Köln/Würzburg (pag) – Mit mehr guten Psychiatrie-Studien rechnet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Bisher schneiden neue Mittel gegen psychiatrische und neurologische Erkrankungen beim AMNOG-Verfahren eher schlecht ab, die Hintergründe erläutert das Institut in seinem Jahresbericht 2018.
288 Dossierbewertungen haben die Kölner Wissenschaftler im Rahmen des AMNOG-Verfahrens seit 2011 erstellt (Stand 31. Dezember 2018). Auffällig ist: Bei Arzneimitteln gegen Krebs ist der Anteil mit mindestens einem Anhaltspunkt für einen Zusatznutzen seit Jahren am höchsten, bei psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen ist der Anteil hingegen „besonders niedrig“, schreibt Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittel. In vielen Fällen habe das IQWiG die von Herstellern eingereichten Studien nicht verwenden können, weil sie den gesetzlich vorgegebenen Ansprüchen nicht genügten, z.B. entsprach die Vergleichstherapie nicht der derzeitigen Versorgung.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hat deshalb im vergangenen Jahr einen Runden Tisch und ein Symposium veranstaltet, das Thema lautete: Wie sollen die Studien in der Psychiatrie in Zukunft aussehen? Das IQWiG hält die Sensibilisierung der Beteiligten für einen wichtigen Schritt. In diesem Zusammenhang verweist Kaiser darauf, dass das Institut im vergangenen Jahr erstmals einen Zusatznutzen für ein psychiatrisches Krankheitsbild ableiten konnte. Die Rede ist von Cariprazin, das seit 2017 für Erwachsene mit Schizophrenie zugelassen ist. Der Ressortleiter hebt hervor, dass die Nutzenbewertung auf einer randomisierten, doppelblinden, in Europa durchgeführten multizentrischen Parallelgruppenstudie zum Vergleich von Cariprazin mit Risperidon beruhte.
Erst zu Jahresbeginn hat die Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie (GESENT) das AMNOG als Hindernis für die Versorgung bestimmter Patientengruppen mit innovativen Medikamenten bezeichnet. Ein Kritikpunkt: Die AMNOG-Kriterien seien für den Zusatznutzennachweis bei neuropsychiatrischen Arzneimitteln nicht anwendbar. „Faktoren wie Langfristigkeit und Komplexität des Krankheitsverlaufs, die bei der Beurteilung therapeutischer Effekte in Neurologie und Psychiatrie von Bedeutung sind, haben im starren AMNOG-System keinen Platz.“ GESENT wurde 2005 von Vertretern der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und der Industrie gegründet.
Über das politische Tauziehen um die Importförderklausel bei Arzneimitteln
Berlin (pag) – Die Mission trägt das „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV) im Titel. Mit diesem hehren Ziel können sich alle Akteure identifizieren, doch bei der Wahl der Mittel hört die Einigkeit auf – zumindest bei der umstrittenen Importförderklausel.
Schon vor dem GSAV steht das Thema Importförderklausel bei einigen Akteuren auf der Agenda. Bereits 2015 spricht sich der bayerische Pharmagipfel dafür aus, diese zu streichen. Auch einige Kassen halten das Instrument mittlerweile für verzichtbar – nicht zuletzt, weil die damit verbundenen Einsparungen als überschaubar gelten. Ein „zahnloses Bürokratiemonster“ nennt es Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Er tritt im Sommer vergangenen Jahres – gemeinsam mit dem Vorsitzenden der hiesigen Kassenärztlichen Vereinigung und dem Chef des Deutschen Apothekerverbandes – für dessen Abschaffung ein.
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Lunapharm ist kein Einzelfall
Der Fall Lunapharm zeigt die Brisanz des Themas. Die Task Force, die den Skandal untersucht, findet in ihrem Bericht deutliche Worte. Die Experten schreiben, dass die Erfüllung dieser Quote die Patientensicherheit gefährde: Importe würden zunehmend „als Zugangsweg für minderwertige, gestohlene oder gefälschte Arzneimittel genutzt“. Lange, grenzüberschreitende und intransparente Lieferketten erhöhten das Risiko dafür, dass solche Medikamente hierzulande eingeschleust würden.
Hinzu kommt: Lunapharm ist insofern kein Einzelfall, als dass bereits 2014 gestohlene Arzneimittel, dieses Mal aus italienischen Kliniken, nach Deutschland gelangten. Prof. Wolf Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Mitglied der Lunapharm Task Force, betont im Interview mit Gerechte Gesundheit, dass insbesondere Krebsmedikamente im Fadenkreuz von kriminellen Netzwerken stehen. Als Zielland Nummer eins für gefälschte beziehungsweise gestohlene Arzneimittel gelte Deutschland.
Der Kompromiss
Lunapharm ist ein Anlass für das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung. Doch insbesondere die Importförderklausel ist im Gesetzgebungsprozess Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Mal heißt es, die Klausel wird gestrichen, dann soll sie wieder erhalten bleiben. Als wichtige Einflussgröße pro Quotenerhalt gilt Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Zu dessen Wahlkreis Saarlouis gehört die 30.000-Seelen-Kreisstadt Merzig. Dort befindet sich der Sitz des größten Arzneimittelimporteurs Deutschlands, Kohlpharma.
Das am 6. Juni vom Bundestag mit dem Stimmen der Großen Koalition angenommene Gesetz sieht schließlich vor, dass die Klausel bestehen bleibt – allerdings mit Einschränkungen: Biotechnologisch hergestellte Arzneimittel und Zytostatika werden wegen besonderer Anforderungen an Transport und Lagerung von dieser Regelung ausgenommen. Der GKV-Spitzenverband wird verpflichtet, bis Ende 2021 einen umfassenden Bericht zu erstellen, den das Bundesgesundheitsministerium bewertet. Auch der Bundestag soll sich mit dem Bericht befassen, um zu klären, ob die Importregelung weiterhin notwendig ist. Neu geordnet wird die Preisabstandsgrenze: Unter Berücksichtigung der Abschläge muss bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis bis einschließlich 100 Euro der Abstand mindestens 15 Prozent betragen, bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis von über 100 Euro bis einschließlich 300 Euro mindestens 15 Euro und bei Bezugsarzneimitteln mit einem Abgabepreis von über 300 Euro mindestens fünf Prozent.
Eine „halbseidene“ Lösung?
Bei der Opposition kommt der Erhalt der Importförderklausel nicht gut an. „Wer es mit Arzneimittelsicherheit ernst meint, muss die Vertriebswege massiv vereinfachen“, fordert Sylvia Gabelmann (Die Linke) in der Bundestagssitzung. Eindeutig Position bezogen hat im Vorfeld auch der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann. Er meint: „Unabhängig wie man zum Arzneimittelimport insgesamt steht, eine Importförderklausel ist heute ordnungspolitisch wie sozialpolitisch nicht mehr zu rechtfertigen.“
Einige Tage nach der Bundestagssitzung verteidigt der CDU-Bundestagsabgeordnete Tino Sorge die Regelung auf einem Symposium der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen. „Wir haben eine ganz gute Kompromissformel gefunden“, sagt er. Die Vorstandsvorsitzende des Verbands der Ersatzkassen, Ulrike Elsner, findet, dass es sich um ein wichtiges Steuerungsinstrument in puncto Bezahlbarkeit handele. Dagegen kritisiert der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker, Prof. Frank Dörje, die Gesetzesregelung auf dem Symposium als „halbseidene Lösung“, die schädlich für Patienten sei.
