Herausforderungen beim Übergang ins GKV-System

Dr. Johannes Bruns: Innovationen begleiten und unterstützen

Berlin (pag) – Herausforderungen und Fallstricke der komplexen Regulatorik von Innovationen erläutert Dr. Johannes Bruns im Interview. Er findet, dass offene Fragen kein Grund sein sollten, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Damit die Fragen verstärkt in der Versorgung geklärt werden können, mahnt er unter anderem eine grundlegende Perspektiverweiterung des Gemein-samen Bundesausschusses an.

Dr. Johannes Bruns © pag, Fiolka

Paragraf 2 SGB V verspricht Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Was bedeutet das grundsätzlich für die Regulatorik von Innovationen?

Bruns: Innovationen kommen überwiegend von außen in das Gesundheitssystem. Je nach Art der Innovationen existieren unterschiedliche Zugänge. Arzneimittel haben sicherlich den privilegiertesten Zugang, weil sie durch eine externe Bewertung, die Zulassung, direkt abgebildet sind. Allerdings bestehen im System selbst Unterschiede: Im niedergelassenen Bereich ist die Zulassung vorgreiflich für die Verschreibung nach Muster 16 – insofern besteht ein unmittelbarer Zugang.

Komplexer sieht es bei den Krankenhäusern aus.

Bruns: Dort gibt es den sogenannten Kalkulations- oder Abbildungsvorbehalt. Rechtlich darf das Krankenhaus Innovationen einsetzen. In der Regel ist die Finanzierung nicht so schnell geklärt. Dafür braucht es eine Abbildung in Einzelverträgen oder nach Kalkulation in den DRGs. Medikamente, die Marktzugang in Deutschland und einen Preis haben, müssen – unterjährig – an einem Stichtag in das System eingepflegt werden, dann bekommen sie eine Bewertung, zum Beispiel ein Zusatzentgelt. Für Innovationen, wie ATMPs, die zwar einen Preis mitbringen aber zusätzlich zum Arzneimittelpreis noch eine Versorgungsleistung benötigen, die ggf. nicht abgebildet ist, besteht kein unmittelbarer Zugang in der Versorgung. Vielmehr entsteht eine zeitliche Hürde. Der Arzt oder die Ärztin ist zwar berufsrechtlich abgesichert, der Einsatz und die Finanzierung des Produkts hängen aber von der Zusage zur Kostenübernahme durch die Krankenkassen ab. Das verursacht Hemmnisse im Zugang von Innovationen im stationären Bereich.

Arzneimittelinnovationen sind hierzulande einzigartig schnell?

Bruns: Nirgendwo sonst in Europa ist durch die Zulassung und Markteinführung durch den Hersteller unmittelbar eine Finanzierung gesichert. Wir haben unwesentliche zeitliche Verzögerungen durch die Markteinführung, aber neue Arzneimittel sind hier trotzdem schneller als in den anderen europäischen Ländern verfügbar. Spannend ist vor diesem Hintergrund das Thema EU-HTA, das eine europaweite Bewertung vorsieht. Aber die Grundidee, so in den europäischen Ländern den Arzneimittelzugang wie in Deutschland zu erreichen, ist nicht zu erwarten. Denn ich glaube, dass weder die Franzosen noch die Italiener oder die Bulgaren ihre Medikamente aufgrund des europäischen HTA-Verfahrens schneller in den Markt bringen, weil es eben eine ökonomische, nationale Frage ist.

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Sind die klassischen Innovationszugänge noch zeitgemäß angesichts der Innovationssprünge, wie es sie zum Beispiel in der Onkologie aktuell gibt?

Bruns: Grundsätzlich stellen sich bei allen Innovationen beim Übergang in die Versorgung sehr häufig Fragen, die nicht alle abschließend in Phase-3-Studien geklärt wurden oder geklärt werden können. Zum Beispiel in der personalisierten Medizin: Handelt es sich um das richtige Medikament für eine bestimmte Patientengruppe? Offene Fragen sollten aber kein Grund sein, um eine Innovation bei einem positiven Nutzen- und Sicherheitsprofil nicht in die Versorgung zu bringen. Diese sollten daher verstärkt in der Versorgung geklärt werden – das fordern wir als Deutsche Krebsgesellschaft schon seit Langem.

Also ein längerer Beobachtungsprozess?

Bruns: Ein Übergangsprozess. Vor diesem Hintergrund wurde die Anwendungsbegleitende Datenerhebung eingeführt. Als Deutsche Krebsgesellschaft haben wir vor einigen Jahren auch das Thema Wissen generierende onkologische Versorgung forciert, bei dem Daten aus der Versorgung helfen sollen, offene Fragen zu klären. Ein solches Vorgehen spiegelt sich bereits – allerdings nicht für Arzneimittel – im Paragrafen 137 e SGB V wider. Und wenn man noch weiter in der Gesetzeshistorie zurückgeht, ist und war es der Paragraf 137 c SGB V, der Studien möglich machen sollte, die genau solche Fragestellungen, auch im Krankenhaus, auflösen könnten. Es ist sogar geregelt, wer innerhalb der Studie welche Leistungen bezahlt. Das wissenschaftliche Begleiten und das Unterstützen von Innovationen beim Übergang ins System sind für die Weiterentwicklung des GKV-Systems wichtig.

Aber?

„Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung passt nicht in die Denk- und Handlungswelt des G-BA. Er will über Innovationen abschließend und juristisch belastbar abschließend entscheiden.“ © stock.adobe.com, Gorodenkoff

Bruns: Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung passt nicht in die Denk- und Handlungswelt des G-BA. Er will über Innovationen abschließend und juristisch belastbar entscheiden. Dies ist auch das Interesse der Partner im G-BA. Offene Fragen aus der Beratung mit eigenen Instrumenten zu klären, um dann bessere Entscheidungen zu treffen, bedarf einer grundlegenden Perspektiverweiterung des G-BA.

Was für eine Innovationsbegleitung bräuchte es?

Bruns: Ein Modell, das immer wieder diskutiert wird, sieht eine Kofinanzierung der Industrie vor. Dafür gäbe es auch gute Gründe, denn durch einen veränderten oder gar beschleunigten Zulassungsprozess bei der Zulassungsbehörde werden Hersteller entlastet, eine aufwendige Phase-3-Studie zu machen. Mit diesen Ersparnissen könnte man einen „Topf“ füllen, aus dem Innovationen bezahlt werden könnten, um noch fehlende Informationen zu ermitteln.

Offenbar ziehen immer kompliziertere medizinische Innovationen immer komplexere Strukturen in der Regulatorik nach sich. Sehen Sie die Gefahr, dass der Bogen irgendwann überspannt sein könnte, oder ist er das bereits?

Bruns: Ich möchte daran erinnern, dass bei den ersten Überlegungen zu einem Innovationsfonds die Idee der Poolbildung aus GKV-Geldern und Industriegeldern diskutiert wurde, um klinische Fragestellungen des G-BA zu klären. Wir wissen heute, was aus dem Innovationsfonds geworden ist: Der ganze Bereich klinischer Innovation ist bei der Gestaltung des Fonds sukzessive herausgelassen worden. Es geht nicht mehr um medizinische Innovationen, sondern größtenteils um Versorgungsmodellvorhaben und Versorgungsforschung. Die klinischen Fragestellungen – sei es zu Medikamenten, sei es zu DiGA – bleiben dagegen außen vor.

Die Zulassungsbehörden sind mit ihren Entscheidungen flexibler geworden und akzeptieren auch andere Evidenzgrundlagen. Das setzt sich allerdings bei den HTA-Behörden nicht so fort, was zu Problemen bei der Nutzenbewertung führt.

Bruns: Genau, weil vom G-BA für die Arzneimittelbewertung – bei anderen Innovationen ist es ähnlich – regelhaft randomisiert kontrollierte Studien verlangt werden, ist bei deren Fehlen ein nicht belegter Zusatznutzen die Folge.

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Die Genomsequenzierung wird im Rahmen eines Modellprojekts nach Paragraph 64e SGB V erprobt, weil man ansonsten „lost in Regulation“ wäre, wie ein beteiligter Akteur sagt. Sind solche Modellvorhaben für die Einführung von komplexen Innovationen in einem geschützten Rahmen die richtige Antwort?

Bruns: Bei dem Modellprojekt handelt es sich sicherlich um die innovativste strukturelle Maßnahme in der Gesetzgebung der vergangenen Jahre. Hier ist es erstmalig möglich, leistungserbringerselektive, aber keine kassenselektiven Leistungen anzubieten. Das heißt, nicht die Zugehörigkeit zur Krankenkasse entscheidet, ob diese Leistung in Anspruch genommen werden kann. Ein weiterer Vorteil: Es wurde gesetzlich festgelegt, dass die Innovationen auch begleitet werden – nämlich durch Datenerhebung. Dreht man dieses Prinzip um, so könnte man Medikamente nur den Leistungserbringern zu Verfügung stellen, die an einer Datenerhebung teilnehmen.

Die Patienten sind alle betroffen…

Bruns: …aber Ärztinnen und Ärzte könnten das Medikament nur dann einsetzen, wenn sie auch die Daten liefern. Das ist das Entscheidende: Wir benötigen Daten, um Wissen in der Onkologie zu generieren. Das ist beim Paragrafen 64 e SGB V sehr gut gestaltet. Es gibt allerdings einen Nachteil.

Welchen?

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Bruns: Das Modell oder vor allem das Gesetz regelt nur die Diagnostik.

Können Sie das näher erläutern?

