Neue Therapieprinzipen – altes System

Über die Notwendigkeit innovativer Finanzierungsmodalitäten

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Berlin (pag) – Die neuen CAR-T-Zelltherapien gelten als neuer Meilenstein in der Krebsbehandlung. Kann die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) dieses Tempo mitgehen? Das diskutieren Experten kürzlich auf einer Veranstaltung des Forum Instituts. Fest steht: Das System muss sich auf die Modalitäten neuer Therapieprinzipen einstellen.

Von einer neuen Ära der Krebsmedizin ist die Rede, als die beiden ersten CAR-T-Zelltherapien im vergangenen Jahr in Europa zugelassen werden. Kymriah® und Yescarta® heißen sie. Für die Therapie kommen etwa 1.400 bis 1.600 Blutkrebspatienten pro Jahr in Betracht, heißt es seitens der Krankenkassen. Konkret geht es um austherapierte Patienten, die an aggressiven Varianten von Leukämie und Lymphomen erkrankt sind. Das Besondere an den neuen Präparaten sind den Studien zufolge die hohen Heilungschancen und der Umstand, dass sie nur einmal verabreicht werden müssen – und zwar im Krankenhaus. Dort können die möglichen schweren Nebenwirkungen intensivmedizinisch überwacht werden. Bei Kymriah® liegen die Therapiekosten, so steht es im Dossier des Herstellers Novartis, bei 380.800 Euro pro Patient. Hinzu kommen noch weitere Zusatzleistungen von bis zu 23.751 Euro.

Kymriah® – eine der neuen CAR-T-Zelltherapien. Das Besondere: Das Arzneimittel muss nur einmal verabreicht werden bei gleichzeitig hohen Heilungschancen. Die Therapiekosten, so steht es im Dossier des Herstellers Novartis, liegen bei 380.800 Euro pro Patient. © Novartis
Kymriah® – eine der neuen CAR-T-Zelltherapien. Das Besondere: Das Arzneimittel muss nur einmal verabreicht werden bei gleichzeitig hohen Heilungschancen. Die Therapiekosten, so steht es im Dossier des Herstellers Novartis, liegen bei 380.800 Euro pro Patient. © Novartis

Die beiden CAR-T-Zellpräparate gehören zu den Immunonkologika und werden von der Europäischen Arzneimittelagentur als Gentherapien eingestuft. Einer kürzlich veröffentlichten IGES-Studie zufolge wird die Zahl genetischer Therapien in den kommenden Jahren stark zunehmen. Viele von ihnen zeichneten sich durch eine Langwirksamkeit aus, konkret sollen 42 solcher (Einmal-)Therapien kurz vor der Marktreife stehen. Aufhorchen lassen hat der Hinweis aus der Studie, dass sich auch drei Gentherapien gegen Volkskrankheiten, wie etwa Arthrose, in der Entwicklung befinden. Damit verbunden wären ganz andere Dimensionen, sowohl was die Patientenzahlen als auch was die Kosten betrifft.

Gentherapie für Volkskrankheiten?

Skeptisch gegenüber solchen Prognosen zeigt sich auf der Forum-Veranstaltung Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung, Entwicklung und Innovation beim Verband forschender Pharma-Unternehmen (vfa). Er kommt anstelle der von IGES genannten über 40 kurz vor der Marktreife stehenden Therapien nur auf etwa die Hälfte. Für die Gentherapien zur Behandlung von peripherer arterieller Verschlusskrankheit, Herzinsuffizienz und Arthrose erwartet er in den nächsten Jahren keine Zulassung in Europa – und selbst wenn, würden dann nicht alle Arthrose-Patienten mit einer Gentherapie behandelt, „das ist einfach Unfug“, sagt er. Angesichts der hohen Kosten und starken Nebenwirkungen von Gentherapien stimmt ihm Dr. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband zu. Sie sagt aber auch: „Wenn Therapien machbar und verträglich werden, ändern sich die Indikationseinschätzungen.“
Wie Throm in seinem Vortrag darstellt, befanden sich 2017 hierzulande 26 Gentherapeutika in klinischen Studien, davon 19 in Phase III beziehungsweise Phase II/III. Bezogen auf CAR-T-Zelltherapieprojekte zählt der vfa-Vertreter fünf auf, die sich in den Prüfphasen I bis III befinden.

Gentherapien gegen Volkskrankheiten? Throm erwartet vorerst keine Zulassungen in Europa. © pag, Maybaum

Was sind ATMP – Advanced Therapy Medicinal Products?
Gentherapien, wozu auch CAR-T-Zelltherapien gehören, machen nur eine Untergruppe der sogenannten Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP, aus. Zu den Arzneimitteln für neuartige Therapien gehören außerdem medizinische Produkte auf Basis von Zellen (Zelltherapie) und Geweben (Tissue Engineering). Eine „sehr heterogene Produktgruppe“, sagt Dr. Throm. Von 2009 bis September 2018 waren zwölf ATMP in Europa zugelassen, wobei in vier Fällen die Zulassung zurückgenommen wurde oder ausgelaufen ist. Ihm zufolge laufen derzeit vier Zulassungsanträge für neue ATMP (Stand: Dezember 2018).

 

RSA-Logik und politische Entscheidungen

Die IGES-Studie belässt es nicht bei einem Überblick zu gentherapeutischen Behandlungen, die Autoren empfehlen, das GKV-Erstattungs- und Finanzierungssystem an die neuen Entwicklungen anzupassen. Wie das konkret funktionieren könnte, wird auf der Forum-Veranstaltung diskutiert. Dabei geht es insbesondere um den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Dieser ist, wie der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem ausführt, auf chronische Erkrankungen mit kontinuierlichem Therapieverlauf ausgerichtet. Impulstherapien, bei denen anschließend eine längere Behandlungspause stattfindet oder gar keine Behandlung mehr erfolgt, brechen mit der Logik, dass chronische Erkrankungen kontinuierlich behandelt werden. Wasem stellt fest: „Therapien mit hohen Initialkosten und anschließender Nachbeobachtung gehen im aktuellen RSA mit negativen Anreizen für die Kassen im Vergleich zur Dauertherapie einher.“ Es sei eine politische Entscheidung, ob dieses Problem schwerwiegend genug sei, um dafür den Morbi-RSA zu verändern.

