Gesundheitspolitischer Wettstreit

Stakeholder und Parteien positionieren sich zur Bundestagswahl

Berlin (pag) – Die Wunschliste der Stakeholder im Gesundheitswesen an eine neue Bundesregierung ist lang. Ganz oben steht unter anderem eine Patientensteuerung. Aber auch eine auskömmliche Finanzierung der GKV ist den Verbänden wichtig. Der eine oder andere Punkt findet sich auch in den Wahlprogrammen der Parteien mit den aussichtsreichsten Chancen auf Einzug ins Hohe Haus wieder.

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SPD, Union, Grüne und FDP sind sich im Wettstreit zur Bundestagswahl einig: Eine Patientensteuerung in der ambulanten Versorgung ist bitter notwendig. Während Union, Grüne und FDP Hausärzte und Kinderärzte federführend in einem Primärversorgungssystem vorsehen, bleibt die SPD ungenauer und spricht lediglich von „bedarfsgerechter Steuerung“.
Das Bekenntnis dürfte die Vertragsärzteschaft und die Krankenkassen freuen, sprechen sie sich doch auch für eine Patientensteuerung aus. In ihrem Positionspapier zur Wahl macht sich die Bundesärztekammer (BÄK) für ein Primärversorgungssystem stark. Der Status quo ohne Steuerung ist ihrem Präsidenten Dr. Klaus Reinhardt ein Dorn im Auge. Auf einer Pressekonferenz verweist er auf eine Erhebung seiner Heimatärztekammer Westfalen-Lippe, wonach Patienten in bestimmten Regionen durchschnittlich Kontakt zu 1,5 Hausärzten hätten: „Also jeder Zweite hatte einen zweiten Hausarzt, die voneinander in der Regel nichts wissen. So etwas können wir uns vor dem Hintergrund der zunehmenden Personalnot und steigender Kosten nicht mehr leisten.“

Wunsch nach Entbudgetierung

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Auch der AOK-Bundesverband (AOK-BV) nimmt diesen Punkt auf. „Damit werden Abläufe für Patientinnen und Patienten verlässlicher, weniger komplex, ein bedarfsgerechter Zugang auch zur fachärztlichen Versorgung gewährleistet und damit die Effizienz in der Versorgung gesteigert“, hofft Verbandschefin Dr. Carola Reimann vor Journalisten. Für ein Hausarztmodell kann sich auch die Interessenvertretung der Innungskrankenkassen auf Bundesebene (IKK e.V.) erwärmen.

Der wohl größte Wunsch der Vertragsärzteschaft bleibt die Entbudgetierung – und zwar nicht nur für Hausärzte, wie kürzlich vereinbart, sondern für alle ambulant tätigen Ärzte sowie Psychotherapeuten „innerhalb der ersten 100 Tage einer neuen Bundesregierung“, heißt es im Forderungskatalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der bereits Ende des vergangenen Jahres veröffentlicht wurde. Der AOK-BV würde die Uhr dagegen am liebsten zurückdrehen und den Honorardeckel wieder auf Kinder- und Jugendmedizin legen, wie aus seinem Positionspapier hervorgeht.

Und die Parteien? Die FDP will eine ungekürzte Vergütung aller Gesundheitsberufe, die AfD fordert eine „Beendung der Rationierung ärztlicher Leistungen durch Zwang von Behandlungen ohne Vergütung“. Rot und Grün werben mit einer Termingarantie (SPD) beziehungsweise einer Erhöhung der Sprechstunden in Arztpraxen (Grüne).

Die ewige Bürgerversicherung

Kommt die Union ans Ruder, will sie laut Wahlprogramm die Krankenhausreform korrigieren. Das dürfte ihm Sinne der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sein. In einem „Sofortprogramm“ fordert diese den kalten Strukturwandel aufzuhalten und für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen, die Struktur-und Personalvorgaben in den Leistungsgruppen realistischer auszugestalten und die Vorhaltefinanzierung zunächst auszusetzen. Generell wünscht sie sich weniger Dirigismus und kleinteilige Gesetzgebung, stattdessen mehr Spielraum für die Akteure vor Ort. So sollten beispielsweise Personalbemessungsinstrumente lediglich „Empfehlungs- und Orientierungscharakter“ haben, heißt es im Zehn-Punkte-Papier der DKG für die Bundestagswahl.

In den Programmen der linken Parteien (inklusive BSW) findet sich auch der ewige Wahlkampfschlager einer solidarischen Bürgerversicherung. Als Vorstufe sehen SPD und Grüne die Beteiligung der PKV am Risikostrukturausgleich (RSA) vor. Da eine linke Mehrheit im Bundestag unwahrscheinlich ist, dürfte es auch für die kommende Legislatur ein einheitliches Versicherungssystem ein Wunsch bleiben. Die Grünen schlagen überdies eine Reform der Beitragsbemessung mit Berücksichtigung von Kapitaleinnahmen vor.
Den morbiditätsorientierten RSA würde der AOK-Bundesverband gerne um sozioökonomische Aspekte ergänzt wissen. Die Techniker Krankenkasse (TK) will eine einheitliche Kassenaufsicht. „Denn die unterschiedlichen Aufsichtspraxen durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) und die Aufsichtsbehörden der Bundesländer können zu Wettbewerbsverzerrungen führen“, schreibt die größte Ersatzkasse in ihrem Positionspapier.

„Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung

Eine auskömmliche Refinanzierung der versicherungsfremden Leistungen aus dem Bundeshaushalt – bis hin zur vollständigen Übernahme – findet sich ebenfalls in den Papieren von SPD, CDU/CSU, Grüne und AfD und stößt sicherlich auf Wohlwohlen der Krankenkassen. Der IKK e.V. will eine zügige Umsetzung, um die Ausgabendynamik zu bremsen, ohne dabei Versichertenleistungen zu kürzen. „Hierfür muss im Rahmen einer Vorschaltgesetzgebung die Dynamisierung des Bundeszuschusses und die verantwortungsgerechte Beteiligung des Bundes an der Versorgung der Bürgergeldempfangenden ebenso wie an der Finanzierung weiterer gesamtgesellschaftlicher Aufgaben umgesetzt werden“, heißt es in einer Pressemitteilung zum IKK-Positionspapier anlässlich der Bundestagswahl. Die TK will ein „Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung. Darin enthalten: eine Erhöhung des Herstellerabschlags bei Arzneimitteln, Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung und die Rückkehr zur Grundlohnsummenbindung bei Heilmitteln.

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Strukturreformen stehen in der Kassenwelt hoch im Kurs, um die Ausgaben zu drosseln und das System effizienter zu machen. Die Barmer etwa wünscht sich eine gemeinsame Bedarfsplanung für den ambulanten und stationären Sektor, „die das Angebot medizinischer Leistungen möglichst in Einklang mit der Nachfrage bringt und das Nebeneinander nicht abgestimmter Versorgungsangebote und -strukturen beendet“, heißt es im Forderungspapier der Ersatzkasse. Auch die DKG will die Sektoren überwinden. „Ich halte die Länder für den zentralen Akteur einer zukünftigen Versorgungsplanung, die im Dialog mit den Akteuren aus dem ambulanten und stationären Bereich erfolgen muss“, erklärt ihr Vorstandsvorsitzender Dr. Gerald Gaß vor Journalisten. Und schiebt nach: „Auch die Krankenkassen sind natürlich als Akteur zu betrachten.“ Die Parteien sind zögerlicher. SPD und Grüne schlagen allerdings ein einheitliches Vergütungssystem für die ambulante und stationäre Versorgung vor.

Für die Soziale Pflegeversicherung (SPV) schwebt dem politisch linken Lager eine Bürgerversicherung vor. Die SPD möchte darüber hinaus einen „Pflegekostendeckel“ einführen: Heimbewohner sollen für die stationäre Versorgung nicht mehr als 1.000 Euro im Monat zahlen. Die Union schlägt stattdessen einen Finanzierungsmix aus gesetzlicher Pflegeversicherung, betrieblicher Mitfinanzierung, Steuermitteln sowie eigenverantwortlicher Vorsorge. Die FDP stößt ins gleiche Horn.

Arzneimittel: Deutschland und EU first

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In der Arzneimittelversorgung legen viele Parteien Wert auf die Produktion in Deutschland und der EU. FDP und Union träumen von schnelleren Zulassungsverfahren, während Die Linke die Pharmaindustrie am liebsten an die Kette legen würde. Für eine schärfere Gangart in der Arzneimittelpolitik plädiert auch AOK-Bundesverbandschefin Reimann. Mit Blick auf die Preisbildung bei patentgeschützten Arzneimitteln rät sie zur Hebung von „Wirtschaftlichkeitsreserven“. Das dürfte die Industrie nicht freuen, die die Verschärfung des AMNOG durch die Ampel weiterhin kritisiert. Bereits im Dezember 2024 schreibt Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland, der Nachfolgeregierung ins Aufgabenheftchen: „Die aktuellen Leitplanken zur Preisbildung und der Kombinationsabschlag hemmen Innovationen. Wir können viel mehr medizinischen Fortschritt, als wir mit der derzeitigen Regulierung abbilden. Neue Studienkonzepte, Endpunkte und Therapien brauchen eine Nutzenbewertung und eine Preisbildung, die den Zusatznutzen von Therapien besser berücksichtigt.“

Reif für eine Generalüberholung?