Bruns: Das Modellprojekt regelt nur die Kostenübernahme und Regularien für Diagnostik, nicht aber für die dann notwendige Therapie. Das Modellvorhaben ist nämlich so angedacht, dass sich die unterschiedlichen Teilnehmer als Konsortium oder als Studiengruppe verstehen müssen. Alle müssen sie die gleichen Qualitätsstandards erfüllen. Das ist Voraussetzung, um die Kosten der besonderen Diagnostik erstattet zu bekommen. Bei der dann vorgeschlagenen Therapie – bei der teilweise Medikamente eingesetzt werden, die gar nicht für diese Indikation zugelassen sind und die eine enge ärztliche Begleitung benötigen – gibt es keine Bezahlung. Das bedeutet: Selbst wenn sich alle Ärztinnen und Ärzte im Tumorboard einig sind, dass bei Marker X Medikament Y eingesetzt wird, müssen sie es dann selbst zahlen oder bei der Krankenkasse des jeweiligen Patienten beantragen. Zudem müsste sichergestellt werden, dass alle Patientinnen und Patienten, für die dann die Kostenübernahme geregelt ist, das gleiche Produkt eines Herstellers erhalten. Die Zentren müssen sich daher mit dem Hersteller darüber verständigen, dass dieser das Konsortium bedient und gegebenenfalls den Einsatz außerhalb der Zulassung gestattet. Das alles ist ein unglaublich komplizierter Prozess. An dieser Stelle würde ich dafür plädieren, die Off-Label-Kommission beim BfArM, die derzeit nur vom G-BA angerufen werden kann, in den Prozess zu integrieren.

Wie genau?

Bruns: Indem das Konsortium unmittelbar an die BfArM-Kommission einen Antrag für die Therapien stellt und dort gegebenenfalls eine bevorzugte Beratung stattfindet. Gibt die Kommission grünes Licht für den Off-Label-Einsatz, muss nicht jede einzelne Kasse wegen der Kostenübernahme angefragt werden. Der Einsatz der Therapie wäre dann sozialrechtlich finanziell abgesichert. Außerdem hätte man eine Systematik, wie die erfolgreichen Empfehlungen des Konsortiums – die mit dem Ergebnis einer möglichen Phase-1-Studie vergleichbar sind – wieder in einen Zulassungsprozess kommen könnten. Viele werden sagen, dass es sich im Modellvorhaben nur um Kolibris handelt.

Was entgegnen Sie denen?

Bruns: Es könnte auch sein, dass entscheidende und innovative Beobachtungen gemacht werden. Wie beispielsweise bei den ATMPs, bei denen anfangs auch viele sehr skeptisch waren.

Was schlussfolgern Sie daraus?

Das Interview mit Dr. Bruns führten opg-Herausgeberin Lisa Braun (im Foto links) und pag-Redakteurin Antje Hoppe. Die Fotos erstellte Anna Fiolka.

Bruns: Der Paragraph 64 e ist eine echte Innovation, da er die Möglichkeit bietet, passende Leistungserbringer – sprich spezialisierte Zentren – zu identifizieren, um die passenden Patientinnen und Patienten mit der passenden Diagnostik zu behandeln. Allerdings sind die Zentren mehr oder weniger barfuß unterwegs, wenn es anschließend um die Therapie geht. Hier haben wir dringenden Nachbesserungsbedarf.

Wenn wir den Nutzen und Wert von medizinischen Innovationen begutachten, denken wir ausschließlich in den Logiken des SGB V. Wir sehen nicht, welcher Nutzen insgesamt gestiftet wird, Stichwort Pflege, 
Erwerbsfähigkeit, Arbeitsplatz. Ist die isolierte GKV-Betrachtung überhaupt noch passend oder müssen 
wir größer denken?

Bruns: Den Versuch, größer zu denken, gibt es schon lange. Gesundheitsökonomische Betrachtungen sind sogar im AMNOG mit angelegt, allerdings haben wir aktuell keine Daten, mit denen wir solche Auswirkungen adäquat erfassen könnten. Bei Patientinnen und Patienten, die beispielsweise im Rahmen des Modellvorhabens behandelt werden, sind wir schon froh, medizinische Daten generieren zu können.

 

Zur Person
Dr. Johannes Bruns ist seit 2006 Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft. Zuvor leitete der Chirurg die Abteilung für medizinische Grundsatzfragen/Leistungen beim Verband der Angestellten Krankenkassen e. V. (VdAK, heute vdek). Weitere berufliche Stationen waren die Abteilung für Unfallchirurgie an der Universität Bonn und der Bundestag.

 

Hinweis:

Das Interview ist gekürzt. Der vollständige Text ist in der OPG-Spezial-Ausgabe „Wie Innovationen in die Versorgung kommen“, erschienen im April 2025, nachzulesen. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Bestellung finden Sie unter diesem Link.

 

Innovationszugänge modernisieren

Genomsequenzierung, ATMPs und Co. verlangen nach neuer Regulatorik

Berlin (pag) – Extrem ausgeklügelte Mechanismen regulieren hierzulande die Einführung von Innovationen in die Welt der GKV. Diese unterscheiden sich nicht nur nach Art der Innovation, sondern auch nach den Sektoren. Das Problem: Die Regularien werden immer komplexer und die Innovationen drohen im Regulationsdickicht verloren zu gehen. Zeit, neue Wege zu beschreiten.

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Ein neuer Weg wird mit dem Modellprojekt Genomsequenzierung beschritten, das im vergangenen Jahr gestartet ist. Das Ziel: Patienten mit einer seltenen Erkrankung oder einer fortgeschrittenen Krebserkrankung soll mit einer schnelleren Diagnosestellung oder einer zielgerichteteren Therapierempfehlung geholfen werden. Mit dem 2021 verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wurde die rechtliche Grundlage gelegt, um die hochmoderne und komplexe Diagnostik in der Versorgung zu erproben und mögliche zukünftige Anwendungsfälle zu identifizieren. Vertragspartner sind der GKV-Spitzenverband und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD). Es nehmen über 20 Universitätsstandorte teil, der Kassenverband zahlt für die fünfeinhalbjährige Laufzeit 700 Millionen Euro. Für VUD-Generalsekretär Jens Bussmann ist das Modellvorhaben Neuland. Aber ohne die Initiative wäre die Genomsequenzierung „lost in regulation“. Er sieht das Projekt daher als ein positives Beispiel für die Einführung von Innovationen. So äußert sich Bussmann im vergangenen Jahr auf dem genomDE-Symposium. Seit April dieses Jahres steht fest, dass genomDE bis Ende 2025 fortgeführt wird. Dahinter steht die Absicht, die bisher für das Modellvorhaben Genomsequenzierung erarbeiteten Konzepte weiter auszubauen.

Anspruchsvolle Finanzierungsfragen

Innovationen drohen im Regulationsdickicht verloren zu gehen. Zeit, neue Wege zu beschreiten. © iStock.com, gremlin; Bearbeitung: A. Fiolka

Tatsächlich soll der Ansatz des Modellprojekts demnächst „ein wenig kopiert“ werden, wie Thomas Müller vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei einer Tagung des Handelsblattes kürzlich verrät. Es geht um Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP), konkret wohl vor allem um CAR-T-Zelltherapien. Wichtig ist dem BMG-Abteilungsleiter Arzneimittel insbesondere, einen „bürokratiearmen Rahmen“ zu schaffen – sowohl für die Anwendung wie für die Eigenproduktion von CAR-T-Zellen. Auch die sehr anspruchsvollen Finanzierungsfragen sollen grundsätzlich geklärt und nicht mehr von jeder Klinik einzeln verhandelt werden.
Auf Nachfrage der Presseagentur Gesundheit erläutert Müller, dass es sich bei dem Modellvorhaben für universitäre ATMP-Innovationszentren um eine „Konzeptidee für einen weiteren innovativen Versorgungsansatz“ handele, mit dem Therapieoptionen im Bereich der ATMP in einem strukturierten, wissensgenerierenden und qualitätsgesicherten Versorgungsablauf und einem bundeseinheitlichen Erstattungsmodell Patientinnen und Patienten in spezialisierten universitären Einrichtungen zugänglich gemacht werden könnten. „Diese Konzeptidee wollen wir mit den Bundesoberbehörden – PEI und BfArM – und den Stakeholdern weiterentwickeln.“

ATMP-Register mitdenken

Mitgedacht und berücksichtigt werden sollen Müller zufolge auch das nach Paragraf 4c des Arzneimittelgesetzes zu erarbeitende Konzept zur Schaffung eines indikationsbezogenen ATMP-Registers sowie bereits vorhandene einschlägige Strukturen. Zu letzterem zählt insbesondere das vom Innovationsfonds geförderte Projekt INTEGRATE-ATMP (siehe Infokasten).

Was ist INEGRATE-ATMP?
Das Projekt INTEGRATE-ATMP entwickelt harmonisierte und qualitätsgesicherte Instrumente zur Sicherung der bestmöglichen Behandlungsqualität von Patientinnen und Patienten, die mit ATMPs therapiert werden. Dazu gehören strukturierte Pläne für die Vor- und Nachsorge, die in allen beteiligten Zentren angewendet werden. Eine telemedizinische Kommunikationsplattform und App sollen den direkten Austausch aller Beteiligten (Patienten, Ärzte und Case Managern) ermöglichen bzw. vereinfachen. Das im Rahmen des Projekts entstehende Register ist den Verantwortlichen zufolge so angelegt, dass es Daten zu unterschiedlichen Erkrankungen, die mit ATMPs behandelt werden, erfassen kann. Dabei soll es bereits bestehende Krankheitsregister nicht ersetzen, sondern mit ihnen verknüpft werden und in Zukunft auch um neue ATMP-Zulassungen erweiterbar sein.

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Modellvorhaben – sei es aktuell zur Genomsequenzierung oder zukünftig für ATMPs – zeigen, dass die bisherige Regulation neuartiger Innovationen derzeit offenbar an ihre Grenzen stößt. Beim AMNOG wird etwa intensiv darüber diskutiert, ob das Verfahren überhaupt noch zeitgemäß ist oder ein grundsätzliches Update benötigt. Die Grundsatzfrage, die dahintersteckt: Wie kann die Regulation von Innovationen möglichst schnell an den medizinischen Fortschritt angepasst werden? Wie passend ist sie für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie fürchtet etwa, dass der medizinische Fortschritt durch systemische Hürden ausgebremst werden könnte.

