forschungskennziffer, um derzeitige Datensilos verknüpfbar zu machen.

Für die Datenzusammenführung und Datennutzung ist die Einführung eines Unique Identifiers wichtig. Man brauche eine Nummer oder eine Kennziffer in den Registern, um Daten personengenau zusammenführen zu können. © iStock.com, 4zevar

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Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung, verlangt „wirksame Anreize, damit die Hersteller regelhaft vergleichende Daten erstellen“. © pag, Fiolka

Unterdessen hat das IQWiG das Ergebnis einer Workshop-Reihe europäischer Zulassungsbehörden und HTA-Agenturen zusammengefasst. Dr. Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung, verlangt „wirksame Anreize, damit die Hersteller regelhaft vergleichende Daten erstellen“. Ziel der Workshop-Reihe in 2024 als Vorbereitung auf das europäische HTA-Verfahren: ein gemeinsames Verständnis für methodische Herausforderungen und Lösungen bei der Bewertung neuer Arzneimittel zu entwickeln. In einem Positionspapier fassen die Beteiligten folgende Kernpunkte zusammen, die den gemeinsamen Evidenzbedarf besser decken sollen:

  • Bei der Bewertung von Nutzen/Risiko und Zusatznutzen von Arzneimitteln bevorzugen Zulassungsbehörden und HTA-Agenturen randomisierte Studien.
  • Randomisierte Studien in Registern und in der Routine-
versorgung bieten erhebliche Chancen, Daten aus klinischen Studien vor der Zulassung zu ergänzen, um Entscheidungen zur Zulassung und im Rahmen von HTA zu unterstützen.
  • Die Verbesserung der Erfassung, Analyse und Berichterstattung eines weiteren Spektrums von Endpunkten – über primäre Studienendpunkte hinaus – kann die Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung erheblich verringern.
  • Bei der Verwendung von Beobachtungsdaten aus der Routineversorgung zur Schätzung von Effekten durch indirekte Vergleiche gibt es erhebliche ungelöste Probleme.

Neuartige Studiendesigns

Für herausfordernde Situationen wie kleine Patientenpopulationen werden neuartige randomisierte Studiendesigns als vielversprechende Alternative zu einarmigen Studien angesehen. Als Beispiele nennt Wieseler: nahtlose Phase-I-II-Designs in der frühen klinischen Entwicklung, mehrarmige Plattformstudien in Indikationen mit sich entwickelnden Behandlungsoptionen und andere flexible, adaptive Designs, die die Randomisierung beibehalten und gleichzeitig die Anforderungen an den Stichprobenumfang und die Entwicklungszeit verringern können. Sie betont außerdem das Potenzial, Daten aus klinischen Studien vor der Zulassung durch „randomisierte Studien in Registern und in der Routineversorgung zu ergänzen“, um Informationen für die Entscheidungsfindung bei der Zulassung und für HTA zu gewinnen.

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Zukunftsperspektive Registerbasierte Interventionsstudien
Aufbauend auf dem Fundament des Medizinregistergesetzes könnten weitere Bausteine – Stichwort Zusatzkriterien – entwickelt werden. Wer diese festlegt? An dem Punkt sei man noch nicht, so Holland. Sie persönlich sehe dies aber lieber in den Händen von denjenigen, die an den Verfahren näher dran seien. Derzeit fördert das BMG noch bis Anfang 2026 das Forschungsvorhaben „Registerbasierte Interventionsstudien in Deutschland – Anforderungen, Möglichkeiten, Limitationen und Perspektiven“ (REGINT). Dort sollen Anknüpfungspunkte gefunden werden, die in das Registergesetz einfließen können.

Herausforderung Record Linkage
Auf das Thema Record Linkage geht auch PD Dr. Anne Regierer, RABBIT-SpA, ein. Sie berichtet vom BMG-geförderten Kooperationsprojekt LinKR. Dabei sollen Daten von drei medizinischen Registern – RABBIT-Register, Multiple Sklerose (MS)-Register, Deutsches Mukoviszidose-Register – mit Daten der klinischen Krebsregister deutschlandweit über einen Kohortenabgleich und ein Datenlinkage verknüpft werden. Bisher gebe es keine Unique Identifier. „Das bedeutet, der Prozess ist ziemlich kompliziert“, so Regierer. Ein halbes Jahr habe es allein gedauert, das Datenschutzkonzept zu entwerfen.

 

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Weiterführender Link:
Heads of HTA Agencies Group, European Medicines Agency: „Joint HTAb-regulatory perspectives on understanding evidence challenges, managing uncertainties and exploring potential solutions“ vom 1. April 2025, PDF, 7 Seiten

Ein Comeback von Budgets und Selbstbeteiligung


Berlin (pag) – Bei den Kranken- und Pflegekassen knirscht es finanziell gewaltig. Neben kurzfristigen Hilfen brauche es große Strukturveränderungen, verlangt die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Dr. Doris Pfeiffer, Ende 2024 auf der Veranstaltung „GKV live“ ihres Verbandes. Der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner hält die Rückkehr von Budgets und Selbstbeteiligung für „kaum vermeidbar“.

„Inzwischen muss man sagen, dass die Situation geradezu prekär ist“, warnt Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-SV. © stock.adobe.com, Lemonsoup14

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Die GKV verzeichnet für die ersten neun Monate des Jahres 2024 ein Defizit in Höhe von 3,7 Milliarden Euro. Für das Gesamtjahr erwarte man ein Defizit von vier bis viereinhalb Milliarden Euro, so Pfeiffer. Die steigende Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung sei zwar seit Jahren eine große Herausforderung. „Inzwischen muss man sagen, dass die Situation geradezu prekär ist“, betont sie. Ähnlich klingt es beim stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes, Jens Martin Hoyer: „Die Beitragssatzsprünge zum Jahreswechsel waren kolossal. Die Kassen mussten auf breiter Front anheben“, sagt er Anfang Januar. Bei den tatsächlich erhobenen Zusatzbeiträgen liege man im Mittel nicht bei den prognostizierten 2,5, sondern bei über 2,9 Prozent. 2015 lag der Zusatzbeitragssatz noch bei durchschnittlich etwa 0,8 Prozent.

Greiner: AMNOG-Wirkung überschätzt

Dem Bielefelder Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner zufolge hat sich die Ampel-Regierung zu sehr auf gute Steuereinnahmen verlassen und die einsparende Wirkung des AMNOG überschätzt. Nun stehe man vor enormen Problemen, da Sozialbeiträge jenseits der 50 Prozent für eine Volkswirtschaft „eigentlich undenkbar“ seien, so der Wissenschaftler bei „GKV live“. Bei solchen Größenordnungen könnte man aber in absehbarer Zeit landen – zumal nicht nur generell die Kosten steigen, sondern auch akuter Investitionsbedarf im Gesundheitswesen bestehe.
Zu den verschiedenen Vorschlägen, die bereits seit Längerem zur Lösung des Finanzproblems diskutiert werden, hält Greiner fest, dass die meisten bisher nicht durchgerechnet worden seien. Bei einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze sei beispielsweise unklar, wie stark man diese anheben könnte, ohne eine große Abwanderung der betroffenen Versicherten in die Private Krankenversicherung auszulösen. Ähnlich sieht es mit Ideen wie Praxis- beziehungsweise Kontaktgebühren oder der Einführung eines Kapitalfonds aus.