Forderungen der Industrie nach AMNOG-Reform werden lauter

Berlin (pag) – Ist das AMNOG für Innovationen wie Gen- und Zelltherapien noch das geeignete Bewertungsverfahren? Wie passend ist es für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie verlangt nach einer grundlegenden AMNOG-Reform. Das Argument: Medizinischer Fortschritt dürfe nicht durch systemische Hürden ausgebremst werden.

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2025 wird in Sachen Health Technology Assessment (HTA) ein spannendes Jahr. Am offensichtlichsten ist der Start des europäischen HTA-Verfahrens im Januar. Dieses sieht unter anderem eine Synchronisation mit dem europäischen Zulassungsprozess vor, eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Beteiligten, gilt es doch zum Teil recht sportliche Fristen miteinander zu verzahnen.

Fest steht schon jetzt: Das AMNOG wird vom europäischen Pendant auf Dauer nicht unbeeinflusst bleiben. Im Januar legt das Bundesgesundheitsministerium etwa einen Last-Minute Änderungsentwurf für die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vor. Grundsätzlich gilt: Wertungs- und Preisentscheidung bleiben zwar auf nationaler Ebene, gleichzeitig soll Doppelarbeit vermieden werden. Ein schwieriger Spagat, deshalb vermögen auch Experten die Relevanz des neuen Verfahrens noch nicht so richtig abzuschätzen. Das europäische Verfahren startet mit neuen Krebstherapien und ATMPs – ein besonders innovatives Feld, auf dem sich momentan viel tut. Ist man hierzulande dafür mit dem AMNOG gerüstet?

Grundsatzfragen zur Evidenz

Der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann ist skeptisch. Im Dezember stellt er auf einem parlamentarischen Frühstück der LAWG (Local Area Working Group), einem Verein, dem 17 weltweit agierende, forschungsorientierte Arzneimittelunternehmen angehören, klar, dass das AMNOG für ihn zwar ein wertvolles Werkzeug sei, aber er sieht auch deutliche Limitationen – etwa bei Schrittinnovationen. Ullmann fragt außerdem: „Wie sieht es bei der Personalisierten Medizin aus, wie sieht es aus bei der Gentherapie, bei der wir sehr individuelle Therapieformen haben und die klassische Evaluation des AMNOG-Verfahrens gar nicht funktionieren kann?“ Für ihn steckt dahinter die Grundsatzfrage, was medizinische Evidenz bedeutet. Er plädiert für eine differenzierte AMNOG-Weiterentwicklung: Im klassischen Verfahren sollten herkömmliche Medikamente wie etwa Bluthochdruckarzneimittel bewertet werden. Im Rahmen eines zweiten Moduls – Ullmann nennt es AMNOG innovativ – wird über den Zusatznutzen von neuartigen Therapieformen geurteilt.

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Von Kalle plädiert für flexible Methodik

Ähnlich äußert sich Prof. Christof von Kalle auf der LAWG-Veranstaltung. Der Onkologe, der (zu diesem Zeitpunkt noch) das gemeinsame klinische Studienzentrum von der Charité und dem Berlin Institute of Health leitet, spricht sich für eine flexible AMNOG-Methodik aus. Darunter subsummiert er unter anderem eine Beschleunigung der Prozesse sowie eine Optimierung durch internationale Zusammenarbeit und Harmonisierung internationaler Verfahren – Stichwort EU-HTA. Außerdem betont er: „Ich würde sehr stark dafür plädieren, dass wir wirklich alle verfügbaren Daten verwenden und überlegen, wie wir den Nutzen neu bewerten.“ Sehr wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Konditionalität der Zulassung und der Datenerhebung nach der Zulassung.

vfa: Webfehler des AMNOG

Einen Monat zuvor, im November 2024, hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ein 15-seitiges Reformpapier zum AMNOG mit verschiedenen Handlungsfeldern präsentiert. Unter der Überschrift „Medizinischem Fortschritt gerecht werden“ wird ebenfalls die Frage nach der Evidenzgrundlage thematisiert. Der Verband stellt dar, dass angesichts zunehmend zielgerichteter Therapieansätze für eng definierte, häufig kleinere Gruppen von Patienten die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien nicht in allen Situationen ethisch vertretbar oder praktisch umsetzbar sei. Ein Webfehler des AMNOG sei daher, dass eine Anpassung im Umgang mit nicht-randomisierten Daten noch nicht erfolgt ist. Als Folge werde der therapeutische Zusatznutzen in besonderen Therapiesituationen nicht entsprechend gewürdigt, sodass bei den betroffenen Therapien kein angemessener Erstattungsbetrag vereinbart werden kann. Dies wirke sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien, wie Gentherapien, in der Versorgung aus, so der vfa. Seine Lösung: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) prüft künftig auf Antrag eines Herstellers, ob eine besondere Therapiesituation vorliegt. In diesen Fällen wird die bestverfügbare Evidenz in der Nutzenbewertung herangezogen.

Wie realistisch ist Pay for Performance?

Der Verband bricht in dem Papier außerdem eine Lanze für erfolgsabhängige Erstattungsmodelle, sogenannte Pay-for-Performance-Ansätze. Sie könnten im Einzelfall helfen, bei limitierter Evidenz dieser „begründbaren Unsicherheit bei höherpreisigen Therapien zu begegnen“ und Patienten einen schnellen Zugang zu diesen Therapien zu ermöglichen, heißt es. Die Forderung ist nicht neu, auch der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld macht sich dafür stark – beispielsweise im März 2024 in einem Beitrag für die „Interdisziplinäre Plattform Nutzenbewertung“. In derselben Ausgabe stellt Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbandes, dagegen die Bedenken der Kostenträger dar: Die Preisbildung bei Gentherapien weise weiterhin eine „beträchtliche Diskrepanz“ zur vorhandenen Evidenz auf, konstatiert sie. Ob die Einführung erfolgsorientierter Vergütungssysteme Teil einer effizienten Lösung sein könne, sei fraglich. „Hierzu wären umfangreiche rechtliche und technische Änderungen und die Behebung bestehender Datenlücken erforderlich, die derzeit nicht absehbar sind“, so Haas.

 

Techniker Krankenkasse: Pay for Performance ist kein guter Weg
„Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ lautet der Titel eines im März 2024 veröffentlichten Reports der Techniker Krankenkasse (TK), der die Arzneimittelpreisgestaltung im internationalen Vergleich – USA, Frankreich und Japan – darstellt. Zur Preisbildung für Gentherapeutika in Deutschland könnten demnach fünf Ansätze zur Anwendung kommen: Budgetierung, geheime Preise, kriterienbasierte Preise, Kostentransparenz sowie Raten- beziehungsweise Rückzahlungsmodelle. Letztere können auch mit einer Performance-Komponente ergänzt werden. Der Kasse zufolge erweist sich deren Umsetzung jedoch als äußerst schwierig. Tim Steimle, Leiter des TK-Fachbereichs Arzneimittel, erläutert gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „Pay for Performance bedeutet ja folgendes: Tritt eine gewisse Non-Performance ein und das Medikament funktioniert nicht, dürfen Raten ausgesetzt werden.“ Darauf könnten sich aber die pharmazeutischen Unternehmen und die Krankenkassen fast nie verständigen. Strittig sei zum Beispiel, was wirklich ein guter Non-Performance-Indikator sei und wie dieser sauber erfasst werden könne. „Wer erfasst den? Benötigen wir ergänzende Informationen von Ärzten oder Patienten, um zu beurteilen, ob die Performance eingetreten ist oder nicht?“, fragt Steimle. Darüber streite man sich jedes Mal, wenn solche Verträge abgeschlossen werden. „Auf einen guten Weg einigen wir uns leider nicht.“

Der blinde Fleck des AMNOG

Hamburg (pag) – Der zwölfte AMNOG-Report der DAK adressiert blinde Flecken der Arzneimittelpolitik. Die Autoren um Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, machen diese vor allem bei den Ausgaben für hochpreisige Arzneimittel im Krankenhaus sowie dem geplanten Abschlag auf Kombinationstherapien aus. Der Unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, will der schwerfälligen Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) durch eine zeitigere Evidenzgenerierung Beine machen.

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© pag, Ruth Jung-Reining

Als „blinden Fleck des AMNOG“ identifiziert Hecken bei der Präsentation des Reports Gen- und Zelltherapien sowie die personalisierte Medizin. In diesen besonders kostenintensiven therapeutischen Situationen gebe es keine randomisierten kontrollierten Studien, sondern bestenfalls einarmige Studien. „Das bedeutet ganz konkret, dass wir immer häufiger in Situationen kommen, in denen wir eine Nutzenbewertung vornehmen müssen, ohne in irgendeiner Form über belastbare Evidenz zu verfügen – mit den entsprechenden Auswirkungen.“ Mit Letzterem meint Hecken, dass selbst bei keinem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen hohe Kosten für die GKV entstehen.