Nicht überzeugend funktioniert

Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel im BMG: „Wenn man zu komplex reguliert, erreicht man oft nicht das Angestrebte.“ © iStock.com, sesame

Dieser Aufgabe muss sich die neue Bundesregierung stellen, die im Koalitionsvertrag angekündigt hat, das AMNOG in Bezug auf Leitplanken und die personalisierte Medizin weiterentwickeln zu wollen. „Dabei ermöglichen wir den Zugang zu innovativen Therapien und Arzneien und stellen gleichzeitig eine nachhaltig tragbare Finanzierung sicher“, heißt es salomonisch.

Ob der Kurs der vergangenen Legislatur mit äußerst komplexen Regulierungen weitergeführt wird, dürfte dagegen eher fraglich sein. Im Bundesgesundheitsministerium scheint man von allzu komplexen Regulierungen derzeit nicht mehr angetan. Das legen zumindest Müllers Erfahrungen mit der Leitplanken-Regelung nahe. Er sagt bei der Pharma-Tagung: „Wenn man zu komplex reguliert, erreicht man oft nicht das Angestrebte.“ Insgesamt hätten die sehr komplexen Regeln zur Steuerung und Senkung der Arzneimittelausgaben – wie Leitplanken und der Kombinationsabschlag – nicht überzeugend funktioniert und zudem „politische Antikörperreflexe“ hervorgerufen. Zu AMNOG 2.0 gibt der ministerielle Abteilungsleiter Arzneimittel zu Protokoll, dass er nicht daran glaube, „dass wir beim AMNOG, was die Preisfindung angeht, noch wesentlich weiterkommen“. Das Verfahren habe zwar für die Evidenz viel gebracht, in Sachen Ausgabendämpfung funktioniere es allerdings nur bescheiden.

Vielleicht ist die Zeit reif für einen mutigen Neuaufschlag.

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Mehr Versorgungsperspektive im AMNOG
Bei einem Panel der Pharma-Tagung des Handelsblattes steht das Thema mehr Versorgungsperspektive im AMNOG im Mittelpunkt.
•  Für Han Steutel, Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (vfa), eine wichtige Ergänzung, um das Verfahren auf künftige Herausforderungen vorzubereiten.
•  Sabine Jablonka, Leiterin der Abteilung Arznei-, Heil- und Hilfsmittel beim AOK-Bundesverband, ist skeptisch, die Versorgungsperspektive sei bereits intensiv im AMNOG abgebildet. „Versorgungsbedarf statt Evidenz – das wird nicht funktionieren.“ 

•  Dr. Juliane Cornelsen, Leiterin der Abteilung Arzneimittel bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, hat dagegen den Eindruck, dass die therapeutische Relevanz dem Verfahren über die Jahre etwas abhandengekommen sei. Sie wünscht sich schnellere Anpassungen, etwa bei Endpunkten. „Da ist die Methodik aber an vielen Stellen sehr langsam.“
•  Prof. Bernhard Wörmann von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie fordert angesichts vieler maligner Erkrankungen, die mittlerweile chronifiziert seien: „Wir müssen Overall-Survival in der Onkologie wegkommen.“ Der medizinische Leiter der Fachgesellschaft hebt insbesondere die Bedeutung des Endpunktes Lebensqualität hervor.

Neuer Anlauf Registergesetz

Mögliche Inhalte, Herausforderungen und Chancen

Berlin/Köln (pag) – Inhalte des schon lange erwarteten Registergesetzes skizziert kürzlich Jana Holland, Bundesgesundheitsministerium (BMG), bei einer Veranstaltung von Pharma Deutschland. Durch das Ampel-Aus im vergangenen Jahr konnte der „fast fertige Referentenentwurf“ nicht mehr auf die Straße gebracht werden, berichtet sie.

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Zur Erinnerung: Bereits 2020 veröffentlichte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) einen Rapid Report, der sich mit der Thematik befasst („Konzepte zur Generierung versorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a SGB V“). Für Holland ein Paradigmenwechsel. Ein Jahr später folgt das „Gutachten zur Weiterentwicklung medizinischer Register zur Verbesserung der Dateneinspeisung“, das die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) und das BQS Institut für Qualität & Patientensicherheit im Auftrag des Ministeriums erstellen. Der Koalitionsvertrag der Ampel verspricht dann ein Medizinregistergesetz. 2022 finden Stakeholderprozesse wie Fachgespräche und Workshops mit Registerbetreibern, Datennutzenden etc. statt, berichtet Holland, BMG-Referatsleiterin Medizinische Datenbanken und Register. 2023 werden im BMG Eckpunkte des Gesetzes formuliert, im vergangenen Jahr dann der nahezu fertige Referentenentwurf. „Dieses Thema ist schon sehr lang in unserem Haus in der Überlegung“, fasst sie die Vorgeschichte zusammen. Die Ausgangslage ist noch immer nahezu unverändert: Die Registerlandschaft zeichnet sich durch fehlende Transparenz aus, die circa 400 medizinischen Register sind äußerst heterogen, das ebenso heterogene Normengeflecht sorgt bei den nicht spezialgesetzlich geregelten Registern für Rechtsunsicherheiten.

Kein Korsett

„Wir wollen keines der Register in ein Korsett zwingen“, betont Jana Holland vom BMG. © privat

Der Fokus des künftigen Gesetzes soll daher auf diesen Registern liegen. Die Kernelemente lauten: Transparenz, Qualität, Datenverarbeitung und -nutzung. Zur Qualifizierung der Register sind nach derzeitigem Stand Mindestkriterien vorgesehen, deren Erfüllung allerdings nur auf freiwilliger Basis vorgesehen ist, wie Holland betont. „Wir wollen keines der Register in ein Korsett zwingen.“ Sie spricht von einem Angebot, sich unter den „Schirm der Bundesgesetzgebung“ zu begeben – mit der Maßgabe, dann einen Qualifizierungsprozess zu durchlaufen. Es solle allerdings kein neues Qualifizierungsverfahren eingeführt werden, sondern man wolle bei bisher bereits stattfindenden Prüfungen ansetzen.

Auf diesen Mindestkriterien könnten für bestimmte Zwecke weitere Zusatzkriterien aufgesattelt werden – beispielsweise für das Thema Nutzenbewertung. Diese Zusatzkriterien werden aber nicht Teil des Registergesetzes sein, stellt die BMG-Vertreterin klar. Durch die Mindestkriterien werden die Register allerdings bereits für weitere Verfahren vorbereitet. Holland stellt als einen Vorteil der Qualifizierung die erleichterte Datenverarbeitung dar.

„Nicht nur an eine Daten-, sondern auch an eine Forschungsinfrastruktur denken“, lautet der Appell von IQWiG-Leiter Dr. Thomas Kaiser. © IQWiG

Nach bisherigen Überlegungen soll das Gesetz außerdem eine Zentralstelle für medizinische Register als „Kümmerer“ etablieren. Diese soll ausdrücklich nicht selbst Register betreiben, sondern Prozesse wie das Registerverzeichnis begleiten oder das Qualifizierungsverfahren durchführen. „Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, den Schwerpunkt des Kümmerns auf die Forschung zu legen“, sagt später IQWiG-Leiter Dr. Thomas Kaiser in seinem Vortrag. „Nicht nur an eine Daten-, sondern auch an eine Forschungsinfrastruktur denken“, lautet sein Appell auf der Veranstaltung.

Stichwort Datenzusammenführung und Datennutzung: Dafür sei die Einführung eines Unique Identifiers wichtig. 
Man brauche eine Nummer oder eine Kennziffer in den Registern, um Daten personengenau zusammenführen zu können. „Hier ist die Überlegung, allen Registern, auch denjenigen, die nicht qualifiziert sind, die Erhebung der Krankenversichertennummer zu ermöglichen.“ Dies sieht Holland als Einstieg in die sukzessive Einführung einer Forschungskennziffer, um derzeitige Datensilos verknüpfbar zu machen.

Für die Datenzusammenführung und Datennutzung ist die Einführung eines Unique Identifiers wichtig. Man brauche eine Nummer oder eine Kennziffer in den Registern, um Daten personengenau zusammenführen zu können. © iStock.com, 4zevar

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Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung, verlangt „wirksame Anreize, damit die Hersteller regelhaft vergleichende Daten erstellen“. © pag, Fiolka

Unterdessen hat das IQWiG das Ergebnis einer Workshop-Reihe europäischer Zulassungsbehörden und HTA-Agenturen zusammengefasst. Dr. Beate Wieseler, Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung, verlangt „wirksame Anreize, damit die Hersteller regelhaft vergleichende Daten erstellen“. Ziel der Workshop-Reihe in 2024 als Vorbereitung auf das europäische HTA-Verfahren: ein gemeinsames Verständnis für methodische Herausforderungen und Lösungen bei der Bewertung neuer Arzneimittel zu entwickeln. In einem Positionspapier fassen die Beteiligten folgende Kernpunkte zusammen, die den gemeinsamen Evidenzbedarf besser decken sollen:

  • Bei der Bewertung von Nutzen/Risiko und Zusatznutzen von Arzneimitteln bevorzugen Zulassungsbehörden und HTA-Agenturen randomisierte Studien.
  • Randomisierte Studien in Registern und in der Routine-
versorgung bieten erhebliche Chancen, Daten aus klinischen Studien vor der Zulassung zu ergänzen, um Entscheidungen zur Zulassung und im Rahmen von HTA zu unterstützen.
  • Die Verbesserung der Erfassung, Analyse und Berichterstattung eines weiteren Spektrums von Endpunkten – über primäre Studienendpunkte hinaus – kann die Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung erheblich verringern.
  • Bei der Verwendung von Beobachtungsdaten aus der Routineversorgung zur Schätzung von Effekten durch indirekte Vergleiche gibt es erhebliche ungelöste Probleme.