Einhellig fällt auch seitens der Pharmaindustrie die Kritik am Fortbestand der Quote aus. Dr. Martin Zentgraf, Vorstand des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, sagt: „Wer auf die Abschaffung der Importförderklausel verzichtet, konterkariert den Anspruch nach mehr Sicherheit.“ Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller sieht es ebenfalls kritisch, dass sich der Gesetzgeber nicht dazu durchringen konnte, die Importförderklausel komplett abzuschaffen: „Das hätte die Arzneimittelsicherheit deutlich erhöht.“
Welche Rolle spielt der Bundesrat?
Nicht wenige Akteure dürften bei der Abschaffung der Importförderklausel auch auf den Bundesrat gesetzt haben. Das Gesetz ist zustimmungspflichtig und bereits im Dezember vergangenen Jahres hat die Länderkammer in einer Entschließung die Streichung der Quote verlangt. Diese Forderung wiederholt der Rat in seiner Stellungnahme zum Gesetz vom 15. März. Die Argumentation: Die Klausel sei eine bürokratische Doppelregulierung ohne großes Einsparpotenzial. Durch neuere preisregulierende Gesetze und aktuelle Rabattvereinbarungen habe sie erheblich an Bedeutung verloren. Der Importzwang berge hingegen die Gefahr nicht mehr nachvollziehbarer Handelswege.
Folgerichtig hat der Gesundheitsausschuss des Bundesrates dem Ländergremium empfohlen, dem Gesetz nicht zuzustimmen, sondern den Vermittlungsausschuss anzurufen. Diesen Antrag lehnt der Bundesrat am 28. Juni jedoch ab und stimmt für das Gesetz und damit für den Erhalt der Quote.
Experten debattieren über den Wert von Innovationen
Berlin (pag) – „Innovationen in der Onkologie: Patientensegen und Zahlersorgen?“ lautet kürzlich das Thema eines Panels auf dem Hauptstadtkongress in Berlin. Der Bogen wird dabei weit gespannt: von amerikanischen Arzneimittelpreisen bis hin zum „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV).
Den Patientensegen stellt Prof. Carsten Bokemeyer dar. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) nimmt das Publikum auf einen Innovationsstreifzug durch die Onkologie mit, wichtige Stichwörter lauten dabei: molekulare Krebsmedizin, Immuntherapien und CAR-T-Zell-Therapien. Der Mediziner verweist auf deutlich verbesserte Überlebenszeiten der Patienten. Diese seien häufig nicht auf einzelne Therapien zurückzuführen, sondern auf Sequenzen oder Kombinationen mehrerer. Daher sei es im Bewertungsprozess neuer Medikamente schwierig, „ganz explizit den Überlebensvorteil eines einzigen Medikaments in einer längeren Behandlungskaskade festzulegen“. Insgesamt, hält Bokemeyer fest, konnten noch nie so erfolgreich wie heute Grundlagenerkenntnisse in innovative Therapien umgesetzt werden.
Die Zahlerperspektive vermittelt im Anschluss Prof. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer. Er weist darauf hin, dass innovative Präparate häufig bereits für eine initiale Therapie hunderttausende Euro kosteten – wenn man das kombiniere, kommt man oft auf über eine halbe Million Euro pro Patient, rechnet der Kassenchef vor. „Das sind Summen, die in einem Solidarsystem schwer aufzuwenden sind.“ Finanzierungsansätze wie Risk-Sharing oder Pay for Performance hält Straub für nicht hinreichend und nachhaltig, um das Problem zu lösen. Man benötige hierzulande einen übergreifenden Konsens, wie mit den globalen Pricing-Strategien der Hersteller umzugehen sei. „Es bedarf einer intensiven und offenen Diskussion darüber, was wir bezahlen können und was wir bezahlen wollen.“
Die Diskussion über Arzneimittelpreise sei hierzulande relativ ruhig geworden, merkt Thomas Müller aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) an. Ganz anders in den USA, wo es sich um ein Top-Thema handele. Er erwartet, dass die starke Preisdiskussion in Amerika zu einem hohen Kostendruck in Europa führen werde. Für den Leiter der Abteilung Arzneimittel im BMG müssen Preise eine Balance schaffen – und zwar zwischen Anreiz und Bezahlbarkeit. Innovationen benötigten Anreize und mit Preisen setzte man diese für einen Wertschöpfungszyklus, der einen Zeitraum von 20 Jahren umfassen kann. Innovative Medikamente müssten aber auch bei möglichst vielen Patienten ankommen. Dabei stießen die Renditeerwartungen der Hersteller auf komplett unterschiedlich aufgestellte Gesundheitssysteme. Deutschlands sehr komfortable Situation lasse sich nicht mit der von Bulgarien, Polen oder Portugal vergleichen, führt Müller aus.
Enge Zusammenarbeit und Datentransparenz
Auch die aktuelle gesundheitspolitische Gesetzgebung kommt bei der Expertendiskussion nicht zu kurz, insbesondere das GSAV. Das Gesetz sieht eine anwendungsbegleitende Datenerhebung vor. Die Grundidee sei, den Mangel an Evidenz vor der Zulassung mit möglichst guter Evidenz nach der Zulassung auszugleichen, erläutert der Ministeriumsvertreter. „Wir brauchen begleitende Datenerhebung nach Produkteinführung“, begrüßt Dr. Matthias Suermondt, Vice President Gesundheitspolitik und Marktzugang von Sanofi-Aventis Deutschland, den Ansatz des GSAV. Allerdings stecke der Teufel im Detail. Aus eigenen Erfahrungen wisse man, wie lange Registerstudien brauchen, um „in die Gänge zu kommen“. Bei kleinen Patientenzahlen hält Suermondt außerdem europäische Lösungen für sinnvoll.
Er geht auch auf die Schwierigkeiten der von Straub erwähnten Erstattungsmodelle wie Pay for Performance ein. Zentral sei dabei die Frage: Woran wird der Erfolg gemessen? Noch vergleichsweise einfach sei es, wenn – wie bei den CAR-T-Zell-Therapien – auf Heilung gehofft wird. Gehe es aber um Überlebensverlängerung, welche Rolle spielen dann Lebensqualität und Progression Free Survival? „Das sind Endpunkte, die unheimlich schwierig in ein Vertragswerk zu fassen sind“, erklärt Suermondt. Er appelliert, dass Kassen und Unternehmen noch enger zusammenarbeiten müssten und Datentransparenz zu einem früheren Zeitpunkt herzustellen sei, sodass auf Basis gemeinsamer Patientenzahlen über Verträge gesprochen wird. Es sei noch viel zu tun, hält Suermondt fest, doch die Chancen und Möglichkeiten, die sich ergeben könnten, seien die Anstrengungen wert.
Von der Krebsversorgung abgehängt?
Ebenfalls auf dem Hauptstadtkongress wird die zweite wissenschaftliche Studie zur künftigen Krebsversorgung präsentiert. Erstellt hat sie das Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald im Auftrag der DGHO. Demnach wird die Zahl der Krebsneuerkrankungen zwischen 2014 und 2025 voraussichtlich um etwa zehn Prozent auf über 520.000 pro Jahr zunehmen. Auch die Zahl der Menschen, die mit Krebs leben, wird hierzulande stark ansteigen. Die Versorgungsstrukturen müssen dieser Entwicklung angepasst werden, fordert daher die Fachgesellschaft.
Einige Ergebnisse der Studie: Den stärksten Zuwachs an Patientenzahlen zeigen Krebsentitäten, die im Alter häufig sind: bei Männern der Prostatakrebs, bei Frauen der Brustkrebs. Die höchsten relativen Zuwachsraten werden für Männer beim Harnblasenkrebs, für Frauen beim Magen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs erwartet. Die Zehn-Jahres-Prävalenz von Krebserkrankungen nimmt zwischen 2014 und 2025 deutlich zu: um etwa acht Prozent auf fast drei Millionen Patienten. Mit der demografischen Alterung steigt die Zahl der Patienten, die neben Krebs an mindestens einer weiteren chronischen Erkrankung leiden.