Diese Evidenzlücke soll eigentlich die AbD schließen. Hecken sieht dabei jedoch folgendes Problem: Man könne die Hersteller nicht zwingen, sich bereits vor der Zulassung an den G-BA zu wenden, „damit schon dann potenzielle Endpunkte für eine AbD definiert und Studienprotokolle geschrieben werden können“. Der Kooperationszwang bestehe erst mit dem Beginn der Nutzenbewertung. Folglich vergehen bis zu ein-einhalb Jahre, in denen Patienten bereits behandelt werden und nicht in der AbD sind. „Die Evidenz bei diesen ohnehin wenigen Patienten geht in der Zeit verloren, in der wir Zirkusveranstaltungen machen, um uns mit dem pharmazeutischen Unternehmen und den Fachgesellschaften auf Endpunkte zu verständigen“, kritisiert der G-BA-Chef. Er schlägt vor, einen Kooperations- und Meldezwang für die Hersteller in der Präzulassungsphase zu installieren, damit bereits zu diesem Zeitpunkt wichtige Vorarbeiten geleistet werden können.

Black Box Krankenhaus

Bei der Präsentation des Reports werden weitere blinde Flecken diskutiert. Gesundheitsökonom Greiner nennt die stationären Umsätze hochpreisiger Arzneimittel. Diese finden faktisch in keiner Debatte Berücksichtigung, heißt es im Report, vor allem, weil belastbare Daten fehlten.

Der aktuelle Report legt hierzu zum zweiten Mal Auswertungen vor: Hochgerechnet auf alle GKV-Fälle mit NUB- bzw. ZE-Abrechnung eines nutzenbewerteten Arzneimittels fallen im Jahr 2023 Kosten in Höhe von mehr als 1,2 Milliarden Euro an – ein neuer Höchststand. NUB steht für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, ZE für Zusatzentgelt.

Auch der geplante Kombiabschlag wird als blinder Fleck gesehen. Im Mai hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Regelung dafür festgelegt. Allerdings wären damit lediglich 65 Prozent aller Personen mit einer Kombinationstherapie identifiziert worden, was zu Einsparungen von 99 Millionen Euro jährlich führte, heißt es. Das Fazit der Reportautoren: Der Vorschlag des BMG könnte zu einer pragmatischen Identifikation der Kombinationstherapien führen und wäre grundsätzlich geeignet, zu höheren Einsparungen beizutragen. Dennoch würden auch diese nicht ausreichen, um die im Gesetz formulierten Einsparziele von jährlich 185 Millionen Euro zu erreichen.

„Kurskorrektur war höchste Eisenbahn“

Wie Dr. Hagen Pfundner die Pharmastrategie der Bundesregierung bewertet

Berlin (pag) – Lange hat die Industrie auf die Pharmastrategie der Bundesregierung gewartet, Ende 2023 stellt sie der Bundesgesundheitsminister endlich vor. Wird damit eine Renaissance der Reindustrialisierung eingeleitet? Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender Roche Pharma, bezieht im Interview Stellung und verrät, welche Pläne er skeptisch sieht.

Wird das Ruder gerade noch rechtzeitig herumgerissen? Bei dieser historischen Zeichnung aus Großbritannien scheint die Lage noch unklar zu sein. Ähnlich sieht es momentan am Pharmastandort Deutschland aus. Den Referentenentwurf des Medizinforschungsgesetzes beurteilt die pharmazeutische Industrie verhalten.
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Mit der Pharmastrategie und dem geplanten Medizinforschungsgesetz will Prof. Karl Lauterbach eine Reindustrialisierung in Gang setzen. Höchste Eisenbahn oder ist der Zug schon abgefahren?

Pfundner: Die Pharmastrategie der Bundesregierung ist eine ressortübergreifende Strategie, bei der Bundeskanzleramt, Wirtschafts-, Forschungs- und Gesundheitsministerium intensiv zusammengearbeitet haben. Ja, eine Kurskorrektur und eine Rücknahme der innovationsfeindlichen Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz waren höchste Eisenbahn. Mit der Strategie und dem Bekenntnis, dass die pharmazeutische Industrie ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft ist, ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Wir wurden als Industrie gehört und unsere Sorgen in Bezug auf eine schleichende Deindustrialisierung wurden ernst genommen.

Aber?

Pfundner: Jetzt müssen Taten folgen. Unsere Branche ist bereit, bei entsprechenden Rahmenbedingungen in Forschung, Entwicklung und Produktion signifikant zu investieren, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zur Lieferkettensicherheit beizutragen.

Wie bewerten Sie die Pharmastrategie der Bundesregierung: Welche Pläne überzeugen Sie, was halten Sie eher für halbgar?

Pfundner: Die Pharmastrategie ist für mich ein Beispiel für aktive Industriepolitik der Bundesregierung. Ich begrüße diesen Schritt sehr. Hierfür hat der vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Jahr 2022 ins Leben gerufene Roundtable „Gesundheitswirtschaft” eine Schlüsselrolle gespielt und ein wichtiges Fundament gelegt. Die Maßnahmen zum Bürokratieabbau, zur Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie gezielte strukturelle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und die Verbesserung der Arzneimittelliefersicherheit sind wichtige Absichtserklärungen, die man in der Strategie wiederfindet. Es kommt nun auf die konkrete Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.

Was sehen Sie kritisch?

Pfundner: Die Pläne, die für mich aktuell noch die größten Fragezeichen aufwerfen, betreffen die Überprüfung der AMNOG-Reform in 2024, den Zeitplan dahinter und das Austausch- und Entscheidungsgremium, in dem die Industrie mitgestalten und mitwirken kann.

Was kann Deutschland von anderen Ländern in Sachen gesundheitsindustrieller Standortpolitik lernen?

Pfundner: Weltweit beobachten wir eine Renaissance der „Reindustrialisierung”. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Bundesregierung im Sinne einer „modernen” – auch datenbasierten – Reindustrialisierung ein richtiger und notwendiger Weg. Hier können wir durchaus von anderen Ländern lernen, die verstanden haben, dass sich durch verlässliche Rahmenbedingungen und einen heimischen Markt für Innovationen privatwirtschaftlich finanzierte Forschungs- und Produktionskapazitäten in Zukunft weiter ausbauen lassen. Auf der anderen Seite ist die Pharmastrategie der Bundesregierung ein Aktionsplan, der eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland darstellt und bei dem andere Länder aktuell auf uns schauen. Ich freue mich besonders darüber, dass der Dreiklang aus Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Strategie verankert ist – denn Gesundheitspolitik ist auch Industrie- und Wirtschaftspolitik. Es kommt nun – wie bereits gesagt – auf die Umsetzung an. Nur wenn die Maßnahmen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vollständig zurückgeführt werden und wir die Zukunftsthemen gemeinsam angehen, können langfristige, privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunft in Deutschland – vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs – stattfinden.

 

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Zur Person
Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender der Roche Pharma AG, hat einige Pflöcke für die industrielle Gesundheitswirtschaft eingeschlagen. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender des Pharmaverbandes vfa. Er hat daran mitgewirkt, die Branche auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sichtbar zu machen. Aus dem anfänglichen Ausschuss für Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile eine Abteilung. Der promovierte Pharmazeut ist zudem als Honorarprofessor an der Uni Freiburg tätig.    © pag, Fiolka

Aufholjagd Medizinforschung

Pharmastrategie soll Reindustriealisierung vorantreiben

Berlin (pag) – Ein Thema hat in 2023 Karriere gemacht: die hiesige Gesundheitswirtschaft und -forschung. Der Industrie zufolge fällt Deutschland aufgrund bürokratischer Hürden immer weiter zurück. Die Politik hat diese Klagen lange ignoriert, doch die Folgen – nicht zuletzt für die medizinische Versorgung – lassen sich nicht länger ignorieren. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach präsentiert deshalb eine Pharmastrategie und kündigt eine „Aufholjagd“ an.

Als im Februar vergangenen Jahres der Fortschrittsdialog „Gesunde Industriepolitik“ in Berlin startet, steht das Thema auf der politischen Agenda nicht besonders weit oben. Mehrere Pharmaunternehmen haben daher mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) eine deutschlandweite Veranstaltungsreihe initiiert, um die Zusammenhänge zwischen gesunden industriepolitischen Rahmenbedingungen und medizinischer Versorgung darzustellen. Schirmherrin und SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Katzmarek räumt bei der Auftaktveranstaltung ein, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft oft unter den Tisch falle. Bei einer Stärkung des Wirtschaftszweigs solle man sich nicht in Klein-Klein-Debatten verlieren. Es gelte die großen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Digitalisierung und Versorgungssicherheit anzugehen.