Überstrapazierte Beitragsfinanzierung

„Die Rückkehr von Budgets und Selbstbeteiligung ist kaum vermeidbar“, so das Fazit von Prof. Greiner. © iStock.com, Thicha Satapitanon

Greiner betont, dass sich die Beitragsfinanzierung als Grundpfeiler bewährt habe. „Sie ist nur zurzeit etwas überstrapaziert.“ Der Ökonom glaubt daher, dass eine regelgebundene Steuerfinanzierung hinzukommen müsse. Und: Da Erleichterungen durch Effizienzpotenziale erst langfristig wirkten, sei darüber nachzudenken, „in welcher Form Eigenbeteiligung wieder stärker in den Vordergrund“ treten werde. „Die Rückkehr von Budgets und Selbstbeteiligung ist kaum vermeidbar“, lautet Greiners Fazit. Allerdings schränkt er ein, dass solche Instrumente möglicherweise noch nicht in der kommenden Legislaturperiode ein Thema werden. Aber wenn kein „starker wirtschaftlicher Impuls“ durch das Land gehe, werde die Politik zu solchen Maßnahmen gezwungen sein, prophezeit er.

Reif für eine Generalüberholung?

Forderungen der Industrie nach AMNOG-Reform werden lauter

Berlin (pag) – Ist das AMNOG für Innovationen wie Gen- und Zelltherapien noch das geeignete Bewertungsverfahren? Wie passend ist es für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie verlangt nach einer grundlegenden AMNOG-Reform. Das Argument: Medizinischer Fortschritt dürfe nicht durch systemische Hürden ausgebremst werden.

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2025 wird in Sachen Health Technology Assessment (HTA) ein spannendes Jahr. Am offensichtlichsten ist der Start des europäischen HTA-Verfahrens im Januar. Dieses sieht unter anderem eine Synchronisation mit dem europäischen Zulassungsprozess vor, eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Beteiligten, gilt es doch zum Teil recht sportliche Fristen miteinander zu verzahnen.

Fest steht schon jetzt: Das AMNOG wird vom europäischen Pendant auf Dauer nicht unbeeinflusst bleiben. Im Januar legt das Bundesgesundheitsministerium etwa einen Last-Minute Änderungsentwurf für die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vor. Grundsätzlich gilt: Wertungs- und Preisentscheidung bleiben zwar auf nationaler Ebene, gleichzeitig soll Doppelarbeit vermieden werden. Ein schwieriger Spagat, deshalb vermögen auch Experten die Relevanz des neuen Verfahrens noch nicht so richtig abzuschätzen. Das europäische Verfahren startet mit neuen Krebstherapien und ATMPs – ein besonders innovatives Feld, auf dem sich momentan viel tut. Ist man hierzulande dafür mit dem AMNOG gerüstet?

Grundsatzfragen zur Evidenz

Der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann ist skeptisch. Im Dezember stellt er auf einem parlamentarischen Frühstück der LAWG (Local Area Working Group), einem Verein, dem 17 weltweit agierende, forschungsorientierte Arzneimittelunternehmen angehören, klar, dass das AMNOG für ihn zwar ein wertvolles Werkzeug sei, aber er sieht auch deutliche Limitationen – etwa bei Schrittinnovationen. Ullmann fragt außerdem: „Wie sieht es bei der Personalisierten Medizin aus, wie sieht es aus bei der Gentherapie, bei der wir sehr individuelle Therapieformen haben und die klassische Evaluation des AMNOG-Verfahrens gar nicht funktionieren kann?“ Für ihn steckt dahinter die Grundsatzfrage, was medizinische Evidenz bedeutet. Er plädiert für eine differenzierte AMNOG-Weiterentwicklung: Im klassischen Verfahren sollten herkömmliche Medikamente wie etwa Bluthochdruckarzneimittel bewertet werden. Im Rahmen eines zweiten Moduls – Ullmann nennt es AMNOG innovativ – wird über den Zusatznutzen von neuartigen Therapieformen geurteilt.

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Von Kalle plädiert für flexible Methodik

Ähnlich äußert sich Prof. Christof von Kalle auf der LAWG-Veranstaltung. Der Onkologe, der (zu diesem Zeitpunkt noch) das gemeinsame klinische Studienzentrum von der Charité und dem Berlin Institute of Health leitet, spricht sich für eine flexible AMNOG-Methodik aus. Darunter subsummiert er unter anderem eine Beschleunigung der Prozesse sowie eine Optimierung durch internationale Zusammenarbeit und Harmonisierung internationaler Verfahren – Stichwort EU-HTA. Außerdem betont er: „Ich würde sehr stark dafür plädieren, dass wir wirklich alle verfügbaren Daten verwenden und überlegen, wie wir den Nutzen neu bewerten.“ Sehr wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Konditionalität der Zulassung und der Datenerhebung nach der Zulassung.

vfa: Webfehler des AMNOG

Einen Monat zuvor, im November 2024, hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ein 15-seitiges Reformpapier zum AMNOG mit verschiedenen Handlungsfeldern präsentiert. Unter der Überschrift „Medizinischem Fortschritt gerecht werden“ wird ebenfalls die Frage nach der Evidenzgrundlage thematisiert. Der Verband stellt dar, dass angesichts zunehmend zielgerichteter Therapieansätze für eng definierte, häufig kleinere Gruppen von Patienten die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien nicht in allen Situationen ethisch vertretbar oder praktisch umsetzbar sei. Ein Webfehler des AMNOG sei daher, dass eine Anpassung im Umgang mit nicht-randomisierten Daten noch nicht erfolgt ist. Als Folge werde der therapeutische Zusatznutzen in besonderen Therapiesituationen nicht entsprechend gewürdigt, sodass bei den betroffenen Therapien kein angemessener Erstattungsbetrag vereinbart werden kann. Dies wirke sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien, wie Gentherapien, in der Versorgung aus, so der vfa. Seine Lösung: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) prüft künftig auf Antrag eines Herstellers, ob eine besondere Therapiesituation vorliegt. In diesen Fällen wird die bestverfügbare Evidenz in der Nutzenbewertung herangezogen.

Wie realistisch ist Pay for Performance?