Prof. Maike de Wit von der Arbeitsgemeinschaft der Hämatologen und Onkologen im Krankenhaus fordert Versorgungsstrukturen, die es erlauben, die Kompetenz der spezialisierten Zentren in der Fläche verfügbar zu machen. Andernfalls riskiere man, dass „ganze Landstriche oder alte Menschen bei der Krebsversorgung abgehängt werden“. Sinnvoll seien mehr Möglichkeiten für die Delegation ärztlicher Leistungen und mehr Anstrengungen, um Medizinische Versorgungszentren auch an kommunalen Krankenhäusern zu implementieren. Für den DGHO-Vorsitzenden Prof. Carsten Bokemeyer sind die Studienergebnisse ein Aufruf, die Krebsprävention voranzutreiben. „Das Krebsrisiko steigt mit dem Alter deutlich an, aber es ist nicht unbeeinflussbar.“
Prof. Wolf-Dieter Ludwig zur Arzneimittelsicherheit in Deutschland
Berlin (pag) – Eine Task Force hat den Fall Lunapharm genau durchleuchtet, Versäumnisse ebenso benannt wie daraus zu ziehende Konsequenzen. Ein Mitglied dieser Gruppe ist der Onkologe Prof. Wolf-Dieter Ludwig. Im Interview erklärt er, warum Deutschland das Zielland Nummer eins für gefälschte Arzneimittel ist und welche Gegenmaßnahmen zu ergreifen sind.
Wenn Sie die gegenwärtige Arzneimittelsicherheit hierzulande mit einer Schulnote bewerten, welche Note würden Sie vergeben?
Ludwig: Im Prinzip eine zwei – trotz der besorgniserregenden Vorkommnisse im vergangenen Jahr.
Nach der Lektüre des Task Force-Berichts zu Lunapharm mutet das auf den ersten Blick etwas über- raschend an …
Ludwig: …aber die Task Force hat mit Lunapharm einen hoffentlich eher singulären Fall betrachtet, der sich nicht verallgemeinern lässt.
In dem Bericht haben Sie Schwachstellen beim zuständigen brandenburgischen Ministerium und der Landesaufsichtsbehörde benannt: etwa Unterbesetzung, mangelnde Kompetenz, unzureichende Kommunikation mit den Bundesoberbehörden. Ist Brandenburg die Ausnahme oder ticken in anderen Bundesländern ähnliche Zeitbomben?
Ludwig: Ich glaube, dass es sich in Brandenburg um eine außergewöhnliche Situation gehandelt hat: In der für die Überwachung des legalen Arzneimittelmarktes zuständigen Behörde in Brandenburg fehlte es an Personal und das vorhandene Personal hat auf eindeutige Hinweise, dass ein illegaler Import von Arzneimitteln nach Deutschland stattfindet, nicht richtig beziehungsweise viel zu spät reagiert. Und vor allem hat die Kommunikation nicht funktioniert – sowohl mit den Bundesoberbehörden, im konkreten Fall vor allem mit dem für biomedizinische Arzneimittel zuständigen Paul-Ehrlich-Institut, als auch mit den für die Bekämpfung von Arzneimittelfälschungen verantwortlichen Institutionen der Strafverfolgung.
Es besteht also keine Wiederholungsgefahr in anderen Bundesländern?
Ludwig: Als Mediziner habe ich keinen genauen Einblick in die personelle Ausstattung der Landesaufsichtsbehörden in den verschiedenen Bundesländern. Ich gehe aber davon aus, dass sie generell über sehr gut geschultes Personal verfügen – ob in ausreichendem Maße weiß ich aber nicht. Ich hoffe sehr, dass Brandenburg in dieser Hinsicht eine Ausnahme war.
(Hinweis der Redaktion: Eine Übersicht zur von uns recherchierten personellen Ausstattung der Landesaufsichtsbehörden finden Sie im Beitrag „Weckruf Lunapharm“ in dieser Ausgabe).
Der Bericht attestiert den Verantwortlichen eine „ungenügende Verinnerlichung des obersten Gebots der Risikoabwehr“ und damit des Patientenschutzes. Wenn das Grundverständnis für diese Aufgabe nicht vorhanden ist, lässt sich das überhaupt von oben verordnen?
Ludwig: Ich kann nicht beurteilen, inwieweit das Grundverständnis, eine Gefährdung von Patienten durch gefälschte Arzneimittel unter allen Umständen zu verhindern, vorhanden war. Die Verpflichtung der Landesaufsichtsbehörden ist eindeutig: Sie müssen die Patienten vor nicht wirksamen, gestohlenen und/oder illegal importierten Arzneimitteln schützen. In dieser speziellen Situation wurde auf handfeste Hinweise aus dem Ausland, dass Arzneimittel von einer Apotheke in Griechenland, die über keine Großhandelserlaubnis verfügte, illegal nach Deutschland exportiert wurden, nicht adäquat reagiert.
Wie steht es mit der ministeriellen Fachaufsicht? Auch dort legte Ihr Bericht gravierende Schwachstellen offen: beispielsweise zu stark verzahnte Verfahrensabläufe zwischen Ministerium und Landesbehörde, fehlende Klarheit über Entscheidungsspielräume und -abläufe. Es werden ferner fehlende Grundsätze zur Ausübung der Fachaufsicht bemängelt.
Ludwig: Es ist richtig, dass auch das für die Überwachung der Landesaufsichtsbehörde zuständige Ministerium in Potsdam nicht rasch und adäquat reagiert hat. Ob auch dort zu wenig Personal vorhanden und insgesamt die Kommunikation zwischen diesen Einrichtungen gestört war, konnten die Mitglieder der Task Force anhand der uns vorliegenden Akten allerdings nicht endgültig beurteilen. Wir wissen mittlerweile, dass es bereits 2013 einen klaren Hinweis von der nationalen Arzneimittelaufsichtsbehörde in Griechenland gab, dass die griechische Apotheke in Athen keine Arzneimittel in andere Länder hätte exportieren dürfen. Diese Tatsache wurde Ende 2016 der Landesaufsichtsbehörde erneut mitgeteilt. Warum darauf nicht sofort reagiert und der illegale Import sowie Vertrieb der Arzneimittel gestoppt wurde, ist für mich schwer nachvollziehbar. Dies halte ich für ein klares Versagen – ich hoffe, vor allem auf einer persönlichen Ebene und nicht im System der Arzneimittelüberwachung.
In Griechenland hat der Diebstahl dazu geführt, dass Patienten nicht mit den geeigneten Arzneimitteln behandelt werden konnten. Eine Verletzung des Prinzips der gerechten Verteilung heißt es im Bericht. Das ist nicht der erste Fall: Vor einigen Jahren gelangten aus italienischen Krankenhäusern gestohlene Medikamente nach Deutschland. Sehen Sie einen Zusammenhang mit der Importquote und dem Parallelvertrieb von Arzneimitteln in der Europäischen Union?
Ludwig: Auf jeden Fall. Ein aktuelle Übersichtsarbeit, erschienen 2018 in Lancet Oncology (DOI (ges. Beitrag kostenpflichtig): https://doi.org/10.1016/S1470-2045(18)30101-3), verdeutlicht, dass insbesondere Krebsmedikamente mittlerweile im Fadenkreuz von kriminellen Netzwerken auf europäischer Ebene stehen. Als Zielland Nummer eins für gefälschte beziehungsweise gestohlene Arzneimittel wird Deutschland genannt.
Warum steht Deutschland an erster Stelle?
Ludwig: Die Hauptursache ist, dass bei uns die Preise für Krebsarzneimittel mit am höchsten in Europa sind und deshalb hierzulande sehr hohe Profite mit illegalen Importen von Krebsmedikamenten erzielt werden können.