Risiko-Pool – „easy“ Lösung oder schlechteste Idee?

Eine solche Reform müsste dem Experten zufolge sowohl am prospektiven Charakter des RSA als auch bei den undifferenzierten Arzneimittelzuschlägen ansetzen. Als Alternative nennt der Ökonom ein Abschreibungsmodell, bei dem die hohen Initialkosten über ein mehrjähriges Zuweisungskonzept – über die „Abschreibungsdauer“ – ausgeglichen werden. Das sei zwar „theoretisch schick“, allerdings müssten auch dabei Modifikationen am prospektiven Modell vorgenommen werden. Außerdem erfordere jedes Medikament sein eigenes Modell hinsichtlich der jeweiligen Abschreibungsdauer. Als weitere Lösungsmöglichkeit hält Wasem die Wiedereinführung des Risikopools für „relativ easy“. Vor Einführung des Morbi-RSA wurden aus diesem gemeinschaftlichen Kassentopf 60 Prozent der Ausgaben für Versicherte finanziert, deren Kosten einen gewissen Schwellenwert überschritten. Für Dr. Ulf Maywald wäre dagegen die Einführung des Risikopools nach alter Couleur die „schlechteste Idee“. Chancen würden auf diese Weise privatisiert, Risiken dagegen sozialisiert, sagt der Geschäftsbereichsleiter Arznei- und Heilmittel der AOK Plus. Er stellt klar, dass für seltene Einmaltherapien gar keine Veränderungen nötig seien. CAR-T-Zelltherapien würden als Last-line-Therapie bei der Akuten Lymphatischen Leukämie zu „jedem“ Preis bezahlt. Der Knackpunkt sind für ihn Krankheiten, bei denen eine etablierte Standardtherapie existiere und die Gentherapie den Patienten für den x-fachen Preis „nur Convenience“ bringe.

Was passiert, wenn der Patient die Kasse wechselt?

Der AOK-Mann plädiert anstelle umfassender Morbi-RSA-Reformen für einen minimalinvasiven Ansatz: Ratenzahlung kombiniert mit Risk-Sharing. Letzteres löse das Problem, dass der Hersteller höhere Preisvorstellungen habe, als es die Zeit, für die er Effekte belegen kann, rechtfertige. Per Direktabrechnung zwischen Krankenkasse und pharmazeutischem Unternehmer könnte dieses Instrument bei der Therapieanwendung im Krankenhaus implementiert werden. Für die Kliniken, insbesondere kleine Häuser, entfalle dadurch das Liquiditätsrisiko, sie würden ferner von „Finanzdienstleistungen“ entlastet. Ebenso sprechen für die Kassen eine Reihe von Argumenten für diese Lösung, erläutert Maywald. Beispielsweise sei Risk-Share viel schwerer mit dem Hersteller zu erreichen, wenn der volle Preis am Tag eins gezahlt werde. Die Grenzen des Modells seien aber erreicht, wenn der Patient die Kasse wechselt. Dann stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit der Raten.

Haas: Verteilungsfairness organisieren

Auch Dr. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband beschäftigt sich in ihrem Vortrag mit den Herausforderungen von Erstattungsbeträgen „diskontinuierlicher Therapien“, wie sie es nennt. Bei Krankheiten, bei denen sehr schnell feststehe, ob es der Patient geschafft habe oder nicht, ist es für sie vorstellbar, den Erstattungsbetrag so schnell anzupassen, wie sich die Performance des Arzneimittels nachweisen lässt – also in kurzen Rhythmen. Dafür könnten sowohl Einzelpatientendaten als auch Kohortendaten zugrunde gelegt werden. Bei erfolgsabhängigen Raten macht die Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel auf Abgrenzungsprobleme aufmerksam: Der Todesfall könne auch unabhängig von der Grunderkrankung eintreten, zum Beispiel durch eine Infektion durch Immunsuppression. Grundsätzlich sei die Messung des Erfolgs weniger ein Problem als vielmehr die Zuordnung des Erfolgs beziehungsweise des Misserfolgs, denn gerade bei Gentherapien spiele das Komplikationsmanagement einen mitentscheidenden Faktor. Die Erfolgsmeldungen müssten so organisiert werden, dass sie in die Verhandlungen eingehen können. Nicht banal: Der Datenschutz ist dabei ebenfalls zu beachten. Grundsätzlich gehe es darum, meint Haas, Verteilungsfairness zu organisieren. „Wir stehen da noch sehr am Anfang und werden Lehrgeld bezahlen müssen.“

 

Behandlungserfolg nicht durch handwerkliche Fehler zunichte machen, warnt Josef Hecken. © pag, Fiolka

Hecken zu Qualitätsfragen und Zugangswegen
Qualitätsanforderungen für die Anwendung komplexer Gentherapien wie CAR-T-Telltherapien sollte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht per Einzelbeschluss festlegen. Dies habe vielmehr durch eine allgemeinverbindliche Richtlinie nach Paragraf 92 zu erfolgen. Dafür macht sich der unparteiische G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken stark. Sein Argument: Damit werde der Behandlungserfolg, der möglicherweise durch die Therapie eintrete, nicht durch handwerkliche Fehler zunichte gemacht. Außerdem könne so die Lücke von sechs Monaten, bis der G-BA-Beschluss vorliegt, vermieden werden. Werden ATMPs als Arzneimittel eingeordnet, durchlaufen sie die frühe Nutzenbewertung, dies ist bei einer Einordnung als Behandlungsmethode nicht der Fall. Bei Arzneimitteln steht der pharmazeutische Charakter im Vordergrund, bei Behandlungsmethoden die komplexe Verabreichungsmethode. Wenn es nach Hecken ginge, durchliefen alle ATMPs den AMNOG-Weg – als Ausweg aus der Diskussion: „Wann ist die Verabreichung von mindestens gleicher Signifikanz für einen erfolgreichen Therapieausgang wie die aktive Wirkungsweise und das Wirkprinzip des Produktes?“

Hochpreistrend oder maßvolle Arzneimittelausgaben?