Es wackelt

Michael Vassiliadis © pag, Fiolka

IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis sieht die Industriepolitik unter Druck: „Was uns 15, 20 Jahre erfolgreich gemacht hat, wackelt.“ Deutschland habe großes Potenzial für innovative Therapien und gute Versorgung bei Krankheiten, für Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze. Für den Gewerkschaftschef ist die Gesundheitswirtschaft nicht Kostenfaktor und Problem, sondern ein Lieferant für Lösungen. Konkrete Zahlen nennt bei dem Termin Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG: Die Bruttowertschöpfung der Branche in 2021 beziffert er auf 165 Milliarden Euro. Die Reinvestitionsrate der industriellen Gesundheitswirtschaft betrage 16 Prozent – ein Wert, den kaum ein anderer Industriezweig erreiche. Pfundner zufolge haben die Arzneimittelhersteller „null Interesse“ daran, das Sozialsystem zu überfordern. Auf der anderen Seite führe eine Billig-Mentalität zu Engpässen. Und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) mache es den Unternehmen schwer, Innovationen zu entwickeln.
Eben dieses Gesetz, das unter anderem die Regeln des AMNOG-Verfahrens verschärft, macht Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck dafür mitverantwortlich, den Dialog mit der Pharmaindustrie zu Beginn verstolpert zu haben. Dieser habe angesichts des GKV-FinStG unter negativen Vorzeichen begonnen, so der Grünen-Politiker im Mai bei einer Veranstaltung des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller. Dort präsentiert er sich als Gesundheitswirtschaftsminister und unterstreicht: „Ohne funktionierende Gesundheitswirtschaft wären wir nicht das Land, das wir sind.“

Die fette Ente

Der Minister spricht von einem strategischen Interesse an deutschen und europäischen Standorten, um nicht von Lieferketten und „wildgewordenen Diktatoren“ abhängig zu sein. Deutschland müsse daher dafür sorgen, dass ein großer Teil der strategischen Investitionen hierzulande passieren.

Dr. Robert Habeck © pag, Fiolka

Umso mehr kränkt es Habeck nach eigener Aussage intellektuell, dass heimische Firmen auf einmal im Ausland investieren, „weil wir zu viele Datenschützerinnen und Datenschützer haben“. Der Datenschutz an sich sei nicht das Problem, aber der Umstand, dass es in jedem Bundesland eine eigene Regelung dazu gibt, betont Habeck. Er stellt schlankere und schnellere Verfahren in Aussicht, „denn jetzt wird die Ente fett“.

Das Ziel: Reindustrialisierung

In den folgenden Wochen und Monaten kursieren in Fachkreisen verschiedene Entwürfe einer Pharmastrategie der Bundesregierung. Am 1. Dezember, schließlich stellt Lauterbach die 14-seitige Pharmastrategie 7.0 der Presse vor. Einen Tag zuvor hat im Kanzleramt ein Pharmagipfel stattgefunden. Darüber verliert der Gesundheitsminister zwar keine Worte, aber mit Blick auf den Pharmastandort Deutschland konstatiert er, dass man an Konkurrenzfähigkeit verloren habe. Wie schon bei den Digitalgesetzen bemüht er das Bild einer „Aufholjagd“ und kündigt an: „Die Hausaufgaben müssen gemacht werden.“
Eine zentrale Rolle in der Strategie, die wenige Wochen später vom Kabinett verabschiedet wird, spielt das geplante Medizinforschungsgesetz. Dabei geht es um zweierlei, so Lauterbach: „Dort, wo geforscht wird, findet nachher auch die Produktion statt.“ Das geplante Gesetz soll daher nicht nur die Voraussetzungen für die Forschung, sondern auch für die pharmazeutische Produktion verbessern. Letzteres sei ein energiearmer, aber auch innovationsreicher Bereich, führt der Minister aus, der eine „Reindustrialisierung“ vorantreiben will.

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Das Gesetz adressiert als zentrales Problem die langwierigen und teuren Genehmigungsverfahren für klinische Studien/Prüfungen. Bei der Zahl der Studien pro Kopf ist Deutschland zurückgefallen. Hierzulande werde zwar viel Grundlagenforschung betrieben, daraus resultierten aber wenig Patente und noch weniger Produktion, betont Lauterbach. Mit Großbritannien sei man bei der Grundlagenforschung gleichauf, im Königreich gingen daraus jedoch zehnmal mehr Patente und zwanzigmal so viele Produktionsansiedlungen hervor. „Dieses Problem wollen wir ganz konkret angehen.“

Mehr Tempo

Das geplante Medizinforschungsgesetz sieht unter anderem eine koordinierende Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für klinische Studien vor. Das BfArM soll künftig die Koordinierung und das Verfahrensmanagement für Zulassungsverfahren und Anträge zu klinischen Prüfungen für alle Arzneimittel, ausgenommen Impfstoffe und Blutprodukte, übernehmen. Das Institut wird zentraler Ansprechpartner für die pharmazeutischen Unternehmen, ist verantwortlich für administrative Prozesse und koordiniert die Verfahren Ethikvotum, Strahlenschutzprüfung, die Schnittstelle zum Forschungsdatenzentrum und weitere Prozesse. Lauterbach erwartet von dieser Reform eine „dramatische Beschleunigung“ der Verfahren. Der seit Ende Januar vorliegende Referentenentwurf sieht außerdem vertrauliche Erstattungsbeträge vor – die Kassen sind davon erwartbar nicht begeistert.
Im Rahmen der Strategie sollen noch weitere Gesetze auf den Weg gebracht werden. Spannend ist in dieser Hinsicht insbesondere das Kapitel sieben der Strategie „GKV-Finanzstabilität; hier: Arzneimittelversorgung“. Dort wird eine erneute Evaluation der AMNOG-Reform, dieses Mal von externer Seite, angekündigt. Auch soll die Finanzierung der GKV künftig ohne weitere Erhöhungen der Herstellerabschläge sichergestellt werden. 

Mission Harmonie

EU-HTA und AMNOG – wie passt das zusammen?

Berlin (pag) – Der Nutzen neuer Arzneimittel wird demnächst in einem europäischen Verfahren bewertet. Das gemeinsame Health Technology Assessment (HTA) soll eine Harmonisierung klinischer Bewertungen bewirken, aber die nationalen Verfahren der EU-Mitgliedsstaaten bleiben bestehen. Welche Auswirkungen sind für das AMNOG zu erwarten? Und bleibt der rasche Zugang zu neuen Therapien hierzulande erhalten? Mit diesen Fragen beschäftigt sich kürzlich eine Veranstaltung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Bei einer Tagung von Roche und Amgen steht vor allem die Patientenperspektive im Mittelpunkt.

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Die Patienten wollen wissen, welcher Dachverband die Betroffenen für das neue europäische Verfahren auswählen wird und welche Qualifikationen die Patienten dafür mitbringen sollten. „Es braucht keinen Profipatienten“, betont Prof. Matthias P. Schönermark, Geschäftsführer der SKC Beratungsgesellschaft. Das helfe nicht. „Was hilft, sind Narrative.“ Es müssten nicht nur Fakten auf der Basis von Studiendaten ausgetauscht und bewertet werden, sondern auch Geschichten erzählt werden. „Fünf Meter Gehstrecke machen bei neurodegenerativen Erkrankungen einen Unterschied, weil die betroffene Person damit allein ins Badezimmer kommt und auf Toilette gehen kann.“ Faktisch und methodisch heiße es jedoch oft, dass die Unterschiede nicht signifikant seien.

EU-HTA – worum geht es?
Die EU-HTA-Verordnung sieht erstmals gemeinsame klinische Bewertungen von Gesundheitstechnologien auf EU-Ebene vor. Das Verfahren umfasst schwerpunktmäßig gemeinsame klinische Bewertungen und gemeinsame wissenschaftlichen Beratungen. Die klinischen Bewertungen (Joint Clinical Assessments, JCA) umfassen die Beschreibung der Gesundheitstechnologie sowie die Prüfung ihrer technischen und klinischen Eigenschaften. Die Bewertung aller nichtklinischen Aspekte und die Schlussfolgerungen daraus, etwa hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit, blieben weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen. Am 12. Januar 2025 startet das Verfahren – und zwar zunächst mit Krebsmedikamenten und neuartigen Therapien (ATMP). Ab dem 13. Januar 2028 kommen Orphan Drugs hinzu, ab dem 13. Januar 2030 umfasst das Verfahren alle neu zugelassenen Arzneimittel.

