„Keiner möchte keine Forschung“

Prof. Eva Winkler über Datennutzung und Patientenbeteiligung

Moderne Informationsinfrastrukturen sollen Ergebnisse aus der Forschung rasch in die klinische Praxis bringen. Das Ganze birgt aber nicht nur technische und rechtliche, sondern auch ethische Herausforderungen. Mit ihnen beschäftigt sich die Ärztin Prof. Eva Winkler. Im Interview erklärt sie, warum gute Aufklärung und ein gerechter Zugang essenziell sind.

Eine gute Aufklärung ist die erste ethische Herausforderung, sagt Prof. Eva Winkler. © pag, Fiolka

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Können Sie anhand eines Beispiels erläutern, was Patienten konkret von den Datenintegrationszentren haben, die im Rahmen der Medizininformatik-Initiative an den universitätsmedizinischen Standorten eingerichtet wurden?

Winkler: Einen direkten persönlichen Nutzen gibt es zunächst nicht. Die Medizininformatik-Initiative dient der Forschung. Dahinter steckt die Idee, die vielen klinischen Daten, die in den verschiedenen Datenbanken der Kliniken und Arztpraxen liegen, nutzbar zu machen. Die Auswertungen können helfen, die Qualität der Versorgung zu verbessern, aber auch ganz neue Fragestellungen in der Forschung zu beantworten.

Bei HiGHmed arbeiten Sie zu den ethischen Aspekten des Projekts. Welche ethischen Fragen sind denn bei der datenbasierten Versorgung und Forschung vorrangig zu klären?

Winkler: Zuerst einmal ist es wichtig, Patientinnen und Patienten genau zu erklären, welche Intention mit der Nutzung der Daten verfolgt wird, zu welchem Zweck wir diese Daten benötigen. Damit ist eine gute Aufklärung die erste ethische Herausforderung, weil man zum Zeitpunkt der Aufklärung noch nicht spezifisch sagen kann, in welche Projekte die Daten genau gehen und wo genau der Nutzen entsteht. Wir müssen vielmehr die Infrastruktur erklären, am besten mit einem konkreten Beispiel wie diesem: Wenn ein Forscher herausfinden will, ob bei Bauchspeicheldrüsenkrebs ein Zusammenhang mit Bluthochdruck besteht, dann stellt er eine Anfrage an die Medizininformatik-Initiative. Dort initiiert man eine grobe Suche, wie viele Patientendatensätze zu der Fragestellung vorliegen und im nächsten Schritt kann der Forscher dann einen Antrag auf Nutzung der verschlüsselten Datensätze stellen. Es muss klare Regeln geben, wer Zugriff hat, dass nur diese Forschungsfrage bearbeitet wird und die Daten danach gelöscht werden. Kurz: Zu den ethischen Herausforderungen gehört die Aufklärung der Patienten, der gerechte Zugang für alle Forscher, klare Kriterien, nach denen sie Zugang zu den Daten haben, und eine gute Aufsicht über das Ganze mit Berichtswesen, darüber, was denn am Ende als Nutzen herauskommt.

Welche Konflikte ergeben sich zwischen Personalisierter und Big-Data-Medizin einerseits und den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin andererseits? Und wie lassen sich diese im Sinne des Patienten lösen?

Prof. Eva Winkler ist Oberärztin an der Klinik für Medizinische Onkologie, Universitätsklinikum Heidelberg. Sie leitet den Schwerpunkt „Ethik und Patientenorientierung in der Onkologie” vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen und der Uniklinik Heidelberg. Außerdem ist sie Projektsprecherin von EURAT – Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms. Bei dem HiGHmed-Konsortium arbeitet Prof. Winkler als Ethik-Expertin mit. © NCT-Heidelberg

Winkler: Personalisiert klingt immer etwas irreführend, als wenn jede einzelne Person ihre eigene Medizin erhält. Tatsächlich beruht die stratifizierte Medizin, die hier gemeint ist, auf Biomarkern, die Patientenkohorten besser definieren. Deshalb werden die Patientengruppen immer kleiner, große Studien lassen sich nicht mehr durchführen.

Was ist die Konsequenz dessen?

Winkler: Damit verlassen wir den Goldstandard der großen randomisierten Studie. Die beiden Dinge werden gegenübergestellt, als wäre die individualisierte Medizin eine Abkehr von der evidenzbasierten Medizin. In Wirklichkeit ist es eine Weiterentwicklung, die aufgrund des Fortschritts der Erkenntnis und der Möglichkeiten, die Krankheit des Einzelnen besser zu charakterisieren, auch eine Weiterentwicklung unserer Systematik und Methodik bezüglich eines gut abgesicherten Nutzens erfordert. Der Nutzennachweis muss auch weiter der Standard sein.

Sind Patienten auch in diesen ganzen Prozess involviert?

Winkler: Ja. Ein Schwerpunkt ist die sogenannte Stakeholder-Beteiligung und Partizipation von Patienten – sowohl auf nationaler Ebene als auch im Rahmen von unseren medizinischen Schwerpunktprojekten im Rahmen des HiGHMed-Konsortiums. Wir haben drei Standorte dafür: Göttingen, Berlin und Heidelberg. Gerade in Göttingen wird unter der Leitung von Frau Prof. Silke Schicktanz untersucht, wie Patienten strukturell beteiligt werden können, also sowohl in den Entscheidungsgremien als auch bei der Bereitstellung von Daten beispielsweise im kardiologischen Anwendungsbereich, wo Patienten durch die App schon bei der Datengenerierung miteinbezogen sind.

Wie erleben Sie die Bereitschaft, Daten zur Verfügung zu stellen?

Winkler: Insgesamt ist die bei Krebspatienten recht hoch, aber man muss je nach Bedürfnis unterschiedliche Intensitäten und Beteiligungsformen anbieten. Einige Patienten sind mit ihrer Krankheit beschäftigt. Aber es gibt viele Patienten, die sagen, man müsste eigentlich mehr mit den Daten forschen, die sie bereitstellen. Keiner möchte keine Forschung.

