Demenz und Sex

Berlin (pag) – Um Demenz und Sexualität geht es kürzlich bei einer Tagung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Das Interesse ist groß, der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt: Es findet ein intensiver Austausch über ein Thema statt, das noch immer ein großes Tabu darstellt.

Den Auftakt der Tagung bildet die Angehörigenperspektive – zwei anonyme Berichte von betroffenen Ehefrauen werden vorgelesen. Einer trägt die Überschrift: „Was Demenz mit der Liebe macht“. Darin wird die Frage gestellt, ob der Wunsch nach Nähe und Sexualität mit der Diagnose Demenz endet. Die Ehefrau schreibt, dass Erkrankte sexuelle Wesen bleiben, auch wenn ihnen solche Bedürfnisse meist nicht zugestanden werden. „Sie sind aber da.“

Vermeintliche Asexualität von Alten

Es fällt nicht nur Angehörigen schwer, über dieses Thema zu sprechen, auch Pflegende ringen um einen angemessenen Umgang. Vermutlich, weil Asexualität noch immer wichtiger Baustein der Altersidentität ist. Ältere dürften keinen Sex haben, sondern sollten sich bescheiden zurückhalten, schildert Christian Müller-Hergl eine gängige Vorstellung. Wer sich dem erfolgreichen Altern als beständige Optimierungsaufgabe verweigere, könne rasch als „dirty old man“ oder „unwürdige Greisin“ abgetan werden, erläutert der Wissenschaftler der Universität Witten/Herdecke und der Hochschule Osnabrück.

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Aufnahme mit Models gestellt © iStock.com, pidjoe

Zwar betonten Pflegekräfte oft, eine positive Einstellung zur Sexualität im Alter zu haben. Müller-Hergl berichtet aber, dass es sich in konkreten Situationen oft anders verhält. „Wenn Herr Meyer abends zu Frau Möller oder manchmal auch zu Frau Schmidt geht, wird es schwierig.“ Auf diesen Aspekt ihrer Arbeit würden Pflegende nicht wirklich vorbereitet, findet er. Allerdings hätten Studien gezeigt, dass Fortbildungen dazu nicht die Haltung von Mitarbeitern in Institutionen beeinflussten. „Das heißt: Auch dann, wenn sie aufgeklärt sind, bleiben sie bei ihrer restriktiven Haltung.“ Das betreffe vor allem die Jungen, je älter die Mitarbeiter seien, desto toleranter seien sie. Einer aktuellen Studie zufolge sind sich Pflegende und Angehörige mehrheitlich darin einig, dass intimer Kontakt zwischen Demenzpatienten, die anderweitig verheiratet sind, zu verhindern ist. Begründet wird das mit der „reduced capacity“ der Betroffenen. Allerdings weist Müller-Hergl darauf hin, dass intimer Kontakt zwischen unverheirateten Demenzpatienten von beiden Gruppen akzeptiert werde – in diesem Fall scheine das Argument der reduced capacity keine Rolle zu spielen, folgert der Wissenschaftler.

„Demenzpatienten können Entscheidungen treffen“

Im Anschluss stellt Pflegewirt Peter Offermanns wichtige Fragen: In welchem Umfang sollen andere über die Beziehung von Bewohnern entscheiden dürfen? Haben andere das Recht, Verhaltensnormen aufzustellen – solange nicht gegen Gesetze verstoßen wird? „Demenzpatienten können Entscheidungen treffen“, hebt Offermanns hervor. Sein Appell lautet, offen für Lösungen zu sein, welche die Lebensqualität der Klienten verbessern. Dafür gibt er den Tagungsteilnehmern folgende Grundsätze mit auf den Weg: Wir korrigieren unsere Vorstellung vom asexuellen Alter. Wir setzen Heterosexualität nicht als allgemeingültig voraus. Wir sind vorbereitet auf Konfrontationen mit den sexuellen Wünschen unserer Bewohner. Wir können darüber unvoreingenommen reden. Es ist noch ein langer Weg.

„Hoch bedeutsame psychologische und soziale Folgen“

Prof. Michael Rapp über Herausforderungen der Demenzprädiktion

Berlin (pag) – Der Sozialmediziner Prof. Michael Rapp weist im Interview auf die erheblichen psychologischen und sozialen Folgen für Personen hin, wenn sich diese frühzeitig auf Alzheimer testen lassen. Eine umfangreiche Beratung sei unerlässlich, auch müsse das Recht der Patienten auf Nichtwissen geschützt werden, fordert er.