Ist angesichts dieser Umstände die Importquote nicht ein gefährlicher Anachronismus?
Ludwig: Dies sehen die Mitglieder der Task Force auch so. Wir haben deshalb in unserem Gutachten die Streichung des Paragrafen 129, Absatz 1 Satz 1, Nr. 2 im Sozialgesetzbuch V befürwortet. Wir müssen künftig unbedingt verhindern, dass Arzneimittel minderer Qualität beziehungsweise Arzneimittel, die im Rahmen des Parallelvertriebs nicht korrekt gelagert oder transportiert wurden, nach Deutschland gelangen und hier Patienten Schaden zufügen. Dies gilt in besonderem Maß für den hochempfindlichen Bereich der Krebsmedikamente. Darüber hinaus sind die durch diese Regelung realisierten Einsparpotenziale recht überschaubar.
In dem geplanten „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV) ist eine Streichung der Importquote nicht vorgesehen. Der Bundesrat hat sich aber in einer Entschließung dafür ausgesprochen.
Ludwig: Sowohl in der gemeinsamen Stellungnahme von Bundesärztekammer und AkdÄ als auch zusammen mit den Apothekern in der Anhörung zum Referentenentwurf für das GSAV haben wir eine Streichung der Importquote befürwortet.
Die Task Force regt darüber hinaus ein Verbot des Parallelvertriebs von Arzneimitteln in der EU an. Warum?
Ludwig:Ich halte dieses Verbot für besonders wichtig bei empfindlichen Medikamenten, bei denen durch den zum Beispiel nicht gekühlten Transport eine unsachgemäße Lagerung und auch durch mehrfache Umverpackung Probleme auftreten können – auch mechanischer Art. In Deutschland beziehen die meisten großen Krankenhäuser für Krebspatienten nur Originalware aus Deutschland. Es gibt auch Bundesländer wie etwa Bayern, in denen die Beschaffung von Medikamenten über Parallelvertrieb den Kliniken grundsätzlich nicht gestattet ist. Für mich ist schwer verständlich, dass einerseits in Deutschland Patienten im Krankenhaus ziemlich sicher sein können, dass sie den Risiken gefälschter oder gestohlener Arzneimittel nicht ausgesetzt sind, andererseits diese Sicherheit und Qualität der Arzneimittelversorgung aber für Patienten im ambulanten Bereich nicht immer garantiert werden kann. Dort bekommen die Zytostatika herstellenden Apotheken mitunter auf sehr undurchsichtigen Vertriebswegen Arzneimittel, die möglicherweise in ihrer Wirksamkeit und Sicherheit nicht den hohen Qualitätsansprüchen genügen, die aber für Patienten essenziell sind.
Wie schätzen Sie die politische Durchsetzbarkeit dieser Forderung ein?
Ludwig: Wenn es der Politik am Herzen liegt, die optimale Versorgung der Patienten in Deutschland – gerade bei lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Krebs – zu garantieren, dann muss der Parallelvertrieb untersagt werden. Ich selbst war nach gründlichem Studium der Unterlagen zum Lunapharm-Skandal überrascht, wie viele Zwischenhändler, auch für Krebsmedikamente, in der Vertriebskette existieren und wie wenig transparent deshalb die Vertriebswege dieser Medikamente inzwischen sind. Insbesondere bei sehr empfindlichen Arzneimitteln, wie beispielsweise monoklonalen Antikörpern und gewissen Zytostatika, dürfen diese intransparenten Vertriebswege fortan nicht mehr toleriert werden.
Aber lässt sich ein Verbot überhaupt angesichts des freien Warenverkehrs in der Europäischen Union realisieren?
Ludwig:Dieser Einwand ist sicher berechtigt. Aber wenn man in den Krankenhäusern durchsetzen kann, dass diese ausschließlich Arzneimittel direkt vom Originalhersteller aus Deutschland beziehen, dann müsste dies genauso im Bereich der Zytostatika herstellenden Apotheken umsetzbar sein. Es ist an der Zeit, dass hier dem Patientenwohl höchste Priorität eingeräumt wird und nicht ökonomischen Gesichtspunkten.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Der Hämatologe und Onkologe war bis September 2017 Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Tumorimmunologie und Palliativmedizin im Helios Klinikum Berlin-Buch. Gegenwärtig arbeitet er ambulant in der Schwerpunktpraxis „Hämatologie Onkologie Berlin-Mitte“. Er ist Herausgeber des unabhängigen Informationsblattes „Der Arzneimittelbrief“, Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Fachgesellschaften und gehört als Vertreter der europäischen Ärzteschaft dem Management Board der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) an.
Berlin/Potsdam (pag) – Ein Schuppen in Brandenburg, umzäunt, daneben ein Schild, auf dem steht: Lunapharm. Dieses Bild hat sich eingeprägt und steht für einen Skandal, der das Vertrauen vieler Patienten in die Arzneimittelsicherheit hierzulande tief erschüttert hat. Welche Konsequenzen werden aus dem Medikamenten-GAU gezogen?
Im vergangenen Sommer überschlagen sich die Schlagzeilen zu Lunapharm: Viele Krebspatienten sind verunsichert, ob sie tatsächlich wirksame Medikamente erhalten haben. Eine eigens eingerichtete Task Force moniert das zu späte Eingreifen der Aufsichtsbehörde und vermisst bei den Verantwortlichen ganz grundsätzlich eine „Verinnerlichung des obersten Gebots der Risikoabwehr und damit des Patientenschutzes“. Zwei Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde werden wegen Bestechlichkeit angezeigt. Um die Betriebserlaubnis von Lunapharm wird gerungen. Die brandenburgische Gesundheitsministerin Diana Golze (Die Linke) tritt schließlich zurück. Dann wird es allmählich ruhiger, zumindest was die Berichterstattung betrifft. Anders sieht es hinter den Kulissen aus, wo verschiedene Akteure intensiv mit der Aufarbeitung des Skandals beschäftigt sind.
Landesaufsicht stockt Personal auf
* Mecklenburg-Vorpommern: zusätzlicher Pool von rund 20 ehrenamtlichen Pharmazieräten, allesamt Apotheker, zur Unterstützung der Überwachung. Quelle: eigene Recherche, Tabelle: pag, Pross
Anfang 2019 ist der Stand folgender: Das Brandenburger Gesundheitsministerium hat dem Pharmahändler Lunapharm dauerhaft die Herstellungs- und Großhandelserlaubnis entzogen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Potsdam haben sich mittlerweile ausgedehnt. Berichtet wird über Rechtshilfeersuchen der Behörde an Ägypten, Griechenland, die Niederlande und Tschechien. Noch kurz vor der Weihnachtspause findet im Bundesgesundheitsministerium eine Anhörung statt, bei der Experten fünf Stunden lang über das geplante „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV) diskutierten. Das GSAV zieht Konsequenzen aus Lunapharm und sieht unter anderem eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Arzneimittelaufsichtsbehörden auf Bundes- und Landesebene vor (weitere Details siehe Infokasten Seite 17). Wie das konkret funktionieren soll, erörtern Experten im Januar bei einem Treffen im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), denn eine reibungslose Kooperation zu organisieren dürfte angesichts der föderalen Strukturen eine immense Herausforderung sein – selbst wenn man den uneingeschränkten Willen aller Beteiligten zur Teamarbeit voraussetzt. Die Landesaufsicht wurde, so viel scheint sicher, vom Fall Lunapharm aufgeschreckt. Wie die Recherche der Presseagentur Gesundheit bei allen 16 Landesbehörden zeigt, wollen mindestens acht Bundesländer ihr Personal für die Arzneimittelaufsicht aufstocken. Die größte Offensive plant Berlin mit gleich 14 neuen Stellen (siehe Tabelle).