 

Was ist HiGHmed?
Das Konsortium HiGHmed bündelt und integriert im Rahmen der Medizininformatik-Initiative Kompeten- zen von acht Universitätskliniken und medizinischen Fakultäten sowie weiteren Partnern aus Wissenschaft und Industrie. Das Ziel: innovative Informationsinfrastrukturen entwickeln und so einen schnelleren Transfer von Ergebnissen aus der Forschung in die klinische Praxis ermöglichen. Die Partner arbeiten organisations- und institutionsübergreifend zusammen, um einen Verbund von Datenintegrationszentren aufzubauen. Anhand von drei klinischen Use Cases sollen die Zentren demonstrieren, wie Daten, Infor- mationen und Wissen aus Krankenversorgung sowie klinischer und biomedizinischer Forschung zum Wohle von Patienten über die Grenzen von Stand- orten hinweg verknüpft werden können.
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• Use Case Onkologie: Gezieltere Krebsbehandlung durch übergreifenden Wissensaustausch
• Use Case Kardiologie: Früherkennung und Vermeidung von Krankheitsschüben bei Langzeit-Verläufen
• Use Case Infektionskontrolle: Krankenhausinfektionen verstehen, vorhersehen und verhindern

 

Datenlandschaft im Aufbau

Mehr Nutzung, Akzeptanz und Autonomie

Berlin (pag) – Im Gesundheitswesen wird eine Vielzahl von Daten produziert. Doch noch immer stößt deren Nutzung auf vielfältige Hindernisse. Ist die Zeit reif, ganz grundlegend umzudenken?

© iStockphoto, Bet_Noire

Im Herbst haben gleich drei Ministerien – das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI) – eine Roadmap zur Initiative „Daten für Gesundheit“ veröffentlicht. Folgende Ziele werden darin postuliert: Die wissenschaftsbasierte Auswertung gesundheitsrelevanter Daten soll die Patientenversorgung verbessern, der medizinische Fortschritt soll vorangetrieben werden und – last but not least – geht es den drei Ressorts darum, die Innovationskraft des Standorts Deutschland zu steigern.

Strategien, Gesetze und Initiativen

Diese Initiative ist nur eine von vielen, die dem digitalen Wandel den Weg bereiten soll. Die Bundesregierung hat die engere Vernetzung von Patientenversorgung und Gesundheitsforschung bei der Nutzung von digitalen Gesundheitsdaten zu einer ihrer zwölf Missionen in der Hightech-Strategie 2025 erklärt. Außerdem werden in der Roadmap genannt: die Umsetzungsstrategie Digitalisierung, die Datenstrategie sowie die Strategie Künstliche Intelligenz und die Blockchain-Strategie der Bundesregierung. Hinzu kommen die Digitalstrategie „Gestaltung der digitalen Zukunft Europas“ und die Europäische Datenstrategie (European Strategy for Data) der Europäischen Kommission.

Strategien, wohin man auch schaut

Auch auf der Ebene der Gesetzgebung ist das BMG sehr aktiv, etwa mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz und dem Patientendaten-Schutzgesetz. Gegenwärtig wird ein drittes Digitalisierungsgesetz auf den Weg gebracht. Wichtige Impulse werden darüber hinaus mit der BMBF-unterstützten Medizininformatik-Initiative, dem geplanten Forschungsdatenzentrum, das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angesiedelt werden soll, und der nationalen Forschungsdateninfrastruktur gesetzt. Außerdem arbeiten der Health Innovation Hub des BMG, die Gematik, der Digitalverband Bitkom und der Bundesverband Gesundheits-IT gerade im offenen Prozess an der Fortsetzung ihres Strategiepapiers „Interoperabilität 2025“.
Die Vielzahl an Strategien, Gesetzen und Initiativen zeigt die Komplexität des Themas. Viel tut sich – endlich auch an Stellen, an denen lange Zeit Blockade auf der Tagesordnung stand, wie bei der Gematik. Dennoch ist der Befund in einem Gutachten mehrerer Wissenschaftler, das kürzlich veröffentlicht wurde, noch immer ziemlich ernüchternd: „Für eine Nachnutzung seitens der medizinischen Forschung interessante und relevante Daten sind im Gesundheitssystem vielfach vorhanden, aber verteilt über viele Akteure und Institutionen und zudem rechtlich und technisch nur sehr begrenzt verfügbar und verknüpfbar.“

Was bringt eine Datenspende?

Das Gutachten im Auftrag des BMG haben unter anderem PD Dr. Sven Zenker und Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF), verfasst. Sie sind davon überzeugt, dass eine Datenspende für die sekundäre Datennutzung im Unterschied zum jetzigen Verfahren die Qualität, Fairness und Effizienz der Gesundheitsversorgung und der medizinischen Forschung stark fördern könnte. Die Idee ist nicht neu. Auch der Deutsche Ethikrat und Forschungs- und Digitalpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben sich mit dem Thema befasst (siehe Infokasten).

„Mit Daten Leben retten“
Parallel zum Gesetzgebungsverfahren des Patientendaten-Schutzgesetzes haben Gesundheits-, Forschungs- und Digitalpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ende Mai ein Positionspapier verfasst. Der Titel lautet „Mit Daten Leben retten: Für eine bessere Patientenversorgung durch Digitalisierung und Gesundheitsforschung“. Sie können sich unter anderem „perspektivisch“ vorstellen, dass in Deutschland ansässige forschende Unternehmen der Gesundheitswirtschaft in den Kreis der Antragsberechtigten für das Forschungsdatenzentrum aufgenommen werden. Darüber hinaus machen sie sich für eine verlässliche Infrastruktur stark, in der Datenflüsse zwischen Patienten, Versorgung und Forschung koordiniert werden. Den Unionspolitikern schwebt eine zentrale nationale Instanz nach Vorbild des US-amerikanischen „Office of the National Coordinator for Health Information Technology“ vor.

Zenker und Semler plädieren bei der Datenspende für ein einfach auszuübendes Widerspruchsmodell (opt-out). Besonders wichtig ist ihnen: Die Spende sollte zeitlich und räumlich vom Kontext einer medizinischen Behandlung entkoppelt und stattdessen im normalen Alltagsleben verankert werden. „Die Akutversorgung ist ein ungünstiger Zeitpunkt, um sich mit einer längeren Aufklärung zu Forschungsprojekten zu befassen – insbesondere, wenn diese komplexe Fragestellungen verfolgen oder infrastrukturell angelegt sind“, sagt Semler. Die Bürger sollten besser angesprochen werden, bevor sie in eine medizinische Notsituation kommen. „Denn eine informierte Entscheidung fällt leichter, wenn man sie mit relativ freiem Kopf fällen kann“, argumentiert Zenker.

