Wider die Scheinpartizipation

Digitale Gesundheitsforschung mit Patienten gestalten

Berlin/Hamburg (pag) – Ist in einer Legislatur, in welcher der Bundestag ein Digital-Gesetz, ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz und ein Medizinforschungsgesetz verabschiedet hat, die Patientenbeteiligung in der digitalen Gesundheitsforschung ein blinder Fleck geblieben? Ein kürzlich vorgestelltes Positionspapier rückt dieses vernachlässigte Thema in den Mittelpunkt.

© PT DLR/BMBF, Manfred Wigger

Im Positionspapier „Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung“ sind auf 19 Seiten Empfehlungen und Lösungsansätze formuliert, um die Beteiligung von Patientinnen und Patienten zu unterstützen. Deren Forderungen lauten unter anderem:

  • Um Erfolg zu gewähren und ein Mindestmaß an Kooperation zwischen Patienten und Forschenden herbeizuführen, müssen Patienten und ihre Vertretungen aktiv in digitale Transformationsprozesse von Anfang an eingebunden werden.
  • Die Partizipation von Patientenorganisationen, Betroffenen und Angehörigen bei der Anwendung von digitalen Forschungsprozessen muss von allen Beteiligten realistisch gestaltet werden.
  • Eine fachliche, monetäre, personelle, strukturelle und technische Ausstattung ist die Grundbedingung für die Einbindung von Patientenorganisationen.
  • Es bedarf einer erhöhten Aufmerksamkeit für vulnerable Gruppen. Stigmatisierung und Diskriminierung müssen verhindert werden.

Erarbeitet haben die Betroffenen das Papier in einem konsensorientierten Prozess, der im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PANDORA begleitet wurde.

Startpunkt war eine Stakeholder-Konferenz, die im Juni 2024 in Hamburg stattgefunden hat und an der über 30 Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen aus ganz Deutschland – sowohl vor Ort als auch digital – teilgenommen haben. Zwei Tage diskutierten sie über Aufklärungs- und Einwilligungsprozesse, Forschungsdatenmanagement, Partizipation an Forschung, digitale Teilhabe und relevante ethische Werte für eine Forschungsbeteiligung. Das Ziel: einen Konsens für das Positionspapier zu erarbeiten. Am Ende des zweiten Tages steht der erste vorläufige Entwurf des Positionspapiers. Fertiggestellt wird dieser von einem Redaktionsteam, das aus vier Vertreterinnen und Vertreter von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen besteht. Einer von ihnen ist Thomas Duda von der Pro Retina Stiftung Deutschland. Bei der Vorstellung des Positionspapiers auf einer Pressekonferenz im Rahmen der PANDORA-Abschlusskonferenz sitzt er mit auf dem Podium. Er betont dort: „Es gibt ein hohes Potenzial durch Patientenbeteiligung, was leider nicht erkannt wird.“ Ihm ist es wichtig, dass das Positionspapier die momentanen Zustände nicht nur kritisch beschreibt, sondern auch konkrete Verbesserungsvorschläge formuliert. Durch informierte Patienten wie auch durch den Input aus ihrem Erfahrungsschatz werden Daten- und Forschungsergebnisse bedarfsorientierter ver- beziehungsweise angewendet, ist Duda überzeugt.

Scheinpartizipation entgegenwirken

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Für Prof. Silke Schicktanz, Universitätsmedizin Göttingen, ist das Positionspapier ein wichtiges Instrument, um „reflektierte und selbstbestimmte Position einer Vielzahl von Patientenverbänden in die deutsche Debatte einzubringen“, sagt sie bei der Pressekonferenz. Ihre Forschungskollegin und PANDORA-Leiterin Prof. Sabine Wöhlke von der HAW Hamburg adressiert in ihrem Statement die Wissenschaftscommunity. Die Forschenden sollten reflektieren, wie eine langfristige, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Patientenvertretenden aussehen könne. Für diese Organisation seien Reflexion der eigenen Erwartungen und Ziele, Umgang mit Macht, Transparenz in der Kommunikation aber auch Anerkennung von Erfahrungsexpertise wichtig. Wöhlke appelliert: „Eine intensivere Auseinandersetzung mit Machtasymmetrien und der oft fehlenden Transparenz über Forschungsprozesse ist geboten, um der bisher noch zu oft existierenden Scheinpartizipation in der partizipativen digitalen Gesundheitsforschung entgegenwirken zu können.“

Wie es weiter geht

Die Botschaft ist mehr als deutlich, doch um den angemahnten Umdenkungsprozess einzuleiten, müssen äußerst dicke Bretter sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaftsszene gebohrt werden. Dass keiner der von PANDORA angefragten Gesundheitspolitiker bereit gewesen ist, an der Pressekonferenz teilzunehmen, spricht Bände. Umso drängender die Frage, wie es mit dem Positionspapier weitergehen soll. Wöhlke kündigt an, die wichtigen Ergebnisse der Stakeholder-Konferenz wissenschaftlich zu publizieren und das Positionspapier relevanten Ministerien, Gremien und Entscheidungsträgern zuzuschicken. An dieser Stelle ende der Einfluss als Forschende. Wöhlke: „Aber es kann dann niemand im Forschungsministerium sagen, man wisse ja gar nicht, dass die aktuellen Partizipationsinitiativen nicht wirklich gut im Sinne einer Teilhabe laufen und ob die Patientenorganisationen sich wirklich beteiligen wollen und was es dafür aus deren Sicht bedarf.“

Was ist PANDORA?
PANDORA (Patient*innenorientierte Digitalisierung) ist ein Verbundprojekt unter der Leitung der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg). Kooperationspartner sind die Universitätsmedizin Göttingen und die Medizinische Hochschule Hannover. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler analysieren ethische Fragestellungen, die mit der Einführung und Nutzung von Digitalisierungsprozessen und E-Health-Technologien im Gesundheitswesen einhergehen. Im Fokus stehen die Perspektiven von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen, die an solchen digitalen Entwicklungen partizipieren. Das Ziel von PANDORA ist die Entwicklung und Bereitstellung von Unterstützungsinstrumenten, die es diesen Organisationen ermöglichen sollen, ihre Interessen bei der Beteiligung an Digitalisierungsprojekten zu wahren und ethische Prinzipien zu respektieren.

Weiterführender Link:
Positionspapier: Einbeziehung von Patientenorganisationen in die digitale Gesundheitsforschung

Reif für eine Generalüberholung?

Forderungen der Industrie nach AMNOG-Reform werden lauter

Berlin (pag) – Ist das AMNOG für Innovationen wie Gen- und Zelltherapien noch das geeignete Bewertungsverfahren? Wie passend ist es für zunehmend personalisierte Behandlungsansätze, deren Evidenzgrundlagen nicht mehr ins bisher übliche Schema passen? Die Industrie verlangt nach einer grundlegenden AMNOG-Reform. Das Argument: Medizinischer Fortschritt dürfe nicht durch systemische Hürden ausgebremst werden.