Riskante Importquote
Intensivierte Zusammenarbeit zwischen Landes- und Bundesbehörden, mehr Befugnisse für letztere, zusätzliches Personal für die Landesbehörden – das ist die eine Konsequenz aus Lunapharm. Experten gehen außerdem davon aus, dass mit dem Start des Sicherheitsnetzwerkes securPharm im Februar Fälschungsfälle künftig wirksam verhindert werden können.*
(* „Alle Fälschungsfälle, die wir seit 2011 in den legalen Vertriebswegen gesehen haben, hätte das System nach heutiger Einschätzung wirksam verhindert.“ Allerdings unter der Voraussetzung, dass im Markt nur noch Ware mit den beiden neuen Sicherheitsmerkmalen ist, sagt Reinhard Hoferichter, SecurPharm-Sprecher und Sanofi-Mitarbeiter, im Interview mit dem Infodienst opg der Presseagentur Gesundheit. securPharm ist die deutsche Organisation für die Echtheitsprüfung von Arzneimitteln. Der Verein wurde gegründet, um die EU-Fälschungsschutzrichtlinie umzusetzen.)
Die Task Force denkt jedoch noch in eine andere Richtung. Ihr gehörten unter anderem an: der ehemalige BfArM-Abteilungsleiter Dr. Ulrich Hagemann, Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, und Prof. Martin Schulz, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker. Um gestohlenen oder gefälschten Arzneimitteln einen Riegel vorzuschieben, fordern sie, die sogenannte Importförderklausel zu streichen. Gegenwärtig sind Importe von Arzneimitteln gesetzlich vorgeschrieben. Jede Apotheke muss fünf Prozent der Medikamente aus dem verschreibungspflichtigen Segment als Import abgeben. Die Experten schreiben in ihrem Bericht, dass die Erfüllung dieser Quote die Patientensicherheit gefährde: Importe würden zunehmend „als Zugangsweg für minderwertige, gestohlene oder gefälschte Arzneimittel genutzt“. Lange, grenzüberschreitende und intransparente Lieferketten erhöhten das Risiko dafür, dass solche Medikamente hierzulande eingeschleust würden.
LUNAPHARM – WORUM ES GEHT
Der in Brandenburg ansässige Groß- und Parallelhändler Lunapharm soll von einer griechischen Apotheke hochpreisige Krebsarzneimittel bezogen haben, die zuvor mutmaßlich in griechischen Krankenhäusern gestohlen wurden. Ein qualitätsgesicherter Transport und sachgerechte Lagerungsbedingungen sind bei illegalen Vertriebswegen nicht sichergestellt. Lunapharm brachte diese Arzneimittel dann in Deutschland über Apotheken, Großhändler und andere Importeure in den Verkehr. Task Force-Mitglied Prof. Wolf-Dieter Ludwig berichtet, dass es bereits 2013 einen deutlichen Hinweis gab, wonach die griechische Apotheke keine Arzneimittel in andere Länder hätte exportieren dürfen. Dieser Vorgang wurde Ende 2016 der Landesbehörde erneut bekannt. Unterdessen hat Lunapharm den bekannten PR-Berater Klaus Kocks engagiert. Medienberichten zufolge bereitet das Unternehmen eine Schadenersatzklage gegen die Brandenburger Landesregierung vor.
Lunapharm ist kein Einzelfall
Neu ist die Forderung, die Quote zu streichen, nicht. Der bayerische Pharmagipfel spricht sich dafür bereits 2015 aus. Auch aus Kassensicht ist das Instrument mittlerweile verzichtbar – nicht zuletzt, weil die damit verbundenen Einsparungen als überschaubar gelten. Ein „zahnloses Bürokratiemonster“ nennt es Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Er tritt im Sommer vergangenen Jahres – gemeinsam mit dem Vorsitzenden der hiesigen Kassenärztlichen Vereinigung und dem Chef des Deutschen Apothekerverbandes (DAV) – für dessen Abschaffung ein. Der DAV-Vorsitzende Fritz Becker unterstreicht: „Jeder Apotheker braucht ausreichend Spielraum, um sich bei Sicherheitsbedenken im Einzelfall gegen ein Importmedikament entscheiden zu können.“ Denn Chargenrückrufe, heißt es auch im Bericht der Task Force, seien bei Importarzneimitteln keine Seltenheit. Und Lunapharm ist insofern kein Einzelfall, als dass bereits 2014 gestohlene Arzneimittel, dieses Mal aus italienischen Kliniken, nach Deutschland gelangten. Insbesondere Krebsmedikamente stehen im Fadenkreuz von kriminellen Netzwerken, berichtet der Arzneimittelexperte Prof. Ludwig im Interview (siehe folgende Seite). Als Zielland Nummer eins für gefälschte beziehungsweise gestohlene Arzneimittel gelte Deutschland.
Diese Entwicklung hat auch den Bundesrat alarmiert. In einer Entschließung auf Antrag Brandenburgs und Bayerns verlangt er die Streichung der Quote. Die Initiative ist insofern bemerkenswert, weil sie nicht vom Saarland torpediert wurde. Im Saarland, genauer gesagt in Merzig, befindet sich der Sitz des größten Arzneimittelimporteurs Deutschlands, Kohlpharma. Ins GSAV hat es der Quotenverzicht vorerst nicht geschafft – zumindest nicht in den Gesetzesentwurf der Bundesregierung. Da haben auch die anderen Ressorts ein Wörtchen mitzureden. Ein Veto könnte von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier (CDU) gekommen sein, zu dessen Wahlkreis Saarlouis die 30.000-Seelen-Kreisstadt Merzig gehört.
Geht es nach der Lunapharm Task Force, ist Verzicht auf die Importförderklausel nur der erste Schritt, sie befürwortet ein grundsätzliches Verbot des Parallelvertriebs von Arzneimitteln in der EU. Dass sich die Umsetzung eines so weitreichenden Verbots allein aufgrund der Freizügigkeit des Warenverkehrs äußerst schwierig gestalten dürfte, ist den Experten bewusst. Ludwig argumentiert, die hierzulande meisten großen Krankenhäuser für Krebspatienten nur Originalware aus Deutschland beziehen. In Bayern sei die Beschaffung von Medikamenten über Parallelvertrieb den Kliniken grundsätzlich nicht gestattet. Er betont: „Für mich ist schwer verständlich, dass einerseits in Deutschland Patienten im Krankenhaus ziemlich sicher sein können, dass sie den Risiken gefälschter oder gestohlener Arzneimittel nicht ausgesetzt sind, andererseits diese Sicherheit und Qualität der Arzneimittelversorgung aber für Patienten im ambulanten Bereich nicht immer garantiert werden kann.“
GSAV – GESETZ FÜR MEHR SICHERHEIT IN DER ARZNEIMITTELVERSORGUNG
Der Gesetzesentwurf sieht eine Reihe von Maßnahmen vor, denn nicht nur der Lunapharm-Skandal, sondern auch der Fall Bottrop und der Fall Valsartan stellen die hiesige Arzneimittelsicherheit infrage.
Um ein zweites Lunapharm zu verhindern, will das Ministerium beispielsweise die Koordinierungsfunktion des BfArM beziehungsweise Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) stärken sowie deren Rückrufkompetenzen erweitern. Dem FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann gehen die Pläne von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht weit genug, er will eine grundsätzliche Reform der Arzneimittelüberwachung. Gestärkte Kompetenzen von BfArM und PEI lösen nach Einschätzung von Ullmann die Probleme von Nichtüberwachung oder mangelhafter Überwachung in Ländern oder Gemeinden nicht. BfArM-Direktor Prof. Karl Broich begrüßt dagegen das GSAV: „Unsere Arbeit für die Patientensicherheit wird gestärkt!“, twittert er im November. Zuvor hat er in einem Interview gefordert, Lücken in der Arzneimittelaufsicht zu schließen. „Wir müssen als Bundesoberbehörde den Landesbehörden Anweisungen geben können, wenn wir für die Patienten Gefahr im Verzug sehen.“ Ziel müsse es sein, dass es künftig wie bei der amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde eine Anlaufstelle gibt, die eine schnelle Koordination und Kommunikation übernimmt.