Berlin (pag) – Einen sich verschärfenden Hochpreistrend prangert der neue Arzneiverordnungs-Report an. Bei dessen Vorstellung warnt Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, vor eklatanten Problemen in der Arzneimittelpolitik.

Exemplarisch für die immer höheren Preise neuer, patentgeschützter Arzneimittel nennt Litsch Brineura®, ein Mittel zur Behandlung einer Erbkrankheit bei Kindern, die das Gehirn schädigt, mit Jahrestherapiekosten von rund 750.000 Euro. Er erwähnt auch das Medikament Spinraza®, womit eine seltene neuro-muskuläre Erkrankung behandelt wird und das im ersten Jahr mit 622.000 Euro zu Buche schlägt. Das sei mit Blick auf die große Zahl neuer Produkte alarmierend. Aber wie gerechtfertigt sind solche Preise für Arzneimittel, die Leben verlängern und das Gesundheitssystem entlasten? Litsch sagt: „Die Frage, was kostet ein Menschenleben, wollen wir nicht stellen und schon gar nicht beantworten.“

Aus Sicht der pharmazeutischen Industrie bleiben die Arzneimittelausgaben angesichts rasant voranschreitender neuer Therapiemöglichkeiten maßvoll. Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen, weist darauf hin, dass die Arzneimittelausgaben weniger als ein Fünftel der gesamten Kassenausgaben ausmachten. Arzneimittel seien seit Jahren der Leistungsbereich mit den niedrigsten Ausgabenzuwächsen, im Schnitt 3,4 Prozent.

Unterdessen prognostiziert das IGES-Institut, dass die Zahl genetischer Therapien in den kommenden Jahren stark zunehmen werde. Diese eröffneten schwerkranken Patienten neue Behandlungsoptionen, könnten jedoch die Kassen unterschiedlich stark belasten. Empfohlen wird, das Erstattungs- und Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anzupassen.

 

© BioMarin Deutschland GmbH • pogonici, Fotolia.com • Montage: pag, Anna Fiolka
© BioMarin Deutschland GmbH • pogonici, Fotolia.com • Montage: pag, Anna Fiolka

Ökonomische Herausforderungen durch Gentherapien

Viele der Gentherapien zeichneten sich durch eine Langwirksamkeit aus, heißt es bei IGES. Derzeit seien drei langwirksame Gentherapien in der EU zugelassen. 42 weitere stehen kurz vor der Marktreife. Langwirksame Gentherapeutika müssen nur einmalig oder mehrmals mit anschließenden therapiefreien Jahren verabreicht werden. Kurzwirksame Gentherapien werden kontinuierlich gegeben.

Studienautor Fabian Berkemeier, Bereichsleiter Value & Access Strategy bei IGES, rechnet in den nächsten Jahren mit zahlreichen Markteinführungen sowie „signifikanten ökonomischen Herausforderungen für das GKV-System“. Diese gelte es frühzeitig zu adressieren und die bereits bestehenden Diskussionen über die Weiterentwicklung des Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) zu forcieren. Dem Institut zufolge sind die in der Studie identifizierten Erkrankungen aktuell im Morbi-RSA nicht oder nur ungenau abgebildet.

Die Prognose entstand im Auftrag des Unternehmens Merck.

„Patienten wissen, was sie der Gesellschaft kosten“

Berlin (pag) – Krankenkassen setzen große Hoffnung darauf, mit Biosimilars Kosten zu senken. Acht bis 13 Prozent seien zu wenig, „20 bis 30 Prozent sollten es schon sein“, beziffert Bettina Piep von der AOK Nordost auf einer Veranstaltung von Pro Generika die Erwartungen an onkologische Biosimilars. Wie Ärzte und Patienten die Kostendiskussion und Umstellungen auf biologische Nachahmerprodukte erleben, berichtet dort Prof. Bernhard Wörmann.

Wörmann ist medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Klinische Onkologie. Er sagt: „Wir stehen massiv unter Druck.“ Damit meint er einzelne Krebsmediziner, die mittlerweile Präparate von 100.000 Euro pro Jahr verschreiben. Und er meint das gesamte Fachgebiet, das derzeit eine Flut neuer Medikamente erlebe: „Es gibt einen Wettbewerb um Geld, denn es gibt keine unbegrenzten Töpfe.“ Alles, was die Ärzte – auch in der öffentlichen Diskussion – entlaste, sei daher willkommen, namentlich Biosimilars, in die man große Hoffnungen setze.

"Wir stehen massiv unter Druck", sagt Bernhard Wörmann, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Klinische Onkologie. © pag, Fiolka
„Wir stehen massiv unter Druck“, sagt Bernhard Wörmann, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Klinische Onkologie. © pag, Fiolka

Bei der Umstellung, dem Switch, vom Original-Biologika auf das Nachahmerprodukt spielt das Vertrauen eine entscheidende Rolle – sowohl bei Patienten als auch Ärzten. Letztere müssten mit der Datenbasis zufrieden sein, betont Wörmann. Er verweist auf Studien, die zwei Entitäten miteinschließen. In der Versorgungsrealität werde das Präparat allerdings bei zehn weiteren eingesetzt. Für Hersteller lohnten sich aufgrund der kleinen Populationen weitere Studien nicht. Vertrauen auf die Gleichwertigkeit des Biosimiliars, auch wenn dieses nicht speziell in dem Patientenkollektiv getestet wurde – diese Hürde gelte es bei Ärzten zu überwinden, erläutert der Experte. Zum Hintergrund: Wie Wörmann ausführt, werden neue Onkologika immer zielgerichteter bei kleinen Patientenpopulationen verwendet. Allerdings beschränke sich der Einsatz oft nicht auf eine Krankheit, viele Krebsmedikamente kommen bei mehreren Entitäten zum Einsatz, also bei Brust- und Darmkrebs beispielsweise.