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2025 wird in Sachen Health Technology Assessment (HTA) ein spannendes Jahr. Am offensichtlichsten ist der Start des europäischen HTA-Verfahrens im Januar. Dieses sieht unter anderem eine Synchronisation mit dem europäischen Zulassungsprozess vor, eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Beteiligten, gilt es doch zum Teil recht sportliche Fristen miteinander zu verzahnen.

Fest steht schon jetzt: Das AMNOG wird vom europäischen Pendant auf Dauer nicht unbeeinflusst bleiben. Im Januar legt das Bundesgesundheitsministerium etwa einen Last-Minute Änderungsentwurf für die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vor. Grundsätzlich gilt: Wertungs- und Preisentscheidung bleiben zwar auf nationaler Ebene, gleichzeitig soll Doppelarbeit vermieden werden. Ein schwieriger Spagat, deshalb vermögen auch Experten die Relevanz des neuen Verfahrens noch nicht so richtig abzuschätzen. Das europäische Verfahren startet mit neuen Krebstherapien und ATMPs – ein besonders innovatives Feld, auf dem sich momentan viel tut. Ist man hierzulande dafür mit dem AMNOG gerüstet?

Grundsatzfragen zur Evidenz

Der FDP-Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann ist skeptisch. Im Dezember stellt er auf einem parlamentarischen Frühstück der LAWG (Local Area Working Group), einem Verein, dem 17 weltweit agierende, forschungsorientierte Arzneimittelunternehmen angehören, klar, dass das AMNOG für ihn zwar ein wertvolles Werkzeug sei, aber er sieht auch deutliche Limitationen – etwa bei Schrittinnovationen. Ullmann fragt außerdem: „Wie sieht es bei der Personalisierten Medizin aus, wie sieht es aus bei der Gentherapie, bei der wir sehr individuelle Therapieformen haben und die klassische Evaluation des AMNOG-Verfahrens gar nicht funktionieren kann?“ Für ihn steckt dahinter die Grundsatzfrage, was medizinische Evidenz bedeutet. Er plädiert für eine differenzierte AMNOG-Weiterentwicklung: Im klassischen Verfahren sollten herkömmliche Medikamente wie etwa Bluthochdruckarzneimittel bewertet werden. Im Rahmen eines zweiten Moduls – Ullmann nennt es AMNOG innovativ – wird über den Zusatznutzen von neuartigen Therapieformen geurteilt.

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Von Kalle plädiert für flexible Methodik

Ähnlich äußert sich Prof. Christof von Kalle auf der LAWG-Veranstaltung. Der Onkologe, der (zu diesem Zeitpunkt noch) das gemeinsame klinische Studienzentrum von der Charité und dem Berlin Institute of Health leitet, spricht sich für eine flexible AMNOG-Methodik aus. Darunter subsummiert er unter anderem eine Beschleunigung der Prozesse sowie eine Optimierung durch internationale Zusammenarbeit und Harmonisierung internationaler Verfahren – Stichwort EU-HTA. Außerdem betont er: „Ich würde sehr stark dafür plädieren, dass wir wirklich alle verfügbaren Daten verwenden und überlegen, wie wir den Nutzen neu bewerten.“ Sehr wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Konditionalität der Zulassung und der Datenerhebung nach der Zulassung.

vfa: Webfehler des AMNOG

Einen Monat zuvor, im November 2024, hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ein 15-seitiges Reformpapier zum AMNOG mit verschiedenen Handlungsfeldern präsentiert. Unter der Überschrift „Medizinischem Fortschritt gerecht werden“ wird ebenfalls die Frage nach der Evidenzgrundlage thematisiert. Der Verband stellt dar, dass angesichts zunehmend zielgerichteter Therapieansätze für eng definierte, häufig kleinere Gruppen von Patienten die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien nicht in allen Situationen ethisch vertretbar oder praktisch umsetzbar sei. Ein Webfehler des AMNOG sei daher, dass eine Anpassung im Umgang mit nicht-randomisierten Daten noch nicht erfolgt ist. Als Folge werde der therapeutische Zusatznutzen in besonderen Therapiesituationen nicht entsprechend gewürdigt, sodass bei den betroffenen Therapien kein angemessener Erstattungsbetrag vereinbart werden kann. Dies wirke sich negativ auf die Verfügbarkeit und den Einsatz neuer Therapien, wie Gentherapien, in der Versorgung aus, so der vfa. Seine Lösung: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) prüft künftig auf Antrag eines Herstellers, ob eine besondere Therapiesituation vorliegt. In diesen Fällen wird die bestverfügbare Evidenz in der Nutzenbewertung herangezogen.

Wie realistisch ist Pay for Performance?

Der Verband bricht in dem Papier außerdem eine Lanze für erfolgsabhängige Erstattungsmodelle, sogenannte Pay-for-Performance-Ansätze. Sie könnten im Einzelfall helfen, bei limitierter Evidenz dieser „begründbaren Unsicherheit bei höherpreisigen Therapien zu begegnen“ und Patienten einen schnellen Zugang zu diesen Therapien zu ermöglichen, heißt es. Die Forderung ist nicht neu, auch der Gesundheitsökonom Prof. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld macht sich dafür stark – beispielsweise im März 2024 in einem Beitrag für die „Interdisziplinäre Plattform Nutzenbewertung“. In derselben Ausgabe stellt Dr. Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arznei- und Heilmittel des GKV-Spitzenverbandes, dagegen die Bedenken der Kostenträger dar: Die Preisbildung bei Gentherapien weise weiterhin eine „beträchtliche Diskrepanz“ zur vorhandenen Evidenz auf, konstatiert sie. Ob die Einführung erfolgsorientierter Vergütungssysteme Teil einer effizienten Lösung sein könne, sei fraglich. „Hierzu wären umfangreiche rechtliche und technische Änderungen und die Behebung bestehender Datenlücken erforderlich, die derzeit nicht absehbar sind“, so Haas.

 

Techniker Krankenkasse: Pay for Performance ist kein guter Weg
„Gentherapeutika – Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ lautet der Titel eines im März 2024 veröffentlichten Reports der Techniker Krankenkasse (TK), der die Arzneimittelpreisgestaltung im internationalen Vergleich – USA, Frankreich und Japan – darstellt. Zur Preisbildung für Gentherapeutika in Deutschland könnten demnach fünf Ansätze zur Anwendung kommen: Budgetierung, geheime Preise, kriterienbasierte Preise, Kostentransparenz sowie Raten- beziehungsweise Rückzahlungsmodelle. Letztere können auch mit einer Performance-Komponente ergänzt werden. Der Kasse zufolge erweist sich deren Umsetzung jedoch als äußerst schwierig. Tim Steimle, Leiter des TK-Fachbereichs Arzneimittel, erläutert gegenüber der Presseagentur Gesundheit: „Pay for Performance bedeutet ja folgendes: Tritt eine gewisse Non-Performance ein und das Medikament funktioniert nicht, dürfen Raten ausgesetzt werden.“ Darauf könnten sich aber die pharmazeutischen Unternehmen und die Krankenkassen fast nie verständigen. Strittig sei zum Beispiel, was wirklich ein guter Non-Performance-Indikator sei und wie dieser sauber erfasst werden könne. „Wer erfasst den? Benötigen wir ergänzende Informationen von Ärzten oder Patienten, um zu beurteilen, ob die Performance eingetreten ist oder nicht?“, fragt Steimle. Darüber streite man sich jedes Mal, wenn solche Verträge abgeschlossen werden. „Auf einen guten Weg einigen wir uns leider nicht.“