Prof. Michael Rapp © privat

Die Demenzforschung gilt als schwieriger Forschungsbereich, der immer wieder Enttäuschungen verkraften musste. Jetzt scheint es einen Paradigmenwechsel hin zu Früherkennung und Prädiktion mittels Biomarker zu geben. Welche Chancen sehen Sie?

Rapp: Die klinische Demenzforschung hat immer wieder zwei Seiten gezeigt: Zum einen die Suche nach einer kurativen medikamentösen Therapie, die von vielen Enttäuschungen geprägt war. Zum anderen gibt es eine Reihe von Erfolgen in nichtmedikamentösen Verfahren – Ergotherapie, körperliche Aktivierung – und bei der Verbesserung der Versorgung durch die Vermeidung von Zwang und Psychopharmaka, was inzwischen auch Einzug in Leitlinienempfehlungen gehalten hat. Ob der Paradigmenwechsel zur Früherkennung und zu Biomarkern eine Reaktion auf die nur zögerlichen Erfolge bei einer kurativen medi-kamentösen Therapie darstellt, vermag ich nicht zu beurteilen. Bereits vor zwei Dekaden bestand in der neuropsychologischen Forschung ein Interesse an einer frühen Früherkennung – auch damals ohne eine effektive kurative oder präventive Therapie vorweisen zu können.

Wie bewerten Sie die gegenwärtigen Initiativen zur Prädiktion?

Rapp: Ich sehe ein Spannungsverhältnis: Einerseits ist eine zeitige Früherkennung erforderlich, um frühzeitige Interventionen, die neurobiologisch einiges an Plausibilität aufweisen, klinisch testen zu können. Dazu zählen letztlich auch nichtmedikamentöse präventive Verfahren. Andererseits weckt die Möglichkeit einer frühen Früh-erkennung berechtigterweise auch Wünsche, Sorgen und Ängste bei den Patienten. Für die individuelle Prädiktion in der Breite ist dieser Ansatz noch nicht ausreichend untersucht.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

Rapp: Ethisch ergibt sich natürlich die Frage, warum etwas gewusst werden soll oder darf, gegen das bisher keine effektive frühe Inter-ventionsmöglichkeit besteht. Neben den ethischen Fragen nach Nutzen und Risiken bei der Teilnahme an frühen Interventionsstudien stellt sich auch die Frage, ob so eine Früherkennung klinisch angeboten werden sollte. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass sie nicht als Routine von Leitlinien empfohlen wird und es bisher keine klinischen Studien zur Effektivität und Wirksamkeit der frühen Demenzprädiktion gibt. Darüber hinaus ist die Prädiktion mit Fehlern behaftet.

Inwiefern?

Rapp: Selbst bei einer herausragend guten Sensitivität und Spezifität von jeweils 90 Prozent würde von zehn Untersuchten einem mitgeteilt, dass er möglicherweise Demenz bekommt, ohne dass dies je eintreten wird. Die persönlichen psychologischen und sozialen Folgen auch im engsten Familienkreis sind sowohl für diese Gruppe als auch für die richtigerweise positiv Getesteten hoch bedeutsam. Hier ist eine umfangreiche medizinisch-ethische Beratung vor Einwilligung zum prädiktiven Screening ebenso erforderlich wie gegeben-enfalls eine psychosoziale Beratung zu den Folgen der Untersuchungsergebnisse. Zudem besteht beim Patienten ein Recht auf Nichtwissen, das ethisch und rechtlich zu schützen ist.

Wie können sich Politik, Gesellschaft und Ärzteschaft auf diesen medizinischen Fortschritt vorbereiten?

Rapp: Zunächst sind weitere Studien erforderlich, die die Effektivität einer frühen Demenzprädiktion und möglicher Interventionen belegen. Bis dahin kann die frühe Prädiktion außerhalb von wissenschaftlichen Studien nur als individuelle Behandlungsleistung zwischen Arzt und Patient erfolgen. Die routinemäßige Indikationsstellung außerhalb von Forschungskontexten erscheint mir problematisch und sollte als nicht leitliniengerecht kenntlich gemacht werden. Hier sind enge ethische und regulative Beratungsmaßstäbe anzulegen, wie wir sie beispielsweise aus der Gendiagnostik kennen. Eine solche regulative Absicherung könnte den gegebenenfalls anlasslosen Wunsch nach Wissen im Rahmen einer umfassenden Beratung kanalisieren und gleichzeitig anlassbezogene Sorgen und Ängste einordnen und deren Folgen therapeutisch unterstützen helfen.