Auch seitens der Patienten ist der Switch mitnichten ein Selbstläufer. „Patienten brauchen ein tiefes Vertrauen in das Arzneimittel“, sagt der Mediziner. Man müsse vor der Umstellung intensiv mit ihnen reden. Wichtig sei eine deutliche Motivation: „Der Patient versteht, dass der Preis des neuen Mittels gut für die Gesellschaft und das neue Mittel für ihn selbst kein Nachteil ist.“ Einsparungen von fünf Prozent, macht Wörmann klar, stellen keine ausreichende Motivation dar. Für den Betroffenen steht die eigene Erkrankungssituation im Vordergrund, aber: „Patienten wissen, was sie der Gesellschaft kosten.“ An die Betroffenheit eines finanziell gutsituierten Krebskranken, dessen Kreditkarte bei der Bezahlung des neuen Mittels in der Apotheke streikte, weil das Limit deutlich überschritten wurde, erinnert er sich noch genau.

Waren der besonderen Art

Berlin (pag) – Irgendetwas hat sich in der Gesellschaft an der Einstellung zu Arzneimitteln geändert, beobachtet Dr. Andreas Kiefer, Präsident der Bundesapothekerkammer. Die Nachfrage nach leistungssteigernden Medikamenten und Arzneimitteln, die Lebenssituationen verbessern, sei deutlich gestiegen. Den Zwang zur Selbstoptimierung hinterfragt er auf einem Symposium der Kammer zu Arzneimittelmissbrauch.

Auf der Veranstaltung wird eine aktuelle forsa-Befragung von 5.000 Bundesbürgern zwischen 16 und 70 Jahren präsentiert. Demnach akzeptiert fast die Hälfte (43 Prozent) den Missbrauch von Medikamenten. 17 Prozent haben verschreibungspflichtige Arzneimittel schon einmal ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen, um ihr persönliches Wohlbefinden zu verbessern. Für weitere 26 Prozent der Befragten wäre das akzeptabel. Wichtigster Grund für die Einnahme der Medikamente ist der Umfrage zufolge die Stimmungsverbesserung oder die Reduzierung von Nervosität beziehungsweise Angst. 13 Prozent der Befragten haben aus diesem Grund schon mal zu rezeptpflichtigen Medikamenten gegriffen. Für weitere 20 Prozent käme dies grundsätzlich infrage. Die Steigerung von Konzentration und anderer geistiger Leistungen war für fünf Prozent der Grund, schon einmal ein rezeptpflichtiges Medikament ohne medizinische Notwendigkeit einzunehmen. Für weitere 22 Prozent ist dies eine Option.

Die „Alles-ist-möglich“-Mentalität

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Der Koblenzer Apotheker Kiefer stellt klar: „Die paradiesische Vorstellung, wir könnten jede Herausforderung des Lebens durch das Beeinflussen der Körperfunktionen mit Pharmaka meistern – das wird nicht funktionieren.“ Er hat den Eindruck, dass sich die kritische Sicht, Körperfunktionen mit Arzneistoffen zu beeinflussen, durch eine „Alles-ist-möglich“-Mentalität geändert habe. In seinem Vortrag fragt er: Gibt es einen Zwang zur Selbstoptimierung? Und wenn dem so wäre, müsste man Fragen der sozialen Gerechtigkeit mitdenken? Kiefer verweist darauf, dass Lifestyle-Arzneimittel keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung seien. Werden jene, die sich solche Mittel finanziell nicht leisten können, noch stärker abgehängt?
Der Pharmazeut betont außerdem, dass es sich bei Arzneimitteln um Waren der besonderen Art handele. Sie seien keine Verbrauchsgüter und würden daher nicht den klassischen Marktregeln unterliegen. Apotheken und Verschreibungspflicht seien keine Schikane, kein Hemmnis des schnellen Abverkaufs, sondern ein Schutzzaun für die Anwender.

Europäische HTA-Bewertung: Eine für alle?

Berlin (pag) – Die von der Europäischen Kommission geplante Vereinheitlichung der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel und bestimmter Medizinprodukte sorgt weiterhin für Wirbel. Die Bundestagsabgeordneten lehnen das einstimmig ab und erteilen der EU eine sogenannte Subsidiaritätsrüge. Die Grundsatzfrage, die hinter der ganzen Debatte steckt, lautet: „Wie viel Europa verträgt unser Gesundheitswesen?“

Eine Harmonisierung der Nutzenbewertung hält Prof. Volker Ulrich grundsätzlich für keine schlechte Idee. © pag, Fiolka

Mit dieser Frage hat sich kürzlich auch die Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen (GRPG) auseinandergesetzt. Auf der Veranstaltung bekennt der Gesundheitsökonom Prof. Volker Ulrich, Universität Bayreuth, dass er eine Harmonisierung der Nutzenbewertung grundsätzlich für keine schlechte Idee hält, allerdings seien die HTA-Prozesse in Europa sehr heterogen. Beispiel Bewertungsperspektive: „Geht es ausschließlich um den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder ist es eine gesamtgesellschaftliche Perspektive?“ In Deutschland liege der Fokus auf der GKV. Es fehle außerdem eine Möglichkeit, die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft zu berechnen und den Zusatznutzen zu monetarisieren. „Da hinken wir etwas hinterher“, sagt Ulrich. Während England, Holland und Schweden eine stark gesundheitsökonomische Ausrichtung hätten, orientierten sich Frankreich und Deutschland mehr an medizinisch relevanten Ergebnissen. Ein weiterer Unterschied sei, dass die Arzneimittel in Deutschland mit der Marktzulassung direkt verordnungsfähig sind, in England erst nach der Bewertung durch das NICE.

Nutzenbewertungen im internationalen Vergleich

Bei einem Vergleich der deutschen Nutzenbewertungen mit Beschlüssen aus England und Australien habe sich gezeigt, dass die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses zu 53 Prozent mit denen des englischen NICE und zu 70 Prozent mit den aus-tralischen Bewertungen übereinstimmten. „Jede zweite Bewertung bei uns in Deutschland kommt zu anderen Schlüssen.“ Die Unterschiede beruhten auf differierenden Endpunkten und Surrogatparametern sowie verschiedenen Vergleichstherapien. Die deutsche Bewertungspraxis sei relativ streng, so Ulrich.