Die Pandemie, die Politik und die Wissenschaft

Berlin (pag) – Aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie zieht das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM-Netzwerk) ein Resümee für die wissenschaftliche Politikberatung zu Fragen der Gesundheitsversorgung. In dem vierseitigen Papier heißt es unter anderem: „,Die Wissenschaft sagt …‘ ist in mehrfacher Hinsicht keine angemessene Begründung des politischen Handelns.“

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„Die Wissenschaft“ gebe es nicht, halten die beiden Autorinnen Ingrid Mühlhauser und Gabriele Meyer für das Netzwerk fest. Vielmehr existierten viele Wissenschaftsdisziplinen mit ihren jeweiligen Gegenstandsbereichen. „Vor allem gibt es gute und schlechte Wissenschaft. Erkenntnisse der Wissenschaft sind oft widersprüchlich und vorläufig, bis aussagekräftigere Evidenz sie verstärkt oder gar widerlegt“, betonen die beiden. Ergebnisse aus wissenschaftlichen Studien und Politikberatung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten nur entscheidungsrelevantes Wissen bereitstellen. Die Politik müsse unter Abwägung gesellschaftlicher und rechtlicher Voraussetzungen tragfähige und umsetzbare Entscheidungen treffen.

„Nachvollziehbar und transparent“

Neben der Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme halten Mühlhauser und Meyer es für unabdinglich, dass die Empfehlungen aus wissenschaftlichen Expertengremien „nachvollziehbar und transparent“ gestaltet seien. Dabei müssten auch kontroverse wissenschaftliche Positionen und Unsicherheiten offen kommuniziert werden.

Weitere Forderungen lauten:

  • Wissenschaftliche Politikberatung muss klar getrennt sein von politischen Entscheidungen.
  • Wissenschaftliche Expertenkommissionen sollen die Belange der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen repräsentieren.
  • Wissenschaftliche Politikberatung zu Fragen der Gesundheitsversorgung muss der EbM verpflichtet sein.
  • Empfehlungen der wissenschaftlichen Politikberatung müssen methodenbasiert und transparent sein.

Nicht rein wissenschaftlich

Unterdessen hat das Bundesgesundheitsministerium auf eine offizielle Anfrage von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki eingeräumt, dass die entscheidende Risikobewertung, auf der die Corona-Maßnahmen beruhten, nicht rein wissenschaftlich fundiert gewesen sei. Weiter heißt es, dass diese zwar auf wissenschaftlichen Kriterien basierte, am Ende prüfe jedoch das übergeordnete Gesundheitsministerium – da auch eine „Abschätzung der gesellschaftlichen Folgen im Rahmen der Risikobewertung erforderlich“ gewesen sei, teilt das Haus von Prof. Karl Lauterbach (SPD) mit. FDP-Politiker Kubicki kritisiert, dass stets der Eindruck vermittelt wurde, bei den Wortmeldungen des Robert Koch-Instituts handle es sich um den aktuellen wissenschaftlichen Stand, tatsächlich aber im Zweifel der Minister die Hand geführt habe.

Weiterführender Link:
Stellungnahme des EbM-Netzwerks: Wissenschaftliche Politikberatung zur Gesundheitsversorgung – eine Perspektive aus dem Netzwerk Evidenzbasierte Medizin

Revolution bei klinischen Studien

Berlin (pag) – Das Spitzenforum Medizin am letzten Tag des Hauptstadtkongresses bietet spannende Einblicke: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), kündigt neue Schwerpunkte der Institutsarbeit an. Und Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen prognostiziert eine Revolution bei klinischen Studien.

Malek stellt in seinem Vortrag die These auf, dass man ​in den nächsten Jahren eine „Revolution bei der Durchführung klinischer Studien“ sehen werde. Seine Prognose: „Wir werden uns nicht mehr in dem Umfang auf randomisierte Phase-III-Studien stützen.“ Gerade in der Personalisierten Medizin mit ihren kleinen Patientengruppen würden Register eine größere Rolle spielen. Sie könnten genutzt werden, um die Innovationskraft eines neuen Medikamentes mit den gesammelten Daten zu vergleichen. Außerdem sieht der Ärztliche Direktor der Klinik Innere Medizin I am Uniklinikum Tübingen die Register als Möglichkeit, um eine „Reserve Translation“ zu machen. Das bedeutet: „Wir wissen zum Beispiel aus der Off-Label-Behandlung von Patienten mit bestimmten Tumorerkrankungen, dass hier ein Ansprechen, also ein Nutzen, erzeugt wird. Daraus können wir wiederum Rückschlüsse für die Initiierung neuer Studienkonzepte ziehen“, erläutert er.

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Register als Möglichkeit für eine „Reserve Translation“: Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen. © wikicommons, TnKpMl
Register als Möglichkeit für eine „Reserve Translation“: Prof. Nisar Peter Malek vom Universitätsklinikum Tübingen. © wikicommons, TnKpMl
Will das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich lassen: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG.
© iqwig
Will das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich lassen: Dr. Thomas Kaiser, Leiter des Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. © iqwig

 

Selbst machen statt kritisieren

Eine Revolution beim IQWiG kündigt Dr. Thomas Kaiser zwar nicht an, eine spannende Neuausrichtung aber allemal. Es müsse sich ein wichtiger Bestandteil der Arbeit verändern: „nämlich Forschung bezüglich Evidenzgenerierung selbst zu unterstützen und zu verstärken“. Das habe die Community der evidenzbasierten Medizin bisher mehr oder weniger ausgeblendet, räumt Kaiser ein. Zur Evidenzgenerierung wolle man durch eigene wissenschaftliche Forschung und die Teilnahme an europäischen Verbundprojekten beitragen. „Das wird eine Veränderung in der wissenschaftlichen Arbeit des IQWiG sein“, kündigt Kaiser an.

Beim Spitzenforum macht er sich grundsätzlich für die Etablierung einer Forschungsinfrastruktur hierzulande stark. Dabei geht es um qualitativ hochwertige, stehende Dateninfrastrukturen – „das können universitäre Netzwerke sein, das können Verknüpfungen mit anderen Daten sein, das können Register sein und das können auch andere Datenstrukturen sein“. Für Kaiser gehört dazu auch, das „Silodenken klinischer Studien“ hinter sich zu lassen, sprich nicht für jede klinische Studie eine neue Datenstruktur aufzubauen, die dann wieder beendet wird, sobald die Studie abgeschlossen ist.

Was ist mit den Bewertungen?