 

ZUR PERSON

Prof. Michael Rapp ist seit 2013 Professor für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Potsdam. Zuvor arbeitete er unter anderem als Chefarzt der Klinik für Gerontopsychiatrie am Asklepios Fachklinikum Brandenburg a.d. Havel. Seit vergangenem Jahr ist Rapp Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (Zusatzbezeichnung Geriatrie) ist Vorsitzender der Ethikkommission der Universität Potsdam.

„Warum die Früherkennung von Alzheimer so wichtig ist“

Prof. Klaus Gerwert über neue Biomarker-Tests

Berlin (pag) – Ein neuer Bluttest kann im Mittel acht Jahre vor der klinischen Diagnose auf eine Alzheimer-Erkrankung hinweisen. Der Biophysiker Prof. Klaus Gerwert von der Ruhr-Universität Bochum hat ihn entwickelt. Im Interview erklärt er, was er sich von dem Test erhofft.

Prof. Dr. Klaus Gerwert © RUB, Kramer

Die Demenzforschung gilt als schwieriger Forschungsbereich. Es scheint einen Perspektivwechsel hin zu Früherkennung und Prädiktion mittels Biomarker zu geben. Was versprechen sich Wissenschaftler von diesem Ansatz?

Gerwert: Die Forschungscommunity ist überzeugt, dass dringend Biomarker gebraucht werden, insbesondere blutbasierte, um die Krankheit möglichst breit erkennen zu können. Die Früherkennung ist wiederum wichtig, um eine erfolgreiche Therapie zu installieren. Einige Firmen wie etwa Roche oder Biogen sind mit Antikörper-Thera-pien gegen Beta-Amyloid* bereits in der klinischen Phase III und könnten, wenn diese erfolgreich verläuft, bereits in fünf Jahren mit Medikamenten auf dem Markt sein. Dann werden Tests, die bereits in einem symptomlosen Zustand das hohe Alzheimer-Risiko angeben, extrem wichtig und hilfreich sein.

Können Sie das genauer erklären?

Gerwert: Ein Beispiel: Eine Nature-Veröffentlichung** der Firma Biogen zeigt, wie sich bei Probanden, die das Präparat der Firma über ein Jahr bekommen, die Amyloid Plaques*** im Gehirn auflösen. Das wurde sehr anschaulich im Positronen-Emissions-Tomographie (PET-)Scanning dargestellt. Ferner sieht man, dass die behandelten Personen mit der kognitiven Leistung konstant blieben, während die Vergleichsgruppe in der kognitiven Leistung abstürzte. Zusammengefasst bedeutet das: Man kann zwar Alzheimer noch nicht heilen, man kann aber den Status stabilisieren. Und je früher der Status stabilisiert wird, umso besser bleibt die kognitive Leistung erhalten.

Der von Ihnen entwickelte Biomarker-Bluttest kann im Mittel acht Jahre vor der Alzheimer-Diagnose auf die Krankheit hinweisen. Wie funktioniert das?

Gerwert: Etwa 15 bis 20 Jahre vor dem klinischen Ausbrechen der Krankheit wird das Amyloid-Beta-Protein nicht mehr in eine gesunde, sondern in eine kranke Form gefaltet. Diese Fehlfaltung können wir mit unserem Test messen und damit sehr früh ein Ereignis, das direkt mit der Erkrankung korreliert oder ursächlich dafür ist, feststellen. Dabei wird die von uns entwickelte Immuno-Infrarot-Sensor-Technologie verwendet, um das Verhältnis von pathologischem und gesundem Amyloid-Beta zu messen. Im Unterschied zu bisherigen diagnostischen Verfahren bei Alzheimer wie kostenintensives PET oder anhand Biomarker aus der invasiv zu gewinnenden Rückenmarksflüssigkeit könnte unser Bluttest ein kostengünstiges und minimal-invasives Screening ermöglichen. Der Bluttest ist neu und unterscheidet sich damit von allen anderen Tests, die bereits verfügbar sind.

Und wann kommt er auf den Markt?