Neuartige Studiendesigns

Für herausfordernde Situationen wie kleine Patientenpopulationen werden neuartige randomisierte Studiendesigns als vielversprechende Alternative zu einarmigen Studien angesehen. Als Beispiele nennt Wieseler: nahtlose Phase-I-II-Designs in der frühen klinischen Entwicklung, mehrarmige Plattformstudien in Indikationen mit sich entwickelnden Behandlungsoptionen und andere flexible, adaptive Designs, die die Randomisierung beibehalten und gleichzeitig die Anforderungen an den Stichprobenumfang und die Entwicklungszeit verringern können. Sie betont außerdem das Potenzial, Daten aus klinischen Studien vor der Zulassung durch „randomisierte Studien in Registern und in der Routineversorgung zu ergänzen“, um Informationen für die Entscheidungsfindung bei der Zulassung und für HTA zu gewinnen.

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Zukunftsperspektive Registerbasierte Interventionsstudien
Aufbauend auf dem Fundament des Medizinregistergesetzes könnten weitere Bausteine – Stichwort Zusatzkriterien – entwickelt werden. Wer diese festlegt? An dem Punkt sei man noch nicht, so Holland. Sie persönlich sehe dies aber lieber in den Händen von denjenigen, die an den Verfahren näher dran seien. Derzeit fördert das BMG noch bis Anfang 2026 das Forschungsvorhaben „Registerbasierte Interventionsstudien in Deutschland – Anforderungen, Möglichkeiten, Limitationen und Perspektiven“ (REGINT). Dort sollen Anknüpfungspunkte gefunden werden, die in das Registergesetz einfließen können.

Herausforderung Record Linkage
Auf das Thema Record Linkage geht auch PD Dr. Anne Regierer, RABBIT-SpA, ein. Sie berichtet vom BMG-geförderten Kooperationsprojekt LinKR. Dabei sollen Daten von drei medizinischen Registern – RABBIT-Register, Multiple Sklerose (MS)-Register, Deutsches Mukoviszidose-Register – mit Daten der klinischen Krebsregister deutschlandweit über einen Kohortenabgleich und ein Datenlinkage verknüpft werden. Bisher gebe es keine Unique Identifier. „Das bedeutet, der Prozess ist ziemlich kompliziert“, so Regierer. Ein halbes Jahr habe es allein gedauert, das Datenschutzkonzept zu entwerfen.

 

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Weiterführender Link:
Heads of HTA Agencies Group, European Medicines Agency: „Joint HTAb-regulatory perspectives on understanding evidence challenges, managing uncertainties and exploring potential solutions“ vom 1. April 2025, PDF, 7 Seiten

Gesundheitspolitischer Wettstreit

Stakeholder und Parteien positionieren sich zur Bundestagswahl

Berlin (pag) – Die Wunschliste der Stakeholder im Gesundheitswesen an eine neue Bundesregierung ist lang. Ganz oben steht unter anderem eine Patientensteuerung. Aber auch eine auskömmliche Finanzierung der GKV ist den Verbänden wichtig. Der eine oder andere Punkt findet sich auch in den Wahlprogrammen der Parteien mit den aussichtsreichsten Chancen auf Einzug ins Hohe Haus wieder.

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SPD, Union, Grüne und FDP sind sich im Wettstreit zur Bundestagswahl einig: Eine Patientensteuerung in der ambulanten Versorgung ist bitter notwendig. Während Union, Grüne und FDP Hausärzte und Kinderärzte federführend in einem Primärversorgungssystem vorsehen, bleibt die SPD ungenauer und spricht lediglich von „bedarfsgerechter Steuerung“.
Das Bekenntnis dürfte die Vertragsärzteschaft und die Krankenkassen freuen, sprechen sie sich doch auch für eine Patientensteuerung aus. In ihrem Positionspapier zur Wahl macht sich die Bundesärztekammer (BÄK) für ein Primärversorgungssystem stark. Der Status quo ohne Steuerung ist ihrem Präsidenten Dr. Klaus Reinhardt ein Dorn im Auge. Auf einer Pressekonferenz verweist er auf eine Erhebung seiner Heimatärztekammer Westfalen-Lippe, wonach Patienten in bestimmten Regionen durchschnittlich Kontakt zu 1,5 Hausärzten hätten: „Also jeder Zweite hatte einen zweiten Hausarzt, die voneinander in der Regel nichts wissen. So etwas können wir uns vor dem Hintergrund der zunehmenden Personalnot und steigender Kosten nicht mehr leisten.“

Wunsch nach Entbudgetierung

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Auch der AOK-Bundesverband (AOK-BV) nimmt diesen Punkt auf. „Damit werden Abläufe für Patientinnen und Patienten verlässlicher, weniger komplex, ein bedarfsgerechter Zugang auch zur fachärztlichen Versorgung gewährleistet und damit die Effizienz in der Versorgung gesteigert“, hofft Verbandschefin Dr. Carola Reimann vor Journalisten. Für ein Hausarztmodell kann sich auch die Interessenvertretung der Innungskrankenkassen auf Bundesebene (IKK e.V.) erwärmen.

Der wohl größte Wunsch der Vertragsärzteschaft bleibt die Entbudgetierung – und zwar nicht nur für Hausärzte, wie kürzlich vereinbart, sondern für alle ambulant tätigen Ärzte sowie Psychotherapeuten „innerhalb der ersten 100 Tage einer neuen Bundesregierung“, heißt es im Forderungskatalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der bereits Ende des vergangenen Jahres veröffentlicht wurde. Der AOK-BV würde die Uhr dagegen am liebsten zurückdrehen und den Honorardeckel wieder auf Kinder- und Jugendmedizin legen, wie aus seinem Positionspapier hervorgeht.

Und die Parteien? Die FDP will eine ungekürzte Vergütung aller Gesundheitsberufe, die AfD fordert eine „Beendung der Rationierung ärztlicher Leistungen durch Zwang von Behandlungen ohne Vergütung“. Rot und Grün werben mit einer Termingarantie (SPD) beziehungsweise einer Erhöhung der Sprechstunden in Arztpraxen (Grüne).

Die ewige Bürgerversicherung

Kommt die Union ans Ruder, will sie laut Wahlprogramm die Krankenhausreform korrigieren. Das dürfte ihm Sinne der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sein. In einem „Sofortprogramm“ fordert diese den kalten Strukturwandel aufzuhalten und für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen, die Struktur-und Personalvorgaben in den Leistungsgruppen realistischer auszugestalten und die Vorhaltefinanzierung zunächst auszusetzen. Generell wünscht sie sich weniger Dirigismus und kleinteilige Gesetzgebung, stattdessen mehr Spielraum für die Akteure vor Ort. So sollten beispielsweise Personalbemessungsinstrumente lediglich „Empfehlungs- und Orientierungscharakter“ haben, heißt es im Zehn-Punkte-Papier der DKG für die Bundestagswahl.

In den Programmen der linken Parteien (inklusive BSW) findet sich auch der ewige Wahlkampfschlager einer solidarischen Bürgerversicherung. Als Vorstufe sehen SPD und Grüne die Beteiligung der PKV am Risikostrukturausgleich (RSA) vor. Da eine linke Mehrheit im Bundestag unwahrscheinlich ist, dürfte es auch für die kommende Legislatur ein einheitliches Versicherungssystem ein Wunsch bleiben. Die Grünen schlagen überdies eine Reform der Beitragsbemessung mit Berücksichtigung von Kapitaleinnahmen vor.
Den morbiditätsorientierten RSA würde der AOK-Bundesverband gerne um sozioökonomische Aspekte ergänzt wissen. Die Techniker Krankenkasse (TK) will eine einheitliche Kassenaufsicht. „Denn die unterschiedlichen Aufsichtspraxen durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) und die Aufsichtsbehörden der Bundesländer können zu Wettbewerbsverzerrungen führen“, schreibt die größte Ersatzkasse in ihrem Positionspapier.

„Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung

Eine auskömmliche Refinanzierung der versicherungsfremden Leistungen aus dem Bundeshaushalt – bis hin zur vollständigen Übernahme – findet sich ebenfalls in den Papieren von SPD, CDU/CSU, Grüne und AfD und stößt sicherlich auf Wohlwohlen der Krankenkassen. Der IKK e.V. will eine zügige Umsetzung, um die Ausgabendynamik zu bremsen, ohne dabei Versichertenleistungen zu kürzen. „Hierfür muss im Rahmen einer Vorschaltgesetzgebung die Dynamisierung des Bundeszuschusses und die verantwortungsgerechte Beteiligung des Bundes an der Versorgung der Bürgergeldempfangenden ebenso wie an der Finanzierung weiterer gesamtgesellschaftlicher Aufgaben umgesetzt werden“, heißt es in einer Pressemitteilung zum IKK-Positionspapier anlässlich der Bundestagswahl. Die TK will ein „Sofortprogramm“ zur Ausgabensenkung. Darin enthalten: eine Erhöhung des Herstellerabschlags bei Arzneimitteln, Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung und die Rückkehr zur Grundlohnsummenbindung bei Heilmitteln.

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Strukturreformen stehen in der Kassenwelt hoch im Kurs, um die Ausgaben zu drosseln und das System effizienter zu machen. Die Barmer etwa wünscht sich eine gemeinsame Bedarfsplanung für den ambulanten und stationären Sektor, „die das Angebot medizinischer Leistungen möglichst in Einklang mit der Nachfrage bringt und das Nebeneinander nicht abgestimmter Versorgungsangebote und -strukturen beendet“, heißt es im Forderungspapier der Ersatzkasse. Auch die DKG will die Sektoren überwinden. „Ich halte die Länder für den zentralen Akteur einer zukünftigen Versorgungsplanung, die im Dialog mit den Akteuren aus dem ambulanten und stationären Bereich erfolgen muss“, erklärt ihr Vorstandsvorsitzender Dr. Gerald Gaß vor Journalisten. Und schiebt nach: „Auch die Krankenkassen sind natürlich als Akteur zu betrachten.“ Die Parteien sind zögerlicher. SPD und Grüne schlagen allerdings ein einheitliches Vergütungssystem für die ambulante und stationäre Versorgung vor.

