Vorhofflimmern: eine Krankheit, drei Leitlinien

Berlin (pag) – Von Vorhofflimmern sind rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. In der Regel gibt es Leitlinien, die für Ärzte wegweisend sein sollen. Für die Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern gibt es gleich drei Leitlinien, die auch noch unterschiedliche Therapien empfehlen. Das kritisieren Experten auf der Tagung „Vorhofflimmern – Versorgungssituation in Deutschland“ des IGES Instituts.

„Flimmerer“, wie die Betroffenen auf der Veranstaltung genannt werden, haben ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. Die entscheidende Maßnahme zur Prävention ist die medikamentöse Herabsetzung der Blutgerinnungsfähigkeit. Diese wird als Antikoagulation und wenn sie oral erfolgt, auch als orale Antikoagulation (OAK) bezeichnet. Hierbei existieren neben den Vitamin-K-Antagonisten (VKA) wie Phenprocoumon (Handelsname: Marcumar) seit einigen Jahren auch die sogenannten neuen oralen Antikoagulantien (NOAK). Für die vier in Deutschland zugelassenen NOAKs wurde die Wirksamkeit in Studien mit mehr als 72.000 Patienten nachgewiesen, erläutert Prof. Harald Darius vom Vivantes Klinikum Neukölln-Berlin. Gleichzeitig seien diese im Vergleich zu VKA sicherer hinsichtlich der Rate an schweren Blutungen und eigneten sich auch für Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion besser. Dennoch empfehlen die drei Leitlinien zu Vorhofflimmern unterschiedliche Therapien: Während sich jene der European Society of Cardiology und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie bei Therapiebeginn für NOAK aussprechen, hat die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft im Jahr 2016 einen Leitfaden herausgegeben, der die VKA als Standardtherapie empfiehlt. Auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familien-medizin sieht das ähnlich und bleibt bei der VKA-Empfehlung.

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Welcher Leitlinie folgen?

Vor allem für Hausärzte, die an der Versorgung von Patienten mit Vorhofflimmern maßgeblich beteiligt sind, ist es ein Dilemma. „Welcher Leitlinie folgen?“ Diese Frage stellt auf der Tagung die Berliner Hausärztin Dr. Petra Sandow. Eine Antwort darauf kann sie zwar nicht liefern, stattdessen empfiehlt sie eine lückenlose und detaillierte Dokumentation. Diese könne den Praxisarzt im Falle einer Regressdrohung durch die Kassenärztliche Vereinigung vor viel Ärger bewahren, denn NOAKs sind deutlich teurer als VKA.
„Leitlinien sind nicht maßgeblich im Sinne einer Verbindlichkeit“, erläutert der Medizinrechtsexperte Prof. Christian Dierks auf Nachfrage der Presseagentur Gesundheit. Sie würden nur einen Korridor vorgeben, innerhalb dessen man sich bewegen könne. Der Rechtsanwalt geht davon aus, dass die Leitlinienvielfalt und damit mögliche – oder scheinbare – Widersprüche zunehmen werden. Deshalb seien Abwägung und Augenmaß besonders wichtig. „Wir sollten nicht vergessen, dass Leitlinien nur leiten und nicht entscheiden sollen“, sagt der Rechtsanwalt.

Medizin vor Ökonomie

Ein Codex der DGIM soll Ärzten Rückendeckung geben

Berlin (pag) – Ärzte stehen zunehmend unter Druck, die Versorgung ihrer Patienten einer betriebswirtschaftlichen Nutzenoptimierung unterzuordnen. Mit dem Codex „Medizin vor Ökonomie“ will die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) gegensteuern.
„Wir treffen keine ärztlichen Entscheidungen und werden keine medizinischen Maßnahmen durchführen und solche Leistungen weglassen, welche aufgrund wirtschaftlicher Zielvorgaben und Überlegungen das Patientenwohl verletzen und dem Patienten Schaden zufügen könnten“, heißt es in dem Codex unter anderem. Noch deutlicher wird die DGIM in den letzten Zeilen des Dokuments, dort steht: „Wir werden unsere ärztliche Heilkunst ausüben, ohne uns von wirtschaftlichem Druck, finanziellen Anreizsystemen oder ökonomischen Drohungen dazu bewegen zu lassen, uns von unserer Berufsethik und den Geboten der Menschlichkeit abzuwenden.“