Gerwert: Wir sind jetzt dabei, das Ganze zu miniaturisieren, dann wird der Test etwa in eine Zigarrenkiste hineinpassen. Angewendet haben wir ihn bisher an über 800 Probanden. Nachdem er bei uns im Labor gut funktioniert, wird das Verfahren momentan standardisiert. Wir sind auch damit beschäftigt, die Sensitivität und die Falsch-Positiv-Rate zu verbessern, indem der Test spezifischere neu entwickelte Antikörper berücksichtigt. Kombinieren wir ihn mit einer Rückenmarksflüssigkeitsanalyse, bei der die Fehlfaltung eines zweiten wichtigen Proteins, des Tau-Proteins, gemessen wird, kann die Sensitivität und Spezifität unseres Tests auf über 90 Prozent gesteigert werden. Insgesamt gehe ich davon aus, dass wir in etwa drei Jahren damit auf den Markt kommen werden.

Neben dem von Ihnen entwickelten blutbasierten Biomarker-Test gibt es noch weitere, die in der Entwicklung sind, oder?

Gerwert: Es stimmt, dass jetzt immer mehr Blutbiomarker-Tests aufkommen. Es gibt eine sehr inter-essante Arbeit von einem japanisch-australischen Forscherkonsortium. Bei deren Verfahren wird mittels Massenspektroskopie das Verhältnis von Aβ40 zu Aβ42 gemessen. Der Test misst das Fehlen von Aβ42 und damit indirekt die Belastung des Gehirns mit Amyloid Plaques. Das ist sicherlich ein wichtiger Test für die Forschung, er ist derzeit noch sehr aufwendig und teuer.

Was wird Ihr Test voraussichtlich kosten?

Gerwert: Ich vermute, dass er in der Größenordnung von ELISA****-Kosten liegen wird, also etwa 200 bis 400 Euro. Im Prinzip hilft dieser medizinische Fortschritt aber, enorme Kosten zu sparen. Denn wenn man die Erkrankung nur um ein Jahr herauszögern kann, spart man dadurch erhebliche Kosten. Das größte Risiko für Alzheimer ist das Alter – und wir sind eine alternde Gesellschaft. Wir brauchen daher dringend die Früherkennung, um die Krankheit besser therapieren und zumindest weiter herausschieben zu können.

*    Beta-Amyloid: Dabei handelt es sich um Proteine, die als Hauptauslöser von Alzheimer diskutiert werden.
**    Sevigny J, Chiao P, Bussière T, Weinreb PH et al.,The antibody aducanumab reduces Aβ plaques in Alzheimer‘s disease.Nature. 2016 Sep 1; 537(7618):50-6. doi: 10.1038/nature19323.
***    Zwei verschiedene Eiweißablagerungen sind charakteristisch für die Alzheimer-Krankheit: Beta-Amyloid-Plaques und Tau-Fibrillen.
****    ELISA ist ein immunologisches Verfahren, das bestimmte Moleküle in Körperflüssigkeiten nachweist. Die Abkürzung steht für Enzyme-Linked Immunosorbent Assay.

ZUR PERSON

Prof. Klaus Gerwert ist seit 1993 Leiter des Lehrstuhls für Biophysik der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Zusammen mit klinischen Forschern gründete er 2010 als Sprecher PURE (Protein Research Unit Ruhr within Europe). Schwerpunkt des europäischen Proteinforschungskonsortiums ist die Früherkennung von Krankheiten wie Krebs, Parkinson, Multiple Sklerose oder Alzheimer. Gerwert ist außerdem Gründungsdirektor des Bund-Land-finanzierten Forschungsbaus für molekulare Proteindiagnostik (ProDi).
Mehr über den von ihm entwickelten Test können Sie hier nachlesen: www.bph.rub.de/pressemitteilungen/061.htm

Wollen wir das wissen?

Chancen und Risiken der Demenzvorhersage

Berlin (pag) – Was wäre, wenn man sein persönliches Risiko, an Alzheimer zu erkranken, mit einem unkomplizierten Test bestimmen könnte? Der medizinische Fortschritt bei der Demenzvorhersage steht vor der Tür. Aber sind wir, das Versorgungssystem und die Gesellschaft, auf die damit verbundenen Herausforderungen vorbereitet?