Der Verband bricht in dem Papier außerdem eine Lanze für erfolgsabhängige Erstattungsmodelle, sogenannte Pay-for-Performance-Ansätze. Sie könnten im Einzelfall helfen, bei limitierter Evidenz dieser „begründbaren Unsicherheit bei höherpreisigen Therapien zu begegnen“ und Patienten einen schnellen Zugang zu diesen Therapien zu ermöglichen, heißt es. Die Forderung ist nicht neu, auch der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld macht sich dafür stark – beispielsweise im März 2024 in einem Beitrag für die „Interdisziplinäre Plattform Nutzenbewertung“. In derselben Ausgabe stellt Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbandes, dagegen die Bedenken der Kostenträger dar: Die Preisbildung bei Gentherapien weise weiterhin eine „beträchtliche Diskrepanz“ zur vorhandenen Evidenz auf, konstatiert sie. Ob die Einführung erfolgsorientierter Vergütungssysteme Teil einer effizienten Lösung sein könne, sei fraglich. „Hierzu wären umfangreiche rechtliche und technische Änderungen und die Behebung bestehender Datenlücken erforderlich, die derzeit nicht absehbar sind“, so Haas.

 

Techniker Krankenkasse: Pay for Performance ist kein guter Weg
„Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ lautet der Titel eines im März 2024 veröffentlichten Reports der Techniker Krankenkasse (TK), der die Arzneimittelpreisgestaltung im internationalen Vergleich – USA, Frankreich und Japan – darstellt. Zur Preisbildung für Gentherapeutika in Deutschland könnten demnach fünf Ansätze zur Anwendung kommen: Budgetierung, geheime Preise, kriterienbasierte Preise, Kostentransparenz sowie Raten- beziehungsweise Rückzahlungsmodelle. Letztere können auch mit einer Performance-Komponente ergänzt werden. Der Kasse zufolge erweist sich deren Umsetzung jedoch als äußerst schwierig. Tim Steimle, Leiter des TK-Fachbereichs Arzneimittel, erläutert gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „Pay for Performance bedeutet ja folgendes: Tritt eine gewisse Non-Performance ein und das Medikament funktioniert nicht, dürfen Raten ausgesetzt werden.“ Darauf könnten sich aber die pharmazeutischen Unternehmen und die Krankenkassen fast nie verständigen. Strittig sei zum Beispiel, was wirklich ein guter Non-Performance-Indikator sei und wie dieser sauber erfasst werden könne. „Wer erfasst den? Benötigen wir ergänzende Informationen von Ärzten oder Patienten, um zu beurteilen, ob die Performance eingetreten ist oder nicht?“, fragt Steimle. Darüber streite man sich jedes Mal, wenn solche Verträge abgeschlossen werden. „Auf einen guten Weg einigen wir uns leider nicht.“

Der blinde Fleck des AMNOG

Hamburg (pag) – Der zwölfte AMNOG-Report der DAK adressiert blinde Flecken der Arzneimittelpolitik. Die Autoren um Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, machen diese vor allem bei den Ausgaben für hochpreisige Arzneimittel im Krankenhaus sowie dem geplanten Abschlag auf Kombinationstherapien aus. Der Unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, will der schwerfälligen Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) durch eine zeitigere Evidenzgenerierung Beine machen.

© pag, Ruth Jung-Reining
© pag, Ruth Jung-Reining

Als „blinden Fleck des AMNOG“ identifiziert Hecken bei der Präsentation des Reports Gen- und Zelltherapien sowie die personalisierte Medizin. In diesen besonders kostenintensiven therapeutischen Situationen gebe es keine randomisierten kontrollierten Studien, sondern bestenfalls einarmige Studien. „Das bedeutet ganz konkret, dass wir immer häufiger in Situationen kommen, in denen wir eine Nutzenbewertung vornehmen müssen, ohne in irgendeiner Form über belastbare Evidenz zu verfügen – mit den entsprechenden Auswirkungen.“ Mit Letzterem meint Hecken, dass selbst bei keinem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen hohe Kosten für die GKV entstehen.

Diese Evidenzlücke soll eigentlich die AbD schließen. Hecken sieht dabei jedoch folgendes Problem: Man könne die Hersteller nicht zwingen, sich bereits vor der Zulassung an den G-BA zu wenden, „damit schon dann potenzielle Endpunkte für eine AbD definiert und Studienprotokolle geschrieben werden können“. Der Kooperationszwang bestehe erst mit dem Beginn der Nutzenbewertung. Folglich vergehen bis zu ein-einhalb Jahre, in denen Patienten bereits behandelt werden und nicht in der AbD sind. „Die Evidenz bei diesen ohnehin wenigen Patienten geht in der Zeit verloren, in der wir Zirkusveranstaltungen machen, um uns mit dem pharmazeutischen Unternehmen und den Fachgesellschaften auf Endpunkte zu verständigen“, kritisiert der G-BA-Chef. Er schlägt vor, einen Kooperations- und Meldezwang für die Hersteller in der Präzulassungsphase zu installieren, damit bereits zu diesem Zeitpunkt wichtige Vorarbeiten geleistet werden können.

Black Box Krankenhaus

Bei der Präsentation des Reports werden weitere blinde Flecken diskutiert. Gesundheitsökonom Greiner nennt die stationären Umsätze hochpreisiger Arzneimittel. Diese finden faktisch in keiner Debatte Berücksichtigung, heißt es im Report, vor allem, weil belastbare Daten fehlten.

Der aktuelle Report legt hierzu zum zweiten Mal Auswertungen vor: Hochgerechnet auf alle GKV-Fälle mit NUB- bzw. ZE-Abrechnung eines nutzenbewerteten Arzneimittels fallen im Jahr 2023 Kosten in Höhe von mehr als 1,2 Milliarden Euro an – ein neuer Höchststand. NUB steht für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, ZE für Zusatzentgelt.

Auch der geplante Kombiabschlag wird als blinder Fleck gesehen. Im Mai hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Regelung dafür festgelegt. Allerdings wären damit lediglich 65 Prozent aller Personen mit einer Kombinationstherapie identifiziert worden, was zu Einsparungen von 99 Millionen Euro jährlich führte, heißt es. Das Fazit der Reportautoren: Der Vorschlag des BMG könnte zu einer pragmatischen Identifikation der Kombinationstherapien führen und wäre grundsätzlich geeignet, zu höheren Einsparungen beizutragen. Dennoch würden auch diese nicht ausreichen, um die im Gesetz formulierten Einsparziele von jährlich 185 Millionen Euro zu erreichen.

Mission Harmonie

EU-HTA und AMNOG – wie passt das zusammen?

Berlin (pag) – Der Nutzen neuer Arzneimittel wird demnächst in einem europäischen Verfahren bewertet. Das gemeinsame Health Technology Assessment (HTA) soll eine Harmonisierung klinischer Bewertungen bewirken, aber die nationalen Verfahren der EU-Mitgliedsstaaten bleiben bestehen. Welche Auswirkungen sind für das AMNOG zu erwarten? Und bleibt der rasche Zugang zu neuen Therapien hierzulande erhalten? Mit diesen Fragen beschäftigt sich kürzlich eine Veranstaltung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Bei einer Tagung von Roche und Amgen steht vor allem die Patientenperspektive im Mittelpunkt.

