Auf der Suche nach Kompromissräumen

Europäisches Health Technology Assessment in der Warteschleife

Berlin (pag) – Die geplante einheitliche Nutzenbewertung für Arzneimittel und Gesundheitstechnologien in Europa ist umstritten. Die EU-Mitgliedstaaten tun sich äußerst schwer damit, eine kompromissfähige Lösung zu finden. Ein Scheitern dieses Projektes ist nach momentanem Stand nicht ausgeschlossen.

Der Vorschlag, den die Kommission Anfang 2018 für ein europaweit einheitliches Health Technology Assessment (HTA) vorlegte, stößt in einigen Mitgliedstaaten – besonders in Deutschland und Frankreich – auf Widerstand. Im Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungsschefs der Mitgliedstaaten zusammensitzen, sei der HTA-Vorstoß nicht durchsetzbar, sagt Ortwin Schulte, Ministerialrat in der deutschen Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union. Obwohl sich inzwischen das Europäische Parlament bemüht, zwischen Rat und Kommission zu vermitteln – O-Ton Schulte: „das kommt nicht häufig vor“ –, gebe es bislang bei der Kommission wenig politische Bewegung. Entscheidend sei deshalb, wie die neue Kommission zu den HTA-Vorschlägen stehe und sich einem Kompromiss nähere. „Ein Scheitern des Vorschlags ist möglich, wäre aber ein Rückschlag mit Breitenwirkung für die Integrationspolitik“, sagt Schulte auf einem Rechtssymposion des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Ende vergangenen Jahres in Berlin.

Wer gegen wen?

Bei der Nutzenbewertung prallen zwei Welten aufeinander: die der Mitgliedstaaten, die kein eigenes HTA haben und für die eine einheitliche Nutzenbewertung Vorteile bietet, und die derjenigen EU-Länder, die wie Deutschland, Frankreich oder Spanien über ein etabliertes Verfahren verfügen und deshalb von einer Vollharmoni-sierung nichts halten. Sie bestehen darauf, dass auf nationale Besonderheiten Rücksicht genommen wird. „Im Grunde verläuft der Konflikt zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten“, sagt Schulte. Deutschland, Frankreich, Tschechien und Polen versuchen, mit einer Subsidiaritätsrüge dem Kommissionsvorschlag den Boden zu entziehen. Ihre Botschaft: Die Nutzenbewertung sollte am besten im Feld der Mitgliedstaaten bleiben. Dort könne sie sinnvoller als auf EU-Ebene geregelt werden. Das findet auch G-BA-Chef Prof. Josef Hecken. Seiner Ansicht nach ist eine Nutzenbewertung von Wirkstoffen nur dann sinnvoll, wenn diese in Vergleich zu nationalen Versorgungsstandards gesetzt wird.

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Eine deutsche Chance?

Mehrere Ratspräsidentschaften haben sich bereits bemüht, Konsensräume auszuloten, zuletzt Finnland. 2020 wird sich Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte mit dem Thema beschäftigen. Für Rechtsanwalt Prof. Burkhard Sträter ist das die Chance für Deutschland, seine HTA-Philosophie auf die europäische Ebene zu bringen.

Um folgende Fragen wird nach Aussage von Ortwin Schulte derzeit vor allem gerungen:

  • Wie verbindlich sollen die EU-HTA-Bewertungen für die Mitgliedstaaten sein?
  • Wie wird der Rechtsschutz ausgestaltet?
  • Wird der Europäische Gerichtshof involviert?
  • Müssen alle neu zugelassenen Arzneimittel oder nur eine Auswahl das EU-Verfahren durchlaufen?
  • Wie werden Streitigkeiten im Bewertungsverfahren geschlichtet: Reicht bei Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der wissenschaftlichen Bewertung eine Abstimmung mit einfacher Mehrheit oder ist ein Konsens zwingende Voraussetzung?

Jenseits der roten Linie

Selbst wenn diese Fragen eines Tages geklärt sein sollten, warten noch weitere Streitthemen, die den Prozess der Kompromissfindung hinauszögern können: etwa die Frage, in welchem Umfang die Produkthersteller Daten vorlegen müssen oder welche aufsichtsrechtlichen Kompetenzen der EU möglicherweise eingeräumt werden. Letzteres bedeute für viele Mitgliedstaaten „die Verschriftlichung des Albtraums“ und liege derzeit noch jenseits der roten Linie, sagt Schulte. Er hält es für möglich, dass das Ringen um ein einheitliches EU-HTA noch zwei weitere Jahre dauern wird – wenn nicht vorzeitig die Ringglocke läutet. Den Weg zur harmonisierten Bewertung weiter zu beschreiten, hält Burkhard Sträter für sinnvoll. Für Unternehmen sei dies eine Erleichterung. Er erkennt bei den jetzigen Auseinandersetzungen Parallelen zu der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), die seit 1995 für Arzneimittelzulassungen zuständig ist. „Bei der EMA hat man damals auch den Untergang der nationalen Kompetenzen beschworen, jetzt funktioniert sie gut“, sagt Sträter. Sein Vorschlag: Europa sollte bei der einheitlichen Nutzenbewertung mit kleinen Schritten beginnen und diese möglicherweise zunächst nur für neue Technologie einführen.

Europa und die GKV

Einen Blick auf den „Einfluss Europas auf das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung“ hat das Rechtssymposion des Gemeinsamen Bundesausschusses am 2. Dezember 2019 geworfen. Nach der Gesetzeslage ist klar, dass die Europäische Union (EU) auf dem Gebiet Gesundheit keine alleinige Kompetenz hat. Wegen des Subsidiaritätssystems liegt es in erster Linie bei den Mitgliedstaaten, ihre Gesundheitssysteme zu regeln. Dennoch: Richtlinien wie die Berufsqualifizierungsrichtlinie, welche die Mitgliedstaaten in nationales Recht umsetzen müssen, Verordnungen wie die Medizinprodukteverordnung und auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten – meist zur Dienstleistungsfreiheit – tangieren den Gesundheitssektor der Länder. Darf die EU das und wie weit darf sie hier gehen? Das sind Fragen, welche die EU immer wieder ihren Mitgliedern beantworten muss, wenn es um „Gesetzesvorhaben“ geht, die die Gesundheitssysteme berühren.