 

 

 

 







Mehr Nutzung, Akzeptanz und Autonomie

Der ärztliche Leiter der Stabsstelle Medizinisch-Wissenschaftliche Technologieentwicklung und -koordination am Universitätsklinikum Bonn nennt noch einen weiteren Grund für eine breite Bürgerbeteiligung: die deutliche Selektionsverzerrung. Zum Beispiel können nur die Patienten der Universitätsmedizin befragt werden, die zum Zeitpunkt der Aufnahme noch ansprechbar und einwilligungsfähig sind, sodass bestimmte Krankheitsbilder und schwere Verläufe systematisch von der Datennutzung ausgeschlossen werden. Es geht den Wissenschaftlern also darum, ein Informationsangebot außerhalb des Akutkontextes zu schaffen. „Für mehr Datennutzung brauchen wir mehr Akzeptanz, mehr Akzeptanz geschieht durch mehr Patientenautonomie und die Patientenautonomie steigern wir nicht durch eine Vielzahl immer länger werdender Informations- und Einwilligungsunterlagen“, sagt Semler. Solche Prozesse sollten sinnvoll organisiert werden, das bedeutet: leistbar für die eine Seite sowie verständlich, überschaubar und beurteilbar für die andere Seite – die Bürger bzw. Patienten. Für Semler macht das Ganze nur dann Sinn, wenn man aus dem Projektzusammenhang hinausgeht. „Damit brauche ich einen neuen Akteur, der die grundsätzliche Spende verwaltet.“

Wie geht es weiter?

Eine solche projektübergreifende Entität, wie Semler es nennt, sollte völlig unabhängig von derzeit laufenden Verfahren gedacht werden. „Würde man neue Anforderungen zur Datenspende beispielsweise schon jetzt an die ePA-Einführung richten, wäre damit das Projekt überfrachtet“, befürchtet der Experte. Es handelt sich ohnehin um eine langfristige Idee, die Strukturen von morgen vorausdenken soll. Die politische Debatte dazu beginnt gerade erst. Die Autoren des Gutachtens haben mit Patientenorganisationen wie der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe und dem Aktionsbündnis Patientensicherheit einen Workshop veranstaltet. Geplant sind jetzt Gespräche mit Abgeordneten. Fest steht nämlich, dass sich die ehrgeizigen Pläne der Wissenschaftler im derzeitigen Rechtsrahmen nicht verwirklichen lassen. Ein langer Atem ist gefragt. Aber vielleicht ist es ja genau dieser Paradigmenwechsel, den das hiesige System so dringend benötigt.

 

Souveräner Umgang mit Gesundheitsdaten
Auch das BMBF fördert das Thema Datenspende: Die Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen und reflektierten Umgang mit Gesundheitsdaten stehen im Zentrum eines neuen Forschungsprojekts, das von Informatikerinnen und Informatikern der Freien Universität Berlin koordiniert wird. Ziel des Forschungsvorhabens „WerteRadar – Gesundheitsdaten souverän spenden“ ist es, eine integrative und interaktive Software zur reflektierten Weitergabe von Gesundheitsdaten zu konzipieren, zu evaluieren und umzusetzen. Gefördert wird WerteRadar vom BMBF mit rund 480.000 Euro, die Laufzeit beträgt drei Jahre.

 

Begehrt: Die Daten der Patienten

Berlin (pag) – Wie können Gesundheitsdaten für die Forschung genutzt werden? Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, wie sieht es mit Datenspenden aus, wie mit einer Pflicht zur Spende? Darüber wird derzeit viel debattiert. Ein Bericht von zwei Veranstaltungen.

Datenschutz ist wichtig. Doch wenn es für ernsthaft erkrankte Patienten darum geht, eine bessere Therapie zu bekommen oder vielleicht anderen Betroffenen in Zukunft dazu zu verhelfen, ist für sie der Datenschutz kein heiliger Gral mehr. Das berichtet Prof. Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Gerontologin an der Charité, auf einer Veranstaltung von Sanofi, dem Verband der forschenden Pharma-Unternehmen und dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. Patienten seien oft bereit, vieles offen zu legen, sich sogar mit Hilfe von  Videokameras überwachen zu lassen. „Bedenken wegen Datenschutz haben sie nicht“, sagt Steinhagen-Thiessen. Die Einwände kämen meist von denjenigen, die nicht betroffen seien.

Über das Thema Datenspende wird intensiv auf der Veranstaltung diskutiert. Eine Frage lautet: Sollen in einem Solidarsystem wie der gesetzlichen Krankenversicherung alle Patienten zu einer solchen Spende verpflichtet werden? Patientenvertreter Sigfried Schwarze mahnt zur Vorsicht, denn das Sammeln von Daten habe immer Konsequenzen. Daten seien das neue Erdöl, mit ihnen müsse verantwortungsvoll umgegangen werden. Eine vorherige Festlegung der Spende auf definierte Forschungsprojekte hält allerdings die Medizinrechtlerin Dr. Constanze Püschel angesichts des medizinischen Fortschritts für schwierig. „Es muss reichen, dass es um medizinische Versorgungsforschung geht.“ Eine breite Einwilligung, welche die Datennutzung auch für spätere Wissenschaftsprojekte gestatte, genügt Püschel unter folgenden Voraussetzungen: Eine unabhängige Ethikkommission begutachtet das Vorhaben, dieses wird öffentlich bekanntgemacht und die Daten werden treuhänderisch verwaltet.

Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge sind 73 Prozent der Deutschen bereit, ihre Gesundheitsdaten für Forschungszwecke zu spenden. Drei Viertel von ihnen würden dies ohne Festlegung auf ein bestimmtes Vorhaben tun.

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„Eine große Herausforderung dieser Wahlperiode“

Wer sich mit Forschung und digitalen Patientendaten befasst, kommt an der Medizininformatik-Initiative (MII) nicht vorbei. Das mit 160 Millionen Euro vom Bund geförderte Projekt will die Forschungsmöglichkeiten und Patientenversorgung durch innovative IT-Lösungen verbessern – diese sollen es ermöglichen, dass Daten aus Krankenversorgung, klinischer und biomedizinischer Forschung über die Grenzen von Institutionen und Standorten hinweg ausgetauscht werden können. Einen Workshop der Initiative nutzt kürzlich die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, um darzustellen, worauf es ihr bei der Nutzung von Patientendaten ankommt. Prof. Claudia Schmidtke betont: „Die deutschlandweite Vernetzung der Routinedaten unserer Gesundheitsversorgung birgt eine sehr große Chance, um Krankheiten im gesamten Spektrum – von den großen Volkskrankheiten bis hin zu seltenen Erkrankungen – besser und frühzeitiger erkennen und behandeln zu können.“

Bedingung dafür sei, die rechtlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen für die Forschung mit großen qualitativ hochwertigen Datenmengen zu schaffen – „eine große Herausforderung dieser Wahlperiode“. Als Ziel formuliert Schmidtke, den „mündigen Patienten als informierten Manager seiner eigenen Gesundheit und natürlich auch seiner Krankheit wahrzunehmen, auf seine Fragen einzugehen und alle für den jeweiligen Fall relevanten Informationen auszutauschen“.