© stock.adobe.com, bruno
© stock.adobe.com, bruno

Die Patienten wollen wissen, welcher Dachverband die Betroffenen für das neue europäische Verfahren auswählen wird und welche Qualifikationen die Patienten dafür mitbringen sollten. „Es braucht keinen Profipatienten“, betont Prof. Matthias P. Schönermark, Geschäftsführer der SKC Beratungsgesellschaft. Das helfe nicht. „Was hilft, sind Narrative.“ Es müssten nicht nur Fakten auf der Basis von Studiendaten ausgetauscht und bewertet werden, sondern auch Geschichten erzählt werden. „Fünf Meter Gehstrecke machen bei neurodegenerativen Erkrankungen einen Unterschied, weil die betroffene Person damit allein ins Badezimmer kommt und auf Toilette gehen kann.“ Faktisch und methodisch heiße es jedoch oft, dass die Unterschiede nicht signifikant seien.

EU-HTA – worum geht es?
Die EU-HTA-Verordnung sieht erstmals gemeinsame klinische Bewertungen von Gesundheitstechnologien auf EU-Ebene vor. Das Verfahren umfasst schwerpunktmäßig gemeinsame klinische Bewertungen und gemeinsame wissenschaftlichen Beratungen. Die klinischen Bewertungen (Joint Clinical Assessments, JCA) umfassen die Beschreibung der Gesundheitstechnologie sowie die Prüfung ihrer technischen und klinischen Eigenschaften. Die Bewertung aller nichtklinischen Aspekte und die Schlussfolgerungen daraus, etwa hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit, blieben weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen. Am 12. Januar 2025 startet das Verfahren – und zwar zunächst mit Krebsmedikamenten und neuartigen Therapien (ATMP). Ab dem 13. Januar 2028 kommen Orphan Drugs hinzu, ab dem 13. Januar 2030 umfasst das Verfahren alle neu zugelassenen Arzneimittel.

Das Geld ist nicht da

Ausführlich wird das folgende Szenario diskutiert: Sollten verstärkt Arzneimittel nicht mehr in der EU zugelassen werden – weder über die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) noch über die Mitgliedsstaaten – besteht in diesem Fall für Betroffene dennoch die Möglichkeit, über das Nikolaus-Urteil an das, in Europa nicht zugelassene, Arzneimittel zu kommen? Mit Verweis auf Zolgensma antwortet Prof. Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom der Universität Duisberg Essen, dass die Hürden für die Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts „sehr, sehr hoch“ seien. Allerdings sieht er die Option, den Einzelanspruch einzuklagen, wenn es in der betreffenden Indikation noch keine zugelassene Therapie gebe und das Mittel in Großbritannien zugelassen sei. Das könnte in sehr seltenen Fällen, bei Orphan Diseases, der Fall sein. Gleichzeitig betont Schönermark, dass es für die Hersteller keinen Sinn ergebe, sein neues Medikament nicht in Europa zu launchen.
Eine weitere Frage lautet: Kann ich die Patientenmobilität im Rahmen der EU-Dienstleistungsfreiheit nutzen, um in einem Land ein Medikament zu beziehen, das es im Leistungskatalog meines Landes nicht gibt? Diese Frage verneint Wasem eindeutig. „Sie können durch die Patientenmobilität nicht den nationalen Leistungskatalog erweitern“, stellt er klar.
Wasem betont außerdem, dass er nicht glaubt, dass in Europa der Zugang zu neuen Therapien durch ein neues HTA beschleunigt werde. Es sei naiv davon auszugehen, dass das Wissen über den Zusatznutzen etwas an der Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit eines großen Teils der europäischen Länder ändere. „Wir haben das Problem, dass das Geld nicht da ist und daran wird sich nichts ändern.“

Das Gute retten

Bei der Tagung des Gemeinsamen Bundesausschusses appelliert der unparteiische Vorsitzende, Prof. Josef Hecken, das europäische Verfahren als Chance zu begreifen: Das Gute, sprich das AMNOG, zu retten und das Bessere nicht zu verhindern. „Wir können insgesamt für eine einheitliche Bewertungspraxis in Europa und damit für Versicherte in anderen europäischen Regionen sehr viel erreichen, wenn wir versuchen, uns zusammenzuruckeln und aus dem Guten für Gesamteuropa etwas Besseres zu entwickeln.“

„Versuchen, uns zusammenzuruckeln“: G-BA-Chef Prof. Josef Hecken will mit EU-HTA für Gesamteuropa etwas Besseres entwickeln. © pag, Fiolka
„Versuchen, uns zusammenzuruckeln“: G-BA-Chef Prof. Josef Hecken will mit EU-HTA für Gesamteuropa etwas Besseres entwickeln. © pag, Fiolka

Auf einige Knackpunkte des geplanten Verfahrens kommt Hecken dennoch zu sprechen, zum Beispiel die unterschiedlichen Versorgungskontexte in Europa. „Das, was bei uns als zweckmäßige Vergleichstherapie, als Versorgungsrealität definiert wird, davon sind andere weit entfernt.“ Folglich müssten bei der europäischen Bewertung unterschiedliche PICO*-Schemata bedient werden, bei denen etwa andere Komparatoren eingesetzt werden. „Wenn wir immer nur den absoluten Goldstandard hineinschrieben, dann machen wir Nutzenbewertungen, die für 80 Prozent der zu versorgenden Bevölkerung in Europa völlig irrelevant sind“, argumentiert er. Auf der anderen Seite: „Wenn wir uns auf Mittelmaß einigen, bekommen wir Nutzenbewertungen, die wir in den Kühlschrank packen können, bei sechs Grad möglichst lange erhalten und dann in den Schredder werfen.“

„Unabdingbares Minimum“

Nach der europäischen Bewertung können die nationalen HTA-Behörden für das landeseigene Verfahren noch ergänzende Nachforderungen stellen. Hecken zufolge haben sich die Geschäftsstelle des G-BA und die Bänke des Ausschusses darauf verständigt, das Ausmaß von Nachforderungen auf ein „unabdingbares Minimum“ zu beschränken, da ansonsten ein „munteres Tohuwabohu“ drohe. Der G-BA-Chef sorgt sich insbesondere um den zeitnahen Zugang zu neuen Medikamenten. Dies ist ein wichtiges Ziel der EU-Verordnung, allerdings hat Deutschland in dieser Hinsicht kein Problem, so Hecken. Er hofft daher, dass sich durch die Implementierung der neuen Prozesse nichts am Status quo verändert.
Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium (BMG), hebt in diesem Kontext hervor, dass die Zeitschienen auf nationaler und EU-Ebene so geschaffen werden, dass es nicht zu einer Verzögerung kommt. „Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“, sagt sie und klingt damit deutlich überzeugter als Hecken.
Die Ministeriumsvertreterin betont in ihrem Vortrag, dass die nationalen Institutionen nicht ersetzt werden – „ganz in Gegenteil, sie gestalten den europäischen Prozess mit“. Durch verpflichtende Zusammenarbeit und Informationsaustausch werde große Transparenz über die eingereichten Daten erzielt. Auch sorge der regelhafte Austausch über die nationalen HTA-Bewertungen dafür, dass das gegenseitige Verständnis wächst, ist Mattenklotz überzeugt. Allerdings stecke beim geplanten harmonisierten Bewertungsprozess der Teufel noch im Detail, die derzeit noch zu erledigenden Vorbereitungen seien sportlich.

