Berlin (pag) – Beim Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) diskutieren Expertinnen über „Gesunde Algorithmen – Frauen und künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen“. Sie vermissen eine gendergerechte Versorgung und kritisieren eine „Statistik von Stereotypen“.
Künstliche Intelligenz (KI) weckt dem Institut zufolge „große Hoffnungen auf wegweisende Fortschritte für Therapie und Diagnostik, aber auch erhebliche Bedenken über Risiken und Nebenwirkungen“. Datensätze, Modelle und Algorithmen seien oft voreingenommen und berücksichtigten unter anderem Frauen nicht ausreichend. Dadurch verstärkten sich bestehende Ungleichheiten, vergangene und gegenwärtige Vorurteile würden in die Zukunft projiziert – mit Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden von Frauen. Auch in der Entwicklung und Programmierung von KI seien Frauen massiv unterrepräsentiert, dadurch fehlten die notwendigen vielfältigen Perspektiven.
Blinder Fleck der KI-Forschung
Brigitte Strahwald vom Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München warnt, dass Probleme mit der Datenbasis und einem Genderbias bei der KI nicht außer Acht gelassen werden dürften. „Bestimmte Begriffe werden Männern zugeordnet“, sagt sie. Der Bias sei aber auch im echten Leben da und kein KI-spezifisches Problem. „Wir wissen nicht, ob KI diesen Bias verstärkt. Es ist ein blinder Fleck in der KI-Forschung“.
Ein aufschlussreiches Beispiel für solch einen Bias nennt Prof. Sabine Oertelt Prigione von der Gendermedicine Unit an der Radboud Universität in Nijmegen: Bei der Beschreibung der gleichen Symptome während eines Chats in einer Gesundheits-App wurde Männern geraten, in die Notaufnahme zu gehen – bei Frauen wurde eine Panikattacke oder Depression vermutet. KI sei in diesem Fall eine „Statistik von Stereotypen“.
Maria Klein-Schmeink, Grünen-Bundestagsabgeordnete und gesundheitspolitische Sprecherin, begrüßt bei der BIH-Veranstaltung ausdrücklich die Initiative der Spitzenfrauen Gesundheit. Diese kämpften dagegen, dass Frauen in fast allen Entscheidungsgremien des Gesundheitssystems und in allen Formen der Selbstverwaltung „im Grunde nicht oder spärlich vorkommen“. Es müsse sich etwas verändern, appelliert die Politikerin, die Versorgung sei an dieser Stelle eine Fehlversorgung, „weil sie nicht gendergerecht ist“. Patienten seien Objekt einer stark männlich geprägten Versorgungs- und Selbstverwaltungslandschaft.
Frauen im Gesundheitswesen – auf dem Weg an die Spitze
Berlin (pag) – Talentierte und hochqualifizierte Frauen gibt es reichlich im Gesundheitswesen. Bei ihrem Spitzentreffen, das kürzlich in der Bremer Landesvertretung stattgefunden hat, wird der anstehende Kulturwandel für Institutionen im Gesundheitswesen greifbar. Mit der männlichen Dominanz in Führungsgremien wollen sie sich nicht länger abfinden.
Noch immer ist die Auffassung weit verbreitet, dass die fehlende Geschlechterparität in den Führungsspitzen vorrangig ein Frauenproblem(chen) darstellt und weniger ein gesellschaftliches oder gar ein wirtschaftliches. Daran dürften auch die zahlreichen Schlagzeilen zum internationalen Frauentag nur wenig geändert haben. Dabei ist es kein Wunschdenken ambitionierter Managerinnen, dass ein weiblicher Führungsstil zu größeren und langfristigeren Erfolgen führt. Mehrere Studien haben dies mittlerweile nachgewiesen (Links am Ende des Beitrags). Mit dieser Art der Evidenzbasierung tut man sich im deutschen Gesundheitswesen aber offenbar schwer. Dort sind Frauen zwar überproportional die Leistungsträgerinnen, bis auf eine Ebene – „die dort oben“. So drückt es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn aus, einer der wenigen Männer beim Spitzentreffen.
Viele Teilnehmerinnen – egal ob Ärztin, Kassenmanagerin oder Politikerin – haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Sie müssen sich in reinen Männerrunden behaupten, in denen sie oft als Störfaktor wahrgenommen werden. Sie spüren die gläserne Decke, „die oftmals betondick ist“, wie es die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther auf den Punkt bringt. Sie werden mit Sprüchen, dass das System für intelligente Frauen noch nicht bereit sei, konfrontiert. Ihre Kompetenz wird auf der Visite vom Chefarzt offen hinterfragt.