Unterdessen haben das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) und der Verein zur Förderung der Technologiebewertung im Gesundheitswesen (HTA.de) an die Bundesregierung appelliert, ihren Einfluss dahingehend geltend zu machen, dass die Bewertungskompetenz bei den Mitgliedsstaaten bleibe, diese aber gleichwohl die Ergebnisse der zentralisierten HTA-Berichte bei Bedarf übernehmen können. Grundsätzlich begrüßen sie eine verstärkte europaweite HTA-Kooperation, eine verpflichtend zu berücksichtigende Nutzenbewertung lehnen sie ab.

Weiterführender Link:
Zum Verordnungsentwurf der EU: https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/technology_assessment/docs/com2018_51final_en.pdf

Evidenz- oder Kostengrenze für medizinischen Fortschritt?

Berlin (pag) – Am Beispiel des metastasierten Brustkrebses deklinieren Experten kürzlich auf einer Tagung von IGES und Novartis den Umgang mit Innovationen und Probleme der frühen Nutzenbewertung durch. Über Evidenzgrenzen, Unsicherheit und die Deutungshoheit.

Mehr Patientinnen sollten in zertifizierten Zentren behandelt werden. Dafür macht sich Christoph J. Rupprecht von der AOK Rheinland/Hamburg stark. Solche spezialisierten Zentren böten die beste Voraussetzung für die Einführung von Innovationen, denn Rupprecht will einen „qualitätsgesicherten“ und keinen „willkürlichen Fortschritt“. Mit Prof. Stephan Schmitz, Vorsitzender des Bundesverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland, ist der Kassenvertreter insofern auf einer Linie, als dass sich auch der Arzt für einen strukturierten Erkenntnisgewinn nach der Zulassung ausspricht – „aber ohne Rationierung“, wie Schmitz betont. Allerdings rede man bereits seit vielen Jahren über das Thema, passiert sei fast nichts. Er kritisiert auch, dass die frühe Nutzenbewertung missbraucht werde, um den Stand des medizinischen Wissens zu definieren. Die Berichte des AMNOG-Verfahrens seien zwar hilfreich, aber nicht die endgültige Meinung. Es müsse den medizinischen Fachgesellschaften überlassen werden, den aktuellen Wissensstand festzulegen, ansonsten drohe eine „Medizin nach Kassenlage“, warnt der Onkologe.

„Kannibalisierung von Indikationen“

Demgegenüber betont Thomas Müller, Abteilungsleiter Arzneimittel beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dass hierzulande keine Rationierung aus Kostengründen stattfinde. Allerdings werde eine strenge Nutzenbewertung praktiziert – also eine Evidenz- anstelle einer Kostengrenze. Die Onkologie beschreibt Müller als sehr dynamisches Feld, bei dem sehr viel Geld im System sei. Als Nebenwirkung dessen sieht er eine „Kannibalisierung von Indikationen“.
Der G-BA-Vertreter weist darauf hin, dass das Gesundheitssystem stark an einer Explosion der Einstiegspreise neuer Arzneimittel – ausdrücklich nicht der Ausgaben insgesamt – knabbere: „Die Onkologie ist da sehr präsent.“ Müller mahnt daher Rationalität in der Preisfindung an.
Ein weiteres Thema auf der Tagung ist der Stellenwert des Endpunktes Progressionsfreies Überleben (Progression Free Survival, PFS) – auch im G-BA gibt es Müller zufolge darüber kontroverse Diskussionen. Letztlich gehe es um die Unsicherheit, wie man ein Surrogat werte, meint er. „Und die Akzeptanz von Unsicherheit ist in einem solidarischen System nicht sehr ausgeprägt.“ Holger Bless, Bereichsleiter HTA & Value Strategy bei IGES, weist indes darauf hin, dass Deutschland als einziges Land mit einer HTA-Behörde PFS als patientenrelevanten Outcome-Parameter explizit ablehne. Die Brisanz bestehe insbesondere darin, dass das Urteil „kein Zusatznutzen“ erhebliche Auswirkungen auf die Versorgung haben könne, erläutert er mit Blick auf die seit 2011 nutzenbewerteten Antidiabetika. Fast die Hälfte davon seien nicht mehr im deutschen Markt verfügbar. „Mit zunehmender Einführung von Erstlinien-Onkologika könnten sich ähnliche Auswirkungen auf die Versorgung ergeben“, warnt er.

 

Wo liegen die Grenzen des medizinischen Fortschritts: Was ist für die Solidargemeinschaft noch bezahlbar – und was nicht? © iStock, Mark Kostich

Was ist der Gesellschaft der Zusatznutzen wert?

Prof. Jürgen Wasem vermisst Leitplanken für Zahlungsbereitschaft

Berlin (pag) – Allenfalls ein gelegentliches Fine-Tuning steht beim AMNOG-Verfahren an. Diese Lesart, bevorzugt von Politik und maßgeblichen Akteuren des Gesundheitswesens, klammert unangenehme Fragen aus – etwa nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft und möglichen Legitimationsdefiziten. Im Interview spricht der Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle, Prof. Jürgen Wasem, heikle Punkte des Verfahrens an.

Prof. Jürgen Wasem © pag, Fiolka

ZUR PERSON
Prof. Jürgen Wasem ist Vorsitzender der sogenannten „AMNOG-Schiedsstelle“. Diese wird angerufen, wenn sich Hersteller und GKV-Spitzenverband nach der frühen Nutzenbewertung nicht auf einen Erstattungsbetrag für das neue Arzneimittel einigen können. Der Gesundheitsökonom von der Universität Duisberg-Essen ist darüber hinaus ein gefragter Mann im Gesundheitswesen: Er gehört unter anderem dem wissenschaftlichen Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs an und ist unparteiischer Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses für die vertragsärztliche Versorgung in der GKV.

 

Ob sich ein Pharmaunternehmen dafür entscheidet, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, hängt maßgeblich vom Spruch der Schiedsstelle ab. Damit entscheiden Sie als Vorsitzender indirekt, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Sind Sie dafür ausreichend legitimiert?

