Der gerechte Preis

Arzneimittel als Heilsbringer und Kostenfalle

Berlin (pag) – Zolgensma, das derzeit als das teuerste Medikament der Welt gilt, hat die Debatte um angemessene Arzneimittelpreise neu angefacht, die zuvor das Hepatitis-C-Medikament Sovaldi ausgelöst hat. Weitere hochpreisige Arzneimittel werden für die kommenden Jahre erwartet. Auf seiner Jahrestagung mit dem Titel „Hohe Preise, gute Besserung?“ diskutiert der Deutsche Ethikrat über den solidarischen und gerechten Umgang mit neuen teuren Medikamenten.

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Zolgensma, ein Gentherapeutikum gegen spinale Muskelatrophie, kostete bei Markteinführung in Deutschland mehr als zwei Millionen Euro pro einmalig notwendiger Dosis. Kaftrio, ein hochwirksames Medikament gegen die Symptome von Mukoviszidose, schlägt im Jahr mit 275.000 Euro je Patientin oder Patient zu Buche. Der Ethikrat weist auf die Herausforderungen hin, die solch hohe Preise mit sich bringen: Angesichts begrenzter Ressourcen in einem solidarischen Gesundheitswesen gelte es, die Ansprüche von allen Versicherten auf bestmögliche Behandlung, aber auch die von forschenden Arzneimittelherstellern auf Refinanzierung ihrer Investitionen gegen das Erfordernis abzuwägen, Gesundheitskosten und insbesondere Krankenkassenbeiträge nicht beliebig ansteigen zu lassen.

Paradoxien und Aufreger

Die Jahrestagung des Gremiums wirft verschiedene Schlaglichter auf dieses hochkomplexe Thema, das „voller Paradoxien und Aufreger“ steckt, wie es Prof. Bertram Häussler vom IGES Institut ausdrückt. Im ersten Vortrag der Veranstaltung nennt er einige aufschlussreiche Zahlen: Den Aufschlag der gesetzlichen Krankenversicherung für Forschung und Entwicklung (F&E) beziffert er etwa auf elf Milliarden Euro pro Jahr. 90 Prozent der Arzneimittel seien für einen Durchschnittspreis von 30 Cent pro Tag zu haben. Und: Mit 330 Milliarden seien die weltweiten F&E-Ausgaben – die öffentlichen sind darin inkludiert – so hoch wie ein Viertel der Verteidigungsausgaben aller NATO-Staaten.
Der Institutschef stellt außerdem Preisbildungsmechanismen von Arzneimitteln dar. Alter und Menge seien wichtige Steuerparameter. Nach Ablauf des Patents falle der Preis stark. Je mehr Patienten es gebe, an die das Medikament abgegeben werden kann, desto geringer der Preis, denn in diesem Fall verteile sich die Ausgabensumme für F&E auf mehr Einheiten.
Die Ausgaben für F&E eines neuen Arzneimittels wurden in einer Studie aus dem Jahr 2003 auf 400 Millionen Dollar beziffert, dabei eingerechnet sind auch die Kosten für die Misserfolge anderer Arzneimittelentwicklungen. Häussler weist außerdem auf eklatante Preisunterschiede zwischen den verschiedenen Krankheitsgebieten hin: Für Herz-Kreislauf-Erkrankungen werde immer weniger ausgegeben, solche Medikamente „kosten ja nur noch einen Cent pro Tag und mit Rabatten sind das zwei Drittel Cent pro Tag“. Anders sehe es in der Onkologie aus, ein Bereich mit derzeit vielen Neuzulassungen.

Forschung in Kenia

Den stetigen Strom an Innovationen nennt der Arzneimittel-Experte das „Weltkulturerbe der Pharmazie“. Vor 20 Jahren hätten nur acht Länder dazu beigetragen, mittlerweile seien es bereits 25. Von Indien und China werde man in den nächsten fünf Jahren viel mehr sehen, prophezeit Häussler. Er geht insgesamt von einer „Pluralisierung, Liberalisierung und Demokratisierung“ des Forschungsgehens aus. Demnächst werde beispielsweise in Kenia ein forschendes Pharmaunternehmen an den Start gehen. Möglich sei das, weil Technologie und Kapital transportabel sind. Außerdem würden bereits 29 Prozent der Arzneimittel von Ein-Produkt-Firmen eingebracht. Dagegen käme von Big Pharma, das heißt sechs Firmen, 19 Prozent der Arzneimittel. „Ganz viele der kleinen forschungsgetriebenen Pharmafirmen laufen heutzutage vom Homeoffice aus, die Prozesse werden fast nur noch virtuell geleitet“, berichtet Häussler. Die von ihm erwartete Verbreitung von Forschungsaktivitäten in Länder, die in diesem Bereich vorher noch nicht aktiv waren, hält er insbesondere vor dem Hintergrund der globalen Gerechtigkeitsdiskussion für eine faszinierende Botschaft.

Verbluten, verkrüppeln, verarmen

Entscheidende Therapiefortschritte für Hämophilie-Patienten: Virussichere aus menschlichem Blut hergestellte Konzentrate sowie gentechnisch hergestellte Konzentrate mit einer verlängerten Halbwertszeit, sodass sich die Patienten nicht mehr alle zwei Tage spritzen müssen. © stock.adobe.com, dusanpetkovic1

Zwei Impulse auf der Jahrestagung berichten direkt aus der Versorgungsperspektive. Das ist zum einen der Mukoviszidosepatient Stephan Kruip, der auch Mitglied des Ethikrats ist, und zum anderen die Ärztin Prof. Bettina Kemkes-Matthes vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Letztere berichtet von den enormen Therapiefortschritten bei der Hämophilie. Früher habe den Patienten die vom Mediziner Rudolf Marx geprägten „drei Vs“ gedroht: verbluten, verkrüppeln, verarmen. Heutzutage könnten sie ein weitgehend normales Leben führen. „Unsere Patienten verbluten nicht mehr wie vor 100 Jahren, sie sterben nicht mehr an Infektionen wie vor 50 Jahren, sondern sie sterben an ‚normalen‘ Todesursachen“, betont die Medizinerin.
Zu den durch die Industrie ermöglichten Fortschritten zählt sie virussichere aus menschlichem Blut hergestellte Konzentrate sowie gentechnisch hergestellte Konzentrate mit einer verlängerten Halbwertszeit, sodass sich die Patienten nicht mehr alle zwei Tage spritzen müssen. Doch auch die Kosten verschweigt sie nicht: Allein die Konzentrate kosteten 900 Millionen Euro jährlich, jeder gesetzlich Versicherte zahle damit zwölf Euro pro Jahr für die Therapie. „Die Lebensqualität und das Überleben des Patienten ist ganz klar davon abhängig, wie viel finanzielle Mittel für ihn verfügbar sind“, lautet ihr Fazit.

Unbezahlbarer Zusatznutzen

Der Mukoviszidosepatient Kruip beleuchtet den finanziellen Aspekt noch ausführlicher am Beispiel des Medikaments Kaftrio, das für Betroffene einen, so stellt er klar, „unbezahlbaren“ Zusatznutzen habe: „Das ist so entscheidend für die Verbesserung der Lebensqualität, der Gesundheit, der Lebenserwartung, der Möglichkeiten Geld zu verdienen, auch Partner zu kriegen, Kinder zu bekommen – in den letzten Jahren ist die Zahl der Schwangerschaften bereits bei Mukoviszidosepatienten angestiegen – dass wir auf dieses Medikament nie mehr verzichten wollen.“ Aus Sicht der Betroffenen müsse der Zugang zu diesem Medikament dauerhaft und weltweit gesichert sein. Die Voraussetzung dafür sei ein fairer und nachhaltiger Preis.

Basierend auf den Jahrestherapiekosten von 250.000 Euro rechnet Kruip vor, dass in Deutschland Medikamentenkosten von 1,3 Milliarden Euro jährlich entstehen würden, wenn das Mittel von 80 Prozent der 6.500 Mukoviszidosepatienten genommen werden würde – vorausgesetzt der gegenwärtige Preis bleibt bestehen. Kruip hat Kriterien zur Rechtfertigung des Preises entwickelt (siehe Infokasten).

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Kriterien zur Rechtfertigung eines Medikamentenpreises
Stephan Kruip auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates
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Kriterium 1: Angebot und Nachfrage
Kriterium 2: Herstellungskosten
Kriterium 3: Return on Investment
Kriterium 4: Einsparung bei anderen Therapien
Kriterium 5: Kann dieser Preis auf andere seltene Erkrankungen übertragen werden?
Kriterium 6: Qualitätsadjustiertes Lebensjahr (QALY)
Kriterium 7: Solidarische Krankenversicherung
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Zu seinem siebten Kriterium „Solidarische Krankenversicherung“ führt er aus, dass 78 völlig gesunde Versicherte ihren monatlichen Beitrag von 270 Euro nur dafür zahlen müssten, um für einen Patienten das Medikament Kaftrio zu finanzieren. Kruip fragt sich daher, „wann diese Solidarität überspannt wird“.

Auch das Thema Verteilungsgerechtigkeit wird am Beispiel Mukoviszidose konkret fassbar. Kruip kritisiert einen Geldmangel in der Versorgung, insbesondere bei den Spezialambulanzen. „Wir brauchen 400 Euro pro Monat und Patient, um diese zu finanzieren“. Die Krankenhäuser bekämen nur einen Bruchteil davon und jene, die es gut machten, würden bestraft. „Hier geht es um zwei Prozent der Medikamentenkosten und das macht uns natürlich Sorgen.“

Der Patientenvertreter plädiert unter anderem im AMNOG für einen Interimspreis – ein Vorschlag, den der AOK-Bundesverband bereits vor einiger Zeit ins Spiel gebracht hat.

Nutzen versus Gleichbehandlung

Darüber hinaus fordert er grundsätzlich eine gesellschaftliche Aushandlung und öffentliche Diskussion dazu, wo Grenzen zu ziehen seien und ob es Limitierungsentscheidungen geben sollte – und wenn ja, wo.