Die Vertrauensfrage in der digitalen Medizin

Kein Zaudern mehr: Ärzteschaft will gestalten

Berlin (pag) – „Wir sollten uns auf den Weg machen, um die Digitalisierung der Medizin angemessen zu begleiten“, appelliert der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Klaus Reinhardt. Auf einer Veranstaltung der Kammer fordert er für die Digitalisierung eine Gesamtstrategie und einen Ordnungsrahmen für politische, rechtliche und ethische Fragen.

„Die Vertrauensfrage in der digitalen Medizin“ lautet der Titel der BÄK-Veranstaltung. Dort unterstreicht Dr. Peter Bobbert die enorme Geschwindigkeit, mit der sich der digitale Wandel vollzieht. Das sei in der Vergangenheit mehrfach unterschätzt worden. Dem Vorsitzenden des Kammerausschusses „Digitalisierung der Gesundheitsversorgung“ ist es ein wichtiges Anliegen, dass die digitale Medizin „nicht nur eine andere, sondern eine bessere Medizin“ wird. In deren Mittelpunkt habe weiterhin die Menschlichkeit zu stehen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) © pag, Fiolka

Ähnlich sieht es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der betont, dass ärztliches Handeln weiterhin von dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient geprägt sein werde. Er geht auch auf Parameter ein, die das Vertrauen in die digitale Medizin stärken. Dazu gehört für den CDU-Politiker, dass sich Ärzte – aber auch andere Gesundheitsberufe – Kompetenzen in diesem Bereich aneignen. Das geplante Digitale-Versorgung-Gesetz sieht vor, dass Ärzte künftig Apps auf Rezept verschreiben können.

Spahn ist davon überzeugt, dass das Vertrauen neben einer robusten Datensicherheit und einem verlässlichen Datenschutz auch dadurch wächst, wenn positive Auswirkungen im Versorgungsalltag für die Patienten spürbar werden. Als Beispiel nennt er die Video-Sprechstunde. Grundsätzlich wirbt er dafür, das „Digitale nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung“ wahrzunehmen und es selbst zu gestalten anstatt es zu erleiden. Denn dann könne daraus etwas Gutes werden.

„Entwicklung ohne Risiko ist unrealistisch“

 

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Bei der folgenden Diskussion geht es insbesondere um Apps. Dr. Martin Hirsch, Mitbegründer der Gesundheitsapp Ada, stellt in diesem Kontext die Vertrauensfrage anders herum: „Wie steht es mit dem Vertrauen gegenüber Ärzten, die sich solchen Tools verweigern?“ Für den Vorstandsvorsitzenden der Barmer, Prof. Christoph Straub, sind Apps keine stabilen Produkte, weil bei ihnen Veränderungen miteingebaut seien. Das erschwere valide Urteile. Grundsätzlich wirbt er für eine gewisse Risikobereitschaft, denn: „Entwicklung ohne Risiko ist unrealistisch.“ Der Unfallchirug Dr. Sebastian Kuhn, Universitätsmedizin Mainz, stellt die ärztliche Aufgabe heraus, technische Innovationen in sinnvolle Patientenbehandlungen zu übersetzen. Als historisches Beispiel nennt er das Röntgen. Bevor die Strahlen ihren Siegeszug in der Medizin antraten, hätten sich Jahrmarktbesucher zur allgemeinen Belustigung durchleuchten lassen. In der Medizin sei diese Übersetzungsleistung daher nichts Neues, sie bestimme ärztliches Handeln seit Generationen.

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Nachgefragt bei Dr. Peter Bobbert, Bundesärztekammer

„Ärzteschaft muss Verantwortung wahrnehmen“

Dr. Peter Bobbert, Vorsitzender des BÄK-Ausschusses „Digitalisierung der Gesundheitsversorgung“ © pag, Fiolka

Was müssen die nächsten konkreten Schritte der Ärzteschaft sein, um den digitalen Wandel in der Medizin nicht nur zu erdulden, sondern aktiv mitzugestalten?

Dr. Bobbert: Um gestalten zu können, benötigt man einerseits den Willen und andererseits die Expertise.
Der Wille besteht bereits spätestens seit dem Ärztetag in Freiburg 2017, als die Ärzteschaft zum ersten Mal im breiten Konsens die Notwendigkeit des konstruktiven Handelns im digitalen Wandel der Medizin einforderte. Gleichzeitig hat sie betont, dass die Digitalisierung in der Medizin eine große Chance und kein Risiko ist. Die weiteren Schritte sind der schnelle Erwerb einer ausreichenden digitalen Kompetenz und Expertise. In der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen digitale Inhalte implementiert werden, um die Voraussetzung zu schaffen, dass die Ärzteschaft den Wandel kompetent und produktiv mitgestalten kann. Zudem müssen wir in der ärztlichen Selbstverwaltung mehr als bisher der Politik konkrete Angebote bei der Umsetzung und Realisierung digitaler Anwendungen machen. Wir müssen es sein, die Antworten auf Fragen finden, wie zum Beispiel eine nützliche elektronische Patientenakte oder wie aus ärztlich wissenschaftlicher Sicht eine sinnvolle Einführung von digitalen Gesundheitsapps auszusehen hat.

Welche Hürden müssen dabei abgebaut werden?

Dr. Bobbert: Es ist die Hürde zu nehmen, nicht mehr nur Ziele im Wandel zu beschreiben, sondern konkret bei der Umsetzung Wege zu bauen. Wir dürfen uns nicht auf andere verlassen, sondern müssen unsere Verantwortung wahrnehmen.

In welchen Bereichen sind die Ärzte bei der digitalen Medizin gut aufgestellt, wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?

Dr. Bobbert: Wir konnten in den letzten Jahren schon wichtige Entwicklungen im ärztlichen Arbeitsalltag und in der wissenschaftlichen Tätigkeit verzeichnen. Das Interesse und Engagement der Ärzteschaft, digitale Anwendungen effektiv und schnell in unseren Arbeitsalltag zu implementieren, ist hoch. Digital Health spielt bereits heute in der Nachwuchsförderung, in der Wissenschaft und an den Universitäten eine entscheidende Rolle. Wir haben einen hervorragenden Prozess bereits begleiten können, der in Zukunft wichtige Impulse geben wird. Berufspolitisch müssen wir allerdings noch in unserem Handeln besser werden. Es fehlt nicht am Willen. Aber wir müssen verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen, um auf politischer Ebene wieder als der kompetente Ansprechpartner auch im digitalen Wandel angesehen zu werden. Dies bedeutet, dass wir beharrlich und schnell stets konkrete Wege aufzeigen müssen, wie digitale Anwendungen in die Realität umgesetzt werden können. Die Zeit des Betonens, warum etwas nicht geht, ist vorbei. Die Ärzteschaft gestaltet.