Bleibt die Frage, ob auch bei den Bewertungen des Instituts die Zeichen auf Wandel stehen. Kaiser zufolge schaue man sich neue Entwicklungen wie synthetische Studienarme offen an. Noch wisse man nicht, ob diese ausreichend sichere Ergebnisse für einen Vergleich lieferten. „Wenn das so sein sollte, dann ist das eine gute Idee, weil das forschungsökomisch zu mehr Forschung mit gleichem Aufwand führen kann.“ Allerdings müsse dieser Nachweis noch geführt werden. Kaisers Argumentation: „Nur weil man es kann, ist es noch nicht gut. Weil man es kann, kann man es untersuchen und beforschen. Wenn es dann gut ist, dann sollte man es anwenden.“ Insgesamt schließt er nicht aus, dass sich auch die Arbeit des IQWiG in puncto Bewertungen verändern wird.

Aufbruchsstimmung bei Gen- und Zelltherapien

Berlin (pag) – Nicht nur ein Stück Papier, sondern ein ganzes Navigationssystem sieht die Bundesministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger in der Nationalen Strategie für gen- und zellbasierte Therapien (GCT). Dessen Ziele reichen von besserer Versorgung bis zur Stärkung des Forschungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland.

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Diesen nationalen „Meilenstein“, wie die Ministerin sagt, überreicht ihr kürzlich das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Noch länger als die 140 Seiten starke Strategie ist die Zahl an Experten, die im Erarbeitungsprozess involviert sind. Über 150 Stakeholder vernetzen ihre Expertise und ebnen den Weg „aus den Silos“, lobt Stark-Watzinger. Sie fährt fort: „Diese Zusammenarbeit von Wissenschaft, Wirtschaft, öffentlicher Hand und Gesellschaft ist ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg.“

Der Fahrplan der Strategie umgreift acht Handlungsfelder – von „Ausbildung und Kompetenzstärkung“ über „Technologietransfer“ zu „Forschung und Entwicklung“ und „Marktzulassung und Übergang in die Versorgung“. Die innovativen Gen- und Zelltherapien bieten für Patienten kausale Wirkungsprinzipien und potenziell langanhaltende Effekte. Sie können bei seltenen genetischen, aber auch bei häufig erworbenen Erkrankungen eingesetzt werden. Die Therapien eröffnen insbesondere Perspektiven für Patienten mit schweren oder seltenen Erkrankungen, für die es bisher keine Therapie gibt. Verfolgt wird auch das Ziel, den Standort Deutschland im internationalen Wettbewerb für die Entwicklung sicherer, effizienter und nachhaltig finanzierbarer GCT zu stärken.

Schon jetzt blicke Deutschland auf eine exzellente Grundlagenforschung, hebt Stark-Watzinger hervor. Doch Luft nach oben bleibe in der Translation.

Ein Biotech-Ökosystem

Nur eine Woche nach der Präsentation der Strategie stellen Charité und Bayer ihre Pläne zur Errichtung des Berlin Center for Gene and Cell Therapies vor. Das Translationszentrum für Gen- und Zelltherapien wird maßgeblich von der Bundesregierung sowie dem Land Berlin finanziell gefördert und unterstützt. Ziel ist es, die Behandlungsmöglichkeiten dieser Technologien schneller Patienten zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig in der Hauptstadt ein führendes Biotech-Ökosystem für neuartige Therapien aufzubauen. Bereits im Frühjahr hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller mitgeteilt, dass Deutschland bei der Entwicklung von Gen-, Zell- und Gewebetherapeutika („Advanced Therapy Medicinal Products“, kurz ATMP) aufhole. 2023 finden 78 klinische Studien mit jenen Medikamenten unter Mitwirkung deutscher Einrichtungen statt oder sind geplant. Das seien rund viereinhalbmal mehr als noch 2018. Zu 92 Prozent sind die Initiatoren dieser Studien Unternehmen. Forschungseinrichtungen geben in drei Prozent den Anstoß. Die verbleibenden fünf Prozent werden gemeinsam von Unternehmen und Forschungseinrichtungen auf den Weg gebracht. Die Angaben basieren auf Daten des Datenbankanbieters Citeline.

Weiterführender Link:
Nationale Strategie Gen- und zellbasierte Therapien – Eine Multi-Stakeholder-Strategie koordiniert vom Berlin Institut of Health at Charité im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Juni 2024, 136 Seiten

Für mehr Transparenz in der Gesundheitsforschung

Berlin (pag) – Das „Bündnis Transparenz in der Gesundheitsforschung“ fordert eine verbindliche Regelung für die vollständige und zeitnahe Veröffentlichung der Ergebnisse sämtlicher interventionellen klinischen Studien in Deutschland. Ein Positionspapier erklärt, warum unveröffentlichte Studienergebnisse die Gesundheit gefährden und was geschehen muss, um dieses Problem zu lösen.

© stock.adobe.com, Haas/peopleimages.com
© stock.adobe.com, Haas/peopleimages.com

Das Papier wird von mehreren Organisationen aus dem Gesundheitswesen unterstützt. Dazu gehören unter anderem die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sowie die BAG Selbsthilfe.

Ergebnisse aus klinischen Studien, die verspätet, unvollständig oder gar nicht veröffentlicht werden, verzerren laut Cochrane Deutschland die Datenbasis für evidenzbasierte Gesundheitsentscheidungen. Die möglichen Folgen: Im schlimmsten Fall werden Patienten suboptimal behandelt und gesundheitspolitische Entscheidungen auf Grundlage falscher Annahmen getroffen. Zudem bedeute die Nicht-Veröffentlichung eine Verschwendung von Forschungsgeldern – oft von solchen aus öffentlicher Hand, heißt es.

Gesetzeslücke schließen

Im Positionspapier ist unter anderem nachzulesen, dass die Ergebnisse von rund einem Drittel aller von deutschen Universitätskliniken geleiteten klinischen Studien unveröffentlicht bleiben. Das Bündnis verlangt, Gesetzeslücken zur Registrierung und Berichterstattung von klinischen Studien zu schließen. Die Registrierung in einem von der WHO-akkreditierten Studienregister und die zeitnahe Ergebnisveröffentlichung innerhalb von zwölf Monaten nach Studienende müsse für sämtliche prospektiven, interventionellen klinischen Studien gesetzliche Pflicht werden. Auch sollten Ethikkommissionen stärker auf eine frühzeitige und vollständige Registrierung aller klinischen Studien in einem geeigneten Studienregister hinwirken und darüber hinaus Daten für eine zentrale Zusammenführung zur Verfügung stellen. Die Autoren regen folgendes an: Forschungsförderer, Universitäten und Ethikkommissionen sollten spezifische Anreize und Druckmittel in Erwägung ziehen, etwa durch die Berücksichtigung des bisherigen Veröffentlichungsverhaltens bei der Begutachtung von Förder- oder Ethikanträgen sowie der leistungsorientieren Mittelvergabe oder Auszahlung einer Restsumme der Förderung erst bei Veröffentlichung von Zusammenfassungen von Studienergebnissen.

Das Ziel der Initiative sind klare Rahmenbedingungen und Regelungen, die dafür sorgen, dass sich die Gesundheitsversorgung „wirklich auf die ‚bestmögliche‘ Evidenz aus klinischer Forschung stützen kann“.

