Prof. Alena Buyx: „Kein Automatismus von wissenschaftlichen Daten zur politischen Entscheidung“

Nachgefragt bei Prof. Alena Buyx, Medizinethikerin

 

Der ethische Kernkonflikt der Coronakrise besteht für den Rat darin, dass ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden muss und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering zu halten sind. Wie ist dieser Konflikt zu lösen?

Buyx: Der Konflikt kann letztlich nicht befriedigend gelöst werden. Es kann nur eine bestmögliche Balance gefunden werden. Dazu haben wir in der Empfehlung einige Anmerkungen gemacht. Wichtig ist etwa: Je länger die Maßnahmen andauern und je gravierender die Folgen werden, desto stärker müssen die Interessen von denjenigen, die von den Folgen betroffen sind, berücksichtigt werden. Anders ausgedrückt: Je länger das andauert, desto dringlicher wird die Verpflichtung, zu prüfen, ob, wann und wie die Maßnahmen wieder aufgehoben werden können.

Eine Exit-Strategie?

„Wir nennen es nicht Exit-, sondern Renormalisierungsstrategie. Bei dem Wort Exit bestehen unschöne Konnotationen“, sagt Alena Buyx. © iStock.com, Elena Nelyubina

Buyx: Wir nennen es nicht Exit-, sondern Renormalisierungsstrategie. Bei dem Wort Exit bestehen unschöne Konnotationen, in der Medizinethik denken dabei manche an den Tod – Exit, Exitus. Renormalisierungsstrategie trifft es viel besser. Exit bedeutet ja Ausgang. Wir weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass wir ganz sicher nicht einfach zum Status quo von vorher zurückkehren werden können. Im Moment ist davon auszugehen, dass nach dem sogenannten Hammer, den wir jetzt machen, der Tanz vollzogen wird. Das bedeutet, einzelne aktuelle Restriktionen schrittweise zurückzufahren, andere einzuführen usw. Dieser Prozess sollte von weiteren Maßnahmen flankiert werden, die wir in unserer Empfehlung nennen.

Zum Beispiel?

Buyx: Stärker zu testen und auch bei den Antikörpertests zur Immunität, die bald zum Einsatz kommen sollen, die Kapazitäten hochzufahren. Vor allem wollen wir aber mit der Empfehlung darauf hinweisen, dass es um einen echten ethisch-gesellschaftlichen Konflikt geht.

Das bedeutet?

Buyx: Dass es keinen vorgezeichneten Plan gibt, nur in die eine Richtung. Dass wir nicht auf unbegrenzte Zeit im absoluten Sinn alles tun können, um die Pandemie zurückzudrängen, ohne Rücksicht auf die Effekte. Es gibt zwei Seiten dieser Medaille.

Werden diese denn überhaupt wahrgenommen?

Buyx: Da geht es um den Zeitpunkt. Gegenwärtig hält der Ethikrat die aktuellen Maßnahmen für berechtigt und die Schäden für zumutbar. Und dabei muss man sich klar machen: Menschen verlieren im Moment ihre Existenz, wir gehen von steigenden Selbstmordraten aus, es gibt Patienten, die gegenwärtig nicht richtig medizinisch versorgt werden können, auch die Gewalt in den Familien kann zunehmen. Dennoch sagen wir, dass das im Augenblick zumutbar ist – aber nicht unbegrenzt und nicht ohne regelmäßige Prüfung, was zurückgenommen werden kann.

Der Rat warnt davor, allein den einzelnen Ärzten die Verantwortung aufzubürden, in Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden. Wie kann das verhindert werden?