Für die Soziale Pflegeversicherung (SPV) schwebt dem politisch linken Lager eine Bürgerversicherung vor. Die SPD möchte darüber hinaus einen „Pflegekostendeckel“ einführen: Heimbewohner sollen für die stationäre Versorgung nicht mehr als 1.000 Euro im Monat zahlen. Die Union schlägt stattdessen einen Finanzierungsmix aus gesetzlicher Pflegeversicherung, betrieblicher Mitfinanzierung, Steuermitteln sowie eigenverantwortlicher Vorsorge. Die FDP stößt ins gleiche Horn.

Arzneimittel: Deutschland und EU first

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In der Arzneimittelversorgung legen viele Parteien Wert auf die Produktion in Deutschland und der EU. FDP und Union träumen von schnelleren Zulassungsverfahren, während Die Linke die Pharmaindustrie am liebsten an die Kette legen würde. Für eine schärfere Gangart in der Arzneimittelpolitik plädiert auch AOK-Bundesverbandschefin Reimann. Mit Blick auf die Preisbildung bei patentgeschützten Arzneimitteln rät sie zur Hebung von „Wirtschaftlichkeitsreserven“. Das dürfte die Industrie nicht freuen, die die Verschärfung des AMNOG durch die Ampel weiterhin kritisiert. Bereits im Dezember 2024 schreibt Dorothee Brakmann, Hauptgeschäftsführerin von Pharma Deutschland, der Nachfolgeregierung ins Aufgabenheftchen: „Die aktuellen Leitplanken zur Preisbildung und der Kombinationsabschlag hemmen Innovationen. Wir können viel mehr medizinischen Fortschritt, als wir mit der derzeitigen Regulierung abbilden. Neue Studienkonzepte, Endpunkte und Therapien brauchen eine Nutzenbewertung und eine Preisbildung, die den Zusatznutzen von Therapien besser berücksichtigt.“

Reif für eine Generalüberholung?

Forderungen der Industrie nach AMNOG-Reform werden lauter

Berlin (pag) – Ist das AMNOG für Innovationen wie Gen- und Zelltherapien noch das geeignete Bewertungsverfahren? Wie passend ist es für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie verlangt nach einer grundlegenden AMNOG-Reform. Das Argument: Medizinischer Fortschritt dürfe nicht durch systemische Hürden ausgebremst werden.

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2025 wird in Sachen Health Technology Assessment (HTA) ein spannendes Jahr. Am offensichtlichsten ist der Start des europäischen HTA-Verfahrens im Januar. Dieses sieht unter anderem eine Synchronisation mit dem europäischen Zulassungsprozess vor, eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Beteiligten, gilt es doch zum Teil recht sportliche Fristen miteinander zu verzahnen.

Fest steht schon jetzt: Das AMNOG wird vom europäischen Pendant auf Dauer nicht unbeeinflusst bleiben. Im Januar legt das Bundesgesundheitsministerium etwa einen Last-Minute Änderungsentwurf für die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vor. Grundsätzlich gilt: Wertungs- und Preisentscheidung bleiben zwar auf nationaler Ebene, gleichzeitig soll Doppelarbeit vermieden werden. Ein schwieriger Spagat, deshalb vermögen auch Experten die Relevanz des neuen Verfahrens noch nicht so richtig abzuschätzen. Das europäische Verfahren startet mit neuen Krebstherapien und ATMPs – ein besonders innovatives Feld, auf dem sich momentan viel tut. Ist man hierzulande dafür mit dem AMNOG gerüstet?

Grundsatzfragen zur Evidenz

Der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann ist skeptisch. Im Dezember stellt er auf einem parlamentarischen Frühstück der LAWG (Local Area Working Group), einem Verein, dem 17 weltweit agierende, forschungsorientierte Arzneimittelunternehmen angehören, klar, dass das AMNOG für ihn zwar ein wertvolles Werkzeug sei, aber er sieht auch deutliche Limitationen – etwa bei Schrittinnovationen. Ullmann fragt außerdem: „Wie sieht es bei der Personalisierten Medizin aus, wie sieht es aus bei der Gentherapie, bei der wir sehr individuelle Therapieformen haben und die klassische Evaluation des AMNOG-Verfahrens gar nicht funktionieren kann?“ Für ihn steckt dahinter die Grundsatzfrage, was medizinische Evidenz bedeutet. Er plädiert für eine differenzierte AMNOG-Weiterentwicklung: Im klassischen Verfahren sollten herkömmliche Medikamente wie etwa Bluthochdruckarzneimittel bewertet werden. Im Rahmen eines zweiten Moduls – Ullmann nennt es AMNOG innovativ – wird über den Zusatznutzen von neuartigen Therapieformen geurteilt.

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Von Kalle plädiert für flexible Methodik

Ähnlich äußert sich Prof. Christof von Kalle auf der LAWG-Veranstaltung. Der Onkologe, der (zu diesem Zeitpunkt noch) das gemeinsame klinische Studienzentrum von der Charité und dem Berlin Institute of Health leitet, spricht sich für eine flexible AMNOG-Methodik aus. Darunter subsummiert er unter anderem eine Beschleunigung der Prozesse sowie eine Optimierung durch internationale Zusammenarbeit und Harmonisierung internationaler Verfahren – Stichwort EU-HTA. Außerdem betont er: „Ich würde sehr stark dafür plädieren, dass wir wirklich alle verfügbaren Daten verwenden und überlegen, wie wir den Nutzen neu bewerten.“ Sehr wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Konditionalität der Zulassung und der Datenerhebung nach der Zulassung.

vfa: Webfehler des AMNOG

Einen Monat zuvor, im November 2024, hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ein 15-seitiges Reformpapier zum AMNOG mit verschiedenen Handlungsfeldern präsentiert. Unter der Überschrift „Medizinischem Fortschritt gerecht werden“ wird ebenfalls die Frage nach der Evidenzgrundlage thematisiert. Der Verband stellt dar, dass angesichts zunehmend zielgerichteter Therapieansätze für eng definierte, häufig kleinere Gruppen von Patienten die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien nicht in allen Situationen ethisch vertretbar oder praktisch umsetzbar sei. Ein Webfehler des AMNOG sei daher, dass eine Anpassung im Umgang mit nicht-randomisierten Daten noch nicht erfolgt ist. Als Folge werde der therapeutische Zusatznutzen in besonderen Therapiesituationen nicht entsprechend gewürdigt, sodass bei den betroffenen Therapien kein angemessener Erstattungsbetrag vereinbart werden kann. Dies wirke sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien, wie Gentherapien, in der Versorgung aus, so der vfa. Seine Lösung: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) prüft künftig auf Antrag eines Herstellers, ob eine besondere Therapiesituation vorliegt. In diesen Fällen wird die bestverfügbare Evidenz in der Nutzenbewertung herangezogen.

Wie realistisch ist Pay for Performance?

Der Verband bricht in dem Papier außerdem eine Lanze für erfolgsabhängige Erstattungsmodelle, sogenannte Pay-for-Performance-Ansätze. Sie könnten im Einzelfall helfen, bei limitierter Evidenz dieser „begründbaren Unsicherheit bei höherpreisigen Therapien zu begegnen“ und Patienten einen schnellen Zugang zu diesen Therapien zu ermöglichen, heißt es. Die Forderung ist nicht neu, auch der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld macht sich dafür stark – beispielsweise im März 2024 in einem Beitrag für die „Interdisziplinäre Plattform Nutzenbewertung“. In derselben Ausgabe stellt Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbandes, dagegen die Bedenken der Kostenträger dar: Die Preisbildung bei Gentherapien weise weiterhin eine „beträchtliche Diskrepanz“ zur vorhandenen Evidenz auf, konstatiert sie. Ob die Einführung erfolgsorientierter Vergütungssysteme Teil einer effizienten Lösung sein könne, sei fraglich. „Hierzu wären umfangreiche rechtliche und technische Änderungen und die Behebung bestehender Datenlücken erforderlich, die derzeit nicht absehbar sind“, so Haas.

 

Techniker Krankenkasse: Pay for Performance ist kein guter Weg
„Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ lautet der Titel eines im März 2024 veröffentlichten Reports der Techniker Krankenkasse (TK), der die Arzneimittelpreisgestaltung im internationalen Vergleich – USA, Frankreich und Japan – darstellt. Zur Preisbildung für Gentherapeutika in Deutschland könnten demnach fünf Ansätze zur Anwendung kommen: Budgetierung, geheime Preise, kriterienbasierte Preise, Kostentransparenz sowie Raten- beziehungsweise Rückzahlungsmodelle. Letztere können auch mit einer Performance-Komponente ergänzt werden. Der Kasse zufolge erweist sich deren Umsetzung jedoch als äußerst schwierig. Tim Steimle, Leiter des TK-Fachbereichs Arzneimittel, erläutert gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „Pay for Performance bedeutet ja folgendes: Tritt eine gewisse Non-Performance ein und das Medikament funktioniert nicht, dürfen Raten ausgesetzt werden.“ Darauf könnten sich aber die pharmazeutischen Unternehmen und die Krankenkassen fast nie verständigen. Strittig sei zum Beispiel, was wirklich ein guter Non-Performance-Indikator sei und wie dieser sauber erfasst werden könne. „Wer erfasst den? Benötigen wir ergänzende Informationen von Ärzten oder Patienten, um zu beurteilen, ob die Performance eingetreten ist oder nicht?“, fragt Steimle. Darüber streite man sich jedes Mal, wenn solche Verträge abgeschlossen werden. „Auf einen guten Weg einigen wir uns leider nicht.“

Der blinde Fleck des AMNOG

Hamburg (pag) – Der zwölfte AMNOG-Report der DAK adressiert blinde Flecken der Arzneimittelpolitik. Die Autoren um Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, machen diese vor allem bei den Ausgaben für hochpreisige Arzneimittel im Krankenhaus sowie dem geplanten Abschlag auf Kombinationstherapien aus. Der Unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, will der schwerfälligen Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) durch eine zeitigere Evidenzgenerierung Beine machen.