Weiterführender Link:
Positionspapier des „Bündnis Transparenz in der Gesundheitsforschung“: Unveröffentlichte Studienergebnisse gefährden die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung

Startschuss Genomforschung

Berlin (pag) – Patienten mit einer seltenen Erkrankung oder einer fortgeschrittenen Krebserkrankung soll mit einer schnelleren Diagnosestellung oder einer zielgerichteteren Therapieempfehlung geholfen werden. Das ist das Ziel eines Modellvorhaben, das die Genomsequenzierung an Universitätskliniken ermöglicht. Auf dem Symposium der Initiative genomDE spricht Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach von einem „Startschuss für die Genomforschung, die wir in Deutschland lange gebraucht haben“.

„Am Vorabend einer medizinischen Revolution“: Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach beim Symposium von GenomDE © TMF e. V., Volkmar Otto
„Am Vorabend einer medizinischen Revolution“: Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach beim Symposium von GenomDE © TMF e. V., Volkmar Otto

Die Initiative genomDe hat zentrale Elemente für das Modellvorhaben Genomsequenzierung nach Paragraf 64 e SGB V entwickelt. Vertragspartner sind der GKV-Spitzenverband und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD). Teilnehmen werden über 20 Universitätsstandorte, der Kassenverband zahlt für die fünfeinhalbjährige Laufzeit 700 Millionen Euro. Die Verantwortlichen rechnen mit etwa 50.000 teilnehmenden Patienten.

Medizinische Lücken

Lauterbach warnt bei genomDE vor einem großen medizinischen Bedarf, der derzeit nicht gedeckt werden könne. „Ohne mehr Genomforschung, ohne mehr Genomnutzung in der Versorgung, ohne mehr Medizinforschung, ohne die bessere Nutzung der künstlichen Intelligenz wird es uns einfach nicht gelingen, diese großen Lücken zu schließen.“ Beispielhaft nennt er Versorgungslücken bei Patien-ten mit Krebs, Demenz, Parkinson, Multipler Sklerose und seltenen Erkrankungen.

Dennoch ist der Minister optimistisch. Man befinde sich am „Vorabend einer medizinischen Revolution“. Diese werden durch zwei wesentliche Achsen getragen: die bessere Nutzung genetischer Daten sowie die Nutzung der künstlichen Intelligenz. Dort, wo sich die Achsen kreuzen, finde der  medizinische Fortschritt statt. Mit dem vom 2021 verabschiedeten Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wurde die rechtliche Grundlage für das Modellvorhaben gelegt. Es soll diese hochmoderne und komplexe Diagnostik in der Versorgung erproben und mögliche zukünftige Anwendungsfälle identifizieren. Lauterbach zufolge ist die Genomsequenzierung in den letzten Jahren viel besser und günstiger geworden.

Für VUD-Generalsekretär Jens Bussmann ist das Modellvorhaben Neuland. Aber ohne die Initiative wäre die Genomsequenzierung „lost in regulation“. Er sieht das Modellvorgaben daher als positives Beispiel für die Einführung von Innovationen im Gesundheitswesen.

Daten, Daten, Daten

Viele Experten betonen auf dem Symposium, dass der Erfolg des Vorhabens von den gesammelten medizinischen Daten und deren Qualität abhinge. Eine wichtige Rolle beim Datenaustausch und -sammeln spielt die Dateninfrastruktur des Projekts. Diese besteht unter anderem aus sieben klinischen Datenknoten, sechs Genomrechenzentren und Datendiensten. Plattformträger ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, die Vertrauensstelle ist beim Robert Koch-Institut eingerichtet.

„Kurskorrektur war höchste Eisenbahn“

Wie Dr. Hagen Pfundner die Pharmastrategie der Bundesregierung bewertet

Berlin (pag) – Lange hat die Industrie auf die Pharmastrategie der Bundesregierung gewartet, Ende 2023 stellt sie der Bundesgesundheitsminister endlich vor. Wird damit eine Renaissance der Reindustrialisierung eingeleitet? Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender Roche Pharma, bezieht im Interview Stellung und verrät, welche Pläne er skeptisch sieht.

Wird das Ruder gerade noch rechtzeitig herumgerissen? Bei dieser historischen Zeichnung aus Großbritannien scheint die Lage noch unklar zu sein. Ähnlich sieht es momentan am Pharmastandort Deutschland aus. Den Referentenentwurf des Medizinforschungsgesetzes beurteilt die pharmazeutische Industrie verhalten.
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Mit der Pharmastrategie und dem geplanten Medizinforschungsgesetz will Prof. Karl Lauterbach eine Reindustrialisierung in Gang setzen. Höchste Eisenbahn oder ist der Zug schon abgefahren?

Pfundner: Die Pharmastrategie der Bundesregierung ist eine ressortübergreifende Strategie, bei der Bundeskanzleramt, Wirtschafts-, Forschungs- und Gesundheitsministerium intensiv zusammengearbeitet haben. Ja, eine Kurskorrektur und eine Rücknahme der innovationsfeindlichen Entscheidungen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz waren höchste Eisenbahn. Mit der Strategie und dem Bekenntnis, dass die pharmazeutische Industrie ein Schlüsselsektor und eine Leitindustrie der deutschen Volkswirtschaft ist, ist ein erster, wichtiger Schritt getan. Wir wurden als Industrie gehört und unsere Sorgen in Bezug auf eine schleichende Deindustrialisierung wurden ernst genommen.

Aber?

Pfundner: Jetzt müssen Taten folgen. Unsere Branche ist bereit, bei entsprechenden Rahmenbedingungen in Forschung, Entwicklung und Produktion signifikant zu investieren, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zur Lieferkettensicherheit beizutragen.

Wie bewerten Sie die Pharmastrategie der Bundesregierung: Welche Pläne überzeugen Sie, was halten Sie eher für halbgar?

Pfundner: Die Pharmastrategie ist für mich ein Beispiel für aktive Industriepolitik der Bundesregierung. Ich begrüße diesen Schritt sehr. Hierfür hat der vom Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Jahr 2022 ins Leben gerufene Roundtable „Gesundheitswirtschaft” eine Schlüsselrolle gespielt und ein wichtiges Fundament gelegt. Die Maßnahmen zum Bürokratieabbau, zur Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten sowie gezielte strukturelle Anreize für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und die Verbesserung der Arzneimittelliefersicherheit sind wichtige Absichtserklärungen, die man in der Strategie wiederfindet. Es kommt nun auf die konkrete Umsetzung und den Willen aller Beteiligter an. Hier dürfen wir keine Zeit verlieren.

Was sehen Sie kritisch?

Pfundner: Die Pläne, die für mich aktuell noch die größten Fragezeichen aufwerfen, betreffen die Überprüfung der AMNOG-Reform in 2024, den Zeitplan dahinter und das Austausch- und Entscheidungsgremium, in dem die Industrie mitgestalten und mitwirken kann.

Was kann Deutschland von anderen Ländern in Sachen gesundheitsindustrieller Standortpolitik lernen?