Datenspende oder Datenteilungspflicht?

Standpunkte: Wie funktioniert ein lernendes Gesundheitssystem?

Berlin (pag) – Ein lernendes Gesundheitssystem, das Daten nutzt, die im Gesundheitswesen, aber auch im Alltag erhoben werden, um die Versorgung zu verbessern – dieser Zielvorstellung widmet sich ein Forschungsprojekt. „Lernbedarf gibt es zuhauf, Lernmöglichkeiten eigentlich auch – wir nutzen sie aber nicht, weil ein Großteil der Daten, die täglich anfallen, nicht ausgewertet wird. Jedenfalls nicht im Rahmen solider Forschungsprojekte und -strategien“, konstatiert Prof. Christiane Woopen, Direktorin des Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres).

Um Gesundheitsdaten für Forschungszwecke verfügbar zu machen, gilt es, eine Vielzahl von Fragen zu klären – methodischer, juristischer, ethischer Art. Dieser Aufgabe widmet sich das Projekt „Ethical Governance für ein lernendes Gesundheitssystem“, an dem ceres-Wissenschaftler mit Kollegen von der Forschungsstelle Datenschutz und dem Institut für europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges), Goethe-Universität Frankfurt, arbeiten.

© bakhtiarzein, Fotolia.com

Einen Zwischenbericht gibt es kürzlich bei einer Tagung in Berlin. Ein lernendes Gesundheitssystem, hebt dort Peter Bröckerhoff hervor, nutzt systematisch Daten aus der Versorgung für die Forschung. Umgekehrt werden Forschungsergebnisse schnell in der Versorgung implementiert. Ziel dieses Lernkreislaufes sei für Patienten eine Verbesserung der Behandlungsqualität. Gesamtgesellschaftlich gehe es um nachhaltige Gerechtigkeit und Solidarität. Der ceres-Wissenschaftler betont, dass ein lernendes Gesundheitssystem auf Zusammenarbeit basiere. Dafür sei im gegenwärtigen System ein Kulturwandel notwendig. „Dieser muss von allen Akteuren getragen, gefördert und aktiv gestaltet werden.“
Nicht alle Tagungsteilnehmer überzeugt die Vision. Eine kritische Nachfrage kommt etwa von Prof. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Er findet, dass es bereits jetzt ein lernendes System gebe, das vielleicht etwas langsamer und schwieriger lerne. Bei einem anders lernenden, digital unterstützten System will er wissen: „Wenn wir über eine Solidarität genannte Relativierung des Datenschutzes reden, dann würde ich als Bürger schon gerne wissen, was ich dafür bekomme.“

Bei der Veranstaltung setzt sich Rebekka Weiß, Bitkom, mit der Frage auseinander, ob Unternehmen zu Gemeinwohlzwecken Daten mit Forschern teilen sollten. Der Rechtswissenschaftler Prof. Steffen Augsberg, Universität Gießen, beschäftigt sich damit, ob die Preisgabe personenbezogener Daten zu Zwecken eines lernenden Gesundheitssystems eine – ethische – Solidaritätspflicht sei. Im folgenden lesen Sie die Ausführungen der beiden.

Prof. Steffen Augsberg: Datenspende als Solidaritätspflicht?
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Prof. Steffen Augsberg hat seit 2013 eine Professur für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen inne. Zuvor hatte er eine Professur für Öffentliches Recht, insbesondere das Recht des Gesundheitswesens, an der Universität des Saarlandes. Augsberg ist zudem seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrates. © pag, Fiolka

In der jüngeren Vergangenheit wird intensiv über die sogenannte Datenspende nachgedacht. Insbesondere in der medizinischen Forschung verbinden sich mit der Nutzung großer Datenmengen – „Big Data“ – große Erwartungen und Hoffnungen. Die Datenspende soll dazu beitragen, die hierfür erforderlichen Daten zu gewinnen. Könnte sich hieraus sogar eine (ethische) Pflicht ergeben, die eigenen Daten zur Verfügung zu stellen und damit anderen Menschen zu helfen? Diese Frage kehrt die gängige Perspektive des Datenschutzes um: Üblicherweise wird zur Legitimation der Preisgabe personenbezogener Daten allein darauf abgestellt, ob sie von den Betroffenen konsentiert und/oder diesen zumutbar ist. Dass es ein schützenswertes Recht auf Privatheit gibt, das der Offenlegung solcher Daten prinzipiell widerstreitet, bedeutet indes nicht das Ende der Debatte. Denn es handelt sich hierbei nicht um einen absoluten Wert, sondern um eine abwägungsfähige und -bedürftige (Rechts-)Position.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass beim Umgang mit personenbezogenen Daten nicht auf eine vergleichsweise eindimensionale, schutzzentrierte Sichtweise abzustellen ist. Vielmehr muss das zugrunde liegende komplexere Geflecht einer Vielzahl, teilweise durchaus widersprüchlicher Rechte und Pflichten berücksichtigt werden. Das hat der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme „Big Data und Gesundheit“ ausführlich herausgearbeitet. Demnach zählen zu den normativ und evaluativ das Selbstverständnis des datengebenden Individuums wie seine Funktion und Position in der Gesellschaft beeinflussenden Werten neben Privatheit und Intimität auch Freiheit und Selbstbestimmung, Souveränität und Macht, Schadensvermeidung und Wohltätigkeit sowie Gerechtigkeit und Solidarität. Auch mit Blick auf den Schutz von Daten ist dementsprechend eine individuelle wie gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Anderen, insbesondere in spezifisch hilfsbedürftigen und vulnerablen Positionen, zu berücksichtigen.
Gerade im Gesundheitssystem liegt auf der Hand, dass eine wechselseitige Unterstützung dem spezifischen Charakter von Gesundheitsrisiken entspricht. Niemand kann darauf vertrauen, gesund zu bleiben, und deshalb sind alle daran interessiert, im Falle des Falles die bestmögliche Versorgung zu erhalten. Eine (ethische) Pflicht zur Preisgabe bedeutet dies aber noch nicht. Im Abwägungsprozess zu berücksichtigen wären etwa die – unter Big-Data-Bedingungen indes zunehmend wenig aussagekräftige – Sensibilität der Daten, deren Ersetzbarkeit, zu befürchtende Auswirkungen bei Missbrauch und Ähnliches. Letztlich müssten der konkrete Kontext und individuelle Besonderheiten miteinbezogen werden. Das verdeutlicht, warum sich eine pauschale Antwort auf die titelgebende Frage verbietet. Es verweist zugleich darauf, dass es bessere Optionen gibt, Chancen und Risiken von Big Data gerecht werdende Datensouveränität zu gewährleisten – dazu enthält die genannte Stellungnahme eine Vielzahl von Empfehlungen.