Der Theologe Prof. Markus Zimmermann geht in seinem Vortrag anschließend der Frage nach, wer über den Zugang zu neuen Medikamenten entscheiden sollte. Unstrittig sei, dass die konkrete Entscheidung von der zuständigen politischen Behörde gefällt werden müsse. Idealerweise auf Grundlage von evidenzbasiertem Wissen über Wirksamkeit, zuverlässigen Berechnungen der Kosteneffektivität und des Zusatznutzens sowie auf Basis einer interdisziplinären HTA-Untersuchung, bevor dann eine Empfehlung – und keine Entscheidung – an eine von all diesen Vorarbeiten getrennte funktionierende Beschlussinstanz abgegeben wird, erläutert Zimmermann.

Durchaus unterschiedlich werde allerdings gehandhabt, wer über die Gewichtung der genannten Elemente befindet. In einigen Ländern wie Schweden oder Großbritannien wurde dabei die Öffentlichkeit in Form von Bürgerforen beziehungsweise Citizen Councils einbezogen, berichtet der in der Schweiz lehrende Professor. Dort setze man auf das Votum eines Expertengremiums. Allerdings habe die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, deren Vizepräsident Zimmermann ist, der Schweiz empfohlen, von Schweden zu lernen und öffentliche Prozesse zu fördern. So soll abgesichert werden, dass Entscheidungen zum Zugang zu teuren Medikamenten auf tatsächlich vertretenden Werthaltungen beruhen. „Klar scheint uns, dass HTA-Empfehlungen zur Finanzierungspraxis von Medikamenten stets auch Werturteile beinhalten und daher auch nicht rein technokratisch beantwortet werden können und somit geht es bei dem Ganzen auch um die Frage des staatlichen Paternalismus in diesem Bereich.“

 

Prof. Markus Zimmermann © Deutscher Ethikrat, R. Zensen

Was ist die „Rule of Rescue“
Bei Fragen der Verteilungsgerechtigkeit wird meist über geeignete Allokationskriterien diskutiert. Bei der Jahrestagung des Ethikrats unterscheidet der Theologe Prof. Markus Zimmermann zwischen prozeduralen wie transparente Begründung und inhaltlichen. Zu letzteren zählt er das Menschenwürde-, Bedürftigkeits-, Solidaritäts-, Wirksamkeits- und Nutzenprinzip. Die Prinzipien an sich seien kaum umstritten, ihre Anwendung in den einzelnen Bereichen aber durchaus. Ein besonders schwieriges Thema sei beispielsweise die „Rule of Rescue“. Dabei geht es um die im individuellen Ethos verankerte spontane Neigung, Menschen in Not zu helfen – auch dann, wenn die dafür aufzuwendenden Mittel irrational hoch sind und dann in der Folge an anderen Stellen fehlen. „Was auf der Mikroebene zu begrüßen ist, kann auf der politischen Makroebene das Dilemma aufwerfen, bei der Ressourcenallokation zwischen Menschen in akuter Not und Menschen, die aufgrund der dann getroffenen Entscheidung später in Not geraten werden, entscheiden zu müssen“, erläutert Zimmermann. Ein aktuelles Beispiel sei die im Frühjahr 2020 getroffene Entscheidung, alle Kräfte bei der Intensivmedizin zu bündeln, um dort Leben zu retten. Die unbeabsichtigte Nebenfolge bestehe darin, dass Menschen mit Tumorerkrankungen jetzt sterben, weil sie viel zu spät behandelt wurden.
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Orphan Drugs: Zugangsdrama in Europa


Berlin – Die im Jahr 2000 eingeführte europäische Orphan-Drug-Verordnung gilt angesichts der dynamischen Entwicklung bei den Zulassungen als Erfolg, steht aber derzeit auf dem Prüfstand. Darüber diskutieren Experten auf der zweiten Nationalen Konferenz zu Seltenen Erkrankungen (NAKSE).

Miriam Mann, Geschäftsführerin der Patientenorganisation ACHSE © pag, Fiolka

Die Verordnung wird überprüft, weil Verfügbarkeit und Zugang zwischen den EU-Ländern variieren. Der Zugang zu Medikamenten ist nach Worten von Miriam Mann für alle Patienten in Europa total unbefriedigend. „Das ist ein großes Drama“, sagt die Geschäftsführerin der Patientenorganisation ACHSE. Es gebe viele lebensverlängernde und die Lebensqualität verbessernde Medikamente, welche die Patienten gar nicht erhalten. Mann befürchtet, dass bei einer Überarbeitung der Verordnung eher auf der Angebotsseite angesetzt wird. „Aber wenn weniger Orphan Drugs entwickelt werden, wird das Problem ja nicht gelöst.“
Viele Zugangsproblematiken liegen auf anderen Ebenen begründet, wie die von Mitgliedstaaten zu verantwortenden Erstattungsfragen. Dort gebe es keine Einflussmöglichkeiten der Kommission oder der EU, betont Dr. Matthias Wilken vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. „Das heißt, man versucht jetzt mit den Tools, die man hat, Probleme zu lösen, die auf anderen Ebenen gelöst werden müssten.“ Das könne nicht funktionieren. Wilken nennt als Alternative ein Modell mit stärkerer Solidarität: Wirtschaftlich stärkere Länder bezahlten für die ärmeren Mitgliedstaaten mit. Wilken ist allerdings skeptisch: „Ob man sich in Deutschland für die Bedingungen in Rumänien interessiert, ob das am Ende eine Lösung sein kann, ich weiß es nicht.“ Sicher ist er sich dagegen, dass es definitiv nicht gehe, sich beim Preis am schwächsten EU-Mitglied zu orientieren.

Forschung mit Patienten

Patientenvertreter Dr. Martin Danner betont in seinem Vortrag, dass die Unternehmen bei seltenen Erkrankungen angesichts der geringen Zahl von Betroffenen bei der Forschung „ganz massiv“ auf die Netzwerke der Patientenorganisationen angewiesen sind. Nachholbedarf sieht er bei der partizipativen Forschung. Als Beispiele für die Einbeziehung von Betroffenen nennt er: Patienten sollten bereits bei Ausrichtung der Forschungspipeline gefragt werden, wo Unmet Medical Need bestehe. Weitere Fragen an Patientenorganisationen könnten lauten: Welche Teilpopulationen sollten bei Auflegung von Studiendesigns in den Blick genommen werden? Wie ist die Situation von Probanden in Studien? Welche flankierenden Informationen werden benötigt, wenn das Arzneimittel auf den Markt kommen soll – Stichwort laienverständliche Packungsbeilage. Es gebe ein ganz breites Feld der Partizipation in der Forschung, ein Feld, „wo viele Unternehmen noch besser werden können und müssen“, so der Geschäftsführer der BAG Selbsthilfe.

Bei der Frage, wie mehr und nachhaltigere Evidenz generiert werden kann, blickt PD Dr. Stefan Lange auf den Zeitraum vor der Zulassung. Sinnvollerweise sollte eine Therapie bereits zu dem Zeitpunkt, wenn sie in der Pipeline ist, in Rahmen von Registern eingesetzt und betrachtet werden. Auf diese Weise könnte sie schon frühzeitig mit anderen Therapieansätzen verglichen werden. „Nach der Zulassung ist es sehr, sehr spät und eigentlich überflüssig spät, man könnte das sehr viel früher machen“, sagt der stellvertretende Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.

Cochrane vermisst Studienergebnisse

Freiburg (pag) – In der Europäischen Union erfüllen mehr als 4.000 Arzneimittelstudien derzeit nicht die geltenden Vorgaben für eine zeitnahe Veröffentlichung von Ergebnissen. Das teilt Cochrane Deutschland mit. Die Organisation setzt sich zusammen mit 17 anderen Unterzeichnern in einem offenen Brief an die europäischen Zulassungsbehörden für die Einhaltung etablierter Regeln zur Studientransparenz ein.

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Längst gebe es klare Vorgaben für die Registrierung klinischer Studien und die zeitnahe Veröffentlichung der Ergebnisse, betont Cochrane Deutschland und verweist auf die EU-Verordnung 536/2014 vom 16. April 2014. Doch laut der Webseite „EU Trials Tracker“ seien derzeit die Ergebnisse für 4.046 von 13.563 – also fast 30 Prozent – registrierten europäischen Arzneimittelstudien überfällig. Laut den in der EU geltenden Vorgaben für die Transparenz solcher Studien sollen die Ergebnisse innerhalb eines Jahres nach Abschluss einer Studie veröffentlicht werden. „Durch eine verspätete Veröffentlichung entstehen Lücken in der Evidenzbasis zu wichtigen medizinischen Fragestellungen, die es Ärzten und Gesundheitsbehörden schwerer machen zu beurteilen, wie sicher und wirksam Medikamente sind“, erläutert Cochrane Deutschland. Das verlangsame letztlich den medizinischen Fortschritt und gefährde Patienten. Die Organisation sieht die nationalen Zulassungsbehörden in der Pflicht: Sie sollen dafür sorgen, dass Pharmaunternehmen, Universitäten und Krankenhäuser die Ergebnisse klinischer Studien fristgerecht veröffentlichen. Doch viele Behörden unternehmen nur wenig, um die Einhaltung geltender Vorgaben durchzusetzen.

Kranke Menschen gefährdet

In einem offenen Brief werden die Heads of Medicines Agencies (HMA), ein Zusammenschluss der nationalen Arzneimittel-Zulassungsbehörden in der EU, aufgefordert, von den nationalen Behörden der EU folgende Mindeststandards einzufordern: Erstens Kontaktaufnahme zu allen Sponsoren von abgeschlossenen Studien, für die Ergebnisse überfällig sind. Zweitens soll im Rahmen sogenannter Pharmakovigilanz-Inspektionen durch die Behörden bei Studiensponsoren die Einhaltung der Regeln zur Offenlegung von Studienergebnissen überprüft werden. Drittens wird eine systematische Überprüfung des Abschlussstatus aller klinischen Studien angemahnt.