Wasem: Die Frage ist berechtigt, weil die Legitimation eine sehr indirekte ist. Man kann argumentieren, dass der Gesetzgeber, der die Schiedsstelle implementiert hat, demokratisch legitimiert ist – und insofern ist es auch die Schiedsstelle. Vergleichbar ist dies mit der Frage nach der ausreichenden demokratischen Legitimierung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Es gibt Konstellationen, bei denen ich mich wirklich frage, ob ich ausreichend legitimiert bin, eine solche Entscheidung zu treffen. Nämlich wenn ich nicht der Forderung des Herstellers hinreichend nachgebe und das Arzneimittel deshalb vom Markt geht. Ich wünsche mir stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.

Also eine gesellschaftliche Debatte?

Wasem: Richtig, wir brauchen eine gesellschaftliche geführte Debatte über die Zahlungsbereitschaft.

Die Politik dürfte eine solche Debatte eher scheuen, oder?

Wasem: Die Politik will sie nicht führen, weil damit implizit die Rationierungsdebatte angesprochen ist. Sie vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.

Allerdings wäre eine solche Debatte vor dem Hintergrund des komplexen AMNOG-Verfahrens eine Herausforderung …

Wasem: Eine Diskussion über die Zahlungsbereitschaft für ein eindimensionales Konstrukt wie das QALY als Endpunkt ist einfacher zu führen. Da haben es die Engländer mit ihrem System besser. In Deutschland müssen wir mit den unterschiedlichen Kategorien von Zusatznutzen umgehen, hinter denen sich wiederum ganz unterschiedliche Dinge verbergen. Das kann Mortalität oder Lebensqualität sein, mal sind es geringere Nebenwirkungen. Die Zahlungsbereitschaft zu einem Konstrukt wie beträchtlichen, erheblichen oder geringen Zusatznutzen zu debattieren, ist eine echte Herausforderung. Aber ich fände es trotzdem gut, wenn wir uns trauten, diese Diskussion zu führen.

Aus Sicht der Politik hat sich diese Diskussion mit dem AMNOG erledigt.

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Wasem: Die Einschätzung der Politik lautet, dass man beim AMNOG allenfalls ein Fine-Tuning auf der technischen Ebene durchführen und diese Grundsatzfrage nicht stellen muss. Es sind dann die Vertragspartner und im Falle der Nicht-Einigung auf einen Erstattungsbetrag die indirekt demokratisch legitimierte Schiedsstelle, die die Allokations- und letztlich auch Rationierungsentscheidungen treffen müssen. Wobei man sehen muss: Wenn ein Arzneimittel die Kriterien des Nikolaus-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erfüllt, müssen die Krankenkassen den Versicherten es auch dann zur Verfügung stellen, wenn der Hersteller es vom deutschen Markt genommen hat – dann müssen die Kassen es nämlich importieren, wenn der Arzt es für die Versorgung seines Patienten als notwendig erachtet.

Von der unbeantworteten Grundsatzfrage nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft abgesehen: Wo stößt das AMNOG an Grenzen, wo ein reines Fine-Tuning nicht ausreicht?

Wasem: Ich sehe zwei grundsätzliche Probleme. Zum einen können AMNOG-Beschlüsse und Vereinbarungen durch regionale Instanzen konterkariert und limitiert werden. Wenn die regionale Quote nur zwei Prozent beträgt, dann kann der Zusatznutzen beträchtlich und der Preis vernünftig sein, trotzdem wird das Arzneimittel kein Leben entfalten.

Und das zweite Problem?

Wasem: … besteht nach wie vor darin, dass der GKV-Spitzenverband in der Nutzenbewertung stark involviert ist und anschließend die Preisverhandlungen führt. Das eigentliche Konzept sieht ja vor, dass der G-BA eine neutrale Nutzenbewertung durchführt und sich dafür eines wissenschaftlichen Instituts bedient, das auch den Anspruch hat, neutral zu sein. Nach dieser neutralen Nutzenbewertung geht es dann in die Preisverhandlungen. Fakt ist aber natürlich, dass der GKV-Spitzenverband im G-BA eine starke Position hat. Mein Eindruck ist, dass er versucht, die G-BA-Entscheidungen so auszugestalten, dass er daran nahtlos in der Schiedsstelle anknüpfen kann.

Also eine fehlende Trennung zwischen Nutzenbewertung und Preisverhandlung?

Wasem: Genau, dieses grundsätzliche Problem lässt sich mit dem Bild von den Spießen veranschaulichen: Es ist unbestritten, dass früher die Hersteller die deutlich längeren Spieße hatten. Oder um Franz Knieps zu zitieren: „Früher saß die Pharmaindustrie im Panzer und wir hatten die Fußtruppen. Jetzt ist es umgekehrt.“ Das trifft es ganz gut.

Seitens des Gemeinsamen Bundesauschusses heißt es, dass es für Therapieneuheiten keine Kosten-, wohl aber eine Evidenzgrenze gebe. Stimmen Sie dem zu?

Wasem: Die Spielräume, die der G-BA bei der Festsetzung der zweckmäßigen Vergleichstherapie und bei der Interpretation der Studien hat, nutzt der GKV-Spitzenverband mit seiner starken Position zumindest gelegentlich, um die Preisverhandlungen zu präformieren. Analysen, die Nutzenbewertungen international vergleichen, zeigen, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind. An manchen Stellen sieht man gut, dass die frühe Nutzenbewertung nicht unangreifbar das einzig denkbare Operationalisierungsverfahren gewählt hat und dass Spielräume genutzt werden. Nach wie vor ist die zweckmäßige Vergleichstherapie ein zentrales Thema.

Inwiefern?

Wasem: In zweierlei Hinsicht: Immer wenn eine ZVT gewählt wird, gegen die ein Hersteller nicht getestet hat, hat er ein massives Problem. Und: Wird kein Zusatznutzen nachgewesen, gilt die billigste ZVT als oberste Preisgrenze. Es gibt viele Konstellationen, bei denen es plausibel ist, dass ein Medikament gar nicht besser als die ZVT, sondern gleich gut sein will. Aber wenn es gegenüber der Vergleichstherapie geplantermaßen keinen Zusatznutzen hat, wird nur der Preis der billigsten ZVT herangezogen.

Das bedeutet?

