Europäisches Health Technology Assessment in der Warteschleife
Berlin (pag) – Die geplante einheitliche Nutzenbewertung für Arzneimittel und Gesundheitstechnologien in Europa ist umstritten. Die EU-Mitgliedstaaten tun sich äußerst schwer damit, eine kompromissfähige Lösung zu finden. Ein Scheitern dieses Projektes ist nach momentanem Stand nicht ausgeschlossen.
Der Vorschlag, den die Kommission Anfang 2018 für ein europaweit einheitliches Health Technology Assessment (HTA) vorlegte, stößt in einigen Mitgliedstaaten – besonders in Deutschland und Frankreich – auf Widerstand. Im Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungsschefs der Mitgliedstaaten zusammensitzen, sei der HTA-Vorstoß nicht durchsetzbar, sagt Ortwin Schulte, Ministerialrat in der deutschen Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union. Obwohl sich inzwischen das Europäische Parlament bemüht, zwischen Rat und Kommission zu vermitteln – O-Ton Schulte: „das kommt nicht häufig vor“ –, gebe es bislang bei der Kommission wenig politische Bewegung. Entscheidend sei deshalb, wie die neue Kommission zu den HTA-Vorschlägen stehe und sich einem Kompromiss nähere. „Ein Scheitern des Vorschlags ist möglich, wäre aber ein Rückschlag mit Breitenwirkung für die Integrationspolitik“, sagt Schulte auf einem Rechtssymposion des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) Ende vergangenen Jahres in Berlin.
Wer gegen wen?
Bei der Nutzenbewertung prallen zwei Welten aufeinander: die der Mitgliedstaaten, die kein eigenes HTA haben und für die eine einheitliche Nutzenbewertung Vorteile bietet, und die derjenigen EU-Länder, die wie Deutschland, Frankreich oder Spanien über ein etabliertes Verfahren verfügen und deshalb von einer Vollharmoni-sierung nichts halten. Sie bestehen darauf, dass auf nationale Besonderheiten Rücksicht genommen wird. „Im Grunde verläuft der Konflikt zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten“, sagt Schulte. Deutschland, Frankreich, Tschechien und Polen versuchen, mit einer Subsidiaritätsrüge dem Kommissionsvorschlag den Boden zu entziehen. Ihre Botschaft: Die Nutzenbewertung sollte am besten im Feld der Mitgliedstaaten bleiben. Dort könne sie sinnvoller als auf EU-Ebene geregelt werden. Das findet auch G-BA-Chef Prof. Josef Hecken. Seiner Ansicht nach ist eine Nutzenbewertung von Wirkstoffen nur dann sinnvoll, wenn diese in Vergleich zu nationalen Versorgungsstandards gesetzt wird.
Eine deutsche Chance?
Mehrere Ratspräsidentschaften haben sich bereits bemüht, Konsensräume auszuloten, zuletzt Finnland. 2020 wird sich Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte mit dem Thema beschäftigen. Für Rechtsanwalt Prof. Burkhard Sträter ist das die Chance für Deutschland, seine HTA-Philosophie auf die europäische Ebene zu bringen.
Um folgende Fragen wird nach Aussage von Ortwin Schulte derzeit vor allem gerungen:
- Wie verbindlich sollen die EU-HTA-Bewertungen für die Mitgliedstaaten sein?
- Wie wird der Rechtsschutz ausgestaltet?
- Wird der Europäische Gerichtshof involviert?
- Müssen alle neu zugelassenen Arzneimittel oder nur eine Auswahl das EU-Verfahren durchlaufen?
- Wie werden Streitigkeiten im Bewertungsverfahren geschlichtet: Reicht bei Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der wissenschaftlichen Bewertung eine Abstimmung mit einfacher Mehrheit oder ist ein Konsens zwingende Voraussetzung?
Jenseits der roten Linie
Selbst wenn diese Fragen eines Tages geklärt sein sollten, warten noch weitere Streitthemen, die den Prozess der Kompromissfindung hinauszögern können: etwa die Frage, in welchem Umfang die Produkthersteller Daten vorlegen müssen oder welche aufsichtsrechtlichen Kompetenzen der EU möglicherweise eingeräumt werden. Letzteres bedeute für viele Mitgliedstaaten „die Verschriftlichung des Albtraums“ und liege derzeit noch jenseits der roten Linie, sagt Schulte. Er hält es für möglich, dass das Ringen um ein einheitliches EU-HTA noch zwei weitere Jahre dauern wird – wenn nicht vorzeitig die Ringglocke läutet. Den Weg zur harmonisierten Bewertung weiter zu beschreiten, hält Burkhard Sträter für sinnvoll. Für Unternehmen sei dies eine Erleichterung. Er erkennt bei den jetzigen Auseinandersetzungen Parallelen zu der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), die seit 1995 für Arzneimittelzulassungen zuständig ist. „Bei der EMA hat man damals auch den Untergang der nationalen Kompetenzen beschworen, jetzt funktioniert sie gut“, sagt Sträter. Sein Vorschlag: Europa sollte bei der einheitlichen Nutzenbewertung mit kleinen Schritten beginnen und diese möglicherweise zunächst nur für neue Technologie einführen.
Europa und die GKV
Einen Blick auf den „Einfluss Europas auf das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung“ hat das Rechtssymposion des Gemeinsamen Bundesausschusses am 2. Dezember 2019 geworfen. Nach der Gesetzeslage ist klar, dass die Europäische Union (EU) auf dem Gebiet Gesundheit keine alleinige Kompetenz hat. Wegen des Subsidiaritätssystems liegt es in erster Linie bei den Mitgliedstaaten, ihre Gesundheitssysteme zu regeln. Dennoch: Richtlinien wie die Berufsqualifizierungsrichtlinie, welche die Mitgliedstaaten in nationales Recht umsetzen müssen, Verordnungen wie die Medizinprodukteverordnung und auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten – meist zur Dienstleistungsfreiheit – tangieren den Gesundheitssektor der Länder. Darf die EU das und wie weit darf sie hier gehen? Das sind Fragen, welche die EU immer wieder ihren Mitgliedern beantworten muss, wenn es um „Gesetzesvorhaben“ geht, die die Gesundheitssysteme berühren.
Weiterführender Link
Link zum europäischen Netzwerk für HTA:
https://eunethta.eu