„Wenn Studienergebnisse der Wissenschaft nicht zeitnah zur Verfügung gestellt werden, ist eine gute evidenzbasierte Gesundheitsversorgung kaum möglich. Letztlich gefährdet dies ganz konkret kranke Menschen“, kommentiert Jörg Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland.

Die AMNOG-Dekade

Warnung vor populistischen Preisdebatten

Berlin (pag) – Dem zehnjährigen AMNOG-Jubiläum hat kürzlich der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine eigene Veranstaltung gewidmet. Dabei geht es auch um die Finanzierbarkeit neuer Therapien, vor populistischen Debatten warnt ein Experte.  

„Das AMNOG erfüllt seinen Zweck“, bringt der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken seine Bilanz zur AMNOG-Dekade pragmatisch auf den Punkt. Das Verfahren erziele verlässlich jährliche Einsparvolumina von über drei Milliarden Euro, für 2020 seien sogar 3,9 Milliarden prognostiziert. Auch die Qualität der eingereichten Dossiers habe sich kontinuierlich verbessert. „In kaum einem anderen Verfahren werden so viele klinische Daten der Öffentlichkeit vorgestellt und so Transparenz hergestellt“, lobt er. Transparenz sei neben der Kostendämpfung der zweite wichtige Zweck des AMNOG.

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Hecken will rückwirkenden Erstattungsbetrag

Um die Finanzierbarkeit innovativer und hochpreisiger Therapien auch zukünftig sicherzustellen und eine „offene Rationierung zu vermeiden“, schlägt Hecken eine bedeutsame Modifizierung des AMNOG vor: die Rückwirkung des Erstattungsbetrags zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung durch den G-BA. Man sollte offen sein für eine Diskussion, ab wann der Erstattungsbetrag gilt, appelliert er. „Diejenigen, die darüber nicht nachdenken, denken stattdessen heimlich über die vierte Hürde nach, denn die bringt viel mehr“. Einen Vorstoß in Sachen rückwirkender Erstattungsbetrag hat zuletzt im vergangenen Jahr der AOK-Bundesverband unternommen.

Fehlbewertungen bei Arzneimitteln

Als „Zeitzeuge und Aufsicht“ zieht bei der Veranstaltung auch Thomas Müller, Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium und zuvor Abteilungsleiter im G-BA, Bilanz zum AMNOG. Er erinnert sich etwa an die allererste Bewertung des G-BA, über die eine Woche lang bis zu zehn Stunden täglich gebrütet wurde: der Wirkstoff Ticagrelor. „Aus meiner heutigen Sicht eine krasse Fehlbewertung“, räumt Müller ein. Auch die Entscheidung zu den Gliptinen hält er im Nachhinein für falsch, denn diese hätten einen „ganz erheblichen Fortschritt in der Therapie des Diabetes“ gebracht. In der Gesamtschau erkennt er allerdings kaum wesentliche Fehlentscheidungen und Abweichungen und stellt die nationale wie internationale Akzeptanz des Verfahrens hervor. Müller glaubt sogar, dass der AMNOG-Ansatz den des NICE global mittlerweile überflügelt habe.
Wie Hecken geht auch Müller auf das Thema Arzneimittelkosten und -ausgaben ein. Er warnt vor einer populistischen und moralischen Debatte; ansonsten seien Patienten mittelfristig die Leidtragenden. Es gehe darum, über das AMNOG die richtigen Anreize zu setzen. Gänzlich ausklammern will Müller die Ausgabendiskussion allerdings nicht. Spielraum sieht er offenbar bei den Kombinationstherapien. Außerdem hält er bei den second oder third best einer Indikation das Erstattungsniveau des Erstinventors für nicht unbedingt notwendig.

Was der medizinische Nutzen wert ist

Mit der Frage nach dem angemessenen Preis setzt sich auch die Schiedsstelle des Verfahrens auseinander. Bei Streitfällen zu Arzneimitteln ohne Zusatznutzen stehen meistens verfahrensrechtliche Streitereien im Mittelpunkt, meint ihr Vorsitzender Prof. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum, im Gespräch mit der Presseagentur Gesundheit. Er ist verwundert, dass nach zehn Jahren AMNOG immer noch vielfältiger Klärungsbedarf besteht. Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen stellt die Monetarisierung des Zusatznutzens eine große Herausforderung dar. Auch europäische Preise bieten da nur wenig Orientierungshilfe, meint Huster, denn Hersteller und GKV-Spitzenverband präsentierten dazu häufig widersprüchliches Zahlenmaterial. Husters Vorgänger Prof. Jürgen Wasem hat während seiner Zeit als Schiedsstellenvorsitzender gesagt: „Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für den Zusatznutzen angeht.“ Ähnlich sieht es Huster. Auch er würde klare Kriterien dafür, was der medizinische Zusatznutzen wert ist, für sehr hilfreich erachten.

 

Prof. Josef Hecken vom G-BA © pag, Fiolka

Wie unabhängig ist der G-BA?
Der Gesundheitsökonom und Autor des AMNOG- Reports, Prof. Wolfgang Greiner, hakt bei der Veranstaltung nach: Das Gesundheitswesen werde in eine schwierige finanzielle Lage geraten – wie unabhängig kann der Gemeinsame Bundesausschuss in einer solchen Situation sein? G-BA-Chef Hecken stellt klar: „Wir müssen unabhängig von der finanziellen Situation faire, wissenschaftliche, evidenzbasierte Bewertungen abgeben.“ Die Bewertungen und Ergebnisse dürften nicht Dinge künstlich schlecht machen, die gut seien. Aber man müsse sich um konstruktive Ideen zu größeren Einspareffekten, die die Evidenz nicht berühren, bemühen. „Nur deshalb äußere ich mich zur Finanzierung“, betont der unparteiische Vorsitzende.

 

Thomas Müller, Abteilungsleiter im BMG © pag, Fiolka

„Es reicht nicht, dass einfach etwas da ist“
Mehrere Dossiers zum AMNOG liegen auf Müllers Schreibtisch, z.B. eine Überarbeitung der EU-Regulation zu Orphans und pädiatrischen Arzneimitteln – was direkt zu den Orphan-Privilegien im AMNOG-Prozess führt. Diese hält Müller für notwendig, aber im Interesse der Patienten müsse auch bei Orphan Drugs eine strenge Bewertung des Zusatznutzens erfolgen. „Es reicht nicht, dass einfach etwas da ist.“ Stichwort EU-HTA: „Wir schützen das, was wir in Deutschland mit dem G-BA haben, auf jeden Fall“, verspricht Müller. Die rote Linie sei, wenn Errungenschaften und Systemnutzen des hiesigen Verfahrens für eine etwas diffuse europäische Harmonisierung aufgegeben werden. Offen zeigt er sich jedoch für eine Harmonisierung von Teilschritten des HTA-Prozesses.

EU-HTA: Wie es weitergeht

Berlin (pag) – In die Verhandlungen um ein einheitliches Bewertungsverfahren von Gesundheitstechnologien in der Europäischen Union (EU) kommt Bewegung. Ein neuer Vorschlag soll auch die bisherigen Kritiker unter den Mitgliedstaaten zum Einlenken bewegen.

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Fast ein Jahr lagen die Verhandlungen in der Europäischen Union auf Eis, vor allem wegen Corona. Die Pause hat die Fronten aber offenbar nicht verhärtet, sondern eher die Kompromissbereitschaft gefördert. Das Bundesgesundheitsministerium jedenfalls ist optimistisch: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft habe basierend auf den Vorarbeiten der vorigen Ratspräsidentschaften (Bulgarien, Österreich, Rumänien, Finnland, Kroatien) erstmalig einen Gesamttext für eine Health-Technology-Assessment (HTA)-Verordnung vorgelegt. Dieser wurde Ende November auf Arbeitsebene in einer Ratsarbeitsgruppe diskutiert. „Das Echo der anderen Mitgliedstaaten fiel insgesamt positiv aus, sodass nunmehr eine realistische Möglichkeit besteht, das sehr komplexe Regelungsvorhaben in absehbarer Zeit und innerhalb der Triopräsidentschaft zusammen mit Portugal und Slowenien abzuschließen“, teilt das Ministerium mit. Peter Liese, Abgeordneter des Europäischen Parlamentes, rechnet im Frühjahr mit einer Einigung im Rat. Dann könnten endlich die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament, das der Verordnung zustimmen muss, starten.
Zur Vorgeschichte: 2018 hatte die EU-Kommission einen Vorschlag für ein EU-HTA vorgelegt, gegen den sich jedoch heftiger Widerstand regte. Vor allem jene Mitgliedstaaten, die wie Deutschland über ein etabliertes HTA-Verfahren verfügen, lehnten den Kommissionsentwurf ab. Ihre Forderung: Auf nationale Besonderheiten des Gesundheitssystems müsse Rücksicht genommen werden. Streit entbrannte zudem darüber, ob alle neu zugelassenen Arzneimittel oder nur eine Auswahl das EU-HTA durchlaufen sollen. Oder wie die Bewertungen überhaupt zustande kommen: mittels Mehrheitsentscheid oder zwingend nur im Konsens?


Krebstherapien im Fokus

Der neue Verordnungsentwurf atmet viel Kompromiss. So soll das EU-HTA erst einmal schrittweise eingeführt werden. Im Fokus eines „joint clinical assessments“ stehen demnach zunächst Therapien gegen Krebs. Im zweiten Schritt werden dann Orphan Drugs und ATMPs in das Verfahren mit aufgenommen. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung ist geplant, neue Arzneimittel in das EU-HTA aufzunehmen, welche die Indikationen AIDS, neurodegenerative Erkrankungen, Diabetes, Autoimmunerkrankungen und andere Immunschwächen sowie Viruserkrankungen betreffen. Nach acht Jahren schließlich sollen alle anderen „medicinal products“ einbezogen werden. Grundsätzlich, so sieht es der Entwurf vor, ist bei der Entscheidung über die Bewertung Konsens vorgesehen. Ausdrücklich wird auch betont, dass den Mitgliedstaaten eigene Zusatznutzen-Bewertungen im „Kontext ihres spezifischen Gesundheitssystems“ freistehen.
 