 

Weiterführender Link

Link zum europäischen Netzwerk für HTA:
https://eunethta.eu

Psychiatrie ist (noch) das Sorgenkind im AMNOG-Prozess

Köln/Würzburg (pag) – Mit mehr guten Psychiatrie-Studien rechnet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Bisher schneiden neue Mittel gegen psychiatrische und neurologische Erkrankungen beim AMNOG-Verfahren eher schlecht ab, die Hintergründe erläutert das Institut in seinem Jahresbericht 2018.

288 Dossierbewertungen haben die Kölner Wissenschaftler im Rahmen des AMNOG-Verfahrens seit 2011 erstellt (Stand 31. Dezember 2018). Auffällig ist: Bei Arzneimitteln gegen Krebs ist der Anteil mit mindestens einem Anhaltspunkt für einen Zusatznutzen seit Jahren am höchsten, bei psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen ist der Anteil hingegen „besonders niedrig“, schreibt Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittel. In vielen Fällen habe das IQWiG die von Herstellern eingereichten Studien nicht verwenden können, weil sie den gesetzlich vorgegebenen Ansprüchen nicht genügten, z.B. entsprach die Vergleichstherapie nicht der derzeitigen Versorgung.

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Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hat deshalb im vergangenen Jahr einen Runden Tisch und ein Symposium veranstaltet, das Thema lautete: Wie sollen die Studien in der Psychiatrie in Zukunft aussehen? Das IQWiG hält die Sensibilisierung der Beteiligten für einen wichtigen Schritt. In diesem Zusammenhang verweist Kaiser darauf, dass das Institut im vergangenen Jahr erstmals einen Zusatznutzen für ein psychiatrisches Krankheitsbild ableiten konnte. Die Rede ist von Cariprazin, das seit 2017 für Erwachsene mit Schizophrenie zugelassen ist. Der Ressortleiter hebt hervor, dass die Nutzenbewertung auf einer randomisierten, doppelblinden, in Europa durchgeführten multizentrischen Parallelgruppenstudie zum Vergleich von Cariprazin mit Risperidon beruhte.

Erst zu Jahresbeginn hat die Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie (GESENT) das AMNOG als Hindernis für die Versorgung bestimmter Patientengruppen mit innovativen Medikamenten bezeichnet. Ein Kritikpunkt: Die AMNOG-Kriterien seien für den Zusatznutzennachweis bei neuropsychiatrischen Arzneimitteln nicht anwendbar. „Faktoren wie Langfristigkeit und Komplexität des Krankheitsverlaufs, die bei der Beurteilung therapeutischer Effekte in Neurologie und Psychiatrie von Bedeutung sind, haben im starren AMNOG-System keinen Platz.“ GESENT wurde 2005 von Vertretern der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und der Industrie gegründet.

Europäische HTA-Bewertung: Eine für alle?

Berlin (pag) – Die von der Europäischen Kommission geplante Vereinheitlichung der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel und bestimmter Medizinprodukte sorgt weiterhin für Wirbel. Die Bundestagsabgeordneten lehnen das einstimmig ab und erteilen der EU eine sogenannte Subsidiaritätsrüge. Die Grundsatzfrage, die hinter der ganzen Debatte steckt, lautet: „Wie viel Europa verträgt unser Gesundheitswesen?“

Eine Harmonisierung der Nutzenbewertung hält Prof. Volker Ulrich grundsätzlich für keine schlechte Idee. © pag, Fiolka

Mit dieser Frage hat sich kürzlich auch die Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen (GRPG) auseinandergesetzt. Auf der Veranstaltung bekennt der Gesundheitsökonom Prof. Volker Ulrich, Universität Bayreuth, dass er eine Harmonisierung der Nutzenbewertung grundsätzlich für keine schlechte Idee hält, allerdings seien die HTA-Prozesse in Europa sehr heterogen. Beispiel Bewertungsperspektive: „Geht es ausschließlich um den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder ist es eine gesamtgesellschaftliche Perspektive?“ In Deutschland liege der Fokus auf der GKV. Es fehle außerdem eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft zu berechnen und den Zusatznutzen zu monetarisieren. „Da hinken wir etwas hinterher“, sagt Ulrich. Während England, Holland und Schweden eine stark gesundheitsökonomische Ausrichtung hätten, orientierten sich Frankreich und Deutschland mehr an medizinisch relevanten Ergebnissen. Ein weiterer Unterschied sei, dass die Arzneimittel in Deutschland mit der Marktzulassung direkt verordnungsfähig sind, in England erst nach der Bewertung durch das NICE.

Nutzenbewertungen im internationalen Vergleich

Bei einem Vergleich der deutschen Nutzenbewertungen mit Beschlüssen aus England und Australien habe sich gezeigt, dass die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses zu 53 Prozent mit denen des englischen NICE und zu 70 Prozent mit den aus-tralischen Bewertungen übereinstimmten. „Jede zweite Bewertung bei uns in Deutschland kommt zu anderen Schlüssen.“ Die Unterschiede beruhten auf differierenden Endpunkten und Surrogatparametern sowie verschiedenen Vergleichstherapien. Die deutsche Bewertungspraxis sei relativ streng, so Ulrich.

Unterdessen haben das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) und der Verein zur Förderung der Technologiebewertung im Gesundheitswesen (HTA.de) an die Bundesregierung appelliert, ihren Einfluss dahingehend geltend zu machen, dass die Bewertungskompetenz bei den Mitgliedsstaaten bleibe, diese aber gleichwohl die Ergebnisse der zentralisierten HTA-Berichte bei Bedarf übernehmen können. Grundsätzlich begrüßen sie eine verstärkte europaweite HTA-Kooperation, eine verpflichtend zu berücksichtigende Nutzenbewertung lehnen sie ab.

Weiterführender Link:
Zum Verordnungsentwurf der EU: https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/technology_assessment/docs/com2018_51final_en.pdf

Evidenz- oder Kostengrenze für medizinischen Fortschritt?

Berlin (pag) – Am Beispiel des metastasierten Brustkrebses deklinieren Experten kürzlich auf einer Tagung von IGES und Novartis den Umgang mit Innovationen und Probleme der frühen Nutzenbewertung durch. Über Evidenzgrenzen, Unsicherheit und die Deutungshoheit.