Dass Spahn Änderungsbedarf erkennt, daran lässt er bei dem Treffen keinen Zweifel. In seiner Rede spricht der Minister Rahmenbedingungen an, die zu verbessern seien: Arbeitszeiten müssten familienfreundlicher gestaltet werden, eine bessere Planbarkeit der Berufe sei wichtig, ebenso sollte mobiles Arbeiten ermöglicht werden – Vertrauenskultur statt Präsenzlogik. Das klingt erst einmal gut, doch welche Wirkung solche Instrumente tatsächlich entfachen, steht auf einem anderen Blatt. Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat gerade erst gezeigt, dass Mütter und Väter durchweg mehr arbeiten, wenn sie Homeoffice machen oder ihre Arbeitszeit selbst bestimmen können. Mehr Zeit für Kinderbetreuung wenden hingegen nur die Frauen auf.
Für Spahn gehört auch die Altersdurchmischung zum Thema, eine ausgewogenere und abwechslungsreichere Besetzung von Gremien wünscht er sich ausdrücklich. Nicht zufällig kommt der Politiker in diesem Zusammenhang auf den GKV-Verwaltungsrat zu sprechen. Für diesen kann er sich sogar eine Frauenquote vorstellen, obwohl er grundsätzlich kein „allzu großer Fan“ davon sei. Tatsächlich taucht einige Wochen später ein entsprechender Passus im Entwurf des Faire-Kassenwahl-Gesetzes auf. Findet ein Umdenken statt? Bisher hat die Regierung ihre Steuerungsmöglichkeiten in diese Richtung nämlich nicht genutzt. Dabei sind die meisten Organisationen der sozialen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen als Körperschaften des öffentlichen Rechts Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Sie unterliegen, soweit sie bundesunmittelbar agieren, der Aufsicht der Bundesregierung beziehungsweise einer obersten Bundesbehörde.
„Ich plädiere für Tempo“, sagt deshalb Ulrike Ley, die Frauen in medizinischen Führungspositionen coacht. Hierzulande seien nur zehn Prozent solcher Positionen weiblich besetzt. Diese Zahl bewege sich nur sehr, sehr langsam nach oben. Wenn es im bekannten Tempo weitergehe, rechnet Ley vor, sei im Jahr 2276 die Gleichberechtigung vollzogen – „258 Jahre Wartezeit“. Hoffnungsvoll stimme dagegen, dass mittlerweile 30 Prozent Oberärztinnen sind. Darin stecke das Potenzial für Spitzenpositionen und die Chance, alte Machtverhältnisse zu kippen.
Die Autorin spricht in ihrem Vortrag über Karrierehürden für Frauen. Das größte Hindernis: männliche Dominanz am Arbeitsplatz. Das System sei von Männern geprägt. Frauen, die in Führung gehen wollten, passten dort nicht hinein. Sie werden unterschätzt, als Störung und als anstrengend wahrgenommen. „Mann zu sein ist in der Medizin noch immer die günstigste Aufstiegsprognose.“ Ley berichtet exemplarisch von einer Ärztin, die am ersten Tag nach der Elternzeit erfuhr, dass die ihr zugesagte Stelle der leitenden Oberärztin an einen männlichen Kollegen vergeben wurde. Zudem musste sie ihrem Chef voroperieren, der mutmaßte, sie habe das inzwischen verlernt. Die Medizinerin zog daraus die Konsequenz und kündigte – ein Verlust für alle, meint Ley: Die Ärztin habe ihre Karriere an der Uniklinik verloren, das Krankenhaus wiederum ihre Expertise, die Stelle konnte lange Zeit nicht nachbesetzt werden.
Der Thomas-Kreislauf
Männliche Dominanz in Führungsgremien wird durch den Thomas-Kreislauf konserviert. Dieser besagt, dass Menschen immer jene Menschen fördern, die ihnen ähnlich sind. „Thomas fördert Thomas, Klaus fördert Klaus, aber Klaus fördert eben nicht Marie“, erläutert Gesine Agena, frauenpolitische Sprecherin der Grünen, den Mechanismus auf der Veranstaltung. Einer Erhebung zufolge gab es seit der Wiedervereinigung mehr Staatssekretäre mit dem Vornamen Thomas als Frauen. Eine männliche Monokultur moniert auch ein Bericht der AllBright Stiftung aus dem vergangenen Jahr. Demnach war der Zuwachs an Frauen in den Vorständen der 160 deutschen Börsenunternehmen im Jahr 2017 so gering, dass er in etwa dem gleichzeitigen Zuwachs an Männern entspricht, die Thomas heißen.