Pfundner: Weltweit beobachten wir eine Renaissance der „Reindustrialisierung”. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie der Bundesregierung im Sinne einer „modernen” – auch datenbasierten – Reindustrialisierung ein richtiger und notwendiger Weg. Hier können wir durchaus von anderen Ländern lernen, die verstanden haben, dass sich durch verlässliche Rahmenbedingungen und einen heimischen Markt für Innovationen privatwirtschaftlich finanzierte Forschungs- und Produktionskapazitäten in Zukunft weiter ausbauen lassen. Auf der anderen Seite ist die Pharmastrategie der Bundesregierung ein Aktionsplan, der eine große Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland darstellt und bei dem andere Länder aktuell auf uns schauen. Ich freue mich besonders darüber, dass der Dreiklang aus Spitzenforschung, Spitzenversorgung und Spitzenindustrie in der Strategie verankert ist – denn Gesundheitspolitik ist auch Industrie- und Wirtschaftspolitik. Es kommt nun – wie bereits gesagt – auf die Umsetzung an. Nur wenn die Maßnahmen aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vollständig zurückgeführt werden und wir die Zukunftsthemen gemeinsam angehen, können langfristige, privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunft in Deutschland – vor dem Hintergrund des internationalen Standortwettbewerbs – stattfinden.

 

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Zur Person
Dr. Hagen Pfundner, Vorstandsvorsitzender der Roche Pharma AG, hat einige Pflöcke für die industrielle Gesundheitswirtschaft eingeschlagen. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender des Pharmaverbandes vfa. Er hat daran mitgewirkt, die Branche auch im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sichtbar zu machen. Aus dem anfänglichen Ausschuss für Gesundheitswirtschaft wurde mittlerweile eine Abteilung. Der promovierte Pharmazeut ist zudem als Honorarprofessor an der Uni Freiburg tätig.    © pag, Fiolka

Aufholjagd Medizinforschung

Pharmastrategie soll Reindustriealisierung vorantreiben

Berlin (pag) – Ein Thema hat in 2023 Karriere gemacht: die hiesige Gesundheitswirtschaft und -forschung. Der Industrie zufolge fällt Deutschland aufgrund bürokratischer Hürden immer weiter zurück. Die Politik hat diese Klagen lange ignoriert, doch die Folgen – nicht zuletzt für die medizinische Versorgung – lassen sich nicht länger ignorieren. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach präsentiert deshalb eine Pharmastrategie und kündigt eine „Aufholjagd“ an.

Als im Februar vergangenen Jahres der Fortschrittsdialog „Gesunde Industriepolitik“ in Berlin startet, steht das Thema auf der politischen Agenda nicht besonders weit oben. Mehrere Pharmaunternehmen haben daher mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) eine deutschlandweite Veranstaltungsreihe initiiert, um die Zusammenhänge zwischen gesunden industriepolitischen Rahmenbedingungen und medizinischer Versorgung darzustellen. Schirmherrin und SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Katzmarek räumt bei der Auftaktveranstaltung ein, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft oft unter den Tisch falle. Bei einer Stärkung des Wirtschaftszweigs solle man sich nicht in Klein-Klein-Debatten verlieren. Es gelte die großen Herausforderungen wie Fachkräftemangel, Digitalisierung und Versorgungssicherheit anzugehen.

Es wackelt

Michael Vassiliadis © pag, Fiolka

IGBCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis sieht die Industriepolitik unter Druck: „Was uns 15, 20 Jahre erfolgreich gemacht hat, wackelt.“ Deutschland habe großes Potenzial für innovative Therapien und gute Versorgung bei Krankheiten, für Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze. Für den Gewerkschaftschef ist die Gesundheitswirtschaft nicht Kostenfaktor und Problem, sondern ein Lieferant für Lösungen. Konkrete Zahlen nennt bei dem Termin Dr. Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG: Die Bruttowertschöpfung der Branche in 2021 beziffert er auf 165 Milliarden Euro. Die Reinvestitionsrate der industriellen Gesundheitswirtschaft betrage 16 Prozent – ein Wert, den kaum ein anderer Industriezweig erreiche. Pfundner zufolge haben die Arzneimittelhersteller „null Interesse“ daran, das Sozialsystem zu überfordern. Auf der anderen Seite führe eine Billig-Mentalität zu Engpässen. Und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) mache es den Unternehmen schwer, Innovationen zu entwickeln.
Eben dieses Gesetz, das unter anderem die Regeln des AMNOG-Verfahrens verschärft, macht Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck dafür mitverantwortlich, den Dialog mit der Pharmaindustrie zu Beginn verstolpert zu haben. Dieser habe angesichts des GKV-FinStG unter negativen Vorzeichen begonnen, so der Grünen-Politiker im Mai bei einer Veranstaltung des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller. Dort präsentiert er sich als Gesundheitswirtschaftsminister und unterstreicht: „Ohne funktionierende Gesundheitswirtschaft wären wir nicht das Land, das wir sind.“

Die fette Ente

Der Minister spricht von einem strategischen Interesse an deutschen und europäischen Standorten, um nicht von Lieferketten und „wildgewordenen Diktatoren“ abhängig zu sein. Deutschland müsse daher dafür sorgen, dass ein großer Teil der strategischen Investitionen hierzulande passieren.

Dr. Robert Habeck © pag, Fiolka

Umso mehr kränkt es Habeck nach eigener Aussage intellektuell, dass heimische Firmen auf einmal im Ausland investieren, „weil wir zu viele Datenschützerinnen und Datenschützer haben“. Der Datenschutz an sich sei nicht das Problem, aber der Umstand, dass es in jedem Bundesland eine eigene Regelung dazu gibt, betont Habeck. Er stellt schlankere und schnellere Verfahren in Aussicht, „denn jetzt wird die Ente fett“.

Das Ziel: Reindustrialisierung

In den folgenden Wochen und Monaten kursieren in Fachkreisen verschiedene Entwürfe einer Pharmastrategie der Bundesregierung. Am 1. Dezember, schließlich stellt Lauterbach die 14-seitige Pharmastrategie 7.0 der Presse vor. Einen Tag zuvor hat im Kanzleramt ein Pharmagipfel stattgefunden. Darüber verliert der Gesundheitsminister zwar keine Worte, aber mit Blick auf den Pharmastandort Deutschland konstatiert er, dass man an Konkurrenzfähigkeit verloren habe. Wie schon bei den Digitalgesetzen bemüht er das Bild einer „Aufholjagd“ und kündigt an: „Die Hausaufgaben müssen gemacht werden.“
Eine zentrale Rolle in der Strategie, die wenige Wochen später vom Kabinett verabschiedet wird, spielt das geplante Medizinforschungsgesetz. Dabei geht es um zweierlei, so Lauterbach: „Dort, wo geforscht wird, findet nachher auch die Produktion statt.“ Das geplante Gesetz soll daher nicht nur die Voraussetzungen für die Forschung, sondern auch für die pharmazeutische Produktion verbessern. Letzteres sei ein energiearmer, aber auch innovationsreicher Bereich, führt der Minister aus, der eine „Reindustrialisierung“ vorantreiben will.