Berlin (pag) – Die neuen CAR-T-Zelltherapien gelten als neuer Meilenstein in der Krebsbehandlung. Kann die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) dieses Tempo mitgehen? Das diskutieren Experten kürzlich auf einer Veranstaltung des Forum Instituts. Fest steht: Das System muss sich auf die Modalitäten neuer Therapieprinzipen einstellen.
Von einer neuen Ära der Krebsmedizin ist die Rede, als die beiden ersten CAR-T-Zelltherapien im vergangenen Jahr in Europa zugelassen werden. Kymriah® und Yescarta® heißen sie. Für die Therapie kommen etwa 1.400 bis 1.600 Blutkrebspatienten pro Jahr in Betracht, heißt es seitens der Krankenkassen. Konkret geht es um austherapierte Patienten, die an aggressiven Varianten von Leukämie und Lymphomen erkrankt sind. Das Besondere an den neuen Präparaten sind den Studien zufolge die hohen Heilungschancen und der Umstand, dass sie nur einmal verabreicht werden müssen – und zwar im Krankenhaus. Dort können die möglichen schweren Nebenwirkungen intensivmedizinisch überwacht werden. Bei Kymriah® liegen die Therapiekosten, so steht es im Dossier des Herstellers Novartis, bei 380.800 Euro pro Patient. Hinzu kommen noch weitere Zusatzleistungen von bis zu 23.751 Euro.
Die beiden CAR-T-Zellpräparate gehören zu den Immunonkologika und werden von der Europäischen Arzneimittelagentur als Gentherapien eingestuft. Einer kürzlich veröffentlichten IGES-Studie zufolge wird die Zahl genetischer Therapien in den kommenden Jahren stark zunehmen. Viele von ihnen zeichneten sich durch eine Langwirksamkeit aus, konkret sollen 42 solcher (Einmal-)Therapien kurz vor der Marktreife stehen. Aufhorchen lassen hat der Hinweis aus der Studie, dass sich auch drei Gentherapien gegen Volkskrankheiten, wie etwa Arthrose, in der Entwicklung befinden. Damit verbunden wären ganz andere Dimensionen, sowohl was die Patientenzahlen als auch was die Kosten betrifft.
Gentherapie für Volkskrankheiten?
Skeptisch gegenüber solchen Prognosen zeigt sich auf der Forum-Veranstaltung Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung, Entwicklung und Innovation beim Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa). Er kommt anstelle der von IGES genannten über 40 kurz vor der Marktreife stehenden Therapien nur auf etwa die Hälfte. Für die Gentherapien zur Behandlung von peripherer arterieller Verschlusskrankheit, Herzinsuffizienz und Arthrose erwartet er in den nächsten Jahren keine Zulassung in Europa – und selbst wenn, würden dann nicht alle Arthrose-Patienten mit einer Gentherapie behandelt, „das ist einfach Unfug“, sagt er. Angesichts der hohen Kosten und starken Nebenwirkungen von Gentherapien stimmt ihm Dr. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband zu. Sie sagt aber auch: „Wenn Therapien machbar und verträglich werden, ändern sich die Indikationseinschätzungen.“
Wie Throm in seinem Vortrag darstellt, befanden sich 2017 hierzulande 26 Gentherapeutika in klinischen Studien, davon 19 in Phase III beziehungsweise Phase II/III. Bezogen auf CAR-T-Zelltherapieprojekte zählt der vfa-Vertreter fünf auf, die sich in den Prüfphasen I bis III befinden.
Was sind ATMP – Advanced Therapy Medicinal Products?
Gentherapien, wozu auch CAR-T-Zelltherapien gehören, machen nur eine Untergruppe der sogenannten Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP, aus. Zu den Arzneimitteln für neuartige Therapien gehören außerdem medizinische Produkte auf Basis von Zellen (Zelltherapie) und Geweben (Tissue Engineering). Eine „sehr heterogene Produktgruppe“, sagt Dr. Throm. Von 2009 bis September 2018 waren zwölf ATMP in Europa zugelassen, wobei in vier Fällen die Zulassung zurückgenommen wurde oder ausgelaufen ist. Ihm zufolge laufen derzeit vier Zulassungsanträge für neue ATMP (Stand: Dezember 2018).
RSA-Logik und politische Entscheidungen
Die IGES-Studie belässt es nicht bei einem Überblick zu gentherapeutischen Behandlungen, die Autoren empfehlen, das GKV-Erstattungs- und Finanzierungssystem an die neuen Entwicklungen anzupassen. Wie das konkret funktionieren könnte, wird auf der Forum-Veranstaltung diskutiert. Dabei geht es insbesondere um den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Dieser ist, wie der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem ausführt, auf chronische Erkrankungen mit kontinuierlichem Therapieverlauf ausgerichtet. Impulstherapien, bei denen anschließend eine längere Behandlungspause stattfindet oder gar keine Behandlung mehr erfolgt, brechen mit der Logik, dass chronische Erkrankungen kontinuierlich behandelt werden. Wasem stellt fest: „Therapien mit hohen Initialkosten und anschließender Nachbeobachtung gehen im aktuellen RSA mit negativen Anreizen für die Kassen im Vergleich zur Dauertherapie einher.“ Es sei eine politische Entscheidung, ob dieses Problem schwerwiegend genug sei, um dafür den Morbi-RSA zu verändern.
Risiko-Pool – „easy“ Lösung oder schlechteste Idee?
Eine solche Reform müsste dem Experten zufolge sowohl am prospektiven Charakter des RSA als auch bei den undifferenzierten Arzneimittelzuschlägen ansetzen. Als Alternative nennt der Ökonom ein Abschreibungsmodell, bei dem die hohen Initialkosten über ein mehrjähriges Zuweisungskonzept – über die „Abschreibungsdauer“ – ausgeglichen werden. Das sei zwar „theoretisch schick“, allerdings müssten auch dabei Modifikationen am prospektiven Modell vorgenommen werden. Außerdem erfordere jedes Medikament sein eigenes Modell hinsichtlich der jeweiligen Abschreibungsdauer. Als weitere Lösungsmöglichkeit hält Wasem die Wiedereinführung des Risikopools für „relativ easy“. Vor Einführung des Morbi-RSA wurden aus diesem gemeinschaftlichen Kassentopf 60 Prozent der Ausgaben für Versicherte finanziert, deren Kosten einen gewissen Schwellenwert überschritten. Für Dr. Ulf Maywald wäre dagegen die Einführung des Risikopools nach alter Couleur die „schlechteste Idee“. Chancen würden auf diese Weise privatisiert, Risiken dagegen sozialisiert, sagt der Geschäftsbereichsleiter Arznei- und Heilmittel der AOK Plus. Er stellt klar, dass für seltene Einmaltherapien gar keine Veränderungen nötig seien. CAR-T-Zelltherapien würden als Last-line-Therapie bei der Akuten Lymphatischen Leukämie zu „jedem“ Preis bezahlt. Der Knackpunkt sind für ihn Krankheiten, bei denen eine etablierte Standardtherapie existiere und die Gentherapie den Patienten für den x-fachen Preis „nur Convenience“ bringe.
Was passiert, wenn der Patient die Kasse wechselt?