Mehr Patientinnen sollten in zertifizierten Zentren behandelt werden. Dafür macht sich Christoph J. Rupprecht von der AOK Rheinland/Hamburg stark. Solche spezialisierten Zentren böten die beste Voraussetzung für die Einführung von Innovationen, denn Rupprecht will einen „qualitätsgesicherten“ und keinen „willkürlichen Fortschritt“. Mit Prof. Stephan Schmitz, Vorsitzender des Bundesverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland, ist der Kassenvertreter insofern auf einer Linie, als dass sich auch der Arzt für einen strukturierten Erkenntnisgewinn nach der Zulassung ausspricht – „aber ohne Rationierung“, wie Schmitz betont. Allerdings rede man bereits seit vielen Jahren über das Thema, passiert sei fast nichts. Er kritisiert auch, dass die frühe Nutzenbewertung missbraucht werde, um den Stand des medizinischen Wissens zu definieren. Die Berichte des AMNOG-Verfahrens seien zwar hilfreich, aber nicht die endgültige Meinung. Es müsse den medizinischen Fachgesellschaften überlassen werden, den aktuellen Wissensstand festzulegen, ansonsten drohe eine „Medizin nach Kassenlage“, warnt der Onkologe.

„Kannibalisierung von Indikationen“

Demgegenüber betont Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dass hierzulande keine Rationierung aus Kostengründen stattfinde. Allerdings werde eine strenge Nutzenbewertung praktiziert – also eine Evidenz- anstelle einer Kostengrenze. Die Onkologie beschreibt Müller als sehr dynamisches Feld, bei dem sehr viel Geld im System sei. Als Nebenwirkung dessen sieht er eine „Kannibalisierung von Indikationen“.
Der G-BA-Vertreter weist darauf hin, dass das Gesundheitssystem stark an einer Explosion der Einstiegspreise neuer Arzneimittel – ausdrücklich nicht der Ausgaben insgesamt – knabbere: „Die Onkologie ist da sehr präsent.“ Müller mahnt daher Rationalität in der Preisfindung an.
Ein weiteres Thema auf der Tagung ist der Stellenwert des Endpunktes Progressionsfreies Überleben (Progression Free Survival, PFS) – auch im G-BA gibt es Müller zufolge darüber kontroverse Diskussionen. Letztlich gehe es um die Unsicherheit, wie man ein Surrogat werte, meint er. „Und die Akzeptanz von Unsicherheit ist in einem solidarischen System nicht sehr ausgeprägt.“ Holger Bless, Bereichsleiter HTA & Value Strategy bei IGES, weist indes darauf hin, dass Deutschland als einziges Land mit einer HTA-Behörde PFS als patientenrelevanten Outcome-Parameter explizit ablehne. Die Brisanz bestehe insbesondere darin, dass das Urteil „kein Zusatznutzen“ erhebliche Auswirkungen auf die Versorgung haben könne, erläutert er mit Blick auf die seit 2011 nutzenbewerteten Antidiabetika. Fast die Hälfte davon seien nicht mehr im deutschen Markt verfügbar. „Mit zunehmender Einführung von Erstlinien-Onkologika könnten sich ähnliche Auswirkungen auf die Versorgung ergeben“, warnt er.

 

Wo liegen die Grenzen des medizinischen Fortschritts: Was ist für die Solidargemeinschaft noch bezahlbar – und was nicht? © iStock, Mark Kostich

Was ist der Gesellschaft der Zusatznutzen wert?

Prof. Jürgen Wasem vermisst Leitplanken für Zahlungsbereitschaft

Berlin (pag) – Allenfalls ein gelegentliches Fine-Tuning steht beim AMNOG-Verfahren an. Diese Lesart, bevorzugt von Politik und maßgeblichen Akteuren des Gesundheitswesens, klammert unangenehme Fragen aus – etwa nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft und möglichen Legitimationsdefiziten. Im Interview spricht der Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle, Prof. Jürgen Wasem, heikle Punkte des Verfahrens an.

Prof. Jürgen Wasem © pag, Fiolka

ZUR PERSON
Prof. Jürgen Wasem ist Vorsitzender der sogenannten „AMNOG-Schiedsstelle“. Diese wird angerufen, wenn sich Hersteller und GKV-Spitzenverband nach der frühen Nutzenbewertung nicht auf einen Erstattungsbetrag für das neue Arzneimittel einigen können. Der Gesundheitsökonom von der Universität Duisberg-Essen ist darüber hinaus ein gefragter Mann im Gesundheitswesen: Er gehört unter anderem dem wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs an und ist unparteiischer Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses für die vertragsärztliche Versorgung in der GKV.

 

Ob sich ein Pharmaunternehmen dafür entscheidet, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, hängt maßgeblich vom Spruch der Schiedsstelle ab. Damit entscheiden Sie als Vorsitzender indirekt, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Sind Sie dafür ausreichend legitimiert?

Wasem: Die Frage ist berechtigt, weil die Legitimation eine sehr indirekte ist. Man kann argumentieren, dass der Gesetzgeber, der die Schiedsstelle implementiert hat, demokratisch legitimiert ist – und insofern ist es auch die Schiedsstelle. Vergleichbar ist dies mit der Frage nach der ausreichenden demokratischen Legitimierung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Es gibt Konstellationen, bei denen ich mich wirklich frage, ob ich ausreichend legitimiert bin, eine solche Entscheidung zu treffen. Nämlich wenn ich nicht der Forderung des Herstellers hinreichend nachgebe und das Arzneimittel deshalb vom Markt geht. Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.

Also eine gesellschaftliche Debatte?

Wasem: Richtig, wir brauchen eine gesellschaftliche geführte Debatte über die Zahlungsbereitschaft.

Die Politik dürfte eine solche Debatte eher scheuen, oder?

Wasem: Die Politik will sie nicht führen, weil damit implizit die Rationierungsdebatte angesprochen ist. Sie vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.