Prof. Karl Lauterbach © pag, Fiolka

Das Gesetz adressiert als zentrales Problem die langwierigen und teuren Genehmigungsverfahren für klinische Studien/Prüfungen. Bei der Zahl der Studien pro Kopf ist Deutschland zurückgefallen. Hierzulande werde zwar viel Grundlagenforschung betrieben, daraus resultierten aber wenig Patente und noch weniger Produktion, betont Lauterbach. Mit Großbritannien sei man bei der Grundlagenforschung gleichauf, im Königreich gingen daraus jedoch zehnmal mehr Patente und zwanzigmal so viele Produktionsansiedlungen hervor. „Dieses Problem wollen wir ganz konkret angehen.“

Mehr Tempo

Das geplante Medizinforschungsgesetz sieht unter anderem eine koordinierende Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für klinische Studien vor. Das BfArM soll künftig die Koordinierung und das Verfahrensmanagement für Zulassungsverfahren und Anträge zu klinischen Prüfungen für alle Arzneimittel, ausgenommen Impfstoffe und Blutprodukte, übernehmen. Das Institut wird zentraler Ansprechpartner für die pharmazeutischen Unternehmen, ist verantwortlich für administrative Prozesse und koordiniert die Verfahren Ethikvotum, Strahlenschutzprüfung, die Schnittstelle zum Forschungsdatenzentrum und weitere Prozesse. Lauterbach erwartet von dieser Reform eine „dramatische Beschleunigung“ der Verfahren. Der seit Ende Januar vorliegende Referentenentwurf sieht außerdem vertrauliche Erstattungsbeträge vor – die Kassen sind davon erwartbar nicht begeistert.
Im Rahmen der Strategie sollen noch weitere Gesetze auf den Weg gebracht werden. Spannend ist in dieser Hinsicht insbesondere das Kapitel sieben der Strategie „GKV-Finanzstabilität; hier: Arzneimittelversorgung“. Dort wird eine erneute Evaluation der AMNOG-Reform, dieses Mal von externer Seite, angekündigt. Auch soll die Finanzierung der GKV künftig ohne weitere Erhöhungen der Herstellerabschläge sichergestellt werden. 

Fortschritt mit Hindernissen

Warum Gen- und Zelltherapien das System herausfordern

Berlin (pag) – Zell- und Gentherapien nach der AMNOG-Reform – bremst Deutschland Zukunftstechnologien aus? Diese Frage diskutieren Politiker, Ärzte, Gesundheitsökonomen und Industrievertreter bei einer Veranstaltung des LAWG, einem Zusammenschluss mehrerer Pharmaunternehmen. Dabei kommen verschiedene Probleme beim Umgang mit Innovationen zur Sprache. Dazu zählen eine überbordende Regulatorik bei der Genehmigung klinischer Studien sowie Zuweisungsschwierigkeiten auf ärztlicher Ebene.

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Thomas Stranzl, Spezialist für Zell- und Gentherapien bei Gilead Sciences und Mitglied der Geschäftsführung in Deutschland, weist in seiner Begrüßung auf die stetig steigenden Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, kurz ATMP) hin. Diese hätten zu bahnbrechenden Erkenntnissen geführt. „Sie haben nicht nur das Potenzial, die medizinische Praxis zu revolutionieren, sondern können auch erhebliche wissenschaftliche und wirtschaftliche Impulse für den Standort Deutschland geben.“ Dafür, stellt Stranzl klar, bedürfe es angemessener politischer und regulatorischer Rahmenbedingungen. Das AMNOG-Verfahren sei jedoch mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) grundlegend verändert worden.

Dass einige dieser Änderungen nach der Evaluation noch zurückgenommen werden, will Gabriele Katzmarek zumindest nicht ganz ausschließen. In ihrem Grußwort unterstreicht die SPD-Bundestagsabgeordnete nachdrücklich die Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft und deren starkes Potenzial an Forschung und Entwicklung. Für Katzmarek handelt es sich um eine der Leitindustrien Deutschlands, die jedoch mehr Aufmerksamkeit und Förderung benötige. „Das ist wichtig für die Menschen, die Arbeitsplätze, für Fortschritt und Zukunft und für den Wirtschaftsstandort Deutschland“, sagt sie.

 

Aufklärungsarbeit nötig

Prof. Marion Subklewe © LMU Klinikum Pressestelle

Nach Einschätzung der Politikerin sind Gen- und Zelltherapien hierzulande noch zu wenig bekannt. Wichtig sei daher mehr Aufklärung, um Vorbehalte abzubauen und Akzeptanz zu gewinnen. Aufklärungsarbeit aus klinischer Perspektive leistet direkt im Anschluss Prof. Marion Subklewe, Oberärztin am LMU Klinikum München, mit ihrem Vortrag zur CAR-T-Zelltherapie. Diese neue Therapieform sei in Europa seit 2018 zugelassen und werde mittlerweile hauptsächlich beim Lymphdrüsenkrebs eingesetzt. Einer Studie zufolge konnten damit fünf von zehn Patienten geheilt werden, berichtet die Leiterin der Arbeitsgruppe für „Translational Cancer Immunology“. Dagegen hätten mit einer herkömmlichen Chemotherapie nur sieben Prozent der Patienten eine langfristige Remission erreicht. Eine weitere wichtige Indikation für die CAR-T-Zelltherapie ist laut Subklewe das Multiple Myelom. Dort sehe man zwar aktuell noch keine Heilung, die neuartige Therapie werde daher erst in der vierten Therapielinie eingesetzt. Für Patienten sei die Behandlung dennoch mit deutlichen Vorteilen verbunden: Anstelle einer dauerhaften Chemobehandlung bekommen sie eine einmalige Therapie. Zwei Wochen später könnten sie das Krankenhaus verlassen. „Das bedeutet für die Betroffenen einen unglaublichen Mehrwert in der Lebensqualität“, sagt die Ärztin.

Vielversprechende Ergebnisse

Mittlerweile, berichtet Subklewe weiter, werde die CAR-T-Zellbehandlung auch außerhalb der Onkologie eingesetzt. Eine weltweite Premiere fand in Erlangen statt, wo 20 Patienten mit schweren Autoimmunerkrankungen damit behandelt wurden. Von Heilung mag sie noch nicht sprechen, aber die Betroffenen sind bereits seit zwei Jahren ohne Krankheitssymptome – für die Medizinerin sind das „unglaublich vielversprechende Ergebnisse“.

Für die Zukunft sagt sie eine immer stärker individualisierte Therapieauswahl für Krebspatienten voraus. „Ich glaube, dass die Zelltherapie die absolute Zukunft ist.“ Von konventionellen Chemotherapien werde man sich zunehmend entfernen, weil die Immuntherapie das Potenzial habe, den Krebs nicht nur wegzudrängen, sondern zu heilen. Neben der Onkologie hält sie den Einsatz bei verschiedenen Krankheiten für möglich und nennt neben Autoimmunerkrankungen auch Infektionen und kardiovaskuläre Erkrankungen. „Wir stehen erst am Anfang.“

Anders als die anderen

Diesen hoffnungsvollen Perspektiven stehen enorme Schwierigkeiten in der Forschung hierzulande gegenüber. Subklewe zufolge sind bei CAR-T-Zellstudien die USA und Kanada führend. Auch China sei sehr aktiv, Europa hinke etwas hinterher. In Deutschland liefen aktuell 19 derartige Studien. Als problematisch nimmt die Klinikerin hierzulande insbesondere die überbordende Regulatorik wahr, mit der man bei Investigator Initiated Trials (IIT) konfrontiert sei. Sie berichtet von Sicherheitsanforderungen, die sich weit jenseits vom Common Sense bewegten und in anderen Ländern absolut unüblich seien. Unüblich seien auch die langen Wartezeiten, die man für eine Antwort der deutschen Behörden einplanen müsse. „Wir sind anders als die anderen Länder“, bringt es die Forscherin etwas resigniert auf den Punkt.