Der AOK-Mann plädiert anstelle umfassender Morbi-RSA-Reformen für einen minimalinvasiven Ansatz: Ratenzahlung kombiniert mit Risk-Sharing. Letzteres löse das Problem, dass der Hersteller höhere Preisvorstellungen habe, als es die Zeit, für die er Effekte belegen kann, rechtfertige. Per Direktabrechnung zwischen Krankenkasse und pharmazeutischem Unternehmer könnte dieses Instrument bei der Therapieanwendung im Krankenhaus implementiert werden. Für die Kliniken, insbesondere kleine Häuser, entfalle dadurch das Liquiditätsrisiko, sie würden ferner von „Finanzdienstleistungen“ entlastet. Ebenso sprechen für die Kassen eine Reihe von Argumenten für diese Lösung, erläutert Maywald. Beispielsweise sei Risk-Share viel schwerer mit dem Hersteller zu erreichen, wenn der volle Preis am Tag eins gezahlt werde. Die Grenzen des Modells seien aber erreicht, wenn der Patient die Kasse wechselt. Dann stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit der Raten.
Haas: Verteilungsfairness organisieren
Auch Dr. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband beschäftigt sich in ihrem Vortrag mit den Herausforderungen von Erstattungsbeträgen „diskontinuierlicher Therapien“, wie sie es nennt. Bei Krankheiten, bei denen sehr schnell feststehe, ob es der Patient geschafft habe oder nicht, ist es für sie vorstellbar, den Erstattungsbetrag so schnell anzupassen, wie sich die Performance des Arzneimittels nachweisen lässt – also in kurzen Rhythmen. Dafür könnten sowohl Einzelpatientendaten als auch Kohortendaten zugrunde gelegt werden. Bei erfolgsabhängigen Raten macht die Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel auf Abgrenzungsprobleme aufmerksam: Der Todesfall könne auch unabhängig von der Grunderkrankung eintreten, zum Beispiel durch eine Infektion durch Immunsuppression. Grundsätzlich sei die Messung des Erfolgs weniger ein Problem als vielmehr die Zuordnung des Erfolgs beziehungsweise des Misserfolgs, denn gerade bei Gentherapien spiele das Komplikationsmanagement einen mitentscheidenden Faktor. Die Erfolgsmeldungen müssten so organisiert werden, dass sie in die Verhandlungen eingehen können. Nicht banal: Der Datenschutz ist dabei ebenfalls zu beachten. Grundsätzlich gehe es darum, meint Haas, Verteilungsfairness zu organisieren. „Wir stehen da noch sehr am Anfang und werden Lehrgeld bezahlen müssen.“
Hecken zu Qualitätsfragen und Zugangswegen
Qualitätsanforderungen für die Anwendung komplexer Gentherapien wie CAR-T-Telltherapien sollte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht per Einzelbeschluss festlegen. Dies habe vielmehr durch eine allgemeinverbindliche Richtlinie nach Paragraf 92 zu erfolgen. Dafür macht sich der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken stark. Sein Argument: Damit werde der Behandlungserfolg, der möglicherweise durch die Therapie eintrete, nicht durch handwerkliche Fehler zunichte gemacht. Außerdem könne so die Lücke von sechs Monaten, bis der G-BA-Beschluss vorliegt, vermieden werden. Werden ATMPs als Arzneimittel eingeordnet, durchlaufen sie die frühe Nutzenbewertung, dies ist bei einer Einordnung als Behandlungsmethode nicht der Fall. Bei Arzneimitteln steht der pharmazeutische Charakter im Vordergrund, bei Behandlungsmethoden die komplexe Verabreichungsmethode. Wenn es nach Hecken ginge, durchliefen alle ATMPs den AMNOG-Weg – als Ausweg aus der Diskussion: „Wann ist die Verabreichung von mindestens gleicher Signifikanz für einen erfolgreichen Therapieausgang wie die aktive Wirkungsweise und das Wirkprinzip des Produktes?“
Berlin (pag) – Einen sich verschärfenden Hochpreistrend prangert der neue Arzneiverordnungs-Report an. Bei dessen Vorstellung warnt Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, vor eklatanten Problemen in der Arzneimittelpolitik.
Exemplarisch für die immer höheren Preise neuer, patentgeschützter Arzneimittel nennt Litsch Brineura®, ein Mittel zur Behandlung einer Erbkrankheit bei Kindern, die das Gehirn schädigt, mit Jahrestherapiekosten von rund 750.000 Euro. Er erwähnt auch das Medikament Spinraza®, womit eine seltene neuro-muskuläre Erkrankung behandelt wird und das im ersten Jahr mit 622.000 Euro zu Buche schlägt. Das sei mit Blick auf die große Zahl neuer Produkte alarmierend. Aber wie gerechtfertigt sind solche Preise für Arzneimittel, die Leben verlängern und das Gesundheitssystem entlasten? Litsch sagt: „Die Frage, was kostet ein Menschenleben, wollen wir nicht stellen und schon gar nicht beantworten.“
Aus Sicht der pharmazeutischen Industrie bleiben die Arzneimittelausgaben angesichts rasant voranschreitender neuer Therapiemöglichkeiten maßvoll. Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen, weist darauf hin, dass die Arzneimittelausgaben weniger als ein Fünftel der gesamten Kassenausgaben ausmachten. Arzneimittel seien seit Jahren der Leistungsbereich mit den niedrigsten Ausgabenzuwächsen, im Schnitt 3,4 Prozent.
Unterdessen prognostiziert das IGES-Institut, dass die Zahl genetischer Therapien in den kommenden Jahren stark zunehmen werde. Diese eröffneten schwerkranken Patienten neue Behandlungsoptionen, könnten jedoch die Kassen unterschiedlich stark belasten. Empfohlen wird, das Erstattungs- und Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anzupassen.
Viele der Gentherapien zeichneten sich durch eine Langwirksamkeit aus, heißt es bei IGES. Derzeit seien drei langwirksame Gentherapien in der EU zugelassen. 42 weitere stehen kurz vor der Marktreife. Langwirksame Gentherapeutika müssen nur einmalig oder mehrmals mit anschließenden therapiefreien Jahren verabreicht werden. Kurzwirksame Gentherapien werden kontinuierlich gegeben.
Studienautor Fabian Berkemeier, Bereichsleiter Value & Access Strategy bei IGES, rechnet in den nächsten Jahren mit zahlreichen Markteinführungen sowie „signifikanten ökonomischen Herausforderungen für das GKV-System“. Diese gelte es frühzeitig zu adressieren und die bereits bestehenden Diskussionen über die Weiterentwicklung des Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) zu forcieren. Dem Institut zufolge sind die in der Studie identifizierten Erkrankungen aktuell im Morbi-RSA nicht oder nur ungenau abgebildet.
Die Prognose entstand im Auftrag des Unternehmens Merck.
Berlin (pag) – Krankenkassen setzen große Hoffnung darauf, mit Biosimilars Kosten zu senken. Acht bis 13 Prozent seien zu wenig, „20 bis 30 Prozent sollten es schon sein“, beziffert Bettina Piep von der AOK Nordost auf einer Veranstaltung von Pro Generika die Erwartungen an onkologische Biosimilars. Wie Ärzte und Patienten die Kostendiskussion und Umstellungen auf biologische Nachahmerprodukte erleben, berichtet dort Prof. Bernhard Wörmann.
Wörmann ist medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Klinische Onkologie. Er sagt: „Wir stehen massiv unter Druck.“ Damit meint er einzelne Krebsmediziner, die mittlerweile Präparate von 100.000 Euro pro Jahr verschreiben. Und er meint das gesamte Fachgebiet, das derzeit eine Flut neuer Medikamente erlebe: „Es gibt einen Wettbewerb um Geld, denn es gibt keine unbegrenzten Töpfe.“ Alles, was die Ärzte – auch in der öffentlichen Diskussion – entlaste, sei daher willkommen, namentlich Biosimilars, in die man große Hoffnungen setze.