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Als „blinden Fleck des AMNOG“ identifiziert Hecken bei der Präsentation des Reports Gen- und Zelltherapien sowie die personalisierte Medizin. In diesen besonders kostenintensiven therapeutischen Situationen gebe es keine randomisierten kontrollierten Studien, sondern bestenfalls einarmige Studien. „Das bedeutet ganz konkret, dass wir immer häufiger in Situationen kommen, in denen wir eine Nutzenbewertung vornehmen müssen, ohne in irgendeiner Form über belastbare Evidenz zu verfügen – mit den entsprechenden Auswirkungen.“ Mit Letzterem meint Hecken, dass selbst bei keinem oder nicht quantifizierbarem Zusatznutzen hohe Kosten für die GKV entstehen.

Diese Evidenzlücke soll eigentlich die AbD schließen. Hecken sieht dabei jedoch folgendes Problem: Man könne die Hersteller nicht zwingen, sich bereits vor der Zulassung an den G-BA zu wenden, „damit schon dann potenzielle Endpunkte für eine AbD definiert und Studienprotokolle geschrieben werden können“. Der Kooperationszwang bestehe erst mit dem Beginn der Nutzenbewertung. Folglich vergehen bis zu ein-einhalb Jahre, in denen Patienten bereits behandelt werden und nicht in der AbD sind. „Die Evidenz bei diesen ohnehin wenigen Patienten geht in der Zeit verloren, in der wir Zirkusveranstaltungen machen, um uns mit dem pharmazeutischen Unternehmen und den Fachgesellschaften auf Endpunkte zu verständigen“, kritisiert der G-BA-Chef. Er schlägt vor, einen Kooperations- und Meldezwang für die Hersteller in der Präzulassungsphase zu installieren, damit bereits zu diesem Zeitpunkt wichtige Vorarbeiten geleistet werden können.

Black Box Krankenhaus

Bei der Präsentation des Reports werden weitere blinde Flecken diskutiert. Gesundheitsökonom Greiner nennt die stationären Umsätze hochpreisiger Arzneimittel. Diese finden faktisch in keiner Debatte Berücksichtigung, heißt es im Report, vor allem, weil belastbare Daten fehlten.

Der aktuelle Report legt hierzu zum zweiten Mal Auswertungen vor: Hochgerechnet auf alle GKV-Fälle mit NUB- bzw. ZE-Abrechnung eines nutzenbewerteten Arzneimittels fallen im Jahr 2023 Kosten in Höhe von mehr als 1,2 Milliarden Euro an – ein neuer Höchststand. NUB steht für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, ZE für Zusatzentgelt.

Auch der geplante Kombiabschlag wird als blinder Fleck gesehen. Im Mai hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Regelung dafür festgelegt. Allerdings wären damit lediglich 65 Prozent aller Personen mit einer Kombinationstherapie identifiziert worden, was zu Einsparungen von 99 Millionen Euro jährlich führte, heißt es. Das Fazit der Reportautoren: Der Vorschlag des BMG könnte zu einer pragmatischen Identifikation der Kombinationstherapien führen und wäre grundsätzlich geeignet, zu höheren Einsparungen beizutragen. Dennoch würden auch diese nicht ausreichen, um die im Gesetz formulierten Einsparziele von jährlich 185 Millionen Euro zu erreichen.

„Kurskorrektur war höchste Eisenbahn“

Wie Dr. Hagen Pfundner die Pharmastrategie der Bundesregierung bewertet

Berlin (pag) – Lange hat die Industrie auf die Pharmastrategie der Bundesregierung gewartet, Ende 2023 stellt sie der Bundesgesundheitsminister endlich vor. Wird damit eine Renaissance der Reindustrialisierung eingeleitet? Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender Roche Pharma, bezieht im Interview Stellung und verrät, welche Pläne er skeptisch sieht.

Wird das Ruder gerade noch rechtzeitig herumgerissen? Bei dieser historischen Zeichnung aus Großbritannien scheint die Lage noch unklar zu sein. Ähnlich sieht es momentan am Pharmastandort Deutschland aus. Den Referentenentwurf des Medizinforschungsgesetzes beurteilt die pharmazeutische Industrie verhalten.
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Mit der Pharmastrategie und dem geplanten Medizinforschungsgesetz will Prof. Karl Lauterbach eine Reindustrialisierung in Gang setzen. Höchste Eisenbahn oder ist der Zug schon abgefahren?

Pfundner: Die Pharmastrategie der Bundesregierung ist eine ressortübergreifende Strategie, bei der Bundeskanzleramt, Wirtschafts-, Forschungs- und Gesundheitsministerium intensiv zusammengearbeitet haben. Ja, eine Kurskorrektur und eine Rücknahme der innovationsfeindlichen Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz waren höchste Eisenbahn. Mit der Strategie und dem Bekenntnis, dass die pharmazeutische Industrie ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft ist, ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Wir wurden als Industrie gehört und unsere Sorgen in Bezug auf eine schleichende Deindustrialisierung wurden ernst genommen.

Aber?

Pfundner: Jetzt müssen Taten folgen. Unsere Branche ist bereit, bei entsprechenden Rahmenbedingungen in Forschung, Entwicklung und Produktion signifikant zu investieren, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zur Lieferkettensicherheit beizutragen.

Wie bewerten Sie die Pharmastrategie der Bundesregierung: Welche Pläne überzeugen Sie, was halten Sie eher für halbgar?

Pfundner: Die Pharmastrategie ist für mich ein Beispiel für aktive Industriepolitik der Bundesregierung. Ich begrüße diesen Schritt sehr. Hierfür hat der vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Jahr 2022 ins Leben gerufene Roundtable „Gesundheitswirtschaft” eine Schlüsselrolle gespielt und ein wichtiges Fundament gelegt. Die Maßnahmen zum Bürokratieabbau, zur Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie gezielte strukturelle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und die Verbesserung der Arzneimittelliefersicherheit sind wichtige Absichtserklärungen, die man in der Strategie wiederfindet. Es kommt nun auf die konkrete Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.

Was sehen Sie kritisch?

Pfundner: Die Pläne, die für mich aktuell noch die größten Fragezeichen aufwerfen, betreffen die Überprüfung der AMNOG-Reform in 2024, den Zeitplan dahinter und das Austausch- und Entscheidungsgremium, in dem die Industrie mitgestalten und mitwirken kann.

Was kann Deutschland von anderen Ländern in Sachen gesundheitsindustrieller Standortpolitik lernen?

Pfundner: Weltweit beobachten wir eine Renaissance der „Reindustrialisierung”. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Bundesregierung im Sinne einer „modernen” – auch datenbasierten – Reindustrialisierung ein richtiger und notwendiger Weg. Hier können wir durchaus von anderen Ländern lernen, die verstanden haben, dass sich durch verlässliche Rahmenbedingungen und einen heimischen Markt für Innovationen privatwirtschaftlich finanzierte Forschungs- und Produktionskapazitäten in Zukunft weiter ausbauen lassen. Auf der anderen Seite ist die Pharmastrategie der Bundesregierung ein Aktionsplan, der eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland darstellt und bei dem andere Länder aktuell auf uns schauen. Ich freue mich besonders darüber, dass der Dreiklang aus Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Strategie verankert ist – denn Gesundheitspolitik ist auch Industrie- und Wirtschaftspolitik. Es kommt nun – wie bereits gesagt – auf die Umsetzung an. Nur wenn die Maßnahmen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vollständig zurückgeführt werden und wir die Zukunftsthemen gemeinsam angehen, können langfristige, privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunft in Deutschland – vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs – stattfinden.

 

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Zur Person
Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender der Roche Pharma AG, hat einige Pflöcke für die industrielle Gesundheitswirtschaft eingeschlagen. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender des Pharmaverbandes vfa. Er hat daran mitgewirkt, die Branche auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sichtbar zu machen. Aus dem anfänglichen Ausschuss für Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile eine Abteilung. Der promovierte Pharmazeut ist zudem als Honorarprofessor an der Uni Freiburg tätig.    © pag, Fiolka

Aufholjagd Medizinforschung

Pharmastrategie soll Reindustriealisierung vorantreiben

Berlin (pag) – Ein Thema hat in 2023 Karriere gemacht: die hiesige Gesundheitswirtschaft und -forschung. Der Industrie zufolge fällt Deutschland aufgrund bürokratischer Hürden immer weiter zurück. Die Politik hat diese Klagen lange ignoriert, doch die Folgen – nicht zuletzt für die medizinische Versorgung – lassen sich nicht länger ignorieren. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach präsentiert deshalb eine Pharmastrategie und kündigt eine „Aufholjagd“ an.

Als im Februar vergangenen Jahres der Fortschrittsdialog „Gesunde Industriepolitik“ in Berlin startet, steht das Thema auf der politischen Agenda nicht besonders weit oben. Mehrere Pharmaunternehmen haben daher mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) eine deutschlandweite Veranstaltungsreihe initiiert, um die Zusammenhänge zwischen gesunden industriepolitischen Rahmenbedingungen und medizinischer Versorgung darzustellen. Schirmherrin und SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Katzmarek räumt bei der Auftaktveranstaltung ein, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft oft unter den Tisch falle. Bei einer Stärkung des Wirtschaftszweigs solle man sich nicht in Klein-Klein-Debatten verlieren. Es gelte die großen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Digitalisierung und Versorgungssicherheit anzugehen.