„Hier gilt es zu bestehen“

Der Codex ist mit den Schwerpunktgesellschaften der Inneren Medizin abgestimmt. Er soll Ärzten Rückhalt bei Diskussionen mit der kaufmännischen Klinikleitung geben. Auf einer Pressekonferenz hebt Prof. Petra-Maria Schumm-Draeger, stellvertretende Vorsitzende der DGIM, allerdings hervor, dass man sich damit nicht nur an Klinikärzte, sondern auch an ambulant arbeitende Mediziner wende.

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Beiden soll das Papier dabei helfen, die Auswirkungen der Ökonomie in ihrem Arbeitsgebiet kritisch zu reflektieren und sich nicht dem ökonomischen Druck unterzuordnen – „hier gilt es zu bestehen“, sagt Schumm-Draeger, ärztliche Direktorin am Zentrum für Innere Medizin „Fünf Höfe“ in München.

Nach Einschätzung der Fachgesellschaft hat der wirtschaftliche Druck in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Der Generalsekretär der Fachgesellschaft, Prof. Ulrich R. Fölsch, nennt drei Gründe für diesen Trend: Erstens die Einführung des DRG-Vergütungssystems, das an den Krankenhäusern Fehlanreize installiert habe. Zweitens die völlig unzureichenden Investitionen der Bundesländer in die Kliniken. Und drittens die Privatisierung von Krankenhäusern: „Einer Rendite von zehn Prozent wird alles andere untergeordnet.“

Für Fölsch ist es angesichts dieser Entwicklung essen-tiell, Ärzten einen Rückhalt zu geben, damit sie sich „aus der ökonomischen Klammer“ lösen können. Gänzlich verteufeln will die Fachgesellschaft die so genannte Ökonomisierung jedoch nicht, Schumm-Draeger mahnt ein ausgewogenes Verhältnis an: Man benötige zwar auch eine ökonomische Sichtweise, „sie darf aber nicht der Medizin übergeordnet sein“, stellt sie klar. Ähnlich klingt es bei dem Diabetologen Prof. Dirk Müller-Wieland, der die Ökonomie als ein Tool beschreibt, das vernünftig eingesetzt werden müsse. Momentan gerate das System aus den Fugen.

Sprechende Medizin gehört zu den Verlierern des Systems

Eine wichtige Herausforderung ist für den Präsidenten der Deutschen Diabetes Gesellschaft, die sprechende Medizin bei der Honorierung adäquat abzubilden. „Da müssen wir ran“, fordert er. Müller-Wieland zufolge gehört die Diabetologie zu den Verlierern des Systems: Im Krankenhaus sei ein multimorbider Patient, der eine komplexe Behandlung durch die sprechende Medizin benötige, mit einem geringeren wirtschaft-lichen Ertrag assoziiert als ein Patient, der eine akute technisch-basierte Intervention benötige. Folglich orientiere sich das medizinische Profil einer Einrichtung aus wirtschaftlichen Überlegungen an technisch-basierter Medizin. Mit Blick auf geschlossene Abteilungen warnt Müller-Wieland vor gravierenden Folgen bei der Aus- und Weiterbildung von Ärzten. Die flächendeckende Versorgung sieht er nur im Krankenhaus, sondern auch im ambulanten Bereich als gefährdet an.

Die nächsten Schritte

Wie es weitergeht: Der Codex richtet sich nicht nur an die Ärzte, er soll nach dem Willen der Fachgesellschaft auch eine gesundheitspolitische Debatte initiieren. DGIM-Vertreterin Schumm-Draeger kündigt als nächsten Schritt an, den Codex mit verschiedenen Akteuren des Systems sowie Gesundheitspolitikern zu diskutieren. Auch Patienten sollen angesprochen werden. Sie mit im Boot zu haben, sieht sie als „großes Potenzial“ für die gesundheitspolitische Debatte.

 

Weiterführender Link:
Der Klinik Codex – Medizin vor Ökonomie: http://www.dgim.de/fileadmin/user_upload/PDF/Pressemeldungen/2017_Klinik_Codex.pdf