Viel wird an dem Abend über geeignete Instrumente debattiert, die Frauen den Weg in Spitzenpositionen ebnen sollen. Die Quote zum Beispiel, von Spahn für den GKV-Verwaltungsrat ins Spiel gebracht. Die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks sagt in der Bremer Landesvertretung selbstbewusst von sich: „Ich bin eine Quotenfrau.“ „Auch ich bin eine Quotenfrau im Vorstand“, meint Karen Walkenhorst, Vorständin der Techniker Krankenkasse. Andere meinen, dass die Quote bereits überholt sei. Sie sei zwar ein wichtiger Katalysator, damit sich fachliche Qualität von Frauen durchsetzen kann. Aber: „Quote war gestern, heute geht es um Parität“, meint etwa Ley.
Der ehemalige Telekom-Manager und Quotenpionier Thomas Sattelberg warnt davor, die Gleichberechtigung auf eine Quote zu reduzieren. „Alleinige Symbolpolitik an der Spitze geht genauso schief wie ausschließlich auf Graswurzelbewegungen von unten zu setzen“, sagt er. Für den FDP-Bundestagsabgeordneten sind Talententwicklung und Besetzungspolitik zwei Seiten der gleichen Medaille.
Rituale des Ehrenamts überdenken
Ein weiterer Impuls von der Veranstaltung: Cornelia Prüfer-Storcks regt an, Rituale beim Ehrenamt zu überdenken, insbesondere Sitzungen straffer zu organisieren. Marathonsitzungen bis in die Nacht wirkten abschreckend auf Frauen, die auch noch einen Großteil des Haushaltes und der Kinderbetreuung stemmen. Die Grünen haben dafür ein interessantes Instrument etabliert, von dem Gesine Agena berichtet: Ist die Redeliste der Frauen erschöpft, wird die Versammlung befragt, ob die Debatte noch weiter fortgesetzt werden soll. Während Männer meist keine Scheu vor Wiederholungen hätten, sei der Umstand, dass sich Frauen nicht mehr zu Wort melden, oft ein Zeichen dafür, dass die Debatte zu Ende geführt wurde, erläutert sie.
Zu hoffen bleibt, dass das deutsche Gesundheitswesen mit seinen vielen, oft endlos erscheinenden Debattenrunden zumindest für eine solche Effizienzmaßnahme bald bereit ist.
DER HERRENCLUB
„Offensichtlich hat sich Schwarz-Rot damit abgefunden, dass die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ein Herrenclub ist.“ Dieses Fazit zieht vor einem Jahr die Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther.
Anlass ist die Antwort der Bundesregierung zum „Frauenanteil in der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“, die aufschlussreiche Zahlen liefert. Zur Erinnerung: Der prozentuale Frauenanteil liegt bei den Krankenkassenbeschäftigten bei rund 70 Prozent. Der prozentuale Frauenanteil in den Vorständen der gesetzlichen Krankenkassen reicht dagegen von 0 Prozent (IKKen) bis hin zu rund 21 Prozent (BKKen). Und: Im Jahr 2016 betrug der Frauenanteil unter den berufstätigen Ärztinnen und Ärzten 46 Prozent. In den Ärztekammern aber erreicht – bis auf Bremen mit 60 Prozent – kein Vorstand einen entsprechenden Frauenanteil. Der Frauenanteil in den Kammerspitzen liegt zwischen neun Prozent in Baden-Württemberg und 30 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern. Als Konsequenz verlangen die Grünen verbindliche Vorgaben bei der Besetzung von Spitzenfunktionen im Gesundheitswesen.
„power of parity“ – Warum Managerinnen bessere Entscheidungen treffen
Schon eine Frau im Top-Management senkt das Risiko einer Insolvenz um 20 Prozent (Wilson, 2009).
Managerinnen stellen mehr Fragen, statt einsame Entscheidungen zu treffen (Konrad, 2008).
Und sie reduzieren die sonst typischen Machtspiele auf der Beletage (Singh, 2008).
McKinsey hat 2015 in der Studie „the power of parity“ ausgerechnet, um wie viel das Bruttoinlandsprodukt bis zum Jahr 2025 höher ausfallen könnte, in Abhängigkeit von den Fortschritten der Gleichberechtigung. Im Idealfall, also wenn Frauen im Arbeitsleben die gleiche Rolle zukommt wie Männern, läge der Zuwachs bei 28 Billionen Dollar. „Der Wert entspricht der heutigen Wirtschaftsleistung der USA und Chinas zusammengerechnet“, fasst es die Süddeutsche Zeitung zusammen. https://www.mckinsey.com/featured-insights/employment-and-growth/how-advancing-womens-equality-can-add-12-trillion-to-global-growth