„Wir können nicht auf unbegrenzte Zeit im absoluten Sinn alles tun, um die Pandemie zurückzudrängen, ohne Rücksicht auf die Effekte“, meint Alena Buyx. © iStock.com, CasarsaGuru

Buyx: Zunächst ist festzuhalten, dass der Staat in dieser Hinsicht keine Maßgaben vorgeben kann. Das ist ganz wichtig. Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und festlegen, wer eine Behandlung bekommt und wer nicht. Aber wenn solche Entscheidungen anstehen – was wir alle nicht hoffen – dann sollten sie nach transparenten, nachvollziehbaren und auch breit geteilten Kriterien erfolgen. Das sollte nicht auf den Schultern einzelner Ärztinnen und Ärzte lasten. Es wäre fürchterlich, als einzelne Person ohne jegliche Empfehlung und Unterstützung solche Entscheidungen treffen zu müssen. Der Ethikrat weist daher auch auf die aktuell veröffentlichten Empfehlungen der Fachgesellschaften hin, die für solche Situationen Kriterien entwickelt haben.

Was halten Sie von den Empfehlungen?

Buyx: Ich halte sie für hilfreich. Zu einem so schwierigen Thema in solch kurzer Zeit konsentierte Empfehlungen herauszugeben, ist jedenfalls eine beeindruckende Leistung. Bereits jetzt wird an vielen Häusern geschaut, wie diese Empfehlung in der Praxis umzusetzen ist. Das Gesundheitssystem bereitet sich vor.

Die Coronakrise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik, heißt es in Ihrer Empfehlung. Besteht nicht eher die Gefahr, dass politische Entscheidungen an die Wissenschaft delegiert und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System verlangt werden?

Buyx: Genau das ist der Grund, warum wir das so eindringlich geschrieben haben. Wie es andere, etwa unser Vorsitzender Peter Dabrock, schon vor mir formuliert haben: Politik muss auf Wissenschaft hören, aber sie darf ihr nicht hörig sein. Natürlich muss die Wissenschaft die Politik gerade jetzt sehr intensiv beraten. Die Entscheidungsfindung über die angesprochene Balance kann allerdings nicht von der Wissenschaft vorgegeben werden. Sie kann das ethisch-politische Dilemma nicht lösen. Die Wissenschaft ist von vitaler Wichtigkeit, denn ohne die bestmöglichen Daten kann im Moment nicht entschieden werden. Das hat evidenzbasiert zu passieren. Aber es existiert eben kein Automatismus von den wissenschaftlichen Daten hin zu einer politischen Entscheidung – die Politik muss entscheiden.

Zur Person:
Prof. Alena Buyx ist Ärztin mit weiteren Abschlüssen in Philosophie und Soziologie. An der Technischen Universität München hat sie eine Professur für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien. Buyx ist Mitglied im Deutschen Ethikrat, zuvor war sie unter anderem stellvertretende Direktorin des englischen Ethikrats und Senior Fellow am University College London.

Ethikrat: Solidarität und Verantwortung in Krisenzeiten

Berlin (pag) – Der Deutsche Ethikrat befürwortet die aktuell zur Eindämmung der Infektionen ergriffenen Maßnahmen – auch wenn sie allen Menschen in diesem Land große Opfer abverlangen. In einer Ad-hoc-Empfehlung verlangt er jedoch: Die Freiheitsbeschränkungen müssen kontinuierlich mit Blick auf die sozialen und ökonomischen Folgelasten geprüft und möglichst bald schrittweise gelockert werden.

Für diesen schwierigen Abwägungsprozess soll die Empfehlung eine ethische Orientierungshilfe leisten. Der Rat mahnt eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter an: Einbezogen werden müssten dabei auch Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung; es sei zu prüfen, in welchem Ausmaß und wie lange eine Gesellschaft starke Einschränkungen ihres Alltagslebens verkraften kann.
Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, sagt: „In dieser Krise ungekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen.“ Doch auch mit diesen Ressourcen gelte es sorgsam umzugehen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln.
Konkret empfiehlt der Ethikrat für die nächste Zeit unter anderem folgende Einzelmaßnahmen: die Kapazitäten des Gesundheitssystems sollten weiter aufgestockt und stabilisiert werden, ein flächendeckendes System zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten sei einzuführen, bürokratische Hürden sollen abgebaut und Testkapazitäten weiter aufgebaut werden. Die Forschung zu Impfstoffen und Therapeutika sei zudem breit zu fördern, und auch die Forschung zu sozialen, psychologischen und anderen Effekten der Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie sei zu unterstützen. Außerdem gelte es, effektive Schutz- und Isolationsstrategien für Risikogruppen zu entwickeln.