Allerdings wäre eine solche Debatte vor dem Hintergrund des komplexen AMNOG-Verfahrens eine Herausforderung …

Wasem: Eine Diskussion über die Zahlungsbereitschaft für ein eindimensionales Konstrukt wie das QALY als Endpunkt ist einfacher zu führen. Da haben es die Engländer mit ihrem System besser. In Deutschland müssen wir mit den unterschiedlichen Kategorien von Zusatznutzen umgehen, hinter denen sich wiederum ganz unterschiedliche Dinge verbergen. Das kann Mortalität oder Lebensqualität sein, mal sind es geringere Nebenwirkungen. Die Zahlungsbereitschaft zu einem Konstrukt wie beträchtlichen, erheblichen oder geringen Zusatznutzen zu debattieren, ist eine echte Herausforderung. Aber ich fände es trotzdem gut, wenn wir uns trauten, diese Diskussion zu führen.

Aus Sicht der Politik hat sich diese Diskussion mit dem AMNOG erledigt.

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Wasem: Die Einschätzung der Politik lautet, dass man beim AMNOG allenfalls ein Fine-Tuning auf der technischen Ebene durchführen und diese Grundsatzfrage nicht stellen muss. Es sind dann die Vertragspartner und im Falle der Nicht-Einigung auf einen Erstattungsbetrag die indirekt demokratisch legitimierte Schiedsstelle, die die Allokations- und letztlich auch Rationierungsentscheidungen treffen müssen. Wobei man sehen muss: Wenn ein Arzneimittel die Kriterien des Nikolaus-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, müssen die Krankenkassen den Versicherten es auch dann zur Verfügung stellen, wenn der Hersteller es vom deutschen Markt genommen hat – dann müssen die Kassen es nämlich importieren, wenn der Arzt es für die Versorgung seines Patienten als notwendig erachtet.

Von der unbeantworteten Grundsatzfrage nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft abgesehen: Wo stößt das AMNOG an Grenzen, wo ein reines Fine-Tuning nicht ausreicht?

Wasem: Ich sehe zwei grundsätzliche Probleme. Zum einen können AMNOG-Beschlüsse und Vereinbarungen durch regionale Instanzen konterkariert und limitiert werden. Wenn die regionale Quote nur zwei Prozent beträgt, dann kann der Zusatznutzen beträchtlich und der Preis vernünftig sein, trotzdem wird das Arzneimittel kein Leben entfalten.

Und das zweite Problem?

Wasem: … besteht nach wie vor darin, dass der GKV-Spitzenverband in der Nutzenbewertung stark involviert ist und anschließend die Preisverhandlungen führt. Das eigentliche Konzept sieht ja vor, dass der G-BA eine neutrale Nutzenbewertung durchführt und sich dafür eines wissenschaftlichen Instituts bedient, das auch den Anspruch hat, neutral zu sein. Nach dieser neutralen Nutzenbewertung geht es dann in die Preisverhandlungen. Fakt ist aber natürlich, dass der GKV-Spitzenverband im G-BA eine starke Position hat. Mein Eindruck ist, dass er versucht, die G-BA-Entscheidungen so auszugestalten, dass er daran nahtlos in der Schiedsstelle anknüpfen kann.

Also eine fehlende Trennung zwischen Nutzenbewertung und Preisverhandlung?

Wasem: Genau, dieses grundsätzliche Problem lässt sich mit dem Bild von den Spießen veranschaulichen: Es ist unbestritten, dass früher die Hersteller die deutlich längeren Spieße hatten. Oder um Franz Knieps zu zitieren: „Früher saß die Pharmaindustrie im Panzer und wir hatten die Fußtruppen. Jetzt ist es umgekehrt.“ Das trifft es ganz gut.

Seitens des Gemeinsamen Bundesauschusses heißt es, dass es für Therapieneuheiten keine Kosten-, wohl aber eine Evidenzgrenze gebe. Stimmen Sie dem zu?

Wasem: Die Spielräume, die der G-BA bei der Festsetzung der zweckmäßigen Vergleichstherapie und bei der Interpretation der Studien hat, nutzt der GKV-Spitzenverband mit seiner starken Position zumindest gelegentlich, um die Preisverhandlungen zu präformieren. Analysen, die Nutzenbewertungen international vergleichen, zeigen, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind. An manchen Stellen sieht man gut, dass die frühe Nutzenbewertung nicht unangreifbar das einzig denkbare Operationalisierungsverfahren gewählt hat und dass Spielräume genutzt werden. Nach wie vor ist die zweckmäßige Vergleichstherapie ein zentrales Thema.

Inwiefern?

Wasem: In zweierlei Hinsicht: Immer wenn eine ZVT gewählt wird, gegen die ein Hersteller nicht getestet hat, hat er ein massives Problem. Und: Wird kein Zusatznutzen nachgewesen, gilt die billigste ZVT als oberste Preisgrenze. Es gibt viele Konstellationen, bei denen es plausibel ist, dass ein Medikament gar nicht besser als die ZVT, sondern gleich gut sein will. Aber wenn es gegenüber der Vergleichstherapie geplantermaßen keinen Zusatznutzen hat, wird nur der Preis der billigsten ZVT herangezogen.

Das bedeutet?

Wasem: Hinter diese beiden Konstellationen kann man ein Fragezeichen setzen, ob es sich dabei immer um die einzig denkbare Ausgestaltung des G-BA-Beschlusses handelt. Innerhalb der gesetzten Rahmenbedingungen ist es zwar die pure Evidenz, aber sie wird eben vorher geframt. Wenn ich entscheide, was die ZVT ist, kann ich eine State-oft-the-art-Evidenz-Analyse machen, aber bei der Auswahl der ZVT denkt der GKV-Spitzenverband eben schon weiter.

Angesichts des geplanten Arztinformationssystems stellt sich die Frage, wo und bei wem die Deutungshoheit über den pharmazeutisch-medizinischen Fortschritt liegt – beim G-BA, der die AMNOG-Beschlüsse fällt, bei den Fachgesellschaften, die Leitlinien formulieren oder beim einzelnen Verordner?