Das Geld ist nicht da

Ausführlich wird das folgende Szenario diskutiert: Sollten verstärkt Arzneimittel nicht mehr in der EU zugelassen werden – weder über die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) noch über die Mitgliedsstaaten – besteht in diesem Fall für Betroffene dennoch die Möglichkeit, über das Nikolaus-Urteil an das, in Europa nicht zugelassene, Arzneimittel zu kommen? Mit Verweis auf Zolgensma antwortet Prof. Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom der Universität Duisberg Essen, dass die Hürden für die Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts „sehr, sehr hoch“ seien. Allerdings sieht er die Option, den Einzelanspruch einzuklagen, wenn es in der betreffenden Indikation noch keine zugelassene Therapie gebe und das Mittel in Großbritannien zugelassen sei. Das könnte in sehr seltenen Fällen, bei Orphan Diseases, der Fall sein. Gleichzeitig betont Schönermark, dass es für die Hersteller keinen Sinn ergebe, sein neues Medikament nicht in Europa zu launchen.
Eine weitere Frage lautet: Kann ich die Patientenmobilität im Rahmen der EU-Dienstleistungsfreiheit nutzen, um in einem Land ein Medikament zu beziehen, das es im Leistungskatalog meines Landes nicht gibt? Diese Frage verneint Wasem eindeutig. „Sie können durch die Patientenmobilität nicht den nationalen Leistungskatalog erweitern“, stellt er klar.
Wasem betont außerdem, dass er nicht glaubt, dass in Europa der Zugang zu neuen Therapien durch ein neues HTA beschleunigt werde. Es sei naiv davon auszugehen, dass das Wissen über den Zusatznutzen etwas an der Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit eines großen Teils der europäischen Länder ändere. „Wir haben das Problem, dass das Geld nicht da ist und daran wird sich nichts ändern.“

Das Gute retten

Bei der Tagung des Gemeinsamen Bundesausschusses appelliert der unparteiische Vorsitzende, Prof. Josef Hecken, das europäische Verfahren als Chance zu begreifen: Das Gute, sprich das AMNOG, zu retten und das Bessere nicht zu verhindern. „Wir können insgesamt für eine einheitliche Bewertungspraxis in Europa und damit für Versicherte in anderen europäischen Regionen sehr viel erreichen, wenn wir versuchen, uns zusammenzuruckeln und aus dem Guten für Gesamteuropa etwas Besseres zu entwickeln.“

„Versuchen, uns zusammenzuruckeln“: G-BA-Chef Prof. Josef Hecken will mit EU-HTA für Gesamteuropa etwas Besseres entwickeln. © pag, Fiolka
„Versuchen, uns zusammenzuruckeln“: G-BA-Chef Prof. Josef Hecken will mit EU-HTA für Gesamteuropa etwas Besseres entwickeln. © pag, Fiolka

Auf einige Knackpunkte des geplanten Verfahrens kommt Hecken dennoch zu sprechen, zum Beispiel die unterschiedlichen Versorgungskontexte in Europa. „Das, was bei uns als zweckmäßige Vergleichstherapie, als Versorgungsrealität definiert wird, davon sind andere weit entfernt.“ Folglich müssten bei der europäischen Bewertung unterschiedliche PICO*-Schemata bedient werden, bei denen etwa andere Komparatoren eingesetzt werden. „Wenn wir immer nur den absoluten Goldstandard hineinschrieben, dann machen wir Nutzenbewertungen, die für 80 Prozent der zu versorgenden Bevölkerung in Europa völlig irrelevant sind“, argumentiert er. Auf der anderen Seite: „Wenn wir uns auf Mittelmaß einigen, bekommen wir Nutzenbewertungen, die wir in den Kühlschrank packen können, bei sechs Grad möglichst lange erhalten und dann in den Schredder werfen.“

„Unabdingbares Minimum“

Nach der europäischen Bewertung können die nationalen HTA-Behörden für das landeseigene Verfahren noch ergänzende Nachforderungen stellen. Hecken zufolge haben sich die Geschäftsstelle des G-BA und die Bänke des Ausschusses darauf verständigt, das Ausmaß von Nachforderungen auf ein „unabdingbares Minimum“ zu beschränken, da ansonsten ein „munteres Tohuwabohu“ drohe. Der G-BA-Chef sorgt sich insbesondere um den zeitnahen Zugang zu neuen Medikamenten. Dies ist ein wichtiges Ziel der EU-Verordnung, allerdings hat Deutschland in dieser Hinsicht kein Problem, so Hecken. Er hofft daher, dass sich durch die Implementierung der neuen Prozesse nichts am Status quo verändert.
Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium (BMG), hebt in diesem Kontext hervor, dass die Zeitschienen auf nationaler und EU-Ebene so geschaffen werden, dass es nicht zu einer Verzögerung kommt. „Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“, sagt sie und klingt damit deutlich überzeugter als Hecken.
Die Ministeriumsvertreterin betont in ihrem Vortrag, dass die nationalen Institutionen nicht ersetzt werden – „ganz in Gegenteil, sie gestalten den europäischen Prozess mit“. Durch verpflichtende Zusammenarbeit und Informationsaustausch werde große Transparenz über die eingereichten Daten erzielt. Auch sorge der regelhafte Austausch über die nationalen HTA-Bewertungen dafür, dass das gegenseitige Verständnis wächst, ist Mattenklotz überzeugt. Allerdings stecke beim geplanten harmonisierten Bewertungsprozess der Teufel noch im Detail, die derzeit noch zu erledigenden Vorbereitungen seien sportlich.

Drei Schnittstellen

„Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“,
sagt Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Bundesgesundheitsministerium.
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„Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“, sagt Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Bundesgesundheitsministerium. © pag, Fiolka

Zwischen dem deutschen AMNOG-Verfahren und dem europäischen HTA-Prozess weist Mattenklotz im Wesentlichen auf drei wichtige Schnittstellen hin: das Ergebnis des Bewertungsprozesses, das Herstellerdossier sowie die Bestimmung eines Assessment Scopes, sprich der Bewertungsumfang. Letzteres sei eine große Herausforderung, da die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Anforderungen stellten und der Bewertungsumfang auf EU-Ebene idealerweise den Anforderungen aller Mitgliedstaaten genügen sollte. Wie die PICO-Konsolidierung konkret funktionieren soll, ist derzeit wohl noch offen, obgleich Mattenklotz von Beispielübungen der EUnetHTA-Initiative berichtet. „Es gibt noch Luft nach oben“, lautet ihr Fazit dazu.
In puncto Dossier hält Mattenklotz fest, dass als Ziel ein einheitlicher Evidenzkörper als Grundlage für nationale Entscheidungen angestrebt werde. Es gelte: Daten, die auf EU-Ebene eingereicht wurden, dürfen nicht erneut national angefordert beziehungsweise eingereicht werden. Und Daten, die national eingereicht werden, müssen auch der EU-Ebene zur Verfügung gestellt werden. Mattenklotz leitet daraus das Prinzip „EU first“ ab.

Offene Fragen

Insgesamt sieht die BMG-Vertreterin noch eine Reihe offener Fragen. Diese betreffen neben der PICO-Causa vor allem die Harmonisierung der Zeitschienen auf europäischer und nationaler Ebene – sei es in Bezug auf das Dossier als auch bei der Nutzenbewertung selbst. Offen ist Mattenklotz zufolge aber auch noch, wie mit kurzfristigen Änderungen des Zulassungstexts – das EU-HTA-Verfahren findet parallel zur Zulassung statt – umzugehen sei. „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“, resümiert sie und fordert für die EU-Ebene ein lernendes System und eine Stärkung der Beratung. Langfristig, lautet ihre Prognose, werde das EU-HTA-Verfahren die nationalen Prozesse verändern, es sei aber kein Ersatz für die nationale Bewertung.

Industrie ist mit 51 PICO nicht glücklich
Aus Sicht der Industrie sind eine frühzeitige Einbeziehung in den Prozess, eine echte PICO-Konsolidierung und eine Stärkung der Joint Scientific Consultation kritische Erfolgsfaktoren, betont Dr. Vanessa Elisabeth Schaub von Roche auf der G-BA-Tagung. Die Notwendigkeit einer PICO-Konsolidierung stellt sie anhand eines Beispiels dar: ein Brustkrebsmedikament, das wahrscheinlich den europäischen Prozess durchlaufen werde. Für dieses Produkt ermittelte Roche 51 PICO, was Schaub unter anderem auf die zahlreichen therapeutischen Optionen – verschiedene Kombinationen und Sequenzen – sowie Stratifizierungen zurückführt. „Wir waren damit nicht glücklich.“ Eine Anwendung der EUnetHTA-Guidelines führte im zweiten Schritt zu einer Eindampfung auf 26 PICO. Schaub mahnt daher klare Konsolidierungskriterien an.

* PICO bedeutet: P für Patient/Patientin, I für Intervention, C für Comparison (Kontrollintervention) und O für Outcome (Zielkriterium).

IQWiG erneuert Kritik an einarmigen Studien

Köln (pag) – Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat ein Reflexionspapier der European Medicines Agency (EMA) zur Marktzulassung neuer Wirkstoffe auf Basis einarmiger Studien kritisch kommentiert.

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Dem Institut zufolge stellt die EMA in ihrem Papier richtig fest, dass Studien ohne Vergleichsarm mit Verzerrungen einhergehen und kausale Effekte auf dieser Basis im Allgemeinen kaum abgeschätzt werden können. Allerdings vermissen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klare Kriterien, welche die Zulassung auf Basis solcher Studien auf äußerst seltene Ausnahmesituationen begrenzen.

Vorbild FDA?

Als positives Beispiel nennt das IQWiG einen im Februar veröffentlichten Leitfaden der Food and Drug Administration (FDA) in den USA. „Die FDA sagt klipp und klar, dass die Chancen, nur mit einer externen Kontrolle die Wirksamkeit eines Arzneimittels nachzuweisen, nicht gut stehen, und rät nachdrücklich zu einem Studiendesign mit interner Kontrolle – auch für seltene Erkrankungen“, betont Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. Die US-Behörde benenne auch konkrete Situationen, in denen extern kontrollierte Studien generell ungeeignet sind – zum Beispiel, wenn der natürliche Verlauf der Krankheit nicht hinreichend bekannt ist oder stark variieren kann. Wieseler fordert, dass die EMA diese Punkte in ihr Reflexionspapier aufnehmen sollte.