Link zur vollständigen Ad-hoc-Empfehlung des Ethikrates: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf

 

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Versorgungsforschung braucht Patientendaten

Berlin (pag) – Datenschutz versus Datenschatz – wie ist dieser Antagonismus aufzuheben? Darüber diskutieren Wissenschaftler und Patienten auf dem Kongress für Versorgungsforschung. Sie fordern mehr Flexibilität beim Datenschutz und mehr Datensouveränität. Die gesetzlichen Vorgaben erschwerten eine sinnvolle Verknüpfung vorhandener Daten und damit Erkenntnisgewinne, die Patienten etwa bei der Behandlung von Krebs zugutekommen könnten.

„Ich möchte selbst entscheiden, was gut für mich ist und wer meine Daten nutzen darf“, sagt Eva Schumacher-Wulf, Chefredakteurin des Brustkrebsmagazins „Mamma Mia“. Ihr gehen die bisherigen Restriktionen des Datenschutzrechtes zu weit. „Nur wer Wissen erzeugt aus Daten, kann Patienten helfen, länger und besser zu leben“, ergänzt Ulla Ohlms, Vorsitzende der Path-Stiftung, die eine eigene Tumordatenbank besitzt.

Versorgungsforschung braucht Patientendaten – und zwar personenbezogene, betont Dr. Monika Klinkhammer-Schalke vom Tumorzentrum in Regensburg bei dem von Roche unterstützten Symposium. „Wir müssen die Daten zusammenführen, pseudonymisiert passieren zu viele Fehler.“ Doch gerade bei der Verknüpfung personenbezogener Daten setze das Datenschutzrecht hohe Hürden und stelle den (Daten-)Registern viele Auflagen. „Manchmal sind wir mehr damit beschäftigt als mit den Patientenauswertungen“, sagt sie. „Für jedes neue Datenfeld, jeden neuen Datensatz müssen wir kämpfen, das dauert mir viel zu lange.“ Der Datenschutz müsse viel flexibler werden, verlangt die Forscherin, die auch Verbindungen zu Krankenkassen-Daten begrüßen würde, um mehr über Komorbiditäten zu erfahren.

Die Zweckgebundenheit des jetzigen Datenschutzes passe nicht zu den Datensammelmöglichkeiten, welche die digitale Welt heute bietet, sagt Prof. Steffen Augsberg, Mitglied des Deutschen Ethikrates. Das Gremium spricht sich deshalb dafür aus, die Einwilligung in Datenverarbeitungen individuell nach Belieben ausweiten zu können. So könnten Daten nicht nur für einen festgelegten Zweck, sondern allgemein an bestimmte Verwender oder für größere Forschungszusammenhänge „gespendet“ werden.

Versorgungsforschung braucht Patientendaten – wie lässt sich das mit dem Datenschutz vereinbaren? Darüber diskutieren v.l.: Monika Klinkhammer-Schalke, Michael Hennrich MdB (CDU), Ulla Ohlms, Tamás Bereczky, EUPATI, Eva Schumacher-Wulf und Steffen Augsberg. © pag, Fiolka
Versorgungsforschung braucht Patientendaten – wie lässt sich das mit dem Datenschutz vereinbaren? Darüber diskutieren v.l.: Monika Klinkhammer-Schalke, Michael Hennrich MdB (CDU), Ulla Ohlms, Tamás Bereczky, EUPATI, Eva Schumacher-Wulf und Steffen Augsberg. © pag, Fiolka

 

 

 

Seltene Erkrankungen – Allokationsherausforderung für das System

Berlin (pag) – Mit den Bedürfnissen von Patienten mit seltenen Erkrankungen und den Herausforderungen, die solche Krankheiten an ein solidarisches Gesundheitssystem stellen, hat sich kürzlich der Deutsche Ethikrat befasst. Bemängelt wird fehlende Transparenz bei wichtigen Allokationsentscheidungen.