Drei Schnittstellen

„Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“,
sagt Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Bundesgesundheitsministerium.
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„Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“, sagt Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Bundesgesundheitsministerium. © pag, Fiolka

Zwischen dem deutschen AMNOG-Verfahren und dem europäischen HTA-Prozess weist Mattenklotz im Wesentlichen auf drei wichtige Schnittstellen hin: das Ergebnis des Bewertungsprozesses, das Herstellerdossier sowie die Bestimmung eines Assessment Scopes, sprich der Bewertungsumfang. Letzteres sei eine große Herausforderung, da die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Anforderungen stellten und der Bewertungsumfang auf EU-Ebene idealerweise den Anforderungen aller Mitgliedstaaten genügen sollte. Wie die PICO-Konsolidierung konkret funktionieren soll, ist derzeit wohl noch offen, obgleich Mattenklotz von Beispielübungen der EUnetHTA-Initiative berichtet. „Es gibt noch Luft nach oben“, lautet ihr Fazit dazu.
In puncto Dossier hält Mattenklotz fest, dass als Ziel ein einheitlicher Evidenzkörper als Grundlage für nationale Entscheidungen angestrebt werde. Es gelte: Daten, die auf EU-Ebene eingereicht wurden, dürfen nicht erneut national angefordert beziehungsweise eingereicht werden. Und Daten, die national eingereicht werden, müssen auch der EU-Ebene zur Verfügung gestellt werden. Mattenklotz leitet daraus das Prinzip „EU first“ ab.

Offene Fragen

Insgesamt sieht die BMG-Vertreterin noch eine Reihe offener Fragen. Diese betreffen neben der PICO-Causa vor allem die Harmonisierung der Zeitschienen auf europäischer und nationaler Ebene – sei es in Bezug auf das Dossier als auch bei der Nutzenbewertung selbst. Offen ist Mattenklotz zufolge aber auch noch, wie mit kurzfristigen Änderungen des Zulassungstexts – das EU-HTA-Verfahren findet parallel zur Zulassung statt – umzugehen sei. „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“, resümiert sie und fordert für die EU-Ebene ein lernendes System und eine Stärkung der Beratung. Langfristig, lautet ihre Prognose, werde das EU-HTA-Verfahren die nationalen Prozesse verändern, es sei aber kein Ersatz für die nationale Bewertung.

Industrie ist mit 51 PICO nicht glücklich
Aus Sicht der Industrie sind eine frühzeitige Einbeziehung in den Prozess, eine echte PICO-Konsolidierung und eine Stärkung der Joint Scientific Consultation kritische Erfolgsfaktoren, betont Dr. Vanessa Elisabeth Schaub von Roche auf der G-BA-Tagung. Die Notwendigkeit einer PICO-Konsolidierung stellt sie anhand eines Beispiels dar: ein Brustkrebsmedikament, das wahrscheinlich den europäischen Prozess durchlaufen werde. Für dieses Produkt ermittelte Roche 51 PICO, was Schaub unter anderem auf die zahlreichen therapeutischen Optionen – verschiedene Kombinationen und Sequenzen – sowie Stratifizierungen zurückführt. „Wir waren damit nicht glücklich.“ Eine Anwendung der EUnetHTA-Guidelines führte im zweiten Schritt zu einer Eindampfung auf 26 PICO. Schaub mahnt daher klare Konsolidierungskriterien an.

* PICO bedeutet: P für Patient/Patientin, I für Intervention, C für Comparison (Kontrollintervention) und O für Outcome (Zielkriterium).

IQWiG erneuert Kritik an einarmigen Studien

Köln (pag) – Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat ein Reflexionspapier der European Medicines Agency (EMA) zur Marktzulassung neuer Wirkstoffe auf Basis einarmiger Studien kritisch kommentiert.

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Dem Institut zufolge stellt die EMA in ihrem Papier richtig fest, dass Studien ohne Vergleichsarm mit Verzerrungen einhergehen und kausale Effekte auf dieser Basis im Allgemeinen kaum abgeschätzt werden können. Allerdings vermissen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klare Kriterien, welche die Zulassung auf Basis solcher Studien auf äußerst seltene Ausnahmesituationen begrenzen.

Vorbild FDA?

Als positives Beispiel nennt das IQWiG einen im Februar veröffentlichten Leitfaden der Food and Drug Administration (FDA) in den USA. „Die FDA sagt klipp und klar, dass die Chancen, nur mit einer externen Kontrolle die Wirksamkeit eines Arzneimittels nachzuweisen, nicht gut stehen, und rät nachdrücklich zu einem Studiendesign mit interner Kontrolle – auch für seltene Erkrankungen“, betont Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. Die US-Behörde benenne auch konkrete Situationen, in denen extern kontrollierte Studien generell ungeeignet sind – zum Beispiel, wenn der natürliche Verlauf der Krankheit nicht hinreichend bekannt ist oder stark variieren kann. Wieseler fordert, dass die EMA diese Punkte in ihr Reflexionspapier aufnehmen sollte.

Laut IQWiG können einarmige Studien in seltenen Fällen die Sicherheit und Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffs gut genug belegen, um von Regulierungsbehörden eine Marktzulassung zu erhalten. Aber wenn es um den tatsächlichen Einsatz in einem Gesundheitssystem gehe, muss der Wirkstoff mit bereits verfügbaren Behandlungsoptionen verglichen werden – und zwar möglichst bald. Wieseler: „Dazu sollte man von Anfang an auf Studien setzen, die sowohl für die Zulassung als auch für die Einordnung in die Versorgungslandschaft mittels eines Health Technology Assessments (HTA) geeignet sind.“ Es könne nicht um einen beschleunigten Marktzugang an sich gehen, sondern um einen zügigen evidenzbasierten Zugang in die Versorgung zum Nutzen der Patientinnen und Patienten.

Weiterführender Link:

Reflexionspapier der EMA: „Single-arm trials as pivotal evidence for the authorisation of medicines in the EU“
https://www.ema.europa.eu/en/news/single-arm-trials-pivotal-evidence-authorisation-medicines-eu

Fortschritt mit Hindernissen

Warum Gen- und Zelltherapien das System herausfordern

Berlin (pag) – Zell- und Gentherapien nach der AMNOG-Reform – bremst Deutschland Zukunftstechnologien aus? Diese Frage diskutieren Politiker, Ärzte, Gesundheitsökonomen und Industrievertreter bei einer Veranstaltung des LAWG, einem Zusammenschluss mehrerer Pharmaunternehmen. Dabei kommen verschiedene Probleme beim Umgang mit Innovationen zur Sprache. Dazu zählen eine überbordende Regulatorik bei der Genehmigung klinischer Studien sowie Zuweisungsschwierigkeiten auf ärztlicher Ebene.