Laut IQWiG können einarmige Studien in seltenen Fällen die Sicherheit und Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffs gut genug belegen, um von Regulierungsbehörden eine Marktzulassung zu erhalten. Aber wenn es um den tatsächlichen Einsatz in einem Gesundheitssystem gehe, muss der Wirkstoff mit bereits verfügbaren Behandlungsoptionen verglichen werden – und zwar möglichst bald. Wieseler: „Dazu sollte man von Anfang an auf Studien setzen, die sowohl für die Zulassung als auch für die Einordnung in die Versorgungslandschaft mittels eines Health Technology Assessments (HTA) geeignet sind.“ Es könne nicht um einen beschleunigten Marktzugang an sich gehen, sondern um einen zügigen evidenzbasierten Zugang in die Versorgung zum Nutzen der Patientinnen und Patienten.

Weiterführender Link:

Reflexionspapier der EMA: „Single-arm trials as pivotal evidence for the authorisation of medicines in the EU“
https://www.ema.europa.eu/en/news/single-arm-trials-pivotal-evidence-authorisation-medicines-eu

Ein rares Gut

Engpässe bei Immunglobulinen – neue Strategien sind gefragt

Berlin (pag) – Mittlerweile kann hierzulande auch die Versorgungsicherheit mit lebenswichtigen Medikamenten auf wackeligen Füßen stehen. Das gerade verabschiedete Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) wird daran nur zum Teil etwas ändern. Bei Immunglobulin-Präparaten ist das Problem besonders komplex, einfache Antworten gibt es nicht.

Betroffen von der Knappheit sind im vergangenen Herbst Kinder und Erwachsene, die selbst nicht ausreichend Immunglobuline bilden können, um sich vor Infektionen zu schützen. Dabei handelt es sich um Menschen mit angeborenen Immundefekten oder Patienten mit bestimmten Krebserkrankungen wie der chronisch lymphatischen Leukämie oder des Multiplen Myeloms, die dauerhaft oder vorübergehend auf eine Antikörper-Therapie angewiesen sind.

Die Initiative „Boy in the Bubble“ zeigt bei einer Aktion, wie ein Leben ohne Immunglobuline isoliert in einer Plastikblase aussehen würde. © pag, Fiolka
Die Initiative „Boy in the Bubble“ zeigt bei einer Aktion, wie ein Leben ohne Immunglobuline isoliert in einer Plastikblase aussehen würde. © pag, Fiolka

Kein wirtschaftlicher Vertrieb

Rückblende: Die Versorgung mit Immunglobulinen, die aus menschlichem Blutplasma gewonnen werden, gerät im vergangenen Jahr aufgrund pandemiebedingter Lieferkettenprobleme ins Stocken. Hinzu kommt, dass deutlich weniger Blutplasma gespendet wird. Dann stoppt Octapharma, ein Hersteller in Deutschland, im Juni 2022 die Lieferung seines neuen Immunglobulin-Präparats. Als Grund nennt das Unternehmen Rabattforderungen des GKV-Spitzenverbandes. Dadurch könne das neue Präparat nur unter Herstellungskosten vertrieben werden. „Durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine sind die Rohstoff- und Herstellungskosten erheblich gestiegenen – und steigen weiter. Ein Vertrieb unter den Herstellungskosten ist aus nachvollziehbaren Gründen wirtschaftlich nicht möglich“, teilt die Firma noch in einem Update vom 18. August 2022 mit.

Im Herbst wird die Versorgungslücke für die Betroffenen deutlich spürbar: Tausende Patientinnen und Patienten müssen zusehen, wie sich die Regale in den Apotheken leeren. Die Apothekerinnnen und Apotheker fangen an, die Mengen zu reduzieren und die Abgabe zu stückeln. Patientenorganisationen schlagen angesichts verzweifelter Anrufe – insbesondere von Eltern betroffener Kinder – Alarm. Viele fürchten, dass die Immunglobulin-Präparate ganz ausgehen könnten.

Gesetzgeber lockert Vorgaben

Der öffentliche Druck wirkt offenbar: Kurz vor Weihnachten verabschiedet der Bundestag das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Darin enthalten ist eine fachfremde Regelung, welche Immunglobuline menschlicher Herkunft vom sogenannten erweiterten Preismoratorium im Fall von Neuzulassungen beziehungsweise einer neuen EU-Genehmigung für das Inverkehrbringen ausnimmt. Rückwirkend ab dem 31. Dezember 2018 entfalle damit auch die Preisfestsetzung durch das Vorgängerpräparat, erläutert das Bundesgesundheitsministerium auf Nachfrage. Octapharma hebt daraufhin im Januar den Lieferstopp für sein neues Präparat auf. An seiner Kritik an den verordneten Medikamenten-Rabatten hält das Unternehmen jedoch fest: Es würde in keinem anderen Wirtschaftszweig „derartige Forderungen“ erhoben. „Dies trifft die Hersteller von plasmatischen Produkten in besonderem Maße aufgrund überproportional hoher Rohstoff- und Herstellungskosten“, betont die Firma.

Der Gesetzgeber reagiert außerdem im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Dieses führt eine Ausnahme vom erweiterten Preismoratorium ein: Hersteller können sich vom Abschlag für Arzneimittel ganz befreien lassen, „wenn für das in den Markt eingeführte Arzneimittel eine neue arzneimittelrechtliche Genehmigung erteilt wurde, die im Vergleich zu bereits zugelassenen Arzneimitteln mit demselben Wirkstoff eine neue Patientengruppe oder ein neues Anwendungsgebiet erfasst, und wenn eine Verbesserung der Versorgung zu erwarten ist“, teilt das BMG der Presseagentur Gesundheit mit. Im Fall einer Bewilligung vereinbart der GKV-Spitzenverband mit dem pharmazeutischen Unternehmer einen neuen Herstellerabgabepreis für das Arzneimittel.

Eine dritte Reaktion erfolgt im Rahmen des im Juni verabschiedeten ALBVVG. Dieses sieht die Möglichkeit vor, die Preismoratoriums-Preise für versorgungskritische Arzneimittel anzuheben. Zum 1. Juli werden außerdem die Basispreise im Zuge des Inflationsausgleichs beim Preismoratorium um 6,9 Prozent angehoben. Das eröffnet den Herstellern die Möglichkeit, Preise abschlagsneutral auch um bis zu 6,9 Prozent anzuheben. Abschläge, die bereits bestehen, da die Abgabepreise oberhalb der Basispreise liegen, werden durch Anhebung der Basispreise entsprechend gemindert oder fallen weg. „Dies wird einer weiteren Entlastung der Hersteller dienen“, ist das Ministerium überzeugt.                                                                                     

                                                                                      Bedarf an Blutplasma steigt

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Die aktuelle Lage sieht folgendermaßen aus: Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) bezeichnet die Versorgung von Immunglobulin-Präparaten im Juni noch als „angespannt, aber grundsätzlich gedeckt“. Zu diesem Zeitpunkt sind sieben Immunglobulin-Präparate nicht lieferbar. Diese Situation dürfte künftig häufiger eintreten. Die Bundesregierung muss bezüglich der Versorgung mit Blutplasma-Präparaten bereits einräumen, dass auch ohne Pandemie künftig mit gewissen Unwägbarkeiten zu rechnen ist. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion Ende vergangenen Jahres erläutert sie die Gründe dafür: Zum einen steige der Verbrauch an Immunglobulin-Präparaten in Deutschland seit zehn Jahren – aufgrund von Indikationserweiterungen, verbesserter Diagnostik und ansteigenden Diagnosen. Prognosen des PEI zufolge wird der Bedarf jährlich um acht Prozent wachsen. Zum anderen wirken sich rückläufige Plasmaspenden aus den USA aus. Eine konkrete Zahl nennt die Regierung in ihrer Antwort nicht, aber laut Octapharma werden rund 40 Prozent des europäischen Blutplasmabedarfs mittels US-Importen gedeckt. Hinzu kommt, dass es nicht klar sei, in welche Länder die global agierenden Hersteller ihre Immunglobulin-Präparate in den Verkehr bringen, führt die Regierung aus. Langfristig werden die Hersteller von Blutplasmaprodukten ihre Präparate dorthin verkaufen, wo sie dauerhaft gute Preise erzielen werden – zum Beispiel in die USA oder ins europäische Ausland, befürchtet der Immunologe und Kinderarzt Prof. Volker Wahn, ehemals Charité. Mehr Blutplasmaspenden in Europa und vor allem in Deutschland sind ihm zufolge unerlässlich, um eine stabile Versorgung zu sichern.

BMG richtet Arbeitsgruppe Blut ein

Das BMG lässt bereits seit einiger Zeit von einer eigens gegründeten Arbeitsgruppe „Blut“ ausloten, wie das Spendenaufkommen in Deutschland gesteigert werden kann. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ruft zum Blutspendetag 2023 erstmals gezielt zum Spenden von Blutplasma auf. Nach Wahns Ansicht reicht eine solche Kampagne aber nicht aus. Die Anforderungen an die Plasmaspendezentren sollten verschlankt werden, fordert er im Interview des Monats (Link am Ende des Beitrages). Außerdem sei das ganze Spendenprozedere umzukrempeln, ist der Experte überzeugt. So müsse durch deutlich höhere Aufwandsentschädigungen das Spenden attraktiver gemacht werden.