„Die ethische Herausforderung ist der Ausgleich zwischen den berechtigten Ansprüchen der Menschen mit seltenen Erkrankungen auf eine ausreichende Versorgung einerseits und den strukturellen und ökonomischen Begrenzungen des Gesundheitswesens andererseits“, stellt Ratsmitglied Stephan Kruip, selbst von einer seltenen Erkrankung betroffen, fest. Die Europäische Union habe festgestellt, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen den Anspruch auf die gleiche Qualität einer Therapie haben wie andere Menschen. Jörg Richstein, Vorsitzender der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), hebt hervor, wie dringend Menschen mit seltenen Erkrankungen eine schnelle Diagnose und richtige Versorgung benötigen. „Die individuelle Seltenheit der Erkrankungen stellt ein solidarisches Gesundheitssystem ohne Zweifel vor große Herausforderungen“, sagt er. „Diese aber nicht anzunehmen, widerspräche dem Grundgedanken einer Solidargemeinschaft.“

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Fairer Prozess zur Abwägung der Interessen

Prof. Daniel Strech, Charité und Berliner Institut für Gesundheitsforschung, stellt das Thema Allokation in den Mittelpunkt. Es bestehe zwar breiter Konsens darüber, dass eine solidarische Gesellschaft allen Mitgliedern eine faire Chance auf Behandlung einräumen müsse. Allerdings seien Ressourcen wie Geld, Personal und Zeit für die medizinische Versorgung begrenzt. Daher seien die verschiedenen Interessen und Argumente in einem fairen Prozess abzuwägen. „Wir sollten uns Priorisierungskriterien überlegen, die wir alle konsentieren können“, betont Strech. In der Regel würden dazu der medizinische Nutzen, die Kosteneffektivität und die medizinische Bedürftigkeit herangezogen. Dazu brauche es ein faires, transparentes Verfahren, das Partizipation ermögliche und die bestverfügbare Evidenz einbeziehe. Beim „Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ kann der Experte für translationale Bioethik nicht erkennen, wie die 52 Maßnahmen des Plans vereinbart und priorisiert wurden, auf welcher Evidenz sie beruhen und ob es andere Vorschläge gegeben hat, die nicht berücksichtigt wurden. Auch bei der Forschungsförderung vermisst er einen transparenten Abwägungsprozess: Seit 2003 habe das Bundesministerium für Bildung und Forschung über 134 Millionen Euro zur Aufklärung wichtiger Fragen zu seltenen Erkrankungen finanziert. „Aber ob es ein konkretes Allokationsgespräch gab, wo man sagen würde: Dieses Budget ist das, was wir nach Abwägen von Pro und Contra über die nächsten 15 Jahre zur Verfügung stellen, das wissen wir nicht“, konstatiert Strech. „Wir kennen nur diese Zahl, aber nicht, wie man zu dieser Zahl gekommen ist.“ Offen bleibe: Gab es vielleicht eine Art von Binnenallokation? Wurden bestimmte seltene Erkrankungen eher beforscht und priorisiert oder nicht? Dazu gebe es keine Transparenz.

Weiterführender Link:
Weitere Informationen zur Veranstaltung finden sich unter
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/gar-nicht-so-selten

„Teilen ist Heilen“

Ethikrat bezieht Stellung zu Big Data

Berlin (pag) – „Man kann Big Data nicht aufhalten, aber sehr wohl gestalten“, sagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Bei der Präsentation der lang erwarteten Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu Big Data Ende vergangenen Jahres erläutern der Vorsitzende des Gremiums, Prof. Peter Dabrock, und Ratsmitglied Prof. Steffen Augsberg, wie dies gelingen kann.