Bei der Umstellung, dem Switch, vom Original-Biologika auf das Nachahmerprodukt spielt das Vertrauen eine entscheidende Rolle – sowohl bei Patienten als auch Ärzten. Letztere müssten mit der Datenbasis zufrieden sein, betont Wörmann. Er verweist auf Studien, die zwei Entitäten miteinschließen. In der Versorgungsrealität werde das Präparat allerdings bei zehn weiteren eingesetzt. Für Hersteller lohnten sich aufgrund der kleinen Populationen weitere Studien nicht. Vertrauen auf die Gleichwertigkeit des Biosimiliars, auch wenn dieses nicht speziell in dem Patientenkollektiv getestet wurde – diese Hürde gelte es bei Ärzten zu überwinden, erläutert der Experte. Zum Hintergrund: Wie Wörmann ausführt, werden neue Onkologika immer zielgerichteter bei kleinen Patientenpopulationen verwendet. Allerdings beschränke sich der Einsatz oft nicht auf eine Krankheit, viele Krebsmedikamente kommen bei mehreren Entitäten zum Einsatz, also bei Brust- und Darmkrebs beispielsweise.
Auch seitens der Patienten ist der Switch mitnichten ein Selbstläufer. „Patienten brauchen ein tiefes Vertrauen in das Arzneimittel“, sagt der Mediziner. Man müsse vor der Umstellung intensiv mit ihnen reden. Wichtig sei eine deutliche Motivation: „Der Patient versteht, dass der Preis des neuen Mittels gut für die Gesellschaft und das neue Mittel für ihn selbst kein Nachteil ist.“ Einsparungen von fünf Prozent, macht Wörmann klar, stellen keine ausreichende Motivation dar. Für den Betroffenen steht die eigene Erkrankungssituation im Vordergrund, aber: „Patienten wissen, was sie der Gesellschaft kosten.“ An die Betroffenheit eines finanziell gutsituierten Krebskranken, dessen Kreditkarte bei der Bezahlung des neuen Mittels in der Apotheke streikte, weil das Limit deutlich überschritten wurde, erinnert er sich noch genau.
Berlin (pag) – Irgendetwas hat sich in der Gesellschaft an der Einstellung zu Arzneimitteln geändert, beobachtet Dr. Andreas Kiefer, Präsident der Bundesapothekerkammer. Die Nachfrage nach leistungssteigernden Medikamenten und Arzneimitteln, die Lebenssituationen verbessern, sei deutlich gestiegen. Den Zwang zur Selbstoptimierung hinterfragt er auf einem Symposium der Kammer zu Arzneimittelmissbrauch.
Auf der Veranstaltung wird eine aktuelle forsa-Befragung von 5.000 Bundesbürgern zwischen 16 und 70 Jahren präsentiert. Demnach akzeptiert fast die Hälfte (43 Prozent) den Missbrauch von Medikamenten. 17 Prozent haben verschreibungspflichtige Arzneimittel schon einmal ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen, um ihr persönliches Wohlbefinden zu verbessern. Für weitere 26 Prozent der Befragten wäre das akzeptabel. Wichtigster Grund für die Einnahme der Medikamente ist der Umfrage zufolge die Stimmungsverbesserung oder die Reduzierung von Nervosität beziehungsweise Angst. 13 Prozent der Befragten haben aus diesem Grund schon mal zu rezeptpflichtigen Medikamenten gegriffen. Für weitere 20 Prozent käme dies grundsätzlich infrage. Die Steigerung von Konzentration und anderer geistiger Leistungen war für fünf Prozent der Grund, schon einmal ein rezeptpflichtiges Medikament ohne medizinische Notwendigkeit einzunehmen. Für weitere 22 Prozent ist dies eine Option.
Der Koblenzer Apotheker Kiefer stellt klar: „Die paradiesische Vorstellung, wir könnten jede Herausforderung des Lebens durch das Beeinflussen der Körperfunktionen mit Pharmaka meistern – das wird nicht funktionieren.“ Er hat den Eindruck, dass sich die kritische Sicht, Körperfunktionen mit Arzneistoffen zu beeinflussen, durch eine „Alles-ist-möglich“-Mentalität geändert habe. In seinem Vortrag fragt er: Gibt es einen Zwang zur Selbstoptimierung? Und wenn dem so wäre, müsste man Fragen der sozialen Gerechtigkeit mitdenken? Kiefer verweist darauf, dass Lifestyle-Arzneimittel keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung seien. Werden jene, die sich solche Mittel finanziell nicht leisten können, noch stärker abgehängt?
Der Pharmazeut betont außerdem, dass es sich bei Arzneimitteln um Waren der besonderen Art handele. Sie seien keine Verbrauchsgüter und würden daher nicht den klassischen Marktregeln unterliegen. Apotheken und Verschreibungspflicht seien keine Schikane, kein Hemmnis des schnellen Abverkaufs, sondern ein Schutzzaun für die Anwender.
Berlin (pag) – Die von der Europäischen Kommission geplante Vereinheitlichung der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel und bestimmter Medizinprodukte sorgt weiterhin für Wirbel. Die Bundestagsabgeordneten lehnen das einstimmig ab und erteilen der EU eine sogenannte Subsidiaritätsrüge. Die Grundsatzfrage, die hinter der ganzen Debatte steckt, lautet: „Wie viel Europa verträgt unser Gesundheitswesen?“
Mit dieser Frage hat sich kürzlich auch die Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen (GRPG) auseinandergesetzt. Auf der Veranstaltung bekennt der Gesundheitsökonom Prof. Volker Ulrich, Universität Bayreuth, dass er eine Harmonisierung der Nutzenbewertung grundsätzlich für keine schlechte Idee hält, allerdings seien die HTA-Prozesse in Europa sehr heterogen. Beispiel Bewertungsperspektive: „Geht es ausschließlich um den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder ist es eine gesamtgesellschaftliche Perspektive?“ In Deutschland liege der Fokus auf der GKV. Es fehle außerdem eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft zu berechnen und den Zusatznutzen zu monetarisieren. „Da hinken wir etwas hinterher“, sagt Ulrich. Während England, Holland und Schweden eine stark gesundheitsökonomische Ausrichtung hätten, orientierten sich Frankreich und Deutschland mehr an medizinisch relevanten Ergebnissen. Ein weiterer Unterschied sei, dass die Arzneimittel in Deutschland mit der Marktzulassung direkt verordnungsfähig sind, in England erst nach der Bewertung durch das NICE.
Nutzenbewertungen im internationalen Vergleich
Bei einem Vergleich der deutschen Nutzenbewertungen mit Beschlüssen aus England und Australien habe sich gezeigt, dass die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses zu 53 Prozent mit denen des englischen NICE und zu 70 Prozent mit den aus-tralischen Bewertungen übereinstimmten. „Jede zweite Bewertung bei uns in Deutschland kommt zu anderen Schlüssen.“ Die Unterschiede beruhten auf differierenden Endpunkten und Surrogatparametern sowie verschiedenen Vergleichstherapien. Die deutsche Bewertungspraxis sei relativ streng, so Ulrich.
Unterdessen haben das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) und der Verein zur Förderung der Technologiebewertung im Gesundheitswesen (HTA.de) an die Bundesregierung appelliert, ihren Einfluss dahingehend geltend zu machen, dass die Bewertungskompetenz bei den Mitgliedsstaaten bleibe, diese aber gleichwohl die Ergebnisse der zentralisierten HTA-Berichte bei Bedarf übernehmen können. Grundsätzlich begrüßen sie eine verstärkte europaweite HTA-Kooperation, eine verpflichtend zu berücksichtigende Nutzenbewertung lehnen sie ab.