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Thomas Stranzl, Spezialist für Zell- und Gentherapien bei Gilead Sciences und Mitglied der Geschäftsführung in Deutschland, weist in seiner Begrüßung auf die stetig steigenden Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP) hin. Diese hätten zu bahnbrechenden Erkenntnissen geführt. „Sie haben nicht nur das Potenzial, die medizinische Praxis zu revolutionieren, sondern können auch erhebliche wissenschaftliche und wirtschaftliche Impulse für den Standort Deutschland geben.“ Dafür, stellt Stranzl klar, bedürfe es angemessener politischer und regulatorischer Rahmenbedingungen. Das AMNOG-Verfahren sei jedoch mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) grundlegend verändert worden.

Dass einige dieser Änderungen nach der Evaluation noch zurückgenommen werden, will Gabriele Katzmarek zumindest nicht ganz ausschließen. In ihrem Grußwort unterstreicht die SPD-Bundestagsabgeordnete nachdrücklich die Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft und deren starkes Potenzial an Forschung und Entwicklung. Für Katzmarek handelt es sich um eine der Leitindustrien Deutschlands, die jedoch mehr Aufmerksamkeit und Förderung benötige. „Das ist wichtig für die Menschen, die Arbeitsplätze, für Fortschritt und Zukunft und für den Wirtschaftsstandort Deutschland“, sagt sie.

 

Aufklärungsarbeit nötig

Prof. Marion Subklewe © LMU Klinikum Pressestelle

Nach Einschätzung der Politikerin sind Gen- und Zelltherapien hierzulande noch zu wenig bekannt. Wichtig sei daher mehr Aufklärung, um Vorbehalte abzubauen und Akzeptanz zu gewinnen. Aufklärungsarbeit aus klinischer Perspektive leistet direkt im Anschluss Prof. Marion Subklewe, Oberärztin am LMU Klinikum München, mit ihrem Vortrag zur CAR-T-Zelltherapie. Diese neue Therapieform sei in Europa seit 2018 zugelassen und werde mittlerweile hauptsächlich beim Lymphdrüsenkrebs eingesetzt. Einer Studie zufolge konnten damit fünf von zehn Patienten geheilt werden, berichtet die Leiterin der Arbeitsgruppe für „Translational Cancer Immunology“. Dagegen hätten mit einer herkömmlichen Chemotherapie nur sieben Prozent der Patienten eine langfristige Remission erreicht. Eine weitere wichtige Indikation für die CAR-T-Zelltherapie ist laut Subklewe das Multiple Myelom. Dort sehe man zwar aktuell noch keine Heilung, die neuartige Therapie werde daher erst in der vierten Therapielinie eingesetzt. Für Patienten sei die Behandlung dennoch mit deutlichen Vorteilen verbunden: Anstelle einer dauerhaften Chemobehandlung bekommen sie eine einmalige Therapie. Zwei Wochen später könnten sie das Krankenhaus verlassen. „Das bedeutet für die Betroffenen einen unglaublichen Mehrwert in der Lebensqualität“, sagt die Ärztin.

Vielversprechende Ergebnisse

Mittlerweile, berichtet Subklewe weiter, werde die CAR-T-Zellbehandlung auch außerhalb der Onkologie eingesetzt. Eine weltweite Premiere fand in Erlangen statt, wo 20 Patienten mit schweren Autoimmunerkrankungen damit behandelt wurden. Von Heilung mag sie noch nicht sprechen, aber die Betroffenen sind bereits seit zwei Jahren ohne Krankheitssymptome – für die Medizinerin sind das „unglaublich vielversprechende Ergebnisse“.

Für die Zukunft sagt sie eine immer stärker individualisierte Therapieauswahl für Krebspatienten voraus. „Ich glaube, dass die Zelltherapie die absolute Zukunft ist.“ Von konventionellen Chemotherapien werde man sich zunehmend entfernen, weil die Immuntherapie das Potenzial habe, den Krebs nicht nur wegzudrängen, sondern zu heilen. Neben der Onkologie hält sie den Einsatz bei verschiedenen Krankheiten für möglich und nennt neben Autoimmunerkrankungen auch Infektionen und kardiovaskuläre Erkrankungen. „Wir stehen erst am Anfang.“

Anders als die anderen

Diesen hoffnungsvollen Perspektiven stehen enorme Schwierigkeiten in der Forschung hierzulande gegenüber. Subklewe zufolge sind bei CAR-T-Zellstudien die USA und Kanada führend. Auch China sei sehr aktiv, Europa hinke etwas hinterher. In Deutschland liefen aktuell 19 derartige Studien. Als problematisch nimmt die Klinikerin hierzulande insbesondere die überbordende Regulatorik wahr, mit der man bei Investigator Initiated Trials (IIT) konfrontiert sei. Sie berichtet von Sicherheitsanforderungen, die sich weit jenseits vom Common Sense bewegten und in anderen Ländern absolut unüblich seien. Unüblich seien auch die langen Wartezeiten, die man für eine Antwort der deutschen Behörden einplanen müsse. „Wir sind anders als die anderen Länder“, bringt es die Forscherin etwas resigniert auf den Punkt.

Auch in der Versorgung knirscht es Subklewe zufolge noch. Die Zentren seien immer noch darauf angewiesen, dass die Niedergelassenen die Indikation zur CAR-T-Zelltherapie stellen und ihre Patienten überweisen. Im Raum München klappt das offenbar mit recht unterschiedlichem Erfolg. „Wir haben Praxen, die viel überweisen, und es gibt Praxen, die in den vergangenen vier Jahren keinen einzigen Patienten überwiesen haben.“ Subklewe verlangt daher eine verbindliche Indikations-stellung sowie geordnete Strukturen, damit jeder Patient die bestmögliche Therapie erhält.

Neue Medikamente ausgebremst?

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Die Patientenperspektive stellt auf der Veranstaltung Ulla Ohlms dar, die sich begeistert von den Fortschritten der Krebsforschung und -therapie der letzten Jahre zeigt. Positiv erwähnt sie auch Initiativen wie die Dekade gegen Krebs und das Memorandum zur Errichtung eines Zentrums für Gen- und Zelltherapie in Berlin. Anpassungsbedarf sieht die Vorstandsvorsitzende der Patients‘ Tumorbank of Hope (PATH) dagegen beim AMNOG-Verfahren. Es könne nicht sein, dass ein staatliches Regulatorium den Einsatz von neuen Medikamenten „ausbremst“, kritisiert sie mit Blick auf die kürzlich erfolgte Marktrücknahme des Lungenkrebsmedikamentes Capmatinib. „Mich hat der Aufschrei der Lungenkrebspatienten erreicht“, berichtet die ehemalige Brustkrebspatientin. Das Verfahren müsse so modernisiert werden, dass es auch für neuartige Therapien und einarmige Studien passe. Neue Arzneimittel benötigten möglicherweise auch Sprunginnovationen bei den Regularien, gibt die Patientenvertreterin zu bedenken.