Wasem: Hinter diese beiden Konstellationen kann man ein Fragezeichen setzen, ob es sich dabei immer um die einzig denkbare Ausgestaltung des G-BA-Beschlusses handelt. Innerhalb der gesetzten Rahmenbedingungen ist es zwar die pure Evidenz, aber sie wird eben vorher geframt. Wenn ich entscheide, was die ZVT ist, kann ich eine State-oft-the-art-Evidenz-Analyse machen, aber bei der Auswahl der ZVT denkt der GKV-Spitzenverband eben schon weiter.

Angesichts des geplanten Arztinformationssystems stellt sich die Frage, wo und bei wem die Deutungshoheit über den pharmazeutisch-medizinischen Fortschritt liegt – beim G-BA, der die AMNOG-Beschlüsse fällt, bei den Fachgesellschaften, die Leitlinien formulieren oder beim einzelnen Verordner?

Prof. Jürgen Wasem im Gespräch mit Antje Hoppe (Chefredakteurin) und Lisa Braun (Herausgeberin, im Foto rechts) © pag, Fiolka

Wasem: Beim einzelnen Arzt kann es immer nur die konkrete Entscheidungssituation mit dem einzelnen Patienten sein. In Deutschland kann er – gut begründet – noch immer alles verordnen. Das würde ich nach wie vor relativ weitgehend sagen. Durch das Wirtschaftlichkeitsgebot hat der Arzt keine begründungsfreie Therapiefreiheit. Ich halte das für vertretbar. Man kann grundsätzlich von einem Arzt verlangen, wenn er teuer verordnet, dass er in der Lage ist, die Therapiewahl vernünftig zu begründen. In den Leitlinien spielen Kosten überwiegend keine Rolle. Das ist ebenfalls vertretbar. Legitim ist aber außerdem, dass man ökonomische Gesichtspunkte auf der übergeordneten Ebene berücksichtigt. Insofern finde ich es richtig, dass es neben den Leitlinien eine Informationsebene gibt, wo Kosten eine Rolle spielen. Insgesamt haben wir aber im Laufe der Zeit eine Schwerpunktverlagerung erlebt.

Was hat sich verlagert?

Wasem: Mein Eindruck ist, dass für den Arzt die Leitlinien inzwischen oft weniger Gewicht haben als der ökonomische Regulierungsrahmen. Damit meine ich nicht nur den G-BA-Beschluss, sondern auch regionale Vereinbarungen.

 

Der Nikolausbeschluss
Im sogenannten Nikolausbeschluss vom 6. Dezember 2005 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass falls bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, die gesetzliche Krankenversicherung eine vom Patienten gewählte und von einem Arzt angewandte neue oder alternative Behandlungsmethode bezahlen muss. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass dabei „eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Warum eine Debatte über die Zahlungsbereitschaft für Fortschritt Tabu ist

Berlin (pag) – Die Frage, wie viel medizinischer Fortschritt kosten darf, ist noch immer unbeantwortet. Die Politik und die Akteure des Gesundheitswesens tun alles dafür, damit es auch so bleibt, denn eine gesellschaftliche Debatte ist nicht erwünscht, um das böse Wort Rationierung zu vermeiden. Nach offizieller Lesart hat sich die Frage für Arzneimittel mit dem AMNOG-Verfahren erübrigt. Doch es bleiben Zweifel.

Gerne werden hierzulande die Unterschiede zum englischen Gesundheitssystem betont, vielleicht auch, um sich wohlig schauern zu können. In England gibt es nämlich feste Kostengrenzen. Das hält der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken, für „absolut unethisch“, wie er auf einer Tagung Ende November betont.
Einige Wochen zuvor äußert sich der Leiter der G-BA-Abteilung Arzneimittel zum gleichen Thema. Thomas Müller hebt auf einer Brustkrebs-Veranstaltung hervor, dass es hierzulande zwar eine Evidenz-, aber keine Kostengrenze gebe. Damit spielt er auf das AMNOG-Verfahren an, im Zuge dessen der G-BA den Zusatznutzen neuer Arzneimittel im Vergleich zum bisherigen Therapiestandard bewertet, was wiederum die Grundlage für die anschließenden Preisverhandlungen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband darstellt. Einigen sich die beiden nicht, entscheidet eine Schiedsstelle.

Erfolgsmodell oder pseudowissenschaftliche Preisregulierung?

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Das Verfahren gilt in der Politik über Parteigrenzen hinweg als Erfolgsmodell, ähnlich sieht es bei den Akteuren des Gesundheitswesens aus – die Pharmaindustrie einmal ausgenommen. Das System ist allgemein anerkannt, lediglich um technische Modifikationen wird gelegentlich gerungen. Über dieses Fine-Tuning, wie es der G-BA-Chef nennt, ist die entscheidende Grundsatzfrage allerdings aus dem Blick geraten, nämlich die nach der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft für den Zusatznutzen. Nur wenige kritisieren das so offen wie der Chefarzt der Klinik für Neurologie am St. Joseph-Krankenhaus Berlin-Weißensee, Prof. Thomas Müller (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen G-BA-Vertreter). Auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für experimentelle und klinische Neurotherapeutika prangert er im Dezember das AMNOG-Verfahren als „pseudowissenschaftliche Preisregulierung“ an. Damit werde ein funktionierender, objektiver Entscheidungsprozess vorgegaukelt, der die gesamtgesellschaftliche Diskussion behindere.
Eine gesellschaftliche Debatte zur Zahlungsbereitschaft vermisst auch der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, der Vorsitzender der AMNOG-Schiedsstelle ist. Die Entscheidung eines Pharmaunternehmens, sein Medikament vom deutschen Markt zu nehmen, wird maßgeblich durch den Spruch der Schiedsstelle beeinflusst. Damit entscheidet Wasem indirekt darüber, ob ein Arzneimittel für Patienten auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Der Experte fragt sich selbst, ob er dafür überhaupt ausreichend legitimiert ist (lesen Sie dazu das Interview mit Prof. Wasem in dieser Ausgabe). Er wünscht sich daher stärkere Leitplanken, was die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für Zusatznutzen angeht.