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Es handele sich bei Big Data um „eine gesellschaftliche und technologische Entwicklung, die das Zeug dazu hat, die Medizin zu revolutionieren“, ist sich der Minister sicher. Gröhe lobt den Ethikrat für seine Stellungnahme, in der das Gremium nicht mit Ängsten spiele, sondern konkrete Handlungsempfehlungen formuliere. Dennoch: „Datensouveränität durchzudeklinieren, wird eine große Aufgabe.“

Klassische Datenschutzmechanismen greifen nicht mehr

Im Mittelpunkt des Papiers stehen die klassischen Daten-schutzmechanismen, die sich laut Dabrock „als nicht mehr ausreichend oder sogar als dysfunktional“ erwiesen haben. Hier müsse man neue Wege gehen, denn es sei „gegenüber den vielen Menschen, denen signifikante Gesundheitsverbesserungen winken, unverantwortlich, wenn man diese Chancen gesellschaftlich wegen der alten Datenschutzprinzipien verbieten wollte“. Für den Einsatz von Big Data im Gesundheitswesen gelte: „Teilen ist Heilen.“ Damit spielt der Theologe auf ein Zitat aus dem dystopischen Roman „The Circle“ von Dave Eggers an. Vollständig lautet es: „Teilen ist Heilen. Privatheit ist Diebstahl und Geheimnisse sind Lügen.“ Dieses Mantra sei literarisch so angelegt, dass man es „in Gänze wie in seinen Teilen rundweg ablehnen soll“. Doch so einfach ist es Dabrock zufolge nicht – zumindest nicht, was das Themenfeld Big Data und Gesundheit betrifft. Denn: „Wer wollte schon dagegen sein, wenn sich mithilfe dieser Big-Data-getriebenen Entwicklung tatsächlich Lebenszeit verlängern und Lebensqualität verbessern ließe?“

Zwischen informeller Selbstbestimmung und Datenschutz

„Das ganze ist eine hochambivalente Situation“, sagt Prof. Peter Dabrock (links) bei der Übergabe des Gutachtens an Bundesforschungsministerin Prof. Johanna Wanka und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Ebenfalls im Bild: Prof. Steffen Augsberg (rechts) © Dt. Ethikrat, Reiner Zensen

Bisher sei man ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass in der Medizin zum einen die informelle Selbstbestimmung, zum anderen die klassischen Datenschutzprinzipien wie Zweckbindung und Datensparsamkeit unbedingt zu gelten haben. Gleichzeitig brauche es aber für aussagekräftige Folgerungen sehr große Datenmengen. „Das Ganze ist eine hochambivalente Situation“, fasst Dabrock zusammen. Der Ethikrat greift daher einen Begriff auf, der seit wenigen Jahren in der Diskussion, aber bisher diffus gefüllt ist: Datensouveränität. Der Terminus werde „in den aktuellen Debatten nicht nur mit unklaren, sondern auch mit diametral entgegengesetzten Bedeutungsinhalten verwendet“, ergänzt Augsberg. „Teilweise werden damit lediglich die tradierten, letztlich kaum veränderten Regulierungsansätze des Datenschutzes unter neuem Namen fortgeschrieben.“ Der Ethikrat definiere Datensouveränität dagegen als „den Chancen und Risiken von Big Data angemessene verantwortliche informelle Freiheitsgestaltung“ und verweise damit auf das bekannte Konzept der informellen Selbstbestimmung, entwickele dieses jedoch weiter, so Augsberg. Es gehe dabei insbesondere um die Möglichkeit, je nach individueller Präferenz effektiv in den Strom persönlich relevanter Daten eingreifen zu können. Diese Freiheitsgestaltung soll sich nach den Vorstellungen des Ethikrats auch „an den gesellschaftlichen Anforderungen von Solidarität und Gerechtigkeit“ orientieren.