Das dürften noch dicke Bretter sein, die dafür gebohrt werden müssen.

Weiterführender Link:

Interview des Monats mit Prof. Volker Wahn: Wegen Engpässen: Rutschen wir in eine Sparmedizin?
https://www.gerechte-gesundheit.de/debatte/interviews/uebersicht/detail/interview/104.html

AMNOG-Baustellen: Was kommt als Nächstes?

Offene Fragen gibt es bei Zell- und Gentherapien

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Berlin (pag) – Auch nach den zum Teil sehr weitreichenden AMNOG-Änderungen, die das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) im Gepäck hat, geht die Debatte um weitere Reformen weiter. Und auch bei den Einspareffekten scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen. Über Zwischenschritte, Kollateraleffekte und systembedingte Schwachstellen, die bislang noch unberücksichtigt sind.

Das GKV-FinStG sieht unter anderem die Einführung eines pauschalen Kombinationsabschlages von 20 Prozent auf bislang nicht gesondert preisregulierte Arzneimittelkombinationen vor. Weiterhin etabliert das Gesetz neue Leitplanken für Erstattungsbeträge, die Absenkung der Orphan-Umsatzschwelle von 50 auf 30 Millionen Euro sowie die Rückwirkung des Erstattungsbetrages auf den siebten Monat nach Markteintritt. Bei den beiden zuletzt genannten Maßnahmen erscheint eine „zeitnahe Realisierung der gesteckten Einsparziele unrealistisch“, heißt es im jüngst erschienenen AMNOG-Report 2023 der DAK-Gesundheit. Im Detail bedeutet das: Der Gesetzgeber schätzt das Einsparpotenzial des rückwirkenden Erstattungsbetrags auf 150 Millionen Euro pro Jahr, die Reportautoren gehen von lediglich 80 Millionen Euro aus.
Stichwort Orphan-Umsatzschwelle: Hier rechnet der Gesetzgeber mit 100 Millionen Euro pro Jahr. Die Verfasser des AMNOG-Reports halbieren dagegen das Einsparpotenzial und erwarten nur bis zu 50 Millionen Euro jährlich. Für die Erstattungsbetragsleitplanken gehen die Autoren um den Gesundheitsökonomen Prof. Wolfgang Greiner dagegen davon aus, dass das Einsparziel übertroffen werde – „wenngleich eine präzise Abschätzung der potenziellen Einsparungen über alle AMNOG-Wirkstoffe derzeit nicht möglich ist“. Für den pauschalen Kombinationsabschlag sei das Einsparpotenzial ebenfalls nicht seriös bezifferbar, was die Experten auf praktische Umsetzungsfragen im Hinblick auf die Identifikation und das Versorgungsmonitoring von Kombinationstherapien zurückführen.

 

Zwischenschritte und Kollateraleffekte

Nur ein Zwischenschritt? Die Regelungen des GKV-FinStG zu Leitplanken und Kombitherapien sind der Grund, warum Prof. Wolfgang Greiner (links) und DAK-Chef Andreas Storm das Gesetz als „Zwischenschritt“ bezeichnen. Weitere Eingriffe könnten erforderlich sein. © pag, Fiolka

Die Regelungen des GKV-FinStG zu Leitplanken und Kombitherapien sind auch der Grund, warum Greiner und Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, das Gesetz im Vorwort als „Zwischenschritt“ bezeichnen. Weitere Eingriffe des Gesetzgebers könnten erforderlich sein, sollte etwadie Komplexität der AMNOG-Leitplanken zur Preisbildung nicht die gewünschten, sondern Kollateraleffekte mit sich bringen, heißt es dort. Auch die Umsetzung des Kombinationsabschlages könnte – bei „fehlendem pragmatischen Lösungswillen der Vertragspartner“ – eine weitere Regulierung notwendig machen. Prof. Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, geht in seinem Beitrag für den Report ebenfalls auf dieses Thema ein. Einen Abschlag hält er zwar für grundsätzlich sinnvoll, den pauschalen Abschlag von 20 Prozent sieht er jedoch kritisch, „da damit weder der Zusatznutzen einer Kombinationstherapie noch der jeweilige Zusatznutzen der Einzelkomponenten einer Kombinationstherapie im Einzelfall angemessen abgebildet wird“.

Intransparenz im Krankenhaus

Zu „systembedingten Schwachstellen“, die der Gesetzgeber noch nicht berücksichtigt hat, äußert sich die DAK im Report. Sie nennt unter anderem die Ausgabenentwicklung von Arzneimitteln bei stationären Behandlungen. Die Kasse verweist auf die Tendenz, dass sich Behandlungen – gerade mit hochpreisigen Arzneimitteln – unter anderem durch Spezialisierungen von Arzneimitteltherapien vermehrt ins Krankenhaus verlagerten. „Dadurch werden Auswertungen bezüglich der Ausgaben zunehmend verzerrt und von mancher Seite gegenüber Politik und Öffentlichkeit lediglich auf die Ausgaben im ambulanten Sektor verwiesen.“ Die Arzneimittelausgaben im Krankenhaus beziffert die DAK auf fast 1,2 Milliarden Euro.

Außerdem wirft die Kasse die Frage auf, wie im Preisbildungsverfahren mit ATMPs im Allgemeinen und mit sogenannten Einmaltherapien im Speziellen sowie mit deren Besonderheiten umgegangen werden könne. Letzteren Punkt sieht auch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem. Im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit erwähnt er als eine AMNOG-Baustelle den „Umgang mit der Unsicherheit bei Zell- und Gentherapien, insbesondere bei der Risikoteilung hinsichtlich der Unsicherheit über die langfristigen Effekte von Einmaltherapien“. Wasem spricht außerdem die noch ausstehende Reaktion zum Thema Euro-HTA an.

 

Regierung verteidigt Kombinationsabschlag
Der neue Kombinationsabschlag ist nach Ansicht der Bundesregierung gerechtfertigt. Der gleichzeitige Einsatz mehrerer Arzneimittel in Kombination führe dazu, dass sich aktuell die Kosten der Einzelwirkstoffe summierten, hinreichende Evidenz zum Gesamtnutzen der Kombination für den Patienten und zum Anteil eines Kombinationspartners am Therapieerfolg jedoch regelhaft nicht vorhanden sei, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion. Zur Gewährleistung der finanziellen Stabilität der GKV sei es gerechtfertigt, dass die Solidargemeinschaft beim Einsatz von Kombinationstherapien mit geringeren Gesamtkosten belastet werde als der Summe der Erstattungsbeträge bei einer Anwendung in der Monotherapie. Der Gesetzgeber habe sich mit dem Kombinationsabschlag für ein Regulierungsinstrument mit hoher Zielgenauigkeit und differenzierter Ausgestaltung entschieden, heißt es weiter. (Siehe Link 1)

Warnung vor dem Preis-Algorithmus

Von den AMNOG-Reformen des GKV-FinStG bereitet dem ehemaligen Vorsitzenden der Schiedsstelle nach § 130b SGB V vor allem die Vorgabe Bauchschmerzen, dass der Preis bei geringem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen nicht höher als der der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) sein darf, wenn diese noch unter Patentschutz steht. „Zum einen halte ich es grundsätzlich für falsch, inkrementellen Fortschritt nicht mehr zu belohnen“, sagt Wasem. Zum anderen führe es auch zu völlig absurden Ergebnissen: Zum Beispiel sei dann der Preis für ein Arzneimittel, das in Kombination mit der zVT gegeben wird und wo diese Kombination einen geringen Zusatznutzen hat, Null. „Dass das Unfug ist, ist doch offensichtlich.“ Wasem warnt grundsätzlich davor, dass sich das AMNOG ein Stück weiter vom Verhandeln eines Preises in Richtung eines Algorithmus entwickele. Damit könnten den Besonderheiten in den jeweiligen Einzelfällen oft nicht angemessen Rechnung getragen werden. „Das Minimum, was meines Erachtens hier geändert werden müsste, wäre auch für die neuen Konstellationen bei patentgeschützten Komparatoren eine Soll-Regelung einzuführen“, schlägt er vor.

 

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…durch die Hintertür
Leistungskürzungen durch die Hintertür prangert dagegen der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) in einer Reaktion auf den AMNOG-Report an. Die Begründung: Mit dem GKV-FinStG ermögliche der Zusatznutzen einer neuen Therapie nicht mehr in jedem Fall einen höheren Preis als ihn die bisherige Vergleichstherapie hatte. Dadurch sei nicht länger jede Innovation für den hiesigen Markt interessant und nicht jedes neue Medikament werde künftig auch hierzulande verfügbar sein. „Deutschland wird mit einer Schlechterstellung bei der Versorgung mit Arzneimitteln leben müssen, die sich für Patientinnen und Patienten wie Leistungskürzungen auswirken werden“, prophezeit vfa-Präsident Han Steutel. (Siehe Link 2 )


Weiterführende Links:

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, 7. März 2023, PDF, 8 Seiten
https://dserver.bundestag.de/btd/20/059/2005904.pdf

AMNOG-Report 2023, Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz und seine Auswirkungen, DAK-Gesundheit, 1. März 2023, PDF, 101 Seiten
https://www.dak.de/dak/bundesthemen/amnog-report-2023-2610266.html#/


Knappes Gut

Arzneimittelengpässe: Krebsmediziner schlagen Alarm

Berlin (pag) – Warnung vor Arzneimittelengpässen: In der Onkologie existieren diese zwar bereits seit Jahren, im vergangenen Jahr haben sie jedoch deutlich zugenommen, heißt es kürzlich seitens der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Die Folgen für Patientinnen und Patienten können dramatisch sein.

