Berlin (pag) – „Ein inklusives Gesundheitssystem für alle“ lautet der programmatische Titel einer Veranstaltung von gesundheitsziele.de, dem Aktionsbündnis Patientensicherheit sowie der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung. Jürgen Dusel, Behinderten-Beauftragter der Bundesregierung, attestiert dort dem Gesundheitssystem in Sachen Inklusion ein „Qualitätsproblem“ und kritisiert insbesondere die mangelnde Barrierefreiheit von Arztpraxen.
Dusel verlangt von der Regierung, den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag endlich umzusetzen. Damit ist der angekündigte Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen gemeint. Außerdem sollten bestehende Problemlagen nicht auf die „lange Bank“ geschoben werden. Konkret nennt er die Barrierefreiheit von Arztpraxen, die durch eine Änderung im Behindertengleichstellungsgesetz forciert werden soll, und die außerklinische Intensivpflege.
Der Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen erinnert daran, dass Deutschland vor knapp 15 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Diese beschreibe „eigentlich eine Selbstverständlichkeit“ – nämlich, dass Menschen mit Behinderungen im gleichen Maße Zugang zum Gesundheitssystem haben sollen wie Menschen ohne Behinderungen. Dass die Realität hierzulande anders aussieht, zeigt die Begutachtung des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Gerade das Gesundheitssystem musste Dusel zufolge harsche Kritik vom Ausschuss einstecken. Angeprangert wurde die Diskrepanz zwischen guter finanzieller Ausstattung und mangelnder gleichberechtigter Teilhabe.
Kein „nice to have“
Dusel geht davon aus, dass drei Viertel der Praxen nicht barrierefrei sind. Beispiel Gynäkologie: Dem Regierungsbeauftragten zufolge gibt es in Deutschland lediglich zehn Praxen, deren Behandlungssetting barrierefrei ausgestattet ist. Die Folge: Frauen im Rollstuhl nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil. Eine WHO-Studie hat ermittelt, dass Menschen mit Behinderungen weltweit eine 20 Jahre geringe Lebenserwartung haben – und zwar nicht aufgrund ihrer Behinderung, sondern aufgrund von Zugangsbarrieren zum Gesundheitswesen. „Diesen Zustand können wir nicht akzeptieren und nicht tolerieren“, appelliert Dusel. Es gehe bei Teilhabe nicht um ein „nice to have, sondern um die Umsetzung von Menschenrechten“. Aufgabe des Staates sei es nicht nur, das Recht zu setzen, sondern auch dafür zu sorgen, dass es bei den Menschen ankommt.
Kritisch fällt auf der Veranstaltung auch die Bilanz von Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt aus. „Passabel“ sei die Inklusion von Menschen mit sensorischer Behinderung wie Blind- oder Taubheit. Etwas besser findet er die Lage bei der Barrierefreiheit, wo Reinhardt eine gewisse Sensibilisierung beobachtet hat. Am allerwenigsten gelinge jedoch die Inklusion im Sinne von selbstständiger Partizipation am Gesundheitswesen von Menschen mit einer Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung. „Da haben wir wirklich noch viel Potenzial und sollten uns mehr Mühe geben“, findet der Mediziner.
Berlin (pag) – Wer sich von seinem Vorgesetzten fair behandelt fühlt, fehlt seltener krank bei der Arbeit. Zu diesem Ergebnis kommt das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) im Fehlzeiten-Report 2020. Die Mitherausgeber sehen Handlungsbedarf.
Im Fokus des Reports steht der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Gesundheit. Dafür befragte das WIdO Anfang des Jahres 2.500 Arbeitnehmer zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz sowie zu gesundheitlichen Beschwerden. Demnach weisen Arbeitnehmer, die ihre Führungskraft als ungerecht empfinden, im Durchschnitt 15 Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr auf. Diejenigen, die ihre Führungskraft als fair einstufen, kommen dagegen lediglich auf 12,7 Tage. Zudem erscheinen erstere häufiger entgegen dem Rat eines Arztes bei der Arbeit. „Gefühlte Ungerechtigkeit bringt dabei insbesondere emotionale Irritationen und psychosomatische Beschwerden mit sich“, erläutert Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO und Mitherausgeber des Fehlzeiten-Reports. Doch auch körperliche Leiden wie Rücken- und Gelenkbeschwerden, Kopfschmerzen, Atemwegserkrankungen und Herz-Kreislauf-Beschwerden treten wesentlich häufiger auf, wenn sich Arbeitnehmer ungerecht behandelt fühlen. „Das war für uns überraschend“, räumt Schröder ein. Im Mittel über alle Beschwerden klagen Arbeitnehmer, die sich von ihrer Führungskraft unfair behandelt fühlen, etwa viermal so oft über gesundheitliche Probleme wie diejenigen, die die Behandlung als fair empfinden.
Für Mitherausgeber Prof. Bernhard Badura, Gesundheitswissenschaftler von der Universität Bielefeld, steht angesichts dieser Ergebnisse fest, „dass wir in Deutschland Dinge grundsätzlich in Zukunft anders machen müssen als bisher“. Badura beklagt vor allem „überkommene Vorstellungen von Führung“ und „Kulturen des Misstrauens und der Angst in Unternehmen“. Dies schade den Beschäftigten und der Volkswirtschaft gleichermaßen. Führungskräfte müssten heute nicht nur über fachliche, sondern vor allem über soziale Kompetenz verfügen.
Tag der Krebs-Selbsthilfe zu den finanziellen Folgen der Krankheit
Berlin (pag) – „Vom Krebs gezeichnet, vom Jobcenter bestraft.“ Die Berliner Boulevardzeitung B.Z. überschreibt so ihren Artikel im Dezember 2018. Es geht um eine junge, alleinerziehende Mutter, die an Brustkrebs erkrankt ist. Schlagzeilen wie diese gibt es immer mal wieder, aber eine systematische Auseinandersetzung mit durch Krankheit verursachte Armut steckt noch in den Anfängen.
Es scheint ein blinder Fleck des hiesigen Gesundheitssystems zu sein, das von Politikern und Funktionären stets als eines der besten der Welt bezeichnet wird: das sehr reale Risiko, durch Krankheit arm zu werden. Dazu gibt es erst einige wenige Studien. Wie der Überschuldungsreport des iff Hamburg von 2018 zeigt, werden rund zehn Prozent der privaten Überschuldungen durch Krankheit verursacht. Für Patienten ist das ein Tabuthema. Scham hindert viele Betroffene daran, offen über ihre finanziellen Probleme zu sprechen. Nach einer potenziell lebensbedrohlichen Diagnose wie Krebs stehen naturgemäß erst einmal Fragen nach Behandlungs- und Therapieansätzen an – es geht darum, ob und wie man wieder gesund wird. Dass längerfristige Erkrankungen aber auch finanzielle Auswirkungen haben können, wird dabei übersehen, schreibt die Felix Burda Stiftung. Gemeinsam mit anderen Partnern unterstützt sie in Not geratene Darmkrebspatienten. Auch der Härtefallfonds der Deutschen Krebshilfe bietet Patienten kurzfristige finanzielle Hilfe.
Hohe finanzielle Belastungen
Studien aus dem Ausland zeigen, dass 28 bis 48 Prozent der Krebspatienten mit einer objektiv hohen finanziellen
Belastung konfrontiert sind. Für Deutschland nennt Prof. Matthias Richter von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter anderem folgende Zahlen: 34 Prozent der Krebspatienten sagen, dass sich ihre finanzielle Lage negativ verändert habe. Circa