Der schwarze Fleck auf der weißen Weste

Die Politik hat allerdings kein Interesse an einer solchen Diskussion, weil damit, so Wasem, implizit die Rationierungsdebatte angesprochen werde. „Sie (die Politik, Anmerkung der Redaktion) vertritt die Position, dass der deutsche Versicherte alles medizinisch Notwendige erhält. Eine implizite Rationierungsdebatte, bei der die gesellschaftliche Zahlungsbereitschaft ausgelotet würde, wäre ein schwarzer Fleck auf dieser weißen Weste.“
Diese Einschätzung teilt die Journalistin Heike Haarhoff in ihrem in der taz erschienenen Artikel „Zu Tode gerechnet“. Darin beschreibt sie eindrücklich, was ein so genannter Opt-out, die Rücknahme eines bereits auf dem Markt befindlichen Medikaments, für einen schwerkranken Krebspatienten bedeutet. Haarhoff geht in ihrem Text mit einem politischen System ins Gericht „das eine Kostenexplosion im Arzneimittelbereich ebenso fürchtet wie eine ehrliche Debatte darüber, wie viel ein paar Monate zusätzliches Leben der Solidargemeinschaft wert sein sollen – auf die Gefahr hin, möglicherweise zu dem Schluss zu gelangen, dass nicht mehr alles für alle finanzierbar ist“. Sie kritisiert außerdem eine implizite Rationierung hierzulande: „über ein in sich widersprüchliches Versorgungssystem, das Medikamente erst zulässt, aber anschließend nicht bezahlt“.

Alle haben Recht und der Patient den Schaden

Das Problem der vom Markt genommenen Arzneimittel – einer Übersicht des GKV-Spitzenverbands zufolge sind das inzwischen mehr als zehn Präparate (Stand Januar 2017) – ist für Haarhoff ein gesundheitspolitischer Tabubruch. Man könnte die Opt-outs auch als Systemversagen bezeichnen, das die Grenzen des AMNOG-Verfahrens aufzeigt. Im Fall des temporären Opt-outs des Lungenkrebsmedikaments Osimertinib (Handelsname: Tagrisso) kritisierte die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, dass zwar alle am Verfahren Beteiligten innerhalb ihrer eigenen Regeln Recht, den Schaden aber die betroffenen Krebspatienten hätten.
Was bekommt die Öffentlichkeit davon mit? Derzeit vermutlich herzlich wenig. Wenn die Publikumspresse den medizinischen Fortschritt und dessen Kosten aufgreift, dann geschieht das meist unter dem Label „Mondpreise“. Eine Ausnahme stellt, neben dem Haarhoff-Artikel in der taz, ein Bericht in der Bild-Zeitung dar. Unter der Überschrift „Wer hilft Epilepsie-Mädchen Martha (10)?“ heißt es dort: „Weil sich Kassen und Hersteller streiten, gibt es kein Medikament.“ Sollte jedoch die Zahl der Opt-outs stetig zunehmen, dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Marktrücknahmen auf mehr öffentliche Resonanz stoßen. Der Schritt zu einer Debatte über Rationierung ist dann nicht mehr weit. Koppelt man das mit der Frage nach der demokratischen Legitimation des G-BA – die entsprechenden Rechtsgutachten liegen beim Bundesgesundheitsministerium derzeit unter Verschluss – könnte eine brisante Diskussion entstehen. Anstatt diese transparent und proaktiv anzugehen, setzen die Akteure auf eine Vogel-Strauß-Taktik: Es sind immer nur die anderen, die rationieren.

Weiterführende Links:

Link zum taz-Artikel, der mit dem Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit ausgezeichnet wurde: http://www.taz.de/!5357366/
Link zum Bild-Artikel: http://www.bild.de/regional/leipzig/epilepsie/wer-hilft-martha-49961166.bild.html

AMVSG auf den Weg gebracht

Berlin (pag) – Wesentliche Teile des „Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV“ (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AMVSG) sind im April in Kraft getreten. Bei der abschließenden Beratung im Bundestag zuvor im März hat Michael Hennrich (CDU) das Gesetz als „rundes Paket“ bewertet, während nach Ansicht von Cordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen, die Regelungen einem „schlechten Scherz“ gleichkommen.

Vor der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes im Plenum hatten sich Unions- und SPD-Politiker bereits im Koalitionsausschuss verständigt, die Vertraulichkeit der verhandelten Arzneimittelpreise zu kippen, ebenso wie die Preisbremse im ersten Jahr nach Markteinführung. Ursprünglich sah der Gesetzentwurf vor, vertrauliche Preise mittelfristig herzustellen – eine Forderung der pharmazeutischen Industrie. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung kommentiert: „Die Einführung von Geheimpreisen hätte lediglich den Gewinninteressen der Pharmaindustrie gedient.“ Weiter wird es die einst vorgesehene Umsatzschwelle im ersten Jahr nach Markteinführung nicht geben. Die Pharmaindustrie bewertet dies als „positives Signal“ für den Standort Deutschland.

Ein „rundes Paket“ ist für Michael Hennrich (CDU) das AMVSG. © pag, Fiolka

Das Gesetz sieht ferner vor, die Ausschreibeoption für Impfstoffe abzuschaffen. Auch beim AMNOG-Verfahren gibt es Modifikationen: Besonderheiten von Kinderarzneimitteln sollen bei der Nutzenbewertung besser berücksichtigt werden. Zudem werden Arzneimittel, die nur für Kinder und Jugendliche erstattungsfähig sind, von der Bewertung ausgenommen. Bei Antibiotika verlangt der Gesetzgeber, die Resistenzsituation bei der Nutzenbewertung und bei der Festbetragsgruppenbildung einzubeziehen. Weiterhin ist vorgesehen, die Regelungen zur Erstattung von diagnostischen Verfahren zu verbessern, um den zielgenauen Einsatz von Antibiotika zu fördern. Die Ärzte sollen künftig per Praxissoftware besser über die Nutzenbewertung eines Medikaments informiert werden (lesen Sie dazu in dieser Ausgabe auch den Beitrag: „Information ist in der modernen Medizin alles“ ).

Weiterführender Link: Weitere Gesetzesinhalte können nachgelesen werden unter:
http://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2017/1-quartal/amvsg.html