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Von den Engpässen betroffen seien vor allem Medikamente, die schon seit Langem einen festen Platz in der Therapie haben. Genannt werden auf einer Pressekonferenz der Onkologen im Januar Tamoxifen und nab-Paclitaxel, die unter anderem bei Brust-, Bauchspeicheldrüsen und Lungenkrebs sowie Karzinomen im Magen-Darm-Bereich als Standard eingesetzt werden. Darüber hinaus fehlten auch unterstützende Arzneimittel wie Calciumfolinat, Harnsäuresenker, Antibiotika und Immunglobuline.

Schlechtere Prognose

Was diese therapeutischen Lücken im Versorgungsalltag bedeuten, schildert der Gynäkologe Prof. Matthias Beckmann vom Universitätsklinikum Erlangen. Weichen Ärzte vom Therapiekonzept ab, sind Patienten verunsichert. Der Wechsel der Medikamente führe zu Abbrüchen und damit zu einer abbruchbedingten Verschlechterung der Prognose. Besonders dramatisch: Beim triple-negativen Brustkrebskarzinom gebe es neue Checkpoint-Inhibitoren, die zusammen mit einem Chemotherapeutikum zugelassen worden seien. Dieses Therapiekonzept stelle für die Patientinnen einen deutlichen Überlebensvorteil dar. Allerdings sei der Kombinationspartner derzeit nicht erhältlich. Die Alternativen hätten keinen Überlebensvorteil gezeigt, so Beckmann. Das Tandem könnte daher nicht eingesetzt werden. „Deswegen haben wir eine Verschlechterung der Prognose durch eine nicht durchgeführte Therapie“, sagt er. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sieht er durch die Engpässe als „nachhaltig gestört“ an.

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) will mit einem neuen Gesetz, dessen Eckpunkte Mitte Dezember vorgestellt wurden, Arzneimittelengpässen begegnen. „Wir haben es mit der Ökonomisierung auch in der Arzneimittelversorgung mit patentfreien Medikamenten übertrieben“, lässt er sich zitieren. Sein Vorhaben konzentriert sich vor allem auf den beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelten Beirat sowie Kinderarzneimittel. Bei ihnen seien die Konsequenzen der Ökonomisierung gerade besonders hart zu spüren. Ihre Preisgestaltung solle daher „radikal“ verändert werden.

Lauterbachs Eckpunkte

Die Eckpunkte für das geplante Gesetz sehen unter anderem vor, dass der Beirat eine Liste von Arzneimitteln erstellt, die für die Sicherstellung der Versorgung von Kindern erforderlich sind. Festbeträge und Rabattverträge sollen für diese Mittel abgeschafft werden. Das Preismoratorium wird für sie angepasst. Als neue Preisobergrenze wird das 1,5-fache eines aktuell bestehenden Festbetrags oder, sofern kein Festbetrag besteht, das 1,5-fache des Preismoratorium-Preises festgelegt. Die GKV übernimmt für Kinder bis zum vollendeten zwölften Lebensjahr und für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr die Mehrkosten von verordneten Arzneimitteln bis zum 1,5-fachen Festbetrag bei einer Abgabe von Arzneimitteln über Festbetrag.

Außerdem sollen Onkologika und Antibiotika, deren Wirkstoffe in der EU produziert werden, bei Ausschreibungen von Kassenverträgen bevorzugt werden. Der Beirat kann dem Bundesgesundheitsministerium weitere Wirkstoffe und Indikationen empfehlen. Für rabattierte Arzneimittel soll es eine mehrmonatige, versorgungsnahe Lagerhaltung geben. Apothekern soll es erleichtert werden Ersatz für Arzneimittel, die von Engpässen betroffen sind, anzubieten. Und: Um drohende Engpässe frühzeitig zu erkennen, erhält das BfArM zusätzliche Informationsrechte gegenüber pharmazeutischen Unternehmen und Großhändlern.

Mehr Transparenz

Auch die Onkologen haben einige Vorschläge parat, wie den Engpässen wirksam begegnet werden könnte. Auf der Pressekonferenz bringt Prof. Thomas Seufferlein, Vorstandsmitglied der Deutschen Krebsgesellschaft, unter anderem eine Positivliste unverzichtbarer Arzneimittel ins Spiel. An der Liste sollen auch die Fachgesellschaften mitschreiben. Der Onkologe nennt ferner eine „bessere Berücksichtigung des Wertes von (generischen) Arzneimitteln für die Versorgung bei der Bepreisung“.
Außerdem liegt den Krebsmedizinern mehr Transparenz am Herzen: Seufferlein mahnt ein präventives Frühwarnsystem an, um Versorgungsdefizite rechtzeitig abzuwenden. Dazu gehöre unter anderem ein Monitoring von Apothekenvertrieb/Großhandel und Herstellungsvolumen, auch über die Kostenträger. Der Medizinische Leiter der DGHO, Prof. Bernhard Wörmann, will, dass die Industrie umgehend über drohende Lieferengpässe informiert – und nicht erst bei bereits bestehenden Problemen.

 

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Eine Erfolgsgeschichte: der Beirat
BfArM-Präsident Prof. Karl Broich stellt vor der Presse das Vorgehen des vom Bundesinstitut koordinierten Beirates anhand mehrerer Beispiele vor. Ein Schema F gibt es nicht, denn: „Kein Engpass gleicht dem anderen“, sagt Broich. Für ihn ist das Gremium „ein Erfolgsfaktor, der uns geholfen hat, zusammen sehr viele Krisensituation zu bewältigen“.
Mit Positivlisten hat er dagegen keine so bestechenden Erfahrungen gemacht. Der vor einigen Jahren unternommene Versuch sei am Ende nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Broich zufolge hat jede Fachgesellschaft die ihr wichtigsten Arzneimittel aufgeschrieben sowie alles, „was noch wünschenswert wäre“. Das Ergebnis sei eine „ultralange Liste“ gewesen. Diese Erfahrung habe die US-Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) mit den amerikanischen Fachgesellschaften ebenso gemacht.
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Bild: Prof. Karl Broich, Präsident des BfArM © pag, Fiolka

 

Last but not least ist festzuhalten, dass Engpässe kein allein deutsches Problem sind. Die US-Zulassungsbehörde hat sich damit ebenso auseinandergesetzt wie die Europäische Union. Die FDA konstatiert etwa, dass es für Hersteller einen Mangel an Incentives gebe, „less profitable drugs“ zu produzieren. Auch honoriere der Markt Hersteller nicht für ausgereifte Qualitätssysteme, die sich auf eine kontinuierliche Verbesserung und das frühzeitige Erkennen von „supply chain issues“ konzentrieren. Hierzulande fordern Ärzteorganisationen vermehrt eine stärkere Rückverlagerung der Produktion wichtiger Arzneimittel nach Europa. Neben den Onkologen hat sich dafür Ende vergangenen Jahres auch der Marburger Bund stark gemacht. Doch der Aufbau neuer Produktionsstätten in Europa ist noch eine ganz andere Herausforderung als an der Festbetragsschraube zu drehen oder bei Rabattverträgen weitere Vorgaben zu machen. Ein sehr langer Atem wird dafür erforderlich sein.

 

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Chinas Medikamente
Die starke Abhängigkeit der deutschen Arzneimittelproduktion von China ist Thema im Herbst beim „Berliner Dialog“ von Pro Generika. Dort ziehen Experten eine Parallele zur Abhängigkeit von russischem Gas. Die geo- und wirtschaftspolitischen Risiken seien in den letzten Jahren massiv gewachsen, warnt Dr. Tim Rühlig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er hält eine militärische Auseinandersetzung Chinas mit Taiwan für nicht unwahrscheinlich. Diese könne schneller kommen als viele derzeit glaubten. Eine Reduzierung der eigenen Abhängigkeit von der Volksrepublik sei deshalb politisch geboten – vor allem durch mehr Diversifizierung und eine größere unternehmerische Risikostreuung, argumentiert Rühlig. Aufgrund des Kostendrucks habe sich die Produktion in den letzten Jahren nach Fernost verlagert, erläutert Peter Stenico, seinerzeit Vorstandsvorsitzender von Pro Generika. Ein weiterer Grund seien gezielte Maßnahmen des chinesischen Staates, die Arzneimittelproduktion auszubauen.
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Bild: Dr. Tim Rühlig, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
© dgap

 

Weiterführender Link:

Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, Arzneimittelengpässe in der Behandlung von Krebspatienten 2022, Januar 2023, PDF, 5 Seiten
www.dgho.de/publikationen/schriftenreihen/arzneimittelengpaesse/arzneimittelengpaesse-in-der-onkologie-2022.pdf