Prof. Jürgen Wasem im Gespräch mit Antje Hoppe (Chefredakteurin) und Lisa Braun (Herausgeberin, im Foto rechts) © pag, Fiolka

Wasem: Beim einzelnen Arzt kann es immer nur die konkrete Entscheidungssituation mit dem einzelnen Patienten sein. In Deutschland kann er – gut begründet – noch immer alles verordnen. Das würde ich nach wie vor relativ weitgehend sagen. Durch das Wirtschaftlichkeitsgebot hat der Arzt keine begründungsfreie Therapiefreiheit. Ich halte das für vertretbar. Man kann grundsätzlich von einem Arzt verlangen, wenn er teuer verordnet, dass er in der Lage ist, die Therapiewahl vernünftig zu begründen. In den Leitlinien spielen Kosten überwiegend keine Rolle. Das ist ebenfalls vertretbar. Legitim ist aber außerdem, dass man ökonomische Gesichtspunkte auf der übergeordneten Ebene berücksichtigt. Insofern finde ich es richtig, dass es neben den Leitlinien eine Informationsebene gibt, wo Kosten eine Rolle spielen. Insgesamt haben wir aber im Laufe der Zeit eine Schwerpunktverlagerung erlebt.

Was hat sich verlagert?

Wasem: Mein Eindruck ist, dass für den Arzt die Leitlinien inzwischen oft weniger Gewicht haben als der ökonomische Regulierungsrahmen. Damit meine ich nicht nur den G-BA-Beschluss, sondern auch regionale Vereinbarungen.

 

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Warum eine Debatte über die Zahlungsbereitschaft für Fortschritt Tabu ist

Berlin (pag) – Die Frage, wie viel medizinischer Fortschritt kosten darf, ist noch immer unbeantwortet. Die Politik und die Akteure des Gesundheitswesens tun alles dafür, damit es auch so bleibt, denn eine gesellschaftliche Debatte ist nicht erwünscht, um das böse Wort Rationierung zu vermeiden. Nach offizieller Lesart hat sich die Frage für Arzneimittel mit dem AMNOG-Verfahren erübrigt. Doch es bleiben Zweifel.

Gerne werden hierzulande die Unterschiede zum englischen Gesundheitssystem betont, vielleicht auch, um sich wohlig schauern zu können. In England gibt es nämlich feste Kostengrenzen. Das hält der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, für „absolut unethisch“, wie er auf einer Tagung Ende November betont.
Einige Wochen zuvor äußert sich der Leiter der G-BA-Abteilung Arzneimittel zum gleichen Thema. Thomas Müller hebt auf einer Brustkrebs-Veranstaltung hervor, dass es hierzulande zwar eine Evidenz-, aber keine Kostengrenze gebe. Damit spielt er auf das AMNOG-Verfahren an, im Zuge dessen der G-BA den Zusatznutzen neuer Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Therapiestandard bewertet, was wiederum die Grundlage für die anschließenden Preisverhandlungen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband darstellt. Einigen sich die beiden nicht, entscheidet eine Schiedsstelle.

Erfolgsmodell oder pseudowissenschaftliche Preisregulierung?

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Das Verfahren gilt in der Politik über Parteigrenzen hinweg als Erfolgsmodell, ähnlich sieht es bei den Akteuren des Gesundheitswesens aus – die Pharmaindustrie einmal ausgenommen. Das System ist allgemein anerkannt, lediglich um technische Modifikationen wird gelegentlich gerungen. Über dieses Fine-Tuning, wie es der G-BA-Chef nennt, ist die entscheidende Grundsatzfrage allerdings aus dem Blick geraten, nämlich die nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft für den Zusatznutzen. Nur wenige kritisieren das so offen wie der Chefarzt der Klinik für Neurologie am St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee, Prof. Thomas Müller (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen G-BA-Vertreter). Auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für experimentelle und klinische Neurotherapeutika prangert er im Dezember das AMNOG-Verfahren als „pseudowissenschaftliche Preisregulierung“ an. Damit werde ein funktionierender, objektiver Entscheidungsprozess vorgegaukelt, der die gesamtgesellschaftliche Diskussion behindere.
Eine gesellschaftliche Debatte zur Zahlungsbereitschaft vermisst auch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, der Vorsitzender der AMNOG-Schiedsstelle ist. Die Entscheidung eines Pharmaunternehmens, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, wird maßgeblich durch den Spruch der Schiedsstelle beeinflusst. Damit entscheidet Wasem indirekt darüber, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Der Experte fragt sich selbst, ob er dafür überhaupt ausreichend legitimiert ist (lesen Sie dazu das Interview mit Prof. Wasem in dieser Ausgabe). Er wünscht sich daher stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.

Der schwarze Fleck auf der weißen Weste

Die Politik hat allerdings kein Interesse an einer solchen Diskussion, weil damit, so Wasem, implizit die Rationierungsdebatte angesprochen werde. „Sie (die Politik, Anmerkung der Redaktion) vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.“
Diese Einschätzung teilt die Journalistin Heike Haarhoff in ihrem in der taz erschienenen Artikel „Zu Tode gerechnet“. Darin beschreibt sie eindrücklich, was ein so genannter Opt-out, die Rücknahme eines bereits auf dem Markt befindlichen Medikaments, für einen schwerkranken Krebspatienten bedeutet. Haarhoff geht in ihrem Text mit einem politischen System ins Gericht „das eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich ebenso fürchtet wie eine ehrliche Debatte darüber, wie viel ein paar Monate zusätzliches Leben der Solidargemeinschaft wert sein sollen – auf die Gefahr hin, möglicherweise zu dem Schluss zu gelangen, dass nicht mehr alles für alle finanzierbar ist“. Sie kritisiert außerdem eine implizite Rationierung hierzulande: „über ein in sich widersprüchliches Versorgungssystem, das Medikamente erst zulässt, aber anschließend nicht bezahlt“.

Alle haben Recht und der Patient den Schaden

Das Problem der vom Markt genommenen Arzneimittel – einer Übersicht des GKV-Spitzenverbands zufolge sind das inzwischen mehr als zehn Präparate (Stand Januar 2017) – ist für Haarhoff ein gesundheitspolitischer Tabubruch. Man könnte die Opt-outs auch als Systemversagen bezeichnen, das die Grenzen des AMNOG-Verfahrens aufzeigt. Im Fall des temporären Opt-outs des Lungenkrebsmedikaments Osimertinib (Handelsname: Tagrisso) kritisierte die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, dass zwar alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht, den Schaden aber die betroffenen Krebspatienten hätten.
Was bekommt die Öffentlichkeit davon mit? Derzeit vermutlich herzlich wenig. Wenn die Publikumspresse den medizinischen Fortschritt und dessen Kosten aufgreift, dann geschieht das meist unter dem Label „Mondpreise“. Eine Ausnahme stellt, neben dem Haarhoff-Artikel in der taz, ein Bericht in der Bild-Zeitung dar. Unter der Überschrift „Wer hilft Epilepsie-Mädchen Martha (10)?“ heißt es dort: „Weil sich Kassen und Hersteller streiten, gibt es kein Medikament.“ Sollte jedoch die Zahl der Opt-outs stetig zunehmen, dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Marktrücknahmen auf mehr öffentliche Resonanz stoßen. Der Schritt zu einer Debatte über Rationierung ist dann nicht mehr weit. Koppelt man das mit der Frage nach der demokratischen Legitimation des G-BA – die entsprechenden Rechtsgutachten liegen beim Bundesgesundheitsministerium derzeit unter Verschluss – könnte eine brisante Diskussion entstehen. Anstatt diese transparent und proaktiv anzugehen, setzen die Akteure auf eine Vogel-Strauß-Taktik: Es sind immer nur die anderen, die rationieren.