Rebekka Weiß: Datenteilungspflicht kann Innovationskraft bremsen

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Rebekka Weiß leitet beim Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation & Neue Medien (Bitkom) die Abteilung für Vertrauen und Sicherheit und betreut unter anderem den Arbeitskreis Datenschutz. Weiß ist Volljuristin und hat zusätzlich den Master of Laws in „Intellectual Property and the Digital Economy“ an der University of Glasgow erworben. © pag, Fiolka

Daten sind die Basis der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft. Nicht ohne Grund haben sich längst Vergleiche von Daten mit Gold, Öl und Wasser etabliert. Obwohl Daten anders als Bodenschätze beliebig reproduzierbar, kopierbar und in größerem Umfang verfügbar sind, wird seit Längerem diskutiert, ob Daten nicht aus bestimmten Gründen geteilt werden müssten.
Als erste Hürde zeichnet sich aber schnell das Datenschutzrecht ab. Die DSGVO legt in mehr oder weniger unflexiblen Tatbeständen fest, unter welchen Umständen die Daten überhaupt erhoben werden dürfen. Gesundheitsdaten unterliegen sogar besonders strengen Regeln. Zwar sieht die DSGVO Erleichterungen für Forschung vor. Eine Datenteilungspflicht kann daraus aber nicht abgeleitet werden.
Als Ausweg aus dem engen Korsett der DSGVO wird die Anonymisierung gesehen. Anonyme Daten unterliegen nicht dem Datenschutz und so könnte man annehmen, dass diese einfach ge- und verteilt werden könnten. Allerdings ist häufig unklar, welche Merkmale von einem Datensatz entfernt werden sollen, um die notwendige Anonymität der Daten sicherzustellen. Es wird sogar die These vertreten, dass echte Anonymität kaum zu erreichen sei, da durch eine Kombination verschiedener Merkmale immer die Gefahr bestehe, dass Daten doch auf eine bestimmte Person zurückgeführt werden können. Neben dieser technischen Dimension muss aber vor allem eines Berücksichtigung finden: Anonymisierung passiert weder einfach noch von allein. Sie muss geplant, implementiert, nachverfolgt und die technischen Verfahren aufgebaut und angepasst werden. Diese Investitionen werden kaum getätigt werden, wenn am Ende des Investitions- und Innovationszyklus eine Datenteilungspflicht steht und die Früchte der Arbeit quasi kostenfrei abfließen. Eine Datenteilungspflicht – auch für anonyme Daten – kann daher immer auch die Innovationskraft bremsen. Und: Für viele innovative Verfahren benötigen die Anwender eben doch personenbezogene Daten. Die Investitionen, die notwendig sind, um Daten auf hohem Niveau auszuwerten, daraus neue Verfahren zu entwickeln und den Mehrwert in innovative Anwendungen zu übertragen, sind hoch. Alle Einzelstränge der Datenerhebung erfordern nicht nur Technologie, sondern durch den regulatorischen Rahmen dauerhafte Beratung. Auch bestehende Haftungsrisiken durch die Rechtsunsicherheiten und die zahlreichen komplexen Abwägungsmechanismen, die die DSGVO bereithält, müssen eingepreist werden.
Was wir brauchen ist daher keine Verpflichtung zum Teilen von Daten, sondern einen besseren, kontrollierten Zugang zu Daten. Dabei sollte vor allem auch Datenpooling erleichtert und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Einrichtungen und Unternehmen verbessert werden. So könnten dann vor allem hochwertige Datensätze verbesserten Zugängen unterliegen. Mit einem flexibilisierten Rahmenwerk könnten auch Forscher verbesserten Zugriff erhalten und Gemeinwohlzwecke durch private und öffentliche Forschung vorangetrieben werden.

Das Vorurteil der Maschine

Chemnitz/Güterloh (pag) – Der Einsatz automatisierter Entscheidungen und Künstlicher Intelligenz (KI) nimmt einem Report zufolge in Europa an Fahrt auf. Prof. Wolfgang Einhäuser-Treyer und Prof. Alexandra Bendixen von der TU Chemnitz warnen jedoch davor, KI zu überschätzen und blind in die scheinbare Objektivität maschineller Entscheidungsprozesse zu vertrauen.

KI kann in riesigen Datenmengen Muster erkennen. Interessant wird es, wenn sie Muster erkennt, die dem Menschen bisher verborgen blieben. Die Hoffnung: Durch einen objektiven Algorithmus fällen KI-Anwendungen bei gesellschaftlich und individuell bedeutsamen Fragen „schnellere“ und „gerechtere“ Entscheidungen – etwa, wenn es um die Kreditvergabe oder medizinische Behandlungen geht.

Einhäuser-Treyer und Bendixen weisen darauf hin, dass Verzerrungen in den Datenbanken, mit denen selbstlernende Algorithmen trainiert werden, zu Vorurteilen bei der Bewertung individueller Fälle führen. Noch problematischer werde es, wenn sich die Ausführenden dieser Verzerrungen nicht bewusst seien oder die Verantwortung auf die KI abwälzen. „Hinzu kommt, dass bei hinreichend komplexen Systemen in der Regel nicht mehr nachvollziehbar ist, auf welcher Grundlage eine Entscheidung getroffen wurde“, betonen die Professoren. Nachvollziehbarkeit von und Verantwortlichkeit für Entscheidungsprozesse seien aber die zentralen Voraussetzungen für die Akzeptanz von Entscheidungen.

Verzerrungen in den Datenbanken führen zu Vorurteilen bei der Bewertung individueller Fälle, warnen Prof. Wolfgang Einhäuser-Treyer und Prof. Alexandra Bendixen von der TU Chemnitz, © TU Chemnitz, Jacob Müller

Verzerrungen unvermeidlich

Dass das Erkennen von Zusammenhängen in großen Datenbanken für den Einzelnen gewaltige Vorteile mit sich bringt, räumen die Vorstandsmitglieder des Zentrums für Sensorik und Kognition allerdings ein. Ein Beispiel seien Patienten mit einer seltenen Symptomatik. Diese könnten sehr davon profitieren, nicht nur auf das Wissen eines einzelnen Arztes zuzugreifen, sondern auf den gewichteten Erfahrungsschatz der gesamten Ärzteschaft. „Im besten Fall ergeben sich durch die KI neue Ideen zur Einordnung der Symptome und zur geeigneten Behandlung.“ Grundsätzlich mahnen die Wissenschaftler an, das Bewusstsein für die unvermeidlichen Verzerrungen von Datenbanken zu schärfen. „Scheinbar objektive Algorithmen unterliegen genau wie Menschen ‚Vorurteilen‘, deren Quellen häufig schwer nachzuvollziehen sind“, schreiben sie und appellieren: Das Abwälzen der Verantwortung für Entscheidungen auf ein KI-System ist nicht hinnehmbar.