„Momentan ist völlig unklar, wie innerhalb des Gesundheitssystems mit einem auf Demenz bezogenen Biomarker-Ergebnis umzugehen wäre“, sagt Prof. Martina Roes. © Photocreo Bednarek, Fotolia.com

Von einem neu entwickelten Bluttest, der acht Jahre vor der klinischen Diagnose auf eine Alzheimer-Erkrankung hinweisen könne, berichten im April Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum, des Deutschen Krebsforschungszentrums und des Krebsregisters Saarland. Die Forscher hoffen, dass Medikamente, die derzeit in klinischen Studien erprobt werden, das Fortschreiten der Krankheit aufhalten – wenn sie in diesem frühen Stadium angewandt würden. Prof. Klaus Gerwert (lesen Sie dazu das Interview in dieser Ausgabe), rechnet damit, dass der Test in drei bis fünf Jahren auf dem Markt sein wird.
Ein Einzelfall ist diese Meldung nicht. Einen Monat zuvor berichtet die Deutsche Gesellschaft für Neurologie von einem weiteren Blut-Test für Alzheimer. Und: „Alzheimer-Demenz frühzeitig auf der Spur dank automatisiertem MRT“ lautet die Botschaft der Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung am 15. März. Wenige Tage zuvor veröffentlicht wiederum die Deutsche Alzheimer Gesellschaft einen Fachtagungsbericht, der mit der Frage „Ist eine frühe Diagnose immer im Sinne der Betroffenen?“ überschrieben ist.

Perspektivwechsel in der Forschung

Die Beispiele illustrieren einen Perspektivwechsel, der offenbar derzeit in der Demenzforschung stattfindet – von der Heilung zur Früherkennung und Prädiktion mit Biomarkern sowie der Verzögerung der Symptomexpression. Eine Heilung für Demenz gibt es nach wie vor nicht. Tests mit Biomarker-Untersuchungen ermöglichen aber in naher Zukunft, bereits weit vor Eintritt der ersten Symptome, eine Wahrscheinlichkeitsaussage an Demenz zu erkranken. Speziell Bluttests sind im Unterschied zu anderen Verfahren relativ günstig, minimalinvasiv und damit für ein breiteres Screening geeignet. Bei Betroffenen und Angehörigen führt das zu Erwartungen, aber auch zu Ängsten. Die Frage, die sich jeder unwillkürlich stellt, lautet: Würde ich einen solchen Test machen?

Dazu hat der AbbVie Healthcare Monitor im März in Kooperation mit Gerechte Gesundheit eine Umfrage durchgeführt. Der repräsentativen Befragung zufolge würde sich jeder Zweite wahrscheinlich für die Testung entscheiden. Befragte ab 60 Jahren würden den Test häufiger als die anderen Gruppen „auf jeden Fall“ durchführen lassen. Jüngere Befragte unter 40 Jahren sehen dadurch besonders häufig Planungsvorteile für das Leben, zum Beispiel bezogen auf Pflege, Wohnsituation oder Beruf. Unter denjenigen, die einen Bluttest ablehnen, dominiert die Angst vor einer hohen psychischen Belastung. Risiken der Diskriminierung werden allerdings verhältnismäßig selten befürchtet – unabhängig davon, ob die Befragten einen Test auf Altersdemenz machen würden oder nicht. Nur 16 Prozent fürchten Ausgrenzung in der Familie.

Individuelle Abwägung und Herausforderung für das System

Das Für und Wider zur prädiktiven Demenzdiagnostik ist aber nicht nur eine individuelle Entscheidung, die es sorgfältig abzuwägen gilt: Planungsvorteile bzw. bewusstes Risikomanagement versus psychische Belastung und potenzielle Diskriminierungsgefahr. Es stellt auch das Gesundheitssystem vor Herausforderungen. „Momentan ist völlig unklar, wie innerhalb des Gesundheitssystems mit einem auf Demenz bezogenen Biomarker-Ergebnis umzugehen wäre“, sagt Prof. Martina Roes. Die Forscherin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen verweist etwa auf die Gefahr, dass für Betroffene medizinische Leistungen ausgeschlossen werden. Rechtliche und ethische Aspekte erläutern die Juristin Prof. Susanne Beck und die Medizinethikerin Prof. Silke Schicktanz in einem Aufsatz*. Beispiel Aufklärung: Den Expertinnen zufolge legt die derzeitige Rechtslage den Fokus mit wenigen Ausnahmen auf die körperlichen Aspekte. Die drohenden psychischen Schwierigkeiten oder Diskriminierungspotenziale würden nur erfasst, soweit genetische Biomarker einbezogen würden. Auch auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Demenzprädiktion und Gendiagnostik gehen Beck und Schicktanz ein (siehe Infokasten), ebenso wie auf die Bedeutung von Patientenverfügungen und das Recht auf Nichtwissen.