Verantwortung trägt sowohl der Einzelne als auch der Staat

Das Datenschutzrecht befinde sich derzeit in einem nahezu vorbildlosen Umbruchprozess, so Augsberg weiter. Als Beispiele nennt der Rechtswissenschaftler die EU-Datenschutzgrundverordnung, das Bundesdatenschutzgesetz und die noch im Gesetzgebungsverfahren befindliche europäische E-Privacy-Verordnung. Ein ethisch orientierter Umgang mit Big Data müsse sicherstellen, dass „für den Einzelnen zumindest die realistische Möglichkeit besteht, die eigene Identität zu bewahren und zu gestalten sowie die eigenen Handlungen vor sich und anderen zu verantworten“. Verantwortung trage dabei nicht nur das Individuum: „Sie trifft auch Institutionen und insbesondere den Staat.“ Angesichts der Defizite des traditionellen Datenschutzrechts bedürfe es hierfür eines neuen, die Komplexität und Entwicklungsdynamik von Big Data stärker spiegelnden Gestaltungs- und Regelungskonzepts, folgert Augsberg.

Politik soll „Datenspende“ ermöglichen

Die Stellungnahme enthält daher neben einer Beschreibung der Entwicklung hin zu Big Data sowie einer kritischen Analyse der Rechtslage und der ethischen Situation auch eine Reihe von Handlungsempfehlungen, die sich vor allem an die Politik richten. Eine davon lautet, die rechtliche Möglichkeit für den Einzelnen zu schaffen, die umfassende Nutzung seiner Daten für die medizinische Forschung ohne Zweckbindung zu erlauben. Dieses vom Ethikrat als „Datenspende“ bezeichnete Konzept setzt eine umfassende Aufklärung über mögliche Konsequenzen voraus – auch mit Blick auf die Rechte anderer, etwa mitbetroffener Familienmitglieder.
Darüber hinaus regt das Gremium an, die digitale Bildung zu fördern und bereits in der Schule bei den Kindern „ein Bewusstsein für die rechtlichen, sozialen und ethischen Implikationen zu schaffen“. Die Vermittlung solcher Nutzerkompetenz sollte daher zukünftig Teil der Lehreraus- und -fortbildung werden, heißt es. Der Ethikrat verstehe die Liste der Empfehlungen nicht als abschließend, betont Augsberg. „Ihre möglichst umfassende, zeitnahe und gegebenenfalls öffentlich zu finanzierende Umsetzung wäre aber ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass die mit Big Data unzweifelhaft verbundenen Chancen genutzt werden können, zugleich aber wesentliche ethische wie grundrechtlich fundierte Wertungen einschließlich der informellen Selbstbestimmung weiterhin die ihnen gebührende Achtung erfahren.“

 

Die Vorgeschichte
Mit Big Data und Gesundheit hat sich der Ethikrat bereits auf seiner Jahrestagung im Mai 2015 auseinandergesetzt. Die angekündigte Stellungnahme ließ aber auf sich warten. Dabrock erklärt die Verzögerung mit einer inhaltlichen Neuausrichtung – ursprünglich sollte es vor allem um Wearables gehen. Der Rat sieht diese jetzt als „ein Oberflächenphänomen einer sehr viel tiefer liegenden Fragestellung“. Auch hat inzwischen der turnusgemäße Wechsel von Ratsmitgliedern stattgefunden: Lediglich zwölf der 26 aktuellen Ratsmitglieder waren 2015 im Amt. Seinerzeit diskutierten die Experten recht kontrovers über das Thema. Dabrock befürchtete etwa, dass ohne eine möglichst internationale Regulierung die quantitative Verdichtung von Big-Data-getriebenen Prognosen zu einem qualitativen Verlust von Freiheit führen könne, der jedoch als Steigerung der Selbstbestimmung verkauft werde. Dagegen betonte Prof. Claudia Wiesemann, dass es auch gewichtige moralische Gründe für Big Data gebe, vor allem bei der Erforschung der Orphan Diseases – seltene Erkrankungen, die eine kritische Masse an Informationen und Daten benötigten. Diese Patientengruppen würden durch gute Big-Data-Forschung „entdiskriminiert“. Die aktuelle Stellungnahme enthält ein Sondervotum der Medizinerin Dr. Christiane Fischer. Sie wendet sich gegen eine zentrale Speicherung von Patientendaten, statt freiwilliger Selbstkontrollen will sie gesetzliche Regelungen.