Was zählt wirklich

Bei der Debatte um Endpunkte tut sich etwas


Berlin (pag) – Endpunkte haben beim mittlerweile zehn Jahre alten AMNOG-Prozess seit Beginn für Reibereien gesorgt – und werden es wohl auch weiterhin. Oder ändern die sogenannten Endpunkte 2.0 in der Onkologie etwas daran?

Dass über Endpunkte häufig gestritten wird, kommt nicht von ungefähr, denn HTA-Institutionen haben darauf eine andere Sicht als Zulassungsbehörden oder auch Ärzte und Patienten in einer individuellen Behandlungssituation. Während bei der Zulassung auf Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit geschaut wird, wägt der G-BA Nutzen und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung einer besseren Versorgungsqualität ab. Die Folge: Was für Zulassungsbehörden oder Ärzte ein sinnvoller Endpunkt sein kann, gilt für den G-BA nicht notwendigerweise als patientenrelevant.

 

Konkreten Verbesserungsbedarf hat kürzlich der medizinische Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) beim Fachsymposium Onkologie Ende vergangenen Jahres angemeldet. Prof. Bernhard Wörmann sagt dort: „Ich glaube, dass noch mehr als bisher die Reduktion von Nebenwirkungen bei gleicher Wirksamkeit ein valider Endpunkt sein muss“ – gerade wenn es zunehmend in derselben Substanzklasse bis zu sechs Präparate gebe, die etwa gleich wirksam seien.


Wo sich die Zulassungsbehörden bewegen

Parallel zu den Auseinandersetzungen über bereits etablierte Endpunkte hat eine Diskussion über eine neue Generation von Endpunkten begonnen. Bei dem Symposium betont der Direktor des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Prof. Karl Broich: „Wir bewegen uns als Zulassungsbehörde bei den Endpunkten in der Onkologie sehr stark.“ 
Neben dem Gesamtüberleben, dem härtesten Endpunkt, der am liebsten gesehen werde, und dem progressionsfreien Überleben, das schon lange als Alternative bekannt sei, stellt er weitere Endpunkte vor. So etwa das eventfreie Überleben (Event-free Survival, EFS) im kurativen Setting, hierzu gebe es viele Erfahrungen mit der akuten myeloischen Leukämie. Ähnliches gelte für das krankheitsfreie Überleben (Disease-free Survival, DFS) im adjuvanten Setting, bezogen beispielsweise auf Brustkrebs oder Kolorektalkarzinom. Ferner entwickelten sich die Regulatoren bei vielen Blutkrebserkrankungen weiter, bei denen die minimale Resterkrankung (Minimal Residual Disease, MRD) angesehen werde. Auch das metastasenfreie Überleben (Metastase Free Survival, MFS) sei beim Prostatakarzinom ein anerkannter Endpunkt. Anders sieht es Broich zufolge bei der Objective Response Rate aus. Bei einigen Verfahren sei diese anerkannt, bei anderen abschlägig beurteilt worden.


In puncto Biomarker stehe man noch ganz am Anfang, meint der BfArM-Präsident weiter, auf diesem Gebiet sei noch viel Entwicklungsarbeit nötig. Er prophezeit, dass die Digitalisierungsentwicklung und die größeren Datenmengen, die mittlerweile bearbeitet werden könnten, die regulatorische Welt „dramatisch“ verändern werden.


„Davon geht die Welt nicht unter“

Die Sichtweise des G-BA auf Endpunkte 2.0 stellt auf dem Onkologie-Symposium Dr. Uwe Vosgerau vor. Er leitet das Team Onkologie der Arzneimittelabteilung des Ausschusses. Vosgerau stellt klar: „Wenn wir bei der Zulassung und der Nutzenbewertung immer öfter mit frühen Datenschnitten aus noch laufenden Studien konfrontiert sind, dann gewinnen Endpunkte wie rezidivfreies oder krankheitsfreies Überleben, ereignisfreies Überleben, das metastasenfreie Überleben oder auch die Zeit bis zur ersten Folgetherapie eine zunehmende Bedeutung.“

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Bewegung beim Thema Endpunkte deutet auch der unparteiische Vorsitzende des Gremiums, Prof. Josef Hecken, in einem Interview mit der Presseagentur Gesundheit an. „Möglicherweise könnte die Verlangsamung des Krankheitsverlaufs, des Progresses, oder ein kombinierter Endpunkt, der Progress und Lebensqualität betrachtet, doch patientenrelevant sein – auch wenn sich dieser Parameter in zehn Prozent der Fälle nicht in ein verlängertes Gesamtüberleben übersetzt“, sagt er. Dabei denkt Hecken auch die europäische HTA-Perspektive mit, denn wenn gewisse Endpunkte vom NICE, von den Franzosen und auch den Italienern anerkannt würden, aber in der deutschen Methodik nicht vorgesehen seien, „dann sollte man sich darüber zumindest Gedanken machen“. Der Jurist weist darauf hin, dass der Kompromissvorschlag, den die Bundesregierung eingebracht habe, die Harmonisierung der Endpunkte und deren Wertigkeit bei den europäischen HTAs als wichtiges Kriterium ansehe. Kurzum: „Wenn wir Progress als Endpunkt anerkennen, geht die Welt davon auch nicht unter.“


Keine Katzentische mehr

Auch bei der Beteiligung von betroffenen Patienten tut sich offenbar etwas, zum Beispiel bei der Konzeption klinischer Studien. Der Patientenaktivistin Eva Schumacher-Wulf zufolge wird dabei die Expertise von Betroffenen mehr und mehr gefragt – gleichwohl gebe es aber noch viel Luft nach oben. Als konkrete Verbesserungsvorschläge nennt die Chefredakteurin des Brustkebsmagazins „Mamma Mia!“ unter anderem: Patientenvertreter sollten von Anfang an in der Konzeptionsphase eingebunden werden. Außerdem seien die Experten in eigener Sache an interdisziplinären Beratungsgremien zu beteiligen, anstatt sie separat tagen zu lassen. „Die Zeit der Katzentische und Feigenblattfunktionen sollte der Vergangenheit angehören.“

Skurrile Bögen zur Lebensqualität

Eine weitere Baustelle sind die Lebensqualitätsdaten. Schumacher-Wulf begrüßt, dass diese zunehmend erhoben und bei der Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses berücksichtigt werden. Allerdings ließen die verwendeten Tools zu wünschen übrig. Auch spiegelten die Fragebögen häufig nicht die Lebenswirklichkeit der Patienten wider. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die Charité-Ärztin Prof. Diana Lüftner. „Es macht nicht sehr viel Sinn, einer 78-jährigen Frau, die verwitwet ist, 20 Fragen zur Sexualität zu stellen. Das füllt sie nicht aus.“ Solche Drop-Outs könnten den ganzen Fragebogen nicht mehr auswertbar machen, erläutert sie auf einer Veranstaltung im Jahr 2019. An der mangelnden Aktualität der Bögen hat sich auch aktuell nichts geändert. Nach wie vor seien sie wirklich skurril, sagt Lüftner in einem Interview mit der Presseagentur Gesundheit Ende 2020. „Dass sie uns von den Patienten nicht wie ein nasser Lappen um die Ohren geschlagen werden, ist nur dem Umstand geschuldet, dass sie geduldig mit uns sind, es uns nicht nachtragen.“ Die Bögen seien größtenteils 20 bis 30 Jahre alt. Sie zu aktualisieren sei eine Mammutaufgabe – noch dazu eine, mit der man in der Forschung keine großen Meriten gewinnt, meint Lüftner, denn: „Von der Community wird diese Forschung nicht höchstwertig angesehen.“

Wie Europa auf Arzneimittelengpässe reagieren will

Berlin (pag) – Immer häufiger bedrohen Arzneimittellieferengpässe die Versorgungssicherheit von Patienten. Die Politik will das Problem auch auf europäischer Ebene angehen.

Bei einer Veranstaltung von Pro Generika thematisiert Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Abhängigkeit von China und anderen asiatischen Ländern bei der Wirkstoffproduktion. Wohin diese führen könne, habe man zu Beginn der Corona-Krise „schmerzhaft“ bei den Medizinprodukten erlebt. Geprüft werden soll daher, wie Versorgung und Produktion in Europa wieder angereizt werden können. Allerdings warnt Spahn vor einer Strategie nach dem Motto „europe first“ – insbesondere angesichts der starken Exportabhängigkeit der hiesigen Wirtschaft. Der Minister will eine mögliche europäische Produktion deshalb auf die „wirklich wichtigen“ Arzneimittel beschränken. In einem ersten Schritt müssten diese auf europäischer Ebene definiert werden. Von der Arzneimittelstrategie der EU-Kommission, die demnächst vorliegen soll, erwartet Spahn weitere Impulse zur Versorgungssicherung. Für das erste Halbjahr 2021 kündigt er „erste Entscheidungen auf europäischer Ebene“ an.