*    „Wer viel weiß, hat viel zu sorgen?“ Zur Prädiktion von Altersdemenz mittels Biomarker: ethische und rechtliche Fragestellungen. Erschienen im Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 24 (20186).

 

Demenzprädiktion versus Gendiagnostik

Auf den ersten Blick scheint es, erläutern Beck und Schicktanz, dass Biomarker auf eine späteinsetzende Erkrankung wie Altersdemenz keine neuen Fragen im Vergleich zur genetischen Testung von spät auftretenden neurologischen Krankheiten aufwerfen. Warum wird nur die genetische Diagnostik besonders geregelt, fragen sie. Gerade bei der Demenzprädiktion mache die Art der Diagnostik keinen relevanten Unterschied für die Betroffenen. Mit Blick auf die Ähnlichkeiten spreche viel dafür, die besonderen Voraussetzungen für die Gendiagnostik auf die Untersuchung zur Demenzprädiktion zu übertragen. Auf den zweiten Blick aber erkennen die beiden Wissenschaftlerinnen, dass die Demenzprädiktion ein „neu zu diskutierender Sonderfall“ sei. Das machen sie an sozialen Faktoren fest: Demenz gelte momentan als einer der häufigsten und sozial bedrohlichsten Krankheiten, sie werde kulturell sehr unterschiedlich interpretiert und die biografischen Erfahrungen damit seien recht verbreitet und: Eine ethische und öffentliche Debatte dazu befindet sich noch in den Anfängen.

Das Diskursverfahren

Ziel des Vorhabens „Prä-Diadem“ ist ein ethisch-rechtlicher Diskurs mit Auszubildenden in Gesundheitsberufen, Wissenschaftlern, Angehörigen und Betroffenen über Entscheidungskonflikte, die durch Fortschritte in der Demenz-Diagnostik entstehen. Die Teilnehmenden sollen Kriterien für eine Kommunikations- und Vermittlungsleitlinie erarbeiten, an Falldiskussionen erproben und verfeinern. Die Ergebnisse des Diskurses und die Lehrmaterialien werden veröffentlicht und Lernenden, Lehrenden sowie der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Beginn des Verfahrens ist eine Konferenz am 22./23. Juni 2018 in Göttingen. Das Verbundprojekt des IEGUS Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft, Bochum/Berlin, und des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen, wird von Prof. Dr. Silke Schicktanz und Prof. Scott Stock Gissendanner geleitet.
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Weitere Informationen unter:  www.praediadem.de

Betroffene bleiben anonym

Geht man noch einen Schritt weiter, so zeigt sich, dass sich nicht nur Fachkreise mit den Herausforderungen, die dieser medizinische Fortschritt im Gepäck hat, auseinandersetzen müssen – auch die gesellschaftliche Dimension ist nicht zu unterschätzen. In Deutschland leben gegenwärtig fast 1,6 Millionen Demenzkranke; zwei Drittel von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Jahr für Jahr treten etwa 300.000 Neuerkrankungen auf. Einer Umfrage der DAK zufolge fürchtet sich jeder zweite Deutsche davor, an Demenz zu erkranken. Offenbar nimmt mit dem Alter die Sorge zu. Einer aktuellen Umfrage im Auftrag der gemeinnützigen Alzheimer Forschung Initiative zufolge fürchten von den über 70-Jährigen 61 Prozent die Erkrankung, bei den unter 30-Jährigen sind es lediglich 14 Prozent.
Kommen sie alle in nicht allzu ferner Zukunft für einen Biomarker-Test infrage? Und wie geht es nach dem Test weiter, wenn dieser ein hohes Krankheitsrisiko anzeigt? Sich Jahre vor einem möglichen Krankheitsausbruch als potenzieller Alzheimerpatient zu outen, dürfte gegenwärtig ein gesellschaftliches Tabu darstellen. Nicht ohne Grund bleiben die meisten Betroffenen anonym – etwa jene, die Träger von einem oder mehreren APOE4-Allelen sind und sich auf dem englischsprachigen Webforum www.ApoE4.info austauschen. Der APOE4-Genotyp gilt als der wichtigste genetische Risikofaktor für die Alzheimererkrankung.