„Eher dogmatisch als pragmatisch zu agieren, ist nicht der richtige Weg“, findet auch Stranzl von Gilead. Beim AMNOG hätten sich Flexibilität und Offenheit bewährt, das sollte bei den Gen- und Zelltherapien weitergeführt werden.

Die aktuellen AMNOG-Reformen des GKV-FinStG sieht der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, kritisch. Ausdrücklich nennt er die Absenkung der Umsatzschwelle bei den Orphan Drugs von 50 Millionen Euro Jahresumsatz auf 30 Millionen. Auch mit den sogenannten Leitplanken für die Preisverhandlungen hat er Probleme und bringt dafür eine Soll-Regelung ist Spiel.

Wie G-BA und IGWiG „die Kurve bekommen“

Breiten Raum nimmt bei der Diskussion die Frage ein, wie mit einarmigen Studien in der Nutzenbewertung umgegangen werden soll. Wasem spricht sich dagegen aus, Gen- und Zelltherapien einen Freischein auszustellen und bei ihnen grundsätzlich Randomisierte kontrollierte Studien (Randomized controlled Trials, RCT) auszuschließen – das sei nicht sinnvoll, zumal diese Therapien inzwischen auch bei größeren Indikationen auf dem Vormarsch seien. „Dort, wo es ethisch vertretbar und technisch möglich ist, sollte randomisiert werden“, stellt er klar. Die Nicht-Randomisierung könne jedoch in spezifischen Konstellationen sinnvoll sein. Das müsse von G-BA und IQWiG akzeptiert werden.

Dass die beiden Institutionen von allein „die Kurve bekommen“, glaubt der ehemalige Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle jedoch nicht. Er verweist darauf, dass es in der Verfahrensordnung des G-BA bereits angelegt sei, eine niedrigere Evidenzstufe zu akzeptieren, wenn keine RCT vorliegt. Faktisch werde das jedoch nicht gelebt. Der Gesundheitsminister ist nach Wasems Einschätzung für dieses Problem nicht die richtige Anlaufstelle. Er bringt stattdessen eine politische Positionierung des Parlaments in Bezug auf die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung ins Spiel. Dem widerspricht allerdings Michael Hennrich, ehemaliger Bundestagsabgeordnete und mittlerweile Geschäftsführer Politik beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller. Die Verordnung sei Sache des Ministers, das könnte schwierig werden, urteilt er.

Nach Auffassung des Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe kann die Politik nur die Rahmenbedingungen festlegen. Das konstatiert der CDU-Politiker sowohl mit Blick auf Nutzenbewertung als auch auf die behördlichen Genehmigungsverfahren von klinischen Studien. „Wir können nicht den letzten Beamten überzeugen.“ Andernfalls werde zu viel Bürokratie erzeugt, argumentiert Hüppe. Ein Anliegen ist es ihm auch – angesichts der in den USA üppiger fließenden Forschungsgeldern – festzuhalten, dass dort nur ein kleiner Teil der Patienten Zugang zu den neu entwickelten Therapien erhalte. Anders in Deutschland. Dieses System gilt es zu halten, appelliert er.

 

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ATMP – Zulassungen und Jahrestherapiekosten
In seinem Vortrag stellt Dr. Norbert Gerbsch von IGES Institut die Zulassungsdynamik der ATMP in Europa dar. Ab 2016 sei eine deutliche Zunahme der Gentherapeutika zu verzeichnen. Derzeit gebe es 25 ATMP-Zulassungen, wovon sieben zurückgenommen worden seien. Unter den verbliebenen 18 befänden sich 15 Orphan Drugs. Gerbsch hebt hervor, dass es sich um Therapien handele, die häufig nur einmal verabreicht werden. Sie hätten das Potenzial, eine Dauermedikation zu ersetzen. Bei Arzneimitteln sei man bislang daran gewöhnt, auf die Jahrestherapiekosten zu schauen. Bei den ATMPs gelte es jedoch, genau die Einzelfallkonstellation zu berücksichtigen, appelliert Gerbsch. Wasem zufolge wird das Problem der Bepreisung von Einmaltherapien konzeptionell derzeit dadurch gelöst, dass die Jahrestherapiekosten der Vergleichstherapie über mehrere Jahre zugrunde gelegt werden. „Das bewirkt aber eine ganz starke Abhängigkeit von den erzielbaren Preisen des Komperators“, führt der Gesundheitsökonom aus. Werde die neue Therapie in einer Indikation mit einem billigen Versorgungsstandard gelauncht, komme man mit diesem Konzept nicht zurecht.
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AMNOG-Baustellen: Was kommt als Nächstes?

Offene Fragen gibt es bei Zell- und Gentherapien

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Berlin (pag) – Auch nach den zum Teil sehr weitreichenden AMNOG-Änderungen, die das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) im Gepäck hat, geht die Debatte um weitere Reformen weiter. Und auch bei den Einspareffekten scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Über Zwischenschritte, Kollateraleffekte und systembedingte Schwachstellen, die bislang noch unberücksichtigt sind.

Das GKV-FinStG sieht unter anderem die Einführung eines pauschalen Kombinationsabschlages von 20 Prozent auf bislang nicht gesondert preisregulierte Arzneimittelkombinationen vor. Weiterhin etabliert das Gesetz neue Leitplanken für Erstattungsbeträge, die Absenkung der Orphan-Umsatzschwelle von 50 auf 30 Millionen Euro sowie die Rückwirkung des Erstattungsbetrages auf den siebten Monat nach Markteintritt. Bei den beiden zuletzt genannten Maßnahmen erscheint eine „zeitnahe Realisierung der gesteckten Einsparziele unrealistisch“, heißt es im jüngst erschienenen AMNOG-Report 2023 der DAK-Gesundheit. Im Detail bedeutet das: Der Gesetzgeber schätzt das Einsparpotenzial des rückwirkenden Erstattungsbetrags auf 150 Millionen Euro pro Jahr, die Reportautoren gehen von lediglich 80 Millionen Euro aus.
Stichwort Orphan-Umsatzschwelle: Hier rechnet der Gesetzgeber mit 100 Millionen Euro pro Jahr. Die Verfasser des AMNOG-Reports halbieren dagegen das Einsparpotenzial und erwarten nur bis zu 50 Millionen Euro jährlich. Für die Erstattungsbetragsleitplanken gehen die Autoren um den Gesundheitsökonomen Prof. Wolfgang Greiner dagegen davon aus, dass das Einsparziel übertroffen werde – „wenngleich eine präzise Abschätzung der potenziellen Einsparungen über alle AMNOG-Wirkstoffe derzeit nicht möglich ist“. Für den pauschalen Kombinationsabschlag sei das Einsparpotenzial ebenfalls nicht seriös bezifferbar, was die Experten auf praktische Umsetzungsfragen im Hinblick auf die Identifikation und das Versorgungsmonitoring von Kombinationstherapien zurückführen.