Auch in der Versorgung knirscht es Subklewe zufolge noch. Die Zentren seien immer noch darauf angewiesen, dass die Niedergelassenen die Indikation zur CAR-T-Zelltherapie stellen und ihre Patienten überweisen. Im Raum München klappt das offenbar mit recht unterschiedlichem Erfolg. „Wir haben Praxen, die viel überweisen, und es gibt Praxen, die in den vergangenen vier Jahren keinen einzigen Patienten überwiesen haben.“ Subklewe verlangt daher eine verbindliche Indikations-stellung sowie geordnete Strukturen, damit jeder Patient die bestmögliche Therapie erhält.

Neue Medikamente ausgebremst?

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Die Patientenperspektive stellt auf der Veranstaltung Ulla Ohlms dar, die sich begeistert von den Fortschritten der Krebsforschung und -therapie der letzten Jahre zeigt. Positiv erwähnt sie auch Initiativen wie die Dekade gegen Krebs und das Memorandum zur Errichtung eines Zentrums für Gen- und Zelltherapie in Berlin. Anpassungsbedarf sieht die Vorstandsvorsitzende der Patients‘ Tumorbank of Hope (PATH) dagegen beim AMNOG-Verfahren. Es könne nicht sein, dass ein staatliches Regulatorium den Einsatz von neuen Medikamenten „ausbremst“, kritisiert sie mit Blick auf die kürzlich erfolgte Marktrücknahme des Lungenkrebsmedikamentes Capmatinib. „Mich hat der Aufschrei der Lungenkrebspatienten erreicht“, berichtet die ehemalige Brustkrebspatientin. Das Verfahren müsse so modernisiert werden, dass es auch für neuartige Therapien und einarmige Studien passe. Neue Arzneimittel benötigten möglicherweise auch Sprunginnovationen bei den Regularien, gibt die Patientenvertreterin zu bedenken.

„Eher dogmatisch als pragmatisch zu agieren, ist nicht der richtige Weg“, findet auch Stranzl von Gilead. Beim AMNOG hätten sich Flexibilität und Offenheit bewährt, das sollte bei den Gen- und Zelltherapien weitergeführt werden.

Die aktuellen AMNOG-Reformen des GKV-FinStG sieht der Gesundheitsökonom Prof. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, kritisch. Ausdrücklich nennt er die Absenkung der Umsatzschwelle bei den Orphan Drugs von 50 Millionen Euro Jahresumsatz auf 30 Millionen. Auch mit den sogenannten Leitplanken für die Preisverhandlungen hat er Probleme und bringt dafür eine Soll-Regelung ist Spiel.

Wie G-BA und IGWiG „die Kurve bekommen“

Breiten Raum nimmt bei der Diskussion die Frage ein, wie mit einarmigen Studien in der Nutzenbewertung umgegangen werden soll. Wasem spricht sich dagegen aus, Gen- und Zelltherapien einen Freischein auszustellen und bei ihnen grundsätzlich Randomisierte kontrollierte Studien (Randomized controlled Trials, RCT) auszuschließen – das sei nicht sinnvoll, zumal diese Therapien inzwischen auch bei größeren Indikationen auf dem Vormarsch seien. „Dort, wo es ethisch vertretbar und technisch möglich ist, sollte randomisiert werden“, stellt er klar. Die Nicht-Randomisierung könne jedoch in spezifischen Konstellationen sinnvoll sein. Das müsse von G-BA und IQWiG akzeptiert werden.

Dass die beiden Institutionen von allein „die Kurve bekommen“, glaubt der ehemalige Vorsitzende der AMNOG-Schiedsstelle jedoch nicht. Er verweist darauf, dass es in der Verfahrensordnung des G-BA bereits angelegt sei, eine niedrigere Evidenzstufe zu akzeptieren, wenn keine RCT vorliegt. Faktisch werde das jedoch nicht gelebt. Der Gesundheitsminister ist nach Wasems Einschätzung für dieses Problem nicht die richtige Anlaufstelle. Er bringt stattdessen eine politische Positionierung des Parlaments in Bezug auf die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung ins Spiel. Dem widerspricht allerdings Michael Hennrich, ehemaliger Bundestagsabgeordnete und mittlerweile Geschäftsführer Politik beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller. Die Verordnung sei Sache des Ministers, das könnte schwierig werden, urteilt er.

Nach Auffassung des Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe kann die Politik nur die Rahmenbedingungen festlegen. Das konstatiert der CDU-Politiker sowohl mit Blick auf Nutzenbewertung als auch auf die behördlichen Genehmigungsverfahren von klinischen Studien. „Wir können nicht den letzten Beamten überzeugen.“ Andernfalls werde zu viel Bürokratie erzeugt, argumentiert Hüppe. Ein Anliegen ist es ihm auch – angesichts der in den USA üppiger fließenden Forschungsgeldern – festzuhalten, dass dort nur ein kleiner Teil der Patienten Zugang zu den neu entwickelten Therapien erhalte. Anders in Deutschland. Dieses System gilt es zu halten, appelliert er.

 

@ pag, Fiolka

ATMP – Zulassungen und Jahrestherapiekosten
In seinem Vortrag stellt Dr. Norbert Gerbsch von IGES Institut die Zulassungsdynamik der ATMP in Europa dar. Ab 2016 sei eine deutliche Zunahme der Gentherapeutika zu verzeichnen. Derzeit gebe es 25 ATMP-Zulassungen, wovon sieben zurückgenommen worden seien. Unter den verbliebenen 18 befänden sich 15 Orphan Drugs. Gerbsch hebt hervor, dass es sich um Therapien handele, die häufig nur einmal verabreicht werden. Sie hätten das Potenzial, eine Dauermedikation zu ersetzen. Bei Arzneimitteln sei man bislang daran gewöhnt, auf die Jahrestherapiekosten zu schauen. Bei den ATMPs gelte es jedoch, genau die Einzelfallkonstellation zu berücksichtigen, appelliert Gerbsch. Wasem zufolge wird das Problem der Bepreisung von Einmaltherapien konzeptionell derzeit dadurch gelöst, dass die Jahrestherapiekosten der Vergleichstherapie über mehrere Jahre zugrunde gelegt werden. „Das bewirkt aber eine ganz starke Abhängigkeit von den erzielbaren Preisen des Komperators“, führt der Gesundheitsökonom aus. Werde die neue Therapie in einer Indikation mit einem billigen Versorgungsstandard gelauncht, komme man mit diesem Konzept nicht zurecht.
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