Weiterführende Links:

Link zum taz-Artikel, der mit dem Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit ausgezeichnet wurde: http://www.taz.de/!5357366/
Link zum Bild-Artikel: http://www.bild.de/regional/leipzig/epilepsie/wer-hilft-martha-49961166.bild.html

Was leisten Register für die Nutzenbewertung?

Berlin (pag) – Lassen sich Wirksamkeit und Nutzen bestimmter Therapien im Versorgungsalltag mithilfe von Registerdaten besser abbilden als durch randomisierte klinische Studien (RCTs)? Diese Frage diskutieren Prof. Edmund Neugebauer von der Medizinischen Hochschule Brandenburg und der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Prof. Jürgen Windeler, beim Kongress für Versorgungsforschung.

Registerdaten können die Daten aus klinischen Studien ergänzen, sind sich Neugebauer und Windeler schnell einig. Deshalb sollten sie auch bei der Nutzenbewertung von Therapien eine Rolle spielen, findet Neugebauer. Während sich bei RCTs zum Beispiel Patientenselektion und Beobachtungseffekte auf die Resultate auswirken können, ergeben sich Registerdaten aus einem natürlichen Setting unter nicht kontrollierten Bedingungen. „RCTs negieren den Kontext einer Gesundheitsleistung“, bemängelt der Versorgungsforscher. „Dieser hat aber erhebliche Effekte, vergleichbar mit der Gesundheitsleistung selbst.“ Wirksamkeit und Nutzen von Behandlungen seien daher durch RCTs nur bedingt darstellbar. Neugebauer: „Register und RCTs müssen sich ergänzen und weiterentwickeln.“ Dass Register im Methodenpapier 5.0 des IQWiG nicht einmal erwähnt werden, nennt er „verbesserungswürdig“.

Institutsleiter Windeler kontert: Nicht richtig sei, dass RCTs eine geringe externe Validität aufweisen. Stattdessen stellt Windeler die Aussagekraft von Registern infrage. In Deutschland gebe es „kaum Register von hoher Qualität, der Aufbau ist langwierig und aufwendig“. Zudem ließen sich die Daten praktisch nicht standardisiert erheben und es fehlten wichtige Endpunkte. „Bei nicht dramatisch großen Effekten ist die Auswertung von Registerdaten sehr fehleranfällig“, kritisiert er. RCTs seien daher durch Register nicht zu ersetzen. Aus seiner Sicht „bietet das Methodenspektrum randomisierter Studien vielfältige Möglichkeiten“, sodass es weder sinnvoll noch nötig sei, Register für die Nutzenbewertung heranzuziehen.

Aus der Sicht von Privatdozentin Dr. Monika Klinkhammer-Schalke vom Tumorzentrum Regensburg gilt es gut zu überlegen, in welchen Fällen RCTs die bessere Wahl sind und wann Register. „Register begleiten im Gegensatz zu RCTs alle Patienten“, gibt sie zu bedenken – also auch etwa Senioren, die in RCTs meist nicht eingeschlossen sind. „Wir sollten sie für viele Fragestellungen nutzen.“ Das Outcome sei mithilfe von Registerdaten durchaus beurteilbar, widerspricht sie Windeler. „Beim Krebsregister haben wir zum Beispiel eine sehr gute Standardisierung hinbekommen.“ 

 

V.l.n.r.: Prof. Edmund Neugebauer, Prof. Jürgen Windeler, Privatdozentin Dr. Monika Klinkhammer-Schalke © pag Fiolka

Statements und Fotos v.l.n.r.:
Prof. Edmund Neugebauer, Medizinischen Hochschule Brandenburg: „RCTs negieren den Kontext einer Gesundheitsleistung.“
Prof. Jürgen Windeler, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: „In Deutschland gibt es kaum Register von hoher Qualität.“
Privatdozentin Dr. Monika Klinkhammer-Schalke, Tumorzentrum Regensburg: „Register begleiten im Gegensatz zu RCTs alle Patienten.“

Déjà-vu: Die AMNOG-Diskussion tritt auf der Stelle

Berlin (pag) – Beschleunigte Zulassungsverfahren, frühe und späte Nutzenbewertung, Innovations- und AMNOG-Check, Hochpreistendenzen und Versorgungslücken – wer im Herbst auf Terminen zum Thema Arzneimittel unterwegs ist, den befällt ein Déjà-vu-Erlebnis, denn die Themen ähneln sich stark.

Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzen-der der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, gibt mit Prof. Gerd Glaeske den Innovations-report der Techniker Krankenkasse (TK) heraus. Beim Arzneiverordnungs-Report (AVR) ist er neu im Herausgeberteam. Bei beiden Präsentationen nimmt er die „drastisch“ zunehmenden beschleunig-ten Zulassungsverfahren bei Arzneimitteln ins Visier. Die Folge: Das Wissen über die neuen Medikamente sei nicht mehr so fundiert, nachträglich Evidenz zu beschaffen funktioniere nicht. Patienten seien daher mit unsicheren Arzneimitteln konfrontiert. „Wir geben sehr viel Geld für Arzneimittel aus, deren Nutzen wir nicht kennen“, kritisiert er. Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, will daher, dass beschleunigt zugelassene Arzneimittel nur in qualifizierten Zentren angewendet werden dürfen. An den Zentren sollen auch firmenübergreifende und pharmaunabhängige Studien durchgeführt werden, um Evidenzlücken zu schließen. Als Vorbild nennt Litsch bei der Vorstellung des AVR den Pharmafonds in Italien, dessen Mittel aus einer prozentualen Gebühr der Hersteller auf deren Marketingausgaben stammen.