Es wackelt

Michael Vassiliadis © pag, Fiolka

IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis sieht die Industriepolitik unter Druck: „Was uns 15, 20 Jahre erfolgreich gemacht hat, wackelt.“ Deutschland habe großes Potenzial für innovative Therapien und gute Versorgung bei Krankheiten, für Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze. Für den Gewerkschaftschef ist die Gesundheitswirtschaft nicht Kostenfaktor und Problem, sondern ein Lieferant für Lösungen. Konkrete Zahlen nennt bei dem Termin Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG: Die Bruttowertschöpfung der Branche in 2021 beziffert er auf 165 Milliarden Euro. Die Reinvestitionsrate der industriellen Gesundheitswirtschaft betrage 16 Prozent – ein Wert, den kaum ein anderer Industriezweig erreiche. Pfundner zufolge haben die Arzneimittelhersteller „null Interesse“ daran, das Sozialsystem zu überfordern. Auf der anderen Seite führe eine Billig-Mentalität zu Engpässen. Und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) mache es den Unternehmen schwer, Innovationen zu entwickeln.
Eben dieses Gesetz, das unter anderem die Regeln des AMNOG-Verfahrens verschärft, macht Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck dafür mitverantwortlich, den Dialog mit der Pharmaindustrie zu Beginn verstolpert zu haben. Dieser habe angesichts des GKV-FinStG unter negativen Vorzeichen begonnen, so der Grünen-Politiker im Mai bei einer Veranstaltung des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller. Dort präsentiert er sich als Gesundheitswirtschaftsminister und unterstreicht: „Ohne funktionierende Gesundheitswirtschaft wären wir nicht das Land, das wir sind.“

Die fette Ente

Der Minister spricht von einem strategischen Interesse an deutschen und europäischen Standorten, um nicht von Lieferketten und „wildgewordenen Diktatoren“ abhängig zu sein. Deutschland müsse daher dafür sorgen, dass ein großer Teil der strategischen Investitionen hierzulande passieren.

Dr. Robert Habeck © pag, Fiolka

Umso mehr kränkt es Habeck nach eigener Aussage intellektuell, dass heimische Firmen auf einmal im Ausland investieren, „weil wir zu viele Datenschützerinnen und Datenschützer haben“. Der Datenschutz an sich sei nicht das Problem, aber der Umstand, dass es in jedem Bundesland eine eigene Regelung dazu gibt, betont Habeck. Er stellt schlankere und schnellere Verfahren in Aussicht, „denn jetzt wird die Ente fett“.

Das Ziel: Reindustrialisierung

In den folgenden Wochen und Monaten kursieren in Fachkreisen verschiedene Entwürfe einer Pharmastrategie der Bundesregierung. Am 1. Dezember, schließlich stellt Lauterbach die 14-seitige Pharmastrategie 7.0 der Presse vor. Einen Tag zuvor hat im Kanzleramt ein Pharmagipfel stattgefunden. Darüber verliert der Gesundheitsminister zwar keine Worte, aber mit Blick auf den Pharmastandort Deutschland konstatiert er, dass man an Konkurrenzfähigkeit verloren habe. Wie schon bei den Digitalgesetzen bemüht er das Bild einer „Aufholjagd“ und kündigt an: „Die Hausaufgaben müssen gemacht werden.“
Eine zentrale Rolle in der Strategie, die wenige Wochen später vom Kabinett verabschiedet wird, spielt das geplante Medizinforschungsgesetz. Dabei geht es um zweierlei, so Lauterbach: „Dort, wo geforscht wird, findet nachher auch die Produktion statt.“ Das geplante Gesetz soll daher nicht nur die Voraussetzungen für die Forschung, sondern auch für die pharmazeutische Produktion verbessern. Letzteres sei ein energiearmer, aber auch innovationsreicher Bereich, führt der Minister aus, der eine „Reindustrialisierung“ vorantreiben will.

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Das Gesetz adressiert als zentrales Problem die langwierigen und teuren Genehmigungsverfahren für klinische Studien/Prüfungen. Bei der Zahl der Studien pro Kopf ist Deutschland zurückgefallen. Hierzulande werde zwar viel Grundlagenforschung betrieben, daraus resultierten aber wenig Patente und noch weniger Produktion, betont Lauterbach. Mit Großbritannien sei man bei der Grundlagenforschung gleichauf, im Königreich gingen daraus jedoch zehnmal mehr Patente und zwanzigmal so viele Produktionsansiedlungen hervor. „Dieses Problem wollen wir ganz konkret angehen.“

Mehr Tempo

Das geplante Medizinforschungsgesetz sieht unter anderem eine koordinierende Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für klinische Studien vor. Das BfArM soll künftig die Koordinierung und das Verfahrensmanagement für Zulassungsverfahren und Anträge zu klinischen Prüfungen für alle Arzneimittel, ausgenommen Impfstoffe und Blutprodukte, übernehmen. Das Institut wird zentraler Ansprechpartner für die pharmazeutischen Unternehmen, ist verantwortlich für administrative Prozesse und koordiniert die Verfahren Ethikvotum, Strahlenschutzprüfung, die Schnittstelle zum Forschungsdatenzentrum und weitere Prozesse. Lauterbach erwartet von dieser Reform eine „dramatische Beschleunigung“ der Verfahren. Der seit Ende Januar vorliegende Referentenentwurf sieht außerdem vertrauliche Erstattungsbeträge vor – die Kassen sind davon erwartbar nicht begeistert.
Im Rahmen der Strategie sollen noch weitere Gesetze auf den Weg gebracht werden. Spannend ist in dieser Hinsicht insbesondere das Kapitel sieben der Strategie „GKV-Finanzstabilität; hier: Arzneimittelversorgung“. Dort wird eine erneute Evaluation der AMNOG-Reform, dieses Mal von externer Seite, angekündigt. Auch soll die Finanzierung der GKV künftig ohne weitere Erhöhungen der Herstellerabschläge sichergestellt werden. 

Mission Harmonie

EU-HTA und AMNOG – wie passt das zusammen?

Berlin (pag) – Der Nutzen neuer Arzneimittel wird demnächst in einem europäischen Verfahren bewertet. Das gemeinsame Health Technology Assessment (HTA) soll eine Harmonisierung klinischer Bewertungen bewirken, aber die nationalen Verfahren der EU-Mitgliedsstaaten bleiben bestehen. Welche Auswirkungen sind für das AMNOG zu erwarten? Und bleibt der rasche Zugang zu neuen Therapien hierzulande erhalten? Mit diesen Fragen beschäftigt sich kürzlich eine Veranstaltung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Bei einer Tagung von Roche und Amgen steht vor allem die Patientenperspektive im Mittelpunkt.

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Die Patienten wollen wissen, welcher Dachverband die Betroffenen für das neue europäische Verfahren auswählen wird und welche Qualifikationen die Patienten dafür mitbringen sollten. „Es braucht keinen Profipatienten“, betont Prof. Matthias P. Schönermark, Geschäftsführer der SKC Beratungsgesellschaft. Das helfe nicht. „Was hilft, sind Narrative.“ Es müssten nicht nur Fakten auf der Basis von Studiendaten ausgetauscht und bewertet werden, sondern auch Geschichten erzählt werden. „Fünf Meter Gehstrecke machen bei neurodegenerativen Erkrankungen einen Unterschied, weil die betroffene Person damit allein ins Badezimmer kommt und auf Toilette gehen kann.“ Faktisch und methodisch heiße es jedoch oft, dass die Unterschiede nicht signifikant seien.

EU-HTA – worum geht es?
Die EU-HTA-Verordnung sieht erstmals gemeinsame klinische Bewertungen von Gesundheitstechnologien auf EU-Ebene vor. Das Verfahren umfasst schwerpunktmäßig gemeinsame klinische Bewertungen und gemeinsame wissenschaftlichen Beratungen. Die klinischen Bewertungen (Joint Clinical Assessments, JCA) umfassen die Beschreibung der Gesundheitstechnologie sowie die Prüfung ihrer technischen und klinischen Eigenschaften. Die Bewertung aller nichtklinischen Aspekte und die Schlussfolgerungen daraus, etwa hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit, blieben weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen. Am 12. Januar 2025 startet das Verfahren – und zwar zunächst mit Krebsmedikamenten und neuartigen Therapien (ATMP). Ab dem 13. Januar 2028 kommen Orphan Drugs hinzu, ab dem 13. Januar 2030 umfasst das Verfahren alle neu zugelassenen Arzneimittel.

Das Geld ist nicht da

Ausführlich wird das folgende Szenario diskutiert: Sollten verstärkt Arzneimittel nicht mehr in der EU zugelassen werden – weder über die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) noch über die Mitgliedsstaaten – besteht in diesem Fall für Betroffene dennoch die Möglichkeit, über das Nikolaus-Urteil an das, in Europa nicht zugelassene, Arzneimittel zu kommen? Mit Verweis auf Zolgensma antwortet Prof. Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom der Universität Duisberg Essen, dass die Hürden für die Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts „sehr, sehr hoch“ seien. Allerdings sieht er die Option, den Einzelanspruch einzuklagen, wenn es in der betreffenden Indikation noch keine zugelassene Therapie gebe und das Mittel in Großbritannien zugelassen sei. Das könnte in sehr seltenen Fällen, bei Orphan Diseases, der Fall sein. Gleichzeitig betont Schönermark, dass es für die Hersteller keinen Sinn ergebe, sein neues Medikament nicht in Europa zu launchen.
Eine weitere Frage lautet: Kann ich die Patientenmobilität im Rahmen der EU-Dienstleistungsfreiheit nutzen, um in einem Land ein Medikament zu beziehen, das es im Leistungskatalog meines Landes nicht gibt? Diese Frage verneint Wasem eindeutig. „Sie können durch die Patientenmobilität nicht den nationalen Leistungskatalog erweitern“, stellt er klar.
Wasem betont außerdem, dass er nicht glaubt, dass in Europa der Zugang zu neuen Therapien durch ein neues HTA beschleunigt werde. Es sei naiv davon auszugehen, dass das Wissen über den Zusatznutzen etwas an der Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit eines großen Teils der europäischen Länder ändere. „Wir haben das Problem, dass das Geld nicht da ist und daran wird sich nichts ändern.“