 

Weiterführender Link:

Die Stellungnahme ist online verfügbar unter: www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/big-data-und-gesundheit-1

Ethische Fragen zur Eizellspende

Berlin (pag) – Über Eizellspende im Ausland und Konsequenzen dieser Praxis im Inland hat kürzlich der Deutsche Ethikrat diskutiert. Zur Diskussion stellt der Ratsvorsitzende Prof. Peter Dabrock dabei folgende Frage: „Ist es eigentlich fair und nachvollziehbar, wenn wir Samen- und Embryospende erlauben oder als rechtlich möglich ansehen und die Eizellspende verbieten?“

Immer wieder nehmen Paare Angebote von Kliniken im Ausland wahr, um ihren Kinderwunsch mithilfe von Reproduktionstechnologien zu erfüllen, die in Deutschland verboten sind. Dazu gehört auch die Eizellspende. Bei der Veranstaltung des Ethikrates setzen sich Experten mit Gerechtigkeitsproblemen dieser Praxis auseinander.

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Ratsmitglied Dr. Petra Thorn berät als Paar- und Familientherapeutin Frauen und Paare auch zu Fragen der Eizellspende. Sie erläutert, weshalb die Eizellspende ein sehr umstrittenes Verfahren sei: Die Spenderinnen gingen aufgrund des erforderlichen medizinischen Eingriffs ein Risiko für die eigene Gesundheit ein. „Zwischen den Empfängerpaaren und den Spenderinnen besteht ein Einkommensgefälle, und viele Frauen spenden wahrscheinlich nicht nur aus altruistischen, sondern auch finanziellen Gründen.“ Die Weltkarten der internationalen Reproduktionsmedizin seien stark in Bewegung geraten, berichtet die Ethnologin Prof. Michi Knecht, Universität Bremen. Auf Basis ökonomischer und rechtlicher Asymmetrien entständen große kommerzielle Märkte. Man müsse sich fragen, so Knecht, ob durch Reproduktionsmobilität „reicher“ Frauen und Paare die Gesundheitsrisiken auf Frauen in Ländern mit niedrigeren Einkommen verschoben würden und ob eine restriktive nationale Gesetzgebung wie die deutsche – wenngleich unbeabsichtigt – zur Folge habe, dass Ausbeutungsrisiken in andere Länder verlagert würden. Die Philosophin PD Dr. Susanne Lettow, Freie Universität Berlin, verlangt daher, bei den mit „reproduktiven Reisen“ verbundenen ethischen Fragen auch die Situation der Eizellspenderinnen im Ausland einzubeziehen. Aus Sicht der Medizinethikerin Prof. Claudia Wiesemann wirft das transnationale reproduktive Reisen ein massives Gerechtigkeitsproblem auf. Konkret nennt die stellvertretende Ratsvorsitzende die gesundheitliche Versorgung der Spenderinnen, die Nichtverfügbarkeit des Verfahrens für finanziell schwächer gestellte Paare hierzulande sowie die Ungleichbehandlung von Samen- und Eizellspende in Deutschland. Für konsequent hält sie es daher, das Verbot der Eizellspende im Embryonenschutzgesetz aufzuheben.