Wirkstoffproduktion: Europa hat abgegeben

Im Auftrag von Pro Generika hat die Unternehmensberatung MundiCare 554 für die Versorgung in Deutschland benötigte generische Arzneimittelwirkstoffe analysiert. Knapp zwei Drittel (63 Prozent) aller Herstellerzulassungen (CEP) für diese Wirkstoffe liegen laut Studienautor Dr. Andreas Meiser mittlerweile bei asiatischen Herstellern, der europäische Anteil beträgt 33 Prozent. Vor 20 Jahren betrug das Verhältnis noch 59:31 Prozent – zugunsten von Europa. „Europa hat unglaublich viel Wirkstoffproduktion abgegeben“, kritisiert Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika. Zwar ist der Studie zufolge auch hierzulande die Zahl der Hersteller und der Zulassungen weiter gestiegen, jedoch langsamer als in Asien. Vor allem Indien und China können ein „extrem starkes Wachstum“ vorweisen, erläutert Meiser. Besonders hoch ist der Anteil asiatischer Hersteller bei neu zugelassenen Wirkstoffen. Eine Detailanalyse der Studie zeigt: Die europäischen Hersteller haben sich vor allem auf „kleinvolumige, komplexe Wirkstoffe“ spezialisiert, während bei den großvolumigen meist asiatische Hersteller den europäischen Bedarf decken. Meiser betont jedoch: „Die Kapazitäten und das Knowhow für eine Erhöhung der europäischen Produktion sind vorhanden.“ Gründe für die Verlagerung seien vor allem hoher Kostendruck und ungleiche regulatorische Rahmenbedingungen.

Bork Bretthauer, Pro Generika (li.), hat die Analyse in Auftrag gegeben. Auf „extrem starkes Wachstum“ in Indien und China macht Studienautor Dr. Andreas Meiser aufmerksam. © pag, Fiolka

 

Christoph Stoller, Präsident des europäischen Generika-Verbandes Medicines for Europe, fordert, die Abwärtsspirale bei den Preisen für Generika zu stoppen. Neben dem Preis sollten weitere Kriterien bei der Vergabe von Aufträgen berücksichtigt werden – etwa mehrere Wirkstoffquellen sowie Umweltfaktoren. Europapolitiker Tiemo Wölken (SPD) hält die Einführung „europäischer Leitlinien für Ausschreibungen“ für geboten. Spahn findet dagegen, die Unternehmen hätten selbst ihren Anteil, indem sie den Krankenkassen von sich aus extrem hohe Rabatte anböten, um Marktanteile zu gewinnen. Er sagt: „Die Politik allein hat uns da nicht reingeführt. Und sie wird uns da auch nicht allein wieder rausführen.“ Nichtsdestotrotz habe man bereits begonnen, Probleme bei Rabattverträgen zu adressieren – etwa im Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung und dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz.

 

Höchstgrenzen, vierte Hürde und Co.

Welche Rezepte gegen hochpreisige Arzneimittel diskutiert werden

Berlin (pag) – Hochpreisige Arzneimittel werden immer mehr zu einer Herausforderung für das GKV-System. Viele Kassenvertreter schlagen Alarm. Es wird über Höchstgrenzen für Arzneimittelpreise und eine vierte Hürde diskutiert. Lesen Sie, welche Experten sich äußern und welche Vorschläge kursieren.

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Debatte um vierte Hürde

Auf einer Tagung im Februar beschreibt der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, den Trend: Immer öfter kommen neue Arzneimittel auf den Markt, die zum Zeitpunkt ihrer Zulassung über eine schwache Evidenz verfügten, aber sehr viel kosteten. In der Krebsbehandlung addierten sich die Kosten sogar, weil Therapien oft miteinander kombiniert werden. Wasem sieht dadurch die Balance von Medikamentenzugang einerseits und Kostenkontrolle andererseits gefährdet. Er regt eine Diskussion zur sogenannten „vierten Hürde“ an. Diese würde bedeuten: Arzneimittel werden nicht mehr automatisch nach der Zulassung von der GKV erstattet. Erst nach der Preisverhandlung zwischen Kassen und Industrie hätten Patienten einen Leistungsanspruch.

Nachgefragt bei Prof. Jürgen Wasem:
Kann eine vierte Hürde für eine verlässliche Balance zwischen Zugang und Kostenkontrolle bei Arzneimitteln sorgen?

Prof. Jürgen Wasem © pag, Fiolka

„Deutsche GKV-Patienten haben im EU-Vergleich sehr rasch Zugriff auf neue Medikamente. Dies ist auch Ergebnis des Verzichts auf eine vierte Hürde. Das AMNOG hat diese Wertentscheidung für einen raschen Zugang unter Inkaufnahme von ggfs. zu hohen Preisen getroffen.
Daran würde ich nicht rütteln wollen. Fraglich ist aber, ob der frei gesetzte Einstandspreis ein ganzes Jahr gelten muss. Ich könnte mir vorstellen, dass der verhandelte Erstattungsbetrag rückwirkend zum Zeitpunkt des G-BA-Beschlusses über die Nutzenbewertung greift. Da wir nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 voraussichtlich vor dem Zwang erheblicher Kostendämpfung stehen werden, könnte dadurch auch ein Beitrag zur Ausgabenbegrenzung geleistet werden. Wegen der nahezu unausweichlich auf uns zukommenden Referenzpreis-Thematik aus den USA sollten wir dies mit einem Übergang zu vertraulichen Rabatten bei Beibehalten des beim Launch gesetzten Listenpreises verbinden.“

Preisobergrenzen für Sozialversicherung

Bei der Techniker Krankenkasse haben die neuen Arzneimittel des Jahres 2017 im folgenden Jahr einen Ausgabenanstieg von sieben Prozent verursacht – dabei lag die Menge der verordneten Packungen rund 55 Prozent unter der des Vorjahres. Der durchschnittliche Preis pro Packung stieg im Vergleich zum Vorjahr um knapp 140 Prozent auf 3.066 Euro. Hauptverantwortlich für diesen enormen Kostenanstieg seien neben Spinraza fünf Arzneimittel, deren Kosten pro Packung im fünfstelligen Bereich liegen. Der TK-Vorstandsvorsitzende Dr. Jens Baas stellt bei der Vorstellung des Innovationsreports die Frage nach einem angemessenen Preis. Der Umstand, dass all diese kostenintensiven Arzneimittel der Behandlung schwerer Erkrankungen dienten, mache die Preisdiskussion auch zu einer „ethischen Debatte“. Er verlangt für die Preisbildung messbare und transparente Kriterien und nennt konkret: eine Beurteilung des „medical need“, Versorgungssicherheit sowie europäische Forschungsstandorte. Auf Basis dieser Kriterien könne die Sozialversicherung dann Preisobergrenzen festlegen.

Nachgefragt bei Dr. Jens Baas:
Lassen sich Preisobergrenzen mit dem gesetzlich verankerten Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt vereinbaren?

Dr. Jens Baas will eine „faire Preisgrenze ziehen“. © pag, Fiolka

„Seit Jahren verzeichnen wir stark steigende Preise für neue Arzneimittel. Mit Blick auf die extremen Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Frage drängender denn je, wie wir das System finanzierbar halten, damit sich die Versichertengemeinschaft den medizinischen Fortschritt in Form von guten Innovationen leisten kann. Medizinischer Fortschritt kann dabei jedoch nicht die alleinige Rechtfertigung sein, Preise willkürlich in die Höhe zu treiben. Um angemessene Preise verhandeln zu können, brauchen wir politische Rahmenbedingungen und objektivierbare Kriterien, anhand derer für alle Seiten faire Preisgrenzen zu ziehen sind.“

Vielfältige Rezepte gegen den „Ausgabenboom“

Der im Herbst veröffentlichte Arzneiverordnungs-Report (AVR) moniert einen „kontinuierlichen Ausgabenboom“ bei Arzneimitteln. Trotz jährlicher Einsparungen von 16,8 Milliarden Euro durch gesetzliche Maßnahmen seien die Ausgaben im vergangenen Jahr um 5,4 Prozent auf 43,4 Milliarden Euro angestiegen. Dafür machen die AVR-Herausgeber Prof. Wolf-Dieter Ludwig und Prof. Ulrich Schwabe insbesondere neue hochpreisige patentgeschützte Arzneimittel verantwortlich. Neben Onkologika (8,2 Milliarden Euro, +13,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) zeigten sich auch bei Immunsuppressiva, Antithrombotika und Dermatika überdurchschnittliche Zunahmen. Aber: Es hapere auch an effektiven Marktregulierungsmechanismen nach Ablauf des Patentschutzes. Biosimilars seien hierzulande wesentlich teurer als in anderen Ländern, Gleiches gelte für patentfreie Nichtbiologika aus der Gruppe der Krebsmedikamente. Ferner kritisieren die Herausgeber eine schleppende Umsetzung des deutschen Festbetragssystems.

Das Nutzenbewertungsverfahren mutig weiterentwickeln

Der AMNOG-Report 2020 der DAK widmet sich umfänglich dem zehnjährigen Jubiläum des Verfahrens. Er enthält unter anderem eine Befragung von 45 Experten aus Krankenkassen, Verbänden, Kassenärztlichen Vereinigungen und Industrie. Demnach bewerten 70 Prozent aller Befragten das AMNOG mit der Schulnote „gut“. Die großen Streitthemen sind vor allem Mischpreise, Endpunkte sowie die Preisfestsetzung im ersten Jahr. Als verbesserungswürdig werden genannt: Preisverhandlungen (32 Prozent), Bewertungssystematik (25 Prozent), Orphan Drugs sowie die Kommunikation (jeweils zwölf Prozent). Bei der Vorstellung des Reports stellt DAK-Chef Andreas Storm die Frage, wie taufrisch das AMNOG-Verfahren überhaupt noch sei. Weitere Anregungen des Vorstandsvorsitzenden der Kasse: Ist eine Erweiterung insbesondere für hochpreisige Arzneimittel notwendig? Sollten wir von der Nutzen- zu einer Kosten-Nutzen-Betrachtung kommen?

Nachgefragt bei Andreas Storm
Bei welchen Arzneimitteln halten Sie eine Kosten-Nutzen-Bewertung für sinnvoll?