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Kritik an der zu zögerlichen Verordnung von Biosimilars, hochpreisigen Arzneimitteln und Orphanisierungsstrategien kommen sowohl bei dem TK- als auch bei AVR-Termin zur Sprache. Die von Litsch verlangte späte Nutzenbewertung fordert auch Barmer-Chef Prof. Christoph Straub bei einer Diskussionsrunde des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller. Dort kritisiert BAH-Vorstand Dr. Andreas Kress die dominante Rolle des GKV-Spitzenverbandes im AMNOG-Prozess: „Er definiert die Voraussetzungen für die Nutzenbewertung mit, deren Ergebnis anschließend als Grundlage bei den Preisverhandlungen dient.“ Der vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie beauftragte AMNOG-Check nimmt dagegen die Folgen der Nutzenbewertung für die Versorgung näher unter die Lupe: Post AMNOG ist die Verfügbarkeitsquote der europäisch zugelassenen AMNOG-fähigen Präparate in Deutschland von 98 auf 82 Prozent gesunken, ergibt die Analyse von Prof. Dieter Cassel und Prof. Volker Ulrich. Seit 2011 stehen durch Marktaustritte insgesamt 28 bereits eingeführte Produkte nicht mehr auf dem deutschen Markt zur Verfügung. 2011 und 2013 kam es lediglich zu einem einzigen Rückzug, im vergangenen Jahr sind dagegen zehn Marktaustritte zu verzeichnen.

Der Verband forschender Pharma-Unternehmen vermisst in einer Stellungnahme methodische Vorfahrtsregeln für Kinderarzneimittel bei der Nutzenbewertung. Der Gesetzgeber solle dazu Vorgaben machen und das Thema nicht dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) überlassen. Dieser hat im September einen Evidenztransfer, das heißt die Übertragung der Nutzenbewertung von Erwachsenen auf Kinder, für ein Medikament zur Behandlung von HIV-Infektionen für Kinder ab sechs Jahren abgelehnt. Auf der öffent-lichen Plenumssitzung moniert der unparteiische G-BA-Vorsitzende, dass ein Hersteller eine „Flut von Nachmeldungen“ für sein Dossier eingereicht habe. Dieses sei „sehr selektiv“ aufbereitet gewesen. So werde das „Stellungnahmeverfahren ad absurdum geführt“, sagt Prof. Josef Hecken.

Barmer: faire Preise und späte Nutzenbewertung

Berlin (pag) – Eine „faire Diskussion über Kosten und Nutzen der extrem teuren Präparate“ 
verlangt Barmer-Vorstandsvorsitzender Prof. Christoph Straub bei der Vorstellung des neuen Arzneimittelreports seiner Kasse. Schwerpunkt der Analyse ist die medikamentöse Tumortherapie.

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Die Ausgaben für onkologische Arzneimittel sind in der ambulanten Versorgung Barmer-Versicherter seit 2011 um 41 Prozent gestiegen. Damit würden sie deutlich die Kostensteigerungen aller anderen Arzneimittel ohne Rezepturen übertreffen, die im gleichen Zeitraum um 20 Prozent wuchsen, teilt die Krankenasse mit. Straub betont auf der Pressekonferenz, dass fünf der zehn Arzneimittel mit der aktuell größten Umsatzsteigerung der Behandlung von Tumorerkrankungen dienten. Die Kosten zur medikamentösen Behandlung von Hautkrebs-Patienten hätten sich in fünf Jahren fast verachtfacht. Dabei spiele die steigende Zahl der Betroffenen nur eine geringe Rolle, lediglich acht Prozent der Kostensteigerungen seit 2011 würden dadurch verursacht. Mehr als 90 Prozent des Ausgabenzuwachses für onkologische Arzneimitteltherapien bei Hautkrebs seien auf höhere Herstellerpreise zurückzuführen. Man müsse sich mit der Frage beschäftigen, so Straub weiter, was man finanzieren könne und wolle. Er betont, diese Debatte führen zu wollen, „gerade eben um eine Rationierungsdebatte zu vermeiden“. Es gelte eine Balance zwischen den Interessen der Industrie und denen von Krankenkassen und ihrer Versicherten herzustellen, um faire Preise durchzusetzen. Für extrem teure Therapien verlangt der Kassenchef regelhaft eine späte Nutzenbewertung nach fünf Jahren.
Die Autoren des Reports haben die Kosten von 31 onkologischen Arzneimitteln in Europa, Australien und Neuseeland verglichen. Demnach ist Deutschland führend: Bei 90 Prozent (28 von 31) würden die Preise hierzulande über dem Median liegen, acht der 31 Krebsmedikamente kosteten sogar am meisten.
Ein weiteres Thema der Analyse sind Verwürfe, das heißt Restmengen, die bei der Herstellung von Zytostatika-Rezepturen anfallen. Bei Barmer-Versicherten hätten 2015 zehn Millionen Euro für ungenutzt weggeworfene Arzneimittel ausgegeben werden müssen. Straub wirft der Industrie vor, Gewinne zu maximieren, indem praxistaugliche Packungsgrößen mit Einzeldosierungen vom Markt genommen und durch größere Packungen ersetzt würden. Auch werde die tatsächliche Haltbarkeit angebrochener onkologischer Arzneimittelstammlösungen verschwiegen.

Innovationen versus 
Bezahlbarkeit

Debatte über Reformbedarf beim AMNOG-Verfahren

Berlin (pag) – „Durchbruch in der Forschung – auch in der Finanzierung?“ Diese Fragestellung diskutieren Industrie-, Kassen- und Patientenvertreter mit Wissenschaftlern auf einem Panel des Hauptstadtkongresses (HSK). Bei der Veranstaltung steht der Weiterentwicklungsbedarf beim AMNOG-Prozess im Mittelpunkt, denn „nach der Reform ist immer vor der Reform“, betont Moderator Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, mit Blick auf das jüngst in Kraft getretene GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG).