Unterdessen zeigen Algorithm-Watch und die Bertelsmann Stiftung in einem Report, wie verbreitet automatisierte Entscheidungen in Europa sind. Einige Beispiele aus dem Gesundheitswesen: Eine Universität in Mailand hat das „Abbiamo i numeri giusti“ („We have the right numbers“) System entwickelt. Dieses helfe den Krankenversicherungen dabei, automatisch die effizienteste und effektivste Behandlung für Patienten auszuwählen – „while at the same time optimising public spending“. Berichtet wird ferner über den Einsatz vom IBM-System Watson beim Mammografie-Screening in Dänemark. Auch Kela, die staatliche Sozialversicherungsinstitution in Finnland, sehe künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen als integralen Bestandteil ihrer zukünftigen Informations- und Kommunikationssysteme. Doch die Kommunikation automatisierter Entscheidungen, vor allem deren probabilistischer Charakter, stelle ein Problem dar, führen die Reportautoren aus.

Weiterführender Link
Report von Algorithm-Watch und der Bertelsmann Stiftung: https://algorithmwatch.org/en/automating-society/

Kontroverse zu Big Data und Leitlinien

Beim „quality of cancer care“ Kongress geht es ums Eingemachte

© iStock.com, erhui1979

Berlin (pag) – Spannende Debatten beim „quality of cancer care“-Kongress der Deutschen Krebsgesellschaft: Beim Thema Leitlinien treffen „barfüßige“ Kliniker und hochspezialisierte AMNOG-Methodiker aufeinander. Und Big-Data-Skeptiker Prof. Gerd Antes warnt vor den Verlockungen der großen Datenmengen. Energischen Widerspruch äußert Prof. Christof von Kalle.

Der Onkologe von Kalle nennt den Lungenkrebs als Beispiel dafür, wo etwa Sequenzierungen und hochauflösende Molekulardaten bereits heute Relevanz für die Behandlung von Patienten haben – „wo wir wirklich ein Big-Data-Konzept haben, das für die Patienten am Start ist“. Von Kalle, vor kurzem in den Sachverständigenrat Gesundheit berufen, analysiert in seinem Vortrag die Schwächen der hiesigen Krebsversorgung. Man wisse nicht, was die „ganz normalen Therapien in der ganz normalen Umwelt“ dem Patienten bringen, es gebe zu wenig Informationen über das Outcome der Verfahren. Das Problem bricht er auf zwei einfache Fragen herunter: Was haben wir mit unseren Patienten gemacht? Wie ist es ihnen daraufhin ergangen? Das Gesundheitssystem müsse sich in ein lernendes verwandeln, verlangt der Mediziner, „und dazu brauchen wir die Daten“.

Daten für und nicht über den Patienten

„Was haben wir mit unseren Patienten gemacht“, fragt Prof. Christof von Kalle. © pag, Fiolka

Er kritisiert außerdem, dass Patienten aus den Datenprozessen weitgehend ausgeschlossen seien. Der Patient habe zwar das Recht, über seine Daten Bescheid zu wissen, er oder sie verfüge aber über wenig Möglichkeiten, an dem Prozess teilzunehmen. Von Kalle plädiert daher für ein patientenzentriertes Gesundheitsdatenmanagement, damit Informationen für und nicht über den Patienten gesammelt werden. Nach Ansicht des Experten ließen sich damit auch viele Probleme des Datenschutzes oder transsektoraler Natur lösen. „Patienten sollten den Schlüssel zu dieser Entwicklung in der Hand halten“, appelliert er.

 

 

 

Qualitätsfreier Hype um Big Data: Prof. Gerd Antes teilt aus. © pag, Fiolka

Nach dem Pro-Daten-Impuls des Krebsexperten folgt der Konter von Antes, Mathematiker und Biometriker. Wie später auf einer KBV-Veranstaltung spricht er auch beim Kongress der Krebsgesellschaft in Bezug auf Big Data von einem „qualitätsfreien Hype“. Bullshit-Generator steht auf einer seiner Folien. Der ehemalige Direktor von Cochrane Deutschland will die Digitalisierungsideologie mit markigen Worten entlarven. Er ist davon überzeugt, dass der Nutzen von Big Data meist überschätzt und nicht belegt ist. „Jeder glaubt, dass mehr Daten besser sind – aber das stimmt nicht“, sagt er und verweist auf entsprechende Publikationen von Mathematikern, die er als einziger im Saal kennen dürfte. Mehr Daten verstopfen die Erkenntnisbahn und die richtigen Signale versacken im Rauschen, lautet seine Kernargumentation. Mittlerweile befinde man sich im Zeitalter der Korrelation, und Antes befürchtet, dass sich die Wissenschaft von der Qualität verabschiedet.

Verbindungsweg gesucht

In der folgenden Diskussion verweist PD Dr. Monika Klinghammer-Schalke, Direktorin des Tumorzentrums Regensburg, auf die vielen Datenquellen, die es in der Onkologie gibt – aus DMP, Qualitätssicherung, Zentren, klinischen Registern, Spezialregistern. „Warum begeben wir uns nicht auf den Weg, um das zu verbinden“, fragt die Expertin, die auch Direktorin des Instituts für Qualitätssicherung und Versorgungsforschung an der Universität Regensburg ist.

Weitere Impulse aus der Debatte: Geht es um ein Datensammeln des Sammelns wegen? Angemahnt wird, dass die Generierung von Daten nicht mit der Auswertung von Daten verwechselt werden dürfe. Und natürlich geht es auch um die großen Unternehmen, die große Datenmengen sammeln. Gefährlich findet es von Kalle, dass „Doubt-Diskussionen über das Marktverhalten von großen Internetunternehmen, deren Services wir fast alle benutzen, dazu führen, dass wir jetzt Entscheidungen darüber fällen, ob wir für uns selbst – zum Beispiel bei akademisch oder öffentlich geförderten Studien – Daten in bestimmter Form erheben oder ob wir das eben nicht tun“. Er warnt davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Wie methodisch naiv sind Leitlinien?