Andreas Storm will die „Bezahlbarkeit stärker in den Fokus rücken“ © pag, Fiolka

„Durch die absehbare Zunahme von neuartigen, früh eingesetzten und sehr hochpreisigen Medikamenten wird sich der Arzneimittelmarkt in den kommenden Jahren grundlegend verändern. Daher muss sich auch unser Verständnis von Zugang, Evidenzgenerierung und Erstattung weiterentwickeln. Unabhängig von bestimmten Wirkstoffvorschlägen ist es wünschenswert, dass die beteiligten Akteure sowie der Gesetzgeber kooperativ und mutig an der Fortentwicklung des bewährten Nutzenbewertungsverfahrens arbeiten. Ich bin sicher, dass in diesem Zusammenhang die Frage der Bezahlbarkeit stärker in den Fokus rücken wird. Wichtig ist mir dabei, dass eine Debatte auf gesamtgesellschaftlicher Ebene möglich ist, die auch schwierige ethische Fragestellungen nicht auslässt.“

Signalgrenzwerte für das Kosten-Effektivitäts-Verhältnis

Bei einer Diskussionsrunde der Barmer zum Umgang mit hochpreisigen Arzneimitteln nennt Prof. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, kürzlich folgende Zahlen: Die durchschnittlichen Gesamtkosten für die Behandlung hätten sich bei neuen Wirkstoffen von 2011 bis 2019 vervierfacht (von 40.000 auf 152.300 Euro). Allerdings werde ein Großteil der neuen Wirkstoffe inzwischen für relativ kleine Patientengruppen gemacht, meint der Gesundheitsökonom. 40 Prozent der neuen Arzneimittel hätten eine Zielgruppe, die unter 1.000 Patienten liege. „Innovationen können grundsätzlich nicht günstig sein“, sagt Dr. Hagen Pfundner, Vorstand Roche Pharma AG, bei der Diskussion. Die Impfstoffentwicklung gegen Corona verdeutliche das hohe Investitionsrisiko: Von den rund 140 Projekten würden nur bis zu fünf übrig bleiben, der Rest bleibe auf der Strecke. „Bei Preisen zahlen Sie nicht im vollen Umfang die Forschungs-, Entwicklungs- oder Produktionskosten, sondern die Gedankenleistung, das Intellectual Property.“ Starre Grenzwerte für den Preis neuer Arzneimittel lehnt der Medizinethiker Prof. Georg Marckmann zwar ab, aber Signalgrenzwerte für das Kosten-Effektivitäts-Verhältnis kann er sich durchaus vorstellen. Werden diese überschritten, müsse es dafür gute Gründe geben, verlangt er, etwa dass es sich um schwerwiegende oder vernachlässigte Krankheiten handelt. Um über verschiedene Bereiche hinweg vergleichen zu können, müsste dieses Verhältnis in Kosten pro QALY (qualitätsgewichtetem Lebensjahr) angegeben werden.

Nachgefragt bei Prof. Georg Marckmann
Wer soll die Signalgrenzwerte festlegen?

Prof. Georg Marckmann plädiert für einen „Grenzwert für das Kosten-Effektivitäts- Verhältnis. © pag, Maybaum

In der Höhe des Grenzwertes für das Kosten-Effektivitäts-müsste sich die Zahlungsbereitschaft für Gesundheitsgüter in einem Land wiederspiegeln. Insofern wäre es in Deutschland beispielsweise angemessen, wenn der Grenzwert vom Bundesministerium für Gesundheit vorgegeben würde, in enger Abstimmung mit den für die GKV zuständigen Institutionen wie Gemeinsamer Bundesausschuss und IQWiG. Wenn ein Medikament mit dem vom Pharmaunternehmen vorgeschlagenen Preis deutlich über dem Kosten-Effektivitäts-Grenzwert liegt, kann man dies als gewichtiges Argument in den Preisverhandlungen nutzen.

 

 

 

 


Neustart für die Kosten-Nutzen-Bewertung

Prof. Wolfgang Greiner über ATMPs, AMNOG und die Sorge vor Rationierung

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Berlin (pag) – Vor einigen Jahren erregte Sovaldi die Gemüter, jetzt ist es die Gentherapie Zolgensma, die prominent vor Augen führt, vor welche Herausforderungen hochpreisige Arzneimitteltherapien das GKV-System stellen. Dabei hat sich der Fokus der Debatte inzwischen verschoben, meint der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner: von der Angemessenheit der Preise bzw. der Funktionalität des Preisbildungsverfahrens hin zur grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit.

Ist das AMNOG-Verfahren angemessen auf ATMPs wie Gentherapien und CAR-T-Zelltherapien vorbereitet? Oder reichen neue Instrumente wie die Anwendungsbegleitende Datenerhebung, der Risikopool der Kasse und besondere Erstattungsmodelle als Ergänzungen aus?

Greiner: Grundsätzlich hat sich das AMNOG in den vergangenen zehn Jahren als sehr belastbares, funktionales und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – faires Verfahren etabliert. Der Gesetzgeber und die beteiligten Parteien haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich an verändernde Rahmenbedingungen anzupassen. 22 kleine Anfragen an die Bundesregierung und elf Änderungsgesetze seit Einführung des AMNOG bestätigen das vielfach beschriebene „lernende System“. Insofern denke ich, dass das AMNOG an sich weiterhin das „richtige“ System ist.

Aber?

Greiner: Der Risikopool war ein wichtiges erstes Signal an die Krankenkassen, jedoch keine Lösung für faire Preise neuartiger Therapieoptionen. Für die Preisbildung, die längst nicht mehr nur eine „frühe“ und einmalige Erstattungsbetragsverhandlung ist, benötigt es zukünftig aussagekräftige Versorgungsdaten. In der Frage der Datenverfügbarkeit stellt der Gesetzgeber die Strukturen unter anderem mit dem zuletzt eingeführten Forschungsdatenpool neu auf. Wünschenswert wäre, dass diese Datensätze zukünftig auch für die Preisbildung und Umsetzung alternativer Erstattungsmodelle nutzbar sein werden. Die Anwendungsbegleitende Datenerhebung soll wiederum die Unsicherheit über den Nutzen bestimmter Arzneimittel reduzieren. Wie gut dies funktionieren und welche Akzeptanz die generierte Evidenz haben wird, die auch nicht frei von Mängeln und Unsicherheit sein wird, werden wir erst in einigen Jahren beantworten können.

Welche Herausforderungen sehen Sie speziell für erfolgsorientierte Vergütungsmodelle? Ein möglicher Kassenwechsel des Versicherten und ein hoher Aufwand für jedes Präparat machen das Modell nicht gerade attraktiv, oder?

Greiner: Der § 130b-Erstattungsbetrag selbst ist, wenn man so will, bereits ein zentraler erfolgsorientierter Vergütungsvertrag. Nur definiert sich der „Erfolg“ hier über den auf Basis früher klinischer Daten antizipierten Nutzen. Dieser ist mit großer Unsicherheit verbunden. Neben positiven Wettbewerbssignalen haben anschließende dezentrale Pay-for-Performance-Verträge den Vorteil, diese Unsicherheit durch Monitoring zu reduzieren. Dies ist bislang auf Gesamt-GKV-Ebene nicht möglich. Zudem lassen sich durch Selektivverträge weitere Einsparungen erzielen. Dies hängt eng an der Bereitschaft pharmazeutischer Unternehmen, weitere Preisnachlässe einzuräumen, wenn entsprechende Rabatte nicht bekannt werden. Vor dem Hintergrund der internationalen Preisreferenzierung ein unter ökonomischen Gesichtspunkten nachvollziehbares Verhalten. Wir beobachten zudem, dass sich bereits heute die Preisbildung verstärkt in nachgelagerte Prozesse verschiebt.

Inwiefern?

Greiner: Bis April 2020 konnten wir für insgesamt 79 nutzenbewertete Arzneimittel weitere Preisnachlässe beobachten, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Bewertungsverfahren standen. Hier ist es wahrscheinlich, dass vertragliche Vereinbarungen oder Staffelungen bzw. Neuverhandlungen gegriffen haben. Zur praktischen Umsetzung benötigen Selektivverträge den Willen der Beteiligten, entsprechende Modelle auch tatsächlich zu realisieren. Therapieerfolgsdefinitionen, die in erwartbaren juristischen Auseinandersetzungen enden, sind nicht sinnvoll. Wir beobachten erste Erstattungsverträge, für die der GKV-Spitzenverband transparent auf solche erfolgsabhängigen Vergütungsbestandteile hinweist. Darin werden eindeutige Kriterien für den Erfolg einer Therapie definiert, die so auch im Versorgungsalltag und auf Basis von Versorgungsdaten abbildbar sind.

Welche Daten werden für die Verträge benötigt?

Greiner: Als Datengrundlage dürften dafür derzeit GKV-Abrechnungsdaten am besten geeignet sein. Apothekenabrechnungsdaten fehlt es an den in der Regel erforderlichen Diagnoseinformationen, in den Morbi-RSA-Daten sind angewendete Prozeduren nicht abgebildet. Ein Fehler wäre es jedoch, diese Vertragsmodelle nun überzustrapazieren. Nicht jede kleine Teilpopulation aus den G-BA-Beschlüssen lässt sich in Versorgungsdaten abbilden.

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Derzeit befinden wir uns in einer Umbruchphase, verschiedene Instrumente werden ausprobiert. Wenn Gentherapien nicht nur für Orphans, sondern auch für Volkskrankheiten zugelassen werden, muss diese Testphase vorbei sein. Wie viel Zeit haben Politik und GKV noch, um das System vorzubereiten?

Greiner: Streng genommen befinden wir uns seit sechs Jahren in der von Ihnen beschriebenen Umbruchsphase. Die Diskussion um die Finanzierbarkeit neuer Arzneimittel wird post AMNOG spätestens seit der Markteinführung von Sovaldi im Jahr 2014 kontinuierlich geführt. Nach Hepatitis C waren es neue hochpreisige Onkologika bzw. deren Kombinationstherapien und inzwischen die ATMPs, welche zu einem kontinuierlichen Anstieg der Markteintrittspreise neuer Arzneimittel und auch zu einem Gesamtanstieg der jährlichen Arzneimittelausgaben geführt haben. Dabei hat sich der Fokus der Debatte von der Angemessenheit der Preise bzw. der Funktionalität des Preisbildungsverfahrens „frühe Nutzenbewertung“ inzwischen hin zu der grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit verschoben.