 

Zwischenschritte und Kollateraleffekte

Nur ein Zwischenschritt? Die Regelungen des GKV-FinStG zu Leitplanken und Kombitherapien sind der Grund, warum Prof. Wolfgang Greiner (links) und DAK-Chef Andreas Storm das Gesetz als „Zwischenschritt“ bezeichnen. Weitere Eingriffe könnten erforderlich sein. © pag, Fiolka

Die Regelungen des GKV-FinStG zu Leitplanken und Kombitherapien sind auch der Grund, warum Greiner und Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, das Gesetz im Vorwort als „Zwischenschritt“ bezeichnen. Weitere Eingriffe des Gesetzgebers könnten erforderlich sein, sollte etwadie Komplexität der AMNOG-Leitplanken zur Preisbildung nicht die gewünschten, sondern Kollateraleffekte mit sich bringen, heißt es dort. Auch die Umsetzung des Kombinationsabschlages könnte – bei „fehlendem pragmatischen Lösungswillen der Vertragspartner“ – eine weitere Regulierung notwendig machen. Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, geht in seinem Beitrag für den Report ebenfalls auf dieses Thema ein. Einen Abschlag hält er zwar für grundsätzlich sinnvoll, den pauschalen Abschlag von 20 Prozent sieht er jedoch kritisch, „da damit weder der Zusatznutzen einer Kombinationstherapie noch der jeweilige Zusatznutzen der Einzelkomponenten einer Kombinationstherapie im Einzelfall angemessen abgebildet wird“.

Intransparenz im Krankenhaus

Zu „systembedingten Schwachstellen“, die der Gesetzgeber noch nicht berücksichtigt hat, äußert sich die DAK im Report. Sie nennt unter anderem die Ausgabenentwicklung von Arzneimitteln bei stationären Behandlungen. Die Kasse verweist auf die Tendenz, dass sich Behandlungen – gerade mit hochpreisigen Arzneimitteln – unter anderem durch Spezialisierungen von Arzneimitteltherapien vermehrt ins Krankenhaus verlagerten. „Dadurch werden Auswertungen bezüglich der Ausgaben zunehmend verzerrt und von mancher Seite gegenüber Politik und Öffentlichkeit lediglich auf die Ausgaben im ambulanten Sektor verwiesen.“ Die Arzneimittelausgaben im Krankenhaus beziffert die DAK auf fast 1,2 Milliarden Euro.

Außerdem wirft die Kasse die Frage auf, wie im Preisbildungsverfahren mit ATMPs im Allgemeinen und mit sogenannten Einmaltherapien im Speziellen sowie mit deren Besonderheiten umgegangen werden könne. Letzteren Punkt sieht auch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem. Im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit erwähnt er als eine AMNOG-Baustelle den „Umgang mit der Unsicherheit bei Zell- und Gentherapien, insbesondere bei der Risikoteilung hinsichtlich der Unsicherheit über die langfristigen Effekte von Einmaltherapien“. Wasem spricht außerdem die noch ausstehende Reaktion zum Thema Euro-HTA an.

 

Regierung verteidigt Kombinationsabschlag
Der neue Kombinationsabschlag ist nach Ansicht der Bundesregierung gerechtfertigt. Der gleichzeitige Einsatz mehrerer Arzneimittel in Kombination führe dazu, dass sich aktuell die Kosten der Einzelwirkstoffe summierten, hinreichende Evidenz zum Gesamtnutzen der Kombination für den Patienten und zum Anteil eines Kombinationspartners am Therapieerfolg jedoch regelhaft nicht vorhanden sei, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion. Zur Gewährleistung der finanziellen Stabilität der GKV sei es gerechtfertigt, dass die Solidargemeinschaft beim Einsatz von Kombinationstherapien mit geringeren Gesamtkosten belastet werde als der Summe der Erstattungsbeträge bei einer Anwendung in der Monotherapie. Der Gesetzgeber habe sich mit dem Kombinationsabschlag für ein Regulierungsinstrument mit hoher Zielgenauigkeit und differenzierter Ausgestaltung entschieden, heißt es weiter. (Siehe Link 1)

Warnung vor dem Preis-Algorithmus

Von den AMNOG-Reformen des GKV-FinStG bereitet dem ehemaligen Vorsitzenden der Schiedsstelle nach § 130b SGB V vor allem die Vorgabe Bauchschmerzen, dass der Preis bei geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen nicht höher als der der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) sein darf, wenn diese noch unter Patentschutz steht. „Zum einen halte ich es grundsätzlich für falsch, inkrementellen Fortschritt nicht mehr zu belohnen“, sagt Wasem. Zum anderen führe es auch zu völlig absurden Ergebnissen: Zum Beispiel sei dann der Preis für ein Arzneimittel, das in Kombination mit der zVT gegeben wird und wo diese Kombination einen geringen Zusatznutzen hat, Null. „Dass das Unfug ist, ist doch offensichtlich.“ Wasem warnt grundsätzlich davor, dass sich das AMNOG ein Stück weiter vom Verhandeln eines Preises in Richtung eines Algorithmus entwickele. Damit könnten den Besonderheiten in den jeweiligen Einzelfällen oft nicht angemessen Rechnung getragen werden. „Das Minimum, was meines Erachtens hier geändert werden müsste, wäre auch für die neuen Konstellationen bei patentgeschützten Komparatoren eine Soll-Regelung einzuführen“, schlägt er vor.

 

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…durch die Hintertür
Leistungskürzungen durch die Hintertür prangert dagegen der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) in einer Reaktion auf den AMNOG-Report an. Die Begründung: Mit dem GKV-FinStG ermögliche der Zusatznutzen einer neuen Therapie nicht mehr in jedem Fall einen höheren Preis als ihn die bisherige Vergleichstherapie hatte. Dadurch sei nicht länger jede Innovation für den hiesigen Markt interessant und nicht jedes neue Medikament werde künftig auch hierzulande verfügbar sein. „Deutschland wird mit einer Schlechterstellung bei der Versorgung mit Arzneimitteln leben müssen, die sich für Patientinnen und Patienten wie Leistungskürzungen auswirken werden“, prophezeit vfa-Präsident Han Steutel. (Siehe Link 2 )


Weiterführende Links:

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, 7. März 2023, PDF, 8 Seiten
https://dserver.bundestag.de/btd/20/059/2005904.pdf

AMNOG-Report 2023, Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz und seine Auswirkungen, DAK-Gesundheit, 1. März 2023, PDF, 101 Seiten
https://www.dak.de/dak/bundesthemen/amnog-report-2023-2610266.html#/