Leitlinien sind Handlungskorridor, kein Kochbuch, so Prof. Thomas Seufferlein. © pag, Fiolka

Der zweite Tag des Kongresses steht ganz im Zeichen von Leitlinien. Dabei geht es ans Eingemachte: Werden diese methodisch zu naiv erstellt? Und wie sind deren Aussagen zu neuen Arzneimitteln zu bewerten?

In Leitlinien stehe die optimale Patientenversorgung im Fokus, dabei handele es sich um einen Handlungskorridor, kein Kochbuch, stellt Prof. Thomas Seufferlein klar. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Ulm betont auch, dass der Patientennutzen bei den Handlungsempfehlungen das Entscheidende sei und nicht die Kosteneffektivität von Behandlungen. „Diese spielt und wird hoffentlich keine Rolle spielen“, meint er. Verbesserungsbedarf räumt der Vizepräsident der Deutschen Krebsgesellschaft insbesondere in puncto Anwendungsfreundlichkeit ein.

 

Die eigene Position muss kritisch hinterfragt werden, meint Prof. Dr. Axel Heyll © pag, Fiolka

Die entscheidende Schwäche an Leitlinien ist für Prof. Dr. Axel Heyll, dass bei ihnen das Prinzip der evidenzbasierten Medizin noch immer nicht ausreichend umgesetzt wird. Viele der Beteiligten seien nicht bereit, ihre eigene Position ausreichend kritisch zu hinterfragen, „sodass wir meiner Meinung nach noch immer viele eminenzbasierte Empfehlungen haben“, sagt der Leiter des Kompetenz-Centrums Onkologie des GKV-Spitzenverbandes und der MDK-Gemeinschaft. Die Qualität einer Leitlinie bestehe darin, dass sie möglichst viele evidenzbasierte Empfehlungen und möglichst wenig konsensbasierte enthalte. Allerdings seien nicht alle konsensbasierten Maßnahmen schlecht, räumt Heyll ein.

„Riesiger Datenschatz“

IQWiG-Vertreter Dr. Thomas Kaiser sieht Handlungsbedarf. © pag, Fiolka

IQWiG-Vertreter Dr. Thomas Kaiser hat die Relevanz von Leitlinien hinsichtlich ihrer Aussagen zu neuen Arzneimitteln anhand der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) der letzten zwei Jahre untersucht. Er kommt zu einem ernüchternden Fazit: Erstens werde nur ein Drittel der Themen der frühen Nutzenbewertung in aktuellen S3- oder S2-Leitlinien adressiert. Zweitens sei die zugrunde liegende Recherche der Leitlinien veraltet. Laut Kaiser beträgt die Latenzzeit zwischen Leitlinienrecherche und Veröffentlichung des G-BA-Beschlusses im Mittel drei Jahre. Drittens basierten die Aussagen zu neuen Arzneimitteln „regelhaft“ auf unvollständiger Datenbasis. Hierzu führt der Co-Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung aus, dass in Fachzeitschrift-Publikationen, Zulassungsberichten und Studienregistern nur etwa 50 Prozent der verfügbaren Ergebnisse aus Studien veröffentlicht werden. Dagegen seien nahezu 100 Prozent im AMNOG-Prozess vorhanden – damit meint er Herstellerdossier, IQWiG-Bericht und G-BA-Beschluss. Für Kaiser ein „riesiger Datenschatz“, der für Leitlinien jedoch nur im Einzelfall und niemals vollständig recherchiert werde.

Unvollständigkeit wirft Fragen auf

Ein weiterer Kritikpunkt: Nur jede fünfte aktuelle Leitlinie befasse sich systematisch mit der Lebensqualität in Bezug auf neue Arzneimittel. Fast 100 Prozent der Bevölkerung kümmerten sich darum allerdings bei Yoga, Sport oder Musiktherapie. „Im Bereich Arzneimitteln ist es bei den Leitlinien-Erstellern offensichtlich noch nicht im Kopf, dass das wichtig ist.“ Als Beispiel nennt Kaiser eine 2018 veröffentlichte Leitlinie zum Lungenkarzinom, welche hinsichtlich der Nebenwirkungen eines neuen Wirkstoffes aus dem IQWiG-Bericht für die AMNOG-Bewertung zitiert. Der Leitlinie ist außerdem zu entnehmen, dass eine Analyse zur Lebensqualität bisher nicht publiziert wurde. Kaiser weist jedoch darauf hin, dass eine solche ebenfalls in jenem IQWiG-Bericht enthalten ist, der in der Leitlinie wenige Zeilen zuvor zitiert wurde. Diese Unvollständigkeit wirft Fragen auf.

Leitlinien im AIS

Anlass für Kaisers Analyse ist das geplante Arztinformationssystem (AIS), genauer gesagt eine Stellungnahme der AWMF aus dem vergangenen Jahr dazu. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften hat darin bemängelt, dass Leitlinien im AIS nicht berücksichtigt werden. Dabei verfüge das AIS über keine Informationen über parallele oder spätere Zulassungen sowie über spätere Daten. Diesen Mangel könnten Leitlinien ausgleichen. Nach den Ausführungen des IQWiG-Mitarbeiters ist es wenig verwunderlich, dass dieser großen Handlungsbedarf bei den Aussagen zu neuen Arzneimitteln in Leitlinien sieht und hinterfragt, ob diese tatsächlich Datenlücken im AIS füllen können.

Enthusiastische Laien und das AMNOG

Die folgende Diskussion dreht sich um die vom Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft formulierte Kernfrage: Wie ist der „barfüßig“ breite klinische Blick der Leitlinien mit dem hochtechnisch selektiven Blick des AMNOG-Prozesses auf Arzneimittel zusammenzubringen, will Dr. Johannes Bruns wissen. Dr. Monika Nothacker von der AWMF findet, dass Leitlinien im AIS berücksichtigt werden sollen, auch wenn sie veraltet seien. Sie vermittelten dem Nutzer das klinische Umfeld, meint sie. Kaiser appelliert an die Leitlinien-Ersteller, die vorhandenen Datenquellen zu nutzen und mahnt eine hohe methodische Expertise an. Seufferlein räumt zwar ein, dass Leitlinien-Autoren „enthusiastische Laien“ seien. Er stellt aber auch heraus, dass Leitlinien für die Anwender gemacht werden. Die Empfehlungen müssten richtig, verständlich und umsetzbar sein. Die sperrige AMNOG-Sprache in klinische Realität zu übersetzen – „das leisten Leitlinien“.

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