Was bedeutet das angesichts der zu erwartenden Entwicklung der GKV-Finanzen?

Greiner: In den kommenden Jahren stehen wir nun erstmals seit vielen Jahren wieder vor der Situation, dass neben Mengen- und Preis-
effekten auch negative Einnahmeeffekte die Finanzsituation der GKV belasten werden. Die konjunkturellen Folgen der Covid-19-Pandemie werden höchstwahrscheinlich nach der kommenden Wahl Diskussionen über Einspargesetze erforderlich machen.

Halten Sie die Einführung einer vierten Hürde für sinnvoll?

Greiner: Die Erwartungshaltung eines unmittelbaren und uneingeschränkten Zugangs zu neuen innovativen Arzneimitteln ist bei Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern gleichermaßen vorhanden und ethisch sinnvoll. Der Gesetzgeber hat diesen Anspruch in der jüngeren Arzneimittelgesetzgebung wiederholt untermauert. Das AMNOG bewegt sich damit zwangsläufig im Spannungsfeld dieser Erwartungshaltung einerseits und der Sicherstellung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung andererseits. Das AMNOG hat sich in den letzten Jahren allerdings auch deshalb als tragfähiges Konstrukt erwiesen, weil es sich vonseiten aller am Verfahren beteiligten Parteien als lernfähig und anpassbar dargestellt hat. Es ist aus meiner Sicht deshalb erwartbar, dass die Politik möglichst lange an dem Modell des „freien Markteintritts“ festhalten wird. Eine formale vierte Hürde halte ich deshalb ebenso wenig für sinnvoll, wie die kürzlich vorgeschlagenen Obergrenzen für die Jahrestherapiekosten neuer Arzneimittel.
Mit den neuartigen Therapien stellt sich die grundsätzliche Frage, was ein angemessener Preis ist, mit neuer Brisanz. Ist die Kosten-Nutzen-Bewertung für die Ermittlung eines richtigen und gerechten Preises generell geeignet? Und wenn, auch mit der Effizienzgrenzenanalyse des IQWiG?

Greiner: Wir schlagen bereits seit 2015 im AMNOG-Report vor, Informationen aus Kosten-Nutzen-Bewertungen optional ins Verfahren einzubringen. Politisch erscheint eine verpflichtende Kosten-Nutzen-Bewertung als Entscheidungskriterium für die Preisfindung derzeit nicht durchsetzbar. Vielleicht liegt das auch an dem weit verbreiteten Mythos, dass mit einer Kosten-Nutzen-Analyse zwangsläufig die Entscheidung über den Markteintritt verbunden ist, also Rationierung betrieben wird. Diesen Automatismus gibt es aber in keinem Land.

Und wie ist das Stimmungsbild bei den Kostenträgern?

Greiner: Insbesondere vonseiten einiger Kostenträger mehren sich die Stimmen, Daten aus entsprechenden Analysen zumindest fakultativ oder in bestimmten Verfahrenskonstellationen, z. B. ATMPs, in die Verfahren einzubringen. Dazu bedarf es jedoch zweier wichtiger Voraussetzungen: Eine offene Diskussion zwischen G-BA, pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spitzenverband, in welcher Form und vor allem auf welcher Datenbasis Kosten-Nutzen-Bewertungen sinnvoll in die bisherige AMNOG-Systematik als zusätzliche Entscheidungsgrundlage eingebunden werden können. Und natürlich einen erneuerten Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und der maßgeblich tangierten Fachöffentlichkeit, Medizinern, Ökonomen und Ethikern, über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung. Wie mehrfach dargelegt, ist aus methodischen Gründen die Effizienzgrenze für den Markt neuer Arzneimittel zur Ermittlung von Preisobergrenzen nicht geeignet. Da bräuchte es einen Neustart, der sich diesmal an den internationalen Standards für gesundheitsökonomische Analysen orientieren sollte.

Die Politik scheint eher der Ansicht zu sein, dass die Gesellschaft die Frage nach einem gerechten Preis diskutieren muss. Wie lässt sich die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft für neue Therapien, für Heilung ermitteln?

Greiner: Um dies zu beantworten ist zunächst zu klären, wodurch sich die „gesellschaftliche“ Zahlungsbereitschaft definiert. Etabliert ist die Bestimmung der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft aus eine Aggregation der individuellen Zahlungsbereitschaften, was eigene theoretische Probleme aufwirft. Zur Ermittlung der individuellen Zahlungsbereitschaft stehen unterschiedliche Ansätze zur Verfügung. Die Zahlungsbereitschaft kann z.B. indirekt aus dem tatsächlichen Verhalten der Individuen abgeleitet werden, indem beispielsweise aus der Gegenüberstellung von Lohndifferenz und Erhöhung des Sterberisikos eines gefährlicheren Berufes auf die individuelle Bewertung von Leben geschlossen wird. Gebräuchlicher ist die Ermittlung der Zahlungsbereitschaft aus einer direkten Befragung der Individuen, bei der die Befragten hypothetische Sachverhalte monetär bewerten sollen. Allerdings sind mit der Ermittlung individueller Zahlungsbereitschaft auch verschiedene Probleme verbunden.

Zum Beispiel?

Greiner: Da individuelle Zahlungsbereitschaften aufgrund persönlicher Charakteristika stark variieren können, gilt es, einen Selektionsbias möglichst zu vermeiden. Zudem könnten Probanden invalide Angaben machen, da sie mit der Entscheidungssituation überfordert sind oder die Ergebnisse bewusst manipulieren wollen. Auch beziehen Probanden häufig keine Opportunitätskosten in ihre Entscheidungen ein. Anders als zum Beispiel in Großbritannien gibt es in Deutschland aber weder eine Tradition in der gesellschaftlichen Diskussion dieser Fragen noch den politischen Willen dazu.

Weil…

Greiner: … die Sorge vor impliziter Rationierung zu groß ist. Im Grunde ist es auch nicht notwendig, hier einen festen Wert für eine Obergrenze der Zahlungsbereitschaft zu finden. Es zeigt sich in anderen Ländern, dass allein das Bestehen von Kosten-Nutzen-Überlegungen schon dazu führt, dass sich die Beteiligten der höheren Transparenz bewusst werden und entsprechend rationaler handeln.

Die Politik hat in Deutschland keinen direkten Einfluss auf Arzneimittelpreise, haben wir deshalb hierzulande unpolitische Arzneimittelpreise, im Vergleich zu anderen Ländern?

Greiner: Gesundheitspolitik baut in Deutschland grundlegend auf dem Subsidiaritätsprinzip auf. Der Gesetzgeber hat viele Regulierungskompetenzen – auch in der Preisgestaltung neuer Arzneimittel – aus gutem Grund, nämlich der maßgeblich dort vorhandenen Kompetenz, an die Selbstverwaltung delegiert. Politik setzt dabei die Leitplanken wie zum Beispiel, dass sich Erstattungsbeträge neuer Arzneimittel am tatsächlichen Mehrwert für die Patientinnen und Patienten orientieren sollen. Die damit verbundenen methodischen, ethischen oder ökonomischen Fragestellungen fallen wiederum auf der Ebene der Selbstverwaltung an und sind dort zu diskutieren. Die Idee, Erstattungsbeträge neuer Arzneimittel zwischen den an der Versorgung beteiligten Parteien verhandeln zu lassen, ist auch als Ergebnis politischen Scheiterns, zum Beispiel bei der Einführung einer Positivliste, zu sehen. Heute ist dieses Verfahren ein Erfolgs-modell und Blaupause für Modelle in anderen Ländern.

Zur Person
Prof. Dr. Wolfgang Greiner ist Inhaber des Lehrstuhls für „Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement“ an der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beim Bundesgesundheitsministerium. Er gehört zudem den wissenschaftlichen Beiräten der Techniker Krankenkasse, der DAK sowie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen an. Greiner ist außerdem Vorsitzender des Landesschiedsamtes Niedersachsen für die vertragszahnärztliche Versorgung. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind unter anderem: Evaluation von Gesundheitsleistungen, Lebensqualitätsforschung sowie Health Technology Assessment.

Too Much?

Neuartige Therapien in der Gesetzlichen Krankenversicherung

Berlin (pag) – Ist das GKV-System ausreichend auf Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP) vorbereitet? Brauchen Verfahren und Instrumente ein Update? Nicht zuletzt zeigen insbesondere die Gen- und CAR-T-Zelltherapien, dass sich die Grundsatzfrage nach der Zahlungsbereitschaft mit neuer Dringlichkeit stellt.

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Eine Revolution in der Behandlung prophezeit die Techniker Krankenkasse (TK), als sie im vergangenen Jahr den Drug-Future-Report präsentiert. Die neuen Gentherapien für die Bluterkrankheit markierten den Beginn einer neuen Ära, heißt es auf der Pressekonferenz. Angesichts des zu erwartenden Innovationsschubes und des damit verbundenen finanziellen Sprengstoffes verlangt der TK-Vorstandsvorsitzende Dr. Jens Baas, das System an zukünftige Gegebenheiten anzupassen. Ein konkreter Vorschlag seitens der Kasse ist etwa der dynamische Evidenzpreis. „Sonst stehen wir in ein paar Jahren vor dem Problem, dass wir reihenweise neue Therapien haben, die durch das System von Zulassung und Erstattung fallen und daher in Deutschland den Patienten nicht zur Verfügung stehen“, warnt der TK-Chef. Den Handlungsdruck sehen auch andere Akteure – zumal wenn künftig nicht mehr wie bisher nur seltene Leiden, sondern auch Volkskrankheiten mit den neuartigen Therapien behandelt werden sollten. Beispiel Blutertherapie: Laut TK wendet die GKV für die aktuelle Standardtherapie derzeit insgesamt etwa 480 Millionen Euro auf. Bei der Einführung der für 2023 erwarteten Gentherapie für diese Krankheit könnten die GKV-Ausgaben auf vier Milliarden Euro steigen. Das wären rund zehn Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben.