Das Gute retten

Bei der Tagung des Gemeinsamen Bundesausschusses appelliert der unparteiische Vorsitzende, Prof. Josef Hecken, das europäische Verfahren als Chance zu begreifen: Das Gute, sprich das AMNOG, zu retten und das Bessere nicht zu verhindern. „Wir können insgesamt für eine einheitliche Bewertungspraxis in Europa und damit für Versicherte in anderen europäischen Regionen sehr viel erreichen, wenn wir versuchen, uns zusammenzuruckeln und aus dem Guten für Gesamteuropa etwas Besseres zu entwickeln.“

„Versuchen, uns zusammenzuruckeln“: G-BA-Chef Prof. Josef Hecken will mit EU-HTA für Gesamteuropa etwas Besseres entwickeln. © pag, Fiolka
„Versuchen, uns zusammenzuruckeln“: G-BA-Chef Prof. Josef Hecken will mit EU-HTA für Gesamteuropa etwas Besseres entwickeln. © pag, Fiolka

Auf einige Knackpunkte des geplanten Verfahrens kommt Hecken dennoch zu sprechen, zum Beispiel die unterschiedlichen Versorgungskontexte in Europa. „Das, was bei uns als zweckmäßige Vergleichstherapie, als Versorgungsrealität definiert wird, davon sind andere weit entfernt.“ Folglich müssten bei der europäischen Bewertung unterschiedliche PICO*-Schemata bedient werden, bei denen etwa andere Komparatoren eingesetzt werden. „Wenn wir immer nur den absoluten Goldstandard hineinschrieben, dann machen wir Nutzenbewertungen, die für 80 Prozent der zu versorgenden Bevölkerung in Europa völlig irrelevant sind“, argumentiert er. Auf der anderen Seite: „Wenn wir uns auf Mittelmaß einigen, bekommen wir Nutzenbewertungen, die wir in den Kühlschrank packen können, bei sechs Grad möglichst lange erhalten und dann in den Schredder werfen.“

„Unabdingbares Minimum“

Nach der europäischen Bewertung können die nationalen HTA-Behörden für das landeseigene Verfahren noch ergänzende Nachforderungen stellen. Hecken zufolge haben sich die Geschäftsstelle des G-BA und die Bänke des Ausschusses darauf verständigt, das Ausmaß von Nachforderungen auf ein „unabdingbares Minimum“ zu beschränken, da ansonsten ein „munteres Tohuwabohu“ drohe. Der G-BA-Chef sorgt sich insbesondere um den zeitnahen Zugang zu neuen Medikamenten. Dies ist ein wichtiges Ziel der EU-Verordnung, allerdings hat Deutschland in dieser Hinsicht kein Problem, so Hecken. Er hofft daher, dass sich durch die Implementierung der neuen Prozesse nichts am Status quo verändert.
Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium (BMG), hebt in diesem Kontext hervor, dass die Zeitschienen auf nationaler und EU-Ebene so geschaffen werden, dass es nicht zu einer Verzögerung kommt. „Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“, sagt sie und klingt damit deutlich überzeugter als Hecken.
Die Ministeriumsvertreterin betont in ihrem Vortrag, dass die nationalen Institutionen nicht ersetzt werden – „ganz in Gegenteil, sie gestalten den europäischen Prozess mit“. Durch verpflichtende Zusammenarbeit und Informationsaustausch werde große Transparenz über die eingereichten Daten erzielt. Auch sorge der regelhafte Austausch über die nationalen HTA-Bewertungen dafür, dass das gegenseitige Verständnis wächst, ist Mattenklotz überzeugt. Allerdings stecke beim geplanten harmonisierten Bewertungsprozess der Teufel noch im Detail, die derzeit noch zu erledigenden Vorbereitungen seien sportlich.

Drei Schnittstellen

„Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“,
sagt Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Bundesgesundheitsministerium.
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„Eine Verzögerung von Markteinführungen müssen wir nicht befürchten“, sagt Dr. Anna-Maria Mattenklotz, Bundesgesundheitsministerium. © pag, Fiolka

Zwischen dem deutschen AMNOG-Verfahren und dem europäischen HTA-Prozess weist Mattenklotz im Wesentlichen auf drei wichtige Schnittstellen hin: das Ergebnis des Bewertungsprozesses, das Herstellerdossier sowie die Bestimmung eines Assessment Scopes, sprich der Bewertungsumfang. Letzteres sei eine große Herausforderung, da die Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Anforderungen stellten und der Bewertungsumfang auf EU-Ebene idealerweise den Anforderungen aller Mitgliedstaaten genügen sollte. Wie die PICO-Konsolidierung konkret funktionieren soll, ist derzeit wohl noch offen, obgleich Mattenklotz von Beispielübungen der EUnetHTA-Initiative berichtet. „Es gibt noch Luft nach oben“, lautet ihr Fazit dazu.
In puncto Dossier hält Mattenklotz fest, dass als Ziel ein einheitlicher Evidenzkörper als Grundlage für nationale Entscheidungen angestrebt werde. Es gelte: Daten, die auf EU-Ebene eingereicht wurden, dürfen nicht erneut national angefordert beziehungsweise eingereicht werden. Und Daten, die national eingereicht werden, müssen auch der EU-Ebene zur Verfügung gestellt werden. Mattenklotz leitet daraus das Prinzip „EU first“ ab.

Offene Fragen

Insgesamt sieht die BMG-Vertreterin noch eine Reihe offener Fragen. Diese betreffen neben der PICO-Causa vor allem die Harmonisierung der Zeitschienen auf europäischer und nationaler Ebene – sei es in Bezug auf das Dossier als auch bei der Nutzenbewertung selbst. Offen ist Mattenklotz zufolge aber auch noch, wie mit kurzfristigen Änderungen des Zulassungstexts – das EU-HTA-Verfahren findet parallel zur Zulassung statt – umzugehen sei. „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“, resümiert sie und fordert für die EU-Ebene ein lernendes System und eine Stärkung der Beratung. Langfristig, lautet ihre Prognose, werde das EU-HTA-Verfahren die nationalen Prozesse verändern, es sei aber kein Ersatz für die nationale Bewertung.

Industrie ist mit 51 PICO nicht glücklich
Aus Sicht der Industrie sind eine frühzeitige Einbeziehung in den Prozess, eine echte PICO-Konsolidierung und eine Stärkung der Joint Scientific Consultation kritische Erfolgsfaktoren, betont Dr. Vanessa Elisabeth Schaub von Roche auf der G-BA-Tagung. Die Notwendigkeit einer PICO-Konsolidierung stellt sie anhand eines Beispiels dar: ein Brustkrebsmedikament, das wahrscheinlich den europäischen Prozess durchlaufen werde. Für dieses Produkt ermittelte Roche 51 PICO, was Schaub unter anderem auf die zahlreichen therapeutischen Optionen – verschiedene Kombinationen und Sequenzen – sowie Stratifizierungen zurückführt. „Wir waren damit nicht glücklich.“ Eine Anwendung der EUnetHTA-Guidelines führte im zweiten Schritt zu einer Eindampfung auf 26 PICO. Schaub mahnt daher klare Konsolidierungskriterien an.

* PICO bedeutet: P für Patient/Patientin, I für Intervention, C für Comparison (Kontrollintervention) und O für Outcome (Zielkriterium).

IQWiG erneuert Kritik an einarmigen Studien

Köln (pag) – Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat ein Reflexionspapier der European Medicines Agency (EMA) zur Marktzulassung neuer Wirkstoffe auf Basis einarmiger Studien kritisch kommentiert.

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Dem Institut zufolge stellt die EMA in ihrem Papier richtig fest, dass Studien ohne Vergleichsarm mit Verzerrungen einhergehen und kausale Effekte auf dieser Basis im Allgemeinen kaum abgeschätzt werden können. Allerdings vermissen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klare Kriterien, welche die Zulassung auf Basis solcher Studien auf äußerst seltene Ausnahmesituationen begrenzen.

Vorbild FDA?

Als positives Beispiel nennt das IQWiG einen im Februar veröffentlichten Leitfaden der Food and Drug Administration (FDA) in den USA. „Die FDA sagt klipp und klar, dass die Chancen, nur mit einer externen Kontrolle die Wirksamkeit eines Arzneimittels nachzuweisen, nicht gut stehen, und rät nachdrücklich zu einem Studiendesign mit interner Kontrolle – auch für seltene Erkrankungen“, betont Dr. Beate Wieseler, Leiterin des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. Die US-Behörde benenne auch konkrete Situationen, in denen extern kontrollierte Studien generell ungeeignet sind – zum Beispiel, wenn der natürliche Verlauf der Krankheit nicht hinreichend bekannt ist oder stark variieren kann. Wieseler fordert, dass die EMA diese Punkte in ihr Reflexionspapier aufnehmen sollte.

Laut IQWiG können einarmige Studien in seltenen Fällen die Sicherheit und Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffs gut genug belegen, um von Regulierungsbehörden eine Marktzulassung zu erhalten. Aber wenn es um den tatsächlichen Einsatz in einem Gesundheitssystem gehe, muss der Wirkstoff mit bereits verfügbaren Behandlungsoptionen verglichen werden – und zwar möglichst bald. Wieseler: „Dazu sollte man von Anfang an auf Studien setzen, die sowohl für die Zulassung als auch für die Einordnung in die Versorgungslandschaft mittels eines Health Technology Assessments (HTA) geeignet sind.“ Es könne nicht um einen beschleunigten Marktzugang an sich gehen, sondern um einen zügigen evidenzbasierten Zugang in die Versorgung zum Nutzen der Patientinnen und Patienten.

Weiterführender Link:

Reflexionspapier der EMA: „Single-arm trials as pivotal evidence for the authorisation of medicines in the EU“
https://www.ema.europa.eu/en/news/single-arm-trials-pivotal-evidence-authorisation-medicines-eu