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Im Fokus stehen unter anderem Arzneimittel mit Zusatznutzen, die in dem Verfahren mit einer niedrig-preisigen zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) konfrontiert sind. Diesem Problem widmet sich Prof. Bertram Häussler, Vorsitzender der Geschäftsführung des IGES-Instituts, in seinem Impulsvortrag zum Dilemma von Innovation versus Bezahlbarkeit. Basierend auf seinen Ausführungen zur Kalkulation von Arzneimittelpreisen stellt er mit Blick auf das AMNOG-Verfahren die Kernfrage: „Welchen Aufschlag benötigt man für einen ‚break even‘ bzw. ein nachhaltiges Geschäfts
modell?“ Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen und niedriger ZVT müsse man das 100-fache der Vergleichstherapie verlangen dürfen, sagt Häussler. Das aber führe im Alltagsverständnis zu ganz großen Problemen. IGES-Untersuchungen zufolge kommt es zu signifikanten Preisaufschlägen – bis hin zum 19-fachen – nur beim mittleren Preissegment, „aber das passiert im unteren Preissegment eben nicht“, konstatiert Häussler. Dort sei ein 5-facher Aufschlag das Maximum, insbesondere bei kleinen Patientenpopulationen könne das zu wenig sein, um den „break even“ zu erreichen. Gerade angesichts der Eilentscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg sieht der Experte eindeutigen Reformbedarf (Anm. d. Red.: eine Woche nach der Veranstaltung hat das LSG die dazugehörige Hauptsache entschieden, siehe Infokasten).

Nachrangiges Problem in der Praxis?

Das von Dr. Matthias Suermondt, Sanofi-Vizepräsident Gesundheit und Marktzugang, vorgestellte neue Neurodermitis-Präparat Dupilumab dürfte in die von Häussler beschriebene Problemkonstellation fallen: 
Es trage den Status einer „breakthrough“ Innovation, da es in hohem Maße die schweren Symptome der chronischen Hautkrankheit verbessere. Suermondt betont, dass der quälende Juckreiz sehr schnell reduziert werde. Er weist außerdem darauf hin, dass es in dem Therapiefeld zwanzig Jahre keine Innovation gegeben habe, die Vergleichstherapie in der frühen Nutzenbewertung sei folglich generisch.
Allerdings sieht Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband, das von Häussler beschriebene Problem in der Praxis als „ganz nachrangig“ an. Schwierig gestalten sich nach ihrer Einschätzung eher die Preisverhandlungen, wenn es eine generische ZVT und keinen Zusatznutzen beim neuen Präparat gebe. Bei den chronischen Erkrankungen, zu denen Neurodermitis zählt, sieht sie das Hauptproblem nicht in den generischen zweckmäßigen Vergleichstherapien, sondern in dem Übergang von Surrogatparametern in symptomarme Manifestationsphasen hin zu patientenrelevanten Endpunkten. „Deutschland hat sich entschieden, über patientenrelevante Endpunkte zu gehen, das macht es bei chronischen Erkrankungen etwas schwieriger, die Dinge zu messen“, sagt Haas.
Aus Sicht der Industrie hebt Suermondt hervor, dass man gelernt habe, diese Endpunkte in den Studien zu berücksichtigen. Allerdings äußert er Zweifel daran, ob sie auch im Verfahren der Nutzenbewertung immer konsequent mitgedacht werden – er verweist auf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das beispielsweise in dem Wechsel von Spritze auf orale Darreichungsform für MS-Patienten keinen Zusatznutzen erkenne.

Die Patienten- und Gesellschaftsperspektive

Von den enormen Belastungen durch Neurodermitis für die Betroffenen im Alltag berichtet Dr. Silvia Pleschka auf der Veranstaltung. „Wenn Kinder erkrankt sind, leidet die ganze Familie“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Deutschen Allergie- und Asthmabundes. Die Patienten müssten zudem die Basisversorgung selbst bezahlen; viele hätten das Gefühl, keine innovative Behandlung zu bekommen. Den gesellschaftlichen Blickwinkel bringt Dr. Dennis A. Ostwald in das Panel ein, der über Social Impact Studien referiert. Deren erkenntnisleitende Fragestellung laute: „Was macht Gesundheitswirtschaft für den einzelnen Patienten und für die Gesellschaft?“ Der Gründer und Geschäftsführer der WifOR GmbH zeigt sich davon überzeugt, dass solche Studien zukünftig den politischen Dialog bereichern könnten, AMNOG-fit seien die Modelle allerdings noch nicht.

Mehr über die Hintergründe unter www.gerechte-gesundheit.de/news/detail/news-detail/2341.html

 

LSG MAHNT GESETZLICHE REGELUNG ZUR MISCHPREISBILDUNG AN
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg verlangt vom Gesetzgeber eine Regelung zur Mischpreisbildung. Es sieht „erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der praktizierten Mischpreisbildung“, weil der Mischpreis keine nutzenadäquate Vergütung darstelle und er keine Grundlage im Gesetz finde. Dringend notwendig sei daher eine gesetzliche Regelung, die die Mischpreisbildung in einem Fall wie bei Albiglutid zulasse, zumindest aber eine Übereinkunft in der Rahmenvereinbarung, so das Gericht weiter. „Der Mischpreis ist nicht tot aber behandlungsbedürftig“, reagiert Prof. Jürgen Wasem, 
Vorsitzender der Schiedsstelle
nach § 130b SGB V, auf das LSG-Urteil. Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), verlangt: „Der Gesetzgeber sollte nicht warten, bis möglicherweise das Bundessozialgericht eine Entscheidung trifft, sondern in der neuen Legislaturperiode eine Lösung anstreben.“ Das Urteil verunsichere alle Beteiligten. Es bestehe die Gefahr, dass Ärzte
innovative Arzneimittel aus Angst vor Regressen nicht mehr verordnen.
Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, wertet dagegen das Urteil als „klares Zeichen an Pharmafirmen und Ärzte“. Es gebe keinen Freibrief für neue Arzneimittel. Auch wenn diese einen Zusatznutzen in Teilbereichen hätten, seien sie nicht generell wirtschaftlich. „Das entscheidet sich erst bei der konkreten Verordnung“, sagt Litsch. Anlass des Verfahrens ist das Mittel Albiglutid, gegen den von der Schiedsstelle festgesetzten Erstattungsbetrag hatte der GKV-Spitzenverband geklagt. Das LSG hat der Klage stattgegeben.