© Roche Pharma AG

Die Angst vor Diskriminierung hält Martina Roes für berechtigt, sie beobachtet in unserer Gesellschaft die Tendenz, auf unerklärbare Krankheitsphänomene mit Diskriminierung und Stigmatisierung zu reagieren. Demenz sei daher nicht nur eine neurodegenerative Erkrankung, sondern eine, die die Menschenrechte mit beeinflusse und somit die Vulnerabilität noch verstärke.

Wann fängt Alzheimer an?

Die Demenzprädiktion hinterfragt unsere üblichen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Wann hört das eine auf, wann fängt das andere an? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Eine pragmatische Orientierung zu dem Thema bietet der wissenschaft-liche Beirat der Bundesärztekammer, der im März eine „Stellungahme zum Umgang mit prädiktiven Tests auf das Risiko für die Alzheimer Krankheit“ herausgegeben hat. Der Vorsitzende des zuständigen Arbeitskreises „Alzheimer-Risikodiagnostik“, Prof. Robert Jütte, zeigt sich im Interview mit dem Ärzteblatt gegenüber den prädiktiven Tests skeptisch: Diese seien lediglich für einen kleinen Personenkreis sinnvoll, den meisten Menschen brächten sie nichts und könnten sogar schaden. In der Stellungnahme wird Personen ohne Symptome und ohne familiäre Belastung von prädiktiven Tests ebenso abgeraten wie zunächst Personen mit subjektiven Beschwerden. Das gleiche gilt für asymptomatische Personen mit familiärer Belastung und spätem Erkrankungsbeginn. Lediglich bei Personen ohne Symptome, aber mit einer hohen familiären Belastung und frühem Erkrankungsbeginn eines Verwandten ersten Grades mache es nach ärztlicher Aufklärung dagegen durchaus Sinn, sich auf das Vorhandensein von Genmutationen untersuchen zu lassen, heißt es in der Stellungnahme. Darin wird auch angeregt, die Werbung für solche Tests zu kontrollieren.

Aktiv geworden ist auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Es fördert das Diskursverfahren „Konfliktfall Demenzvorhersage“, das eine ethische, rechtliche sowie öffentliche Debatte zu dem Thema beleben soll (Details dazu im Infokasten). Eine Stakeholder-Konferenz wird im Juni dieses Jahres stattfinden. Sie dürfte der Diskussion zur Demenz-prädiktion wichtige Impulse verleihen. Diese sind dringend notwendig, denn es gibt noch viele unbeantwortete Fragen.

Lektüretipp:
What if You Knew Alzheimer’s Was Coming for You? New York Times, 17. November 2017 https://www.nytimes.com/interactive/2017/11/17/opinion/sunday/What-if-You-Knew-Alzheimers-Was-Coming-for-You.html

 

ZUM HINTERGRUND

Bei Frühtests, die mittels Biomarker Vorboten der Krankheit aufspüren, bevor die ersten Symptome auftreten, können verschiedene Verfahren angewendet werden: zum Beispiel die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), ein bildgebendes Verfahren der Nuklearmedizin, oder eine Analyse der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit. Ferner werden momentan blutblasierte Biomarker-Tests entwickelt. Der Biophysiker Prof. Gerwert sieht den von ihm entwickelten Bluttest als mögliches Eingangsscreening, um überhaupt das Krankheitsrisiko zu identifizieren. Im zweiten Schritt würde dann ein PET-Scan oder eine Analyse der Rückenmarksflüssigkeit erfolgen, erläutert der Forscher. Unter Biomarkern sind charakteristische biologische Merkmale zu verstehen, die objektiv gemessen werden und auf einen krankhaften Prozess im Körper hinweisen können. Die Identifikation von Biomarkern, die mit Demenz im Zusammenhang stehen, ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Grob kann man beispielsweise zwischen genetischen und neurologischen Biomarkern unterscheiden.
Eine Übersicht der Verfahren zur Diagnostik der Alzheimer-Krankheit kann in der Stellungnahme der Bundesärztekammer nachgelesen werden: http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/WB/SN_Alzheimer_Risikodiagnostik.pdf