Die Zolgensma-Prämiere

In den folgenden Monaten ist es dann insbesondere eine Gentherapie zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie, Zolgensma, die für viel Wirbel sorgt. Neben der Vergabe per Lotterieverfahren ist vor allem der Preis von 1,9 Millionen Euro aufsehenerregend. Wenig überraschend ist daher, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dieses Arzneimittel für die Premiere der Anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) auswählt. „Zolgensma hat uns schon in der Vergangenheit vor der Zulassung sehr intensiv beschäftigt und wird uns auch weiterhin beschäftigen“, kommentiert der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken, als das Plenum am 16. Juli für die in Europa frisch zugelassene Gentherapie die Erforderlichkeit einer AbD feststellt.
Diese Datenerhebung im realen Versorgungsalltag wurde mit dem „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ eingeführt. Damit soll die Datenbasis für die Zusatznutzen-Bewertung von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Erkrankungen und von Arzneimitteln mit bedingter Zulassung verbessert werden.

AMNOG-Verfahren: Up to date?

Darüber hinaus hat der Gesetzgeber Anfang des Jahres mit dem „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“ festgelegt, dass für alle ATMPs eine Nutzenbewertung nach Paragraf 35a SGB V durchgeführt und nachfolgend ein Erstattungsbetrag verhandelt wird. Einzige Ausnahme: Knorpelprodukte. Damit ist Schluss mit der Unsicherheit, ob das jeweilige Produkt eine Methodenbewertung oder das AMNOG-Verfahren zu durchlaufen hat. Bleibt allerdings die Frage, ob das AMNOG-Verfahren selbst, das immer wieder als lernendes System gelobt wird, für Gentherapien und Co. noch up to date ist.
Was die Zusatznutzen-Bewertung von ATMPs so verzwickt macht, sind die relativ kleinen Studiengrößen, häufig ohne Vergleichsarm. Hinzu kommen Schwierigkeiten, eine zweckmäßige Vergleichstherapie zu definieren, und nicht zuletzt eine lange Wirkdauer, die sich aber erst im Verlauf beweisen muss. Nicht von ungefähr konstatiert der von der DAK herausgegebene AMNOG-Report 2019, dass die Umsetzung einer nutzenbasierten Preisfindung bei sogenannten one-shot-Therapien mit „hoher Unsicherheit“ verbunden sei.

Das Versprechen

Noch deutlicher wird Dr. Antje Haas, Abteilungsleiterin Arzneimittel beim GKV-Spitzenverband, in ihrem Beitrag zum AMNOG-Report. Für das Versprechen des Herstellers, dass eine einmalige Anwendung der ATMP zur Heilung führe, fehle der Nachweis, kritisiert sie. Sicher seien nur die enormen Ausgaben für die GKV.
Haas sieht bei den neuartigen Therapien die gängigen Verfahren zur Bewertung des Nutzens und zur Feststellung eines angemessenen Erstattungsbetrages vor neuen Herausforderungen. Reichen ergänzende Instrumente wie die Anwendungsbegleitende Datenerhebung, die sich noch bewähren muss, und erfolgsorientierte Vergütungsmodelle aus, um diese zu bewältigen? Sind sie als Reaktion auf eine Revolutionierung der Behandlung ausreichend, oder ist es in dieser Umbruchphase an der Zeit, die Kosten in die Bewertung mit einzubeziehen, sprich die Kosten-Nutzen-Bewertung aus dem Dornröschen-Schlaf zu erwecken, wie es Gesundheitsökonomen bereits seit Längerem fordern?

Kosten und Nutzen bewerten

Möglich wäre es. Schließlich arbeitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das vor elf Jahren eine reichlich kontroverse Methode für die Kosten-Nutzen-Bewertung veröffentlicht hat, nach eigenen Angaben kontinuierlich an einer Weiterentwicklung und ist auf eine Beauftragung vorbereitet. Auch auf Kassenseite ist man nicht abgeneigt. „ATMPs laden zur Kosten-Nutzen-Bewertung ein“, meint etwa Haas.
Um Kosten-Nutzen-Bewertungen von ATMPs ins Verfahren einzubringen, sei allerdings eine offene Diskussion zwischen G-BA, pharmazeutischen Unternehmern und dem GKV-Spitzenverband notwendig, mahnt der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld (Lesen Sie dazu das Interview auf Seite 18). Es gehe darum, in welcher Form und vor allem auf welcher Datenbasis Kosten-Nutzen-Bewertungen sinnvoll in die bisherige AMNOG-Systematik als zusätzliche Entscheidungsgrundlage eingebunden werden können. Außerdem fordert er einen erneuerten Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten und der maßgeblich tangierten Fachöffentlichkeit – Medizinern, Ökonomen und Ethikern – über die Methoden der Kosten-Nutzen-Bewertung.

Was ist Heilung wert?

Jenseits von den methodischen Feinheiten einer möglichen Kosten-Nutzen-Bewertung bleibt festzuhalten, dass mit ATMPs die noch immer ungeklärte Grundsatzfrage nach dem gerechten Preis für Therapien neue Brisanz gewinnt. Doch obwohl bereits anlässlich der Zulassung von Sovaldi vor einigen Jahren ausgiebig darüber diskutiert wurde, was Heilung einer Gesellschaft wert sein sollte, sind wir in dieser Frage nicht wesentlich weitergekommen. Allerdings hat sich inzwischen der Fokus der Debatte verschoben, meint Greiner: von der Angemessenheit der Preise hin zu der grundsätzlichen Frage der Finanzierbarkeit.
Solche Themen sind für die Politik unbequem, Rationierung lautet der Tabubegriff. Auf einer Veranstaltung der Verbandes Managed Care hat Dr. Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel im Bundesgesundheitsministerium (BMG), vor einiger Zeit deutlich gemacht, dass er nicht daran glaubt, dass eine Kosten-Nutzen-Bewertung dabei hilft, einen richtigen und gerechten Preis für Arzneimitteln zu finden. Es gehe vielmehr darum, einen Ausgleich zu finden, erläutert er – und zwar zwischen einem solidarischen Gesundheitssystem mit Zwangsbeiträgen einerseits und der Aufrechterhaltung von Chancen für einen kontinuierlichen Nachschub an neuen Arzneimitteln andererseits.

 

Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMPs) sind Arzneimittel für die Anwendung beim Menschen, die auf Genen, Geweben oder Zellen basieren. Sie bieten innovative Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. © iStockphoto, gremlin

Die Preisfrage

Müller will die Diskussion zu hochpreisigen Arzneimitteln nicht auf die reine Höhe des Preises reduzieren, denn: „Der Preis spielt eine ganz wichtige Rolle, damit zukünftige Generationen von Patienten auch neue Medikamente bekommen“, sagt der BMG-Vertreter und verweist auf notwendige Anreize für Finanzinvestoren.
„Arzneimittel hängen nicht am Baum und müssen einfach nur geernet werden.“ Dafür werde viel Kapital benötigt, das Problem sei jedoch, dass die Kapitallage für Biotech in Europa deutlich schlechter sei als in anderen Ländern. Das wiederum verhindere Innovation in Europa. Die Gefahr: Innovationen werden nur noch aus Drittstaaten eingekauft.
Dieses Szenario lässt sich bei den ATMPs nicht von der Hand weisen. Deutschland gehörte in den Anfängen der Entwicklung zu den Pionierländern. Mittlerweile sieht das ganz anders aus. Der jüngst erschienene Biotech-Report 2020 des vfa bio nennt folgende Studienzahlen: Zwar belegt Deutschland 2018 bei der Zahl der Gentherapien den dritten Platz, liegt aber mit 4,4 Prozent der Studien weit hinter den USA (47,5 Prozent) und China (39,2 Prozent). Selbst auf ganz Europa entfallen zusammengenommen nur 10,4 Prozent der Studien. Ähnlich das Bild bei der CAR-T-Zelltherapie. Hier führt China (231 Studien) vor den USA (163 Studien). Erst dann folgen auf Platz 3 Deutschland, Frankreich und Großbritannien (mit jeweils nur 21 Studien), heißt es im Report. Als Ursache für das schlechte Abschneiden wird neben fehlenden ATMP-Clustern auch eine  begrenzte Innovationskultur hierzulande genannt: „Insgesamt besteht so die Gefahr, dass Deutschland zum Importeur medizinischer Innovationen auf dem Gebiet der ATMP wird, ohne eigene wirtschaftliche Vorteile aus deren medizinischem Potenzial zu generieren.“ Um eine „ATMP welcome“-Kultur hierzulande zu etablieren, sollten eine entsprechende Taskforce und ein Deutsches Zentrum der Gesundheitsforschung für ATMP gegründet werden, schlagen die Reportautoren vor.
Keine Taskforce, aber immerhin eine ATMP-Arbeitsgruppe ist im BMG geplant. Ein Anfang immerhin, denn die Herausforderungen, mit denen die neuartigen Therapien das System konfrontieren, sind vielfältig und komplex.

ATMPs in der Zulassung
ATMPs sind Arzneimittel für neuartige Therapien und umfassen Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika sowie biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ist in Deutschland für diese Arzneimittelgruppe zuständig. Seit August besteht eine Meldepflicht beim PEI für jede ATMP-Anwendung. Insbesondere für Patienten mit schweren Krankheiten wurden in letzter Zeit einige Gentherapeutika zugelassen. Im Mai 2020 hatten in der EU zehn ATMP eine zentrale Zulassung, davon sieben Gentherapeutika. Laut Biotech-Report 2020 wurden fünf weitere ATMPs nach der Zulassung vom Markt genommen. Fünf Gnetherapeutika befinden sich derzeit im EU-Zulassungsverfahren (Stand Mai 2020). Für dieses Jahr wird mit insgesamt zehn Zulassungsanträgen gerechnet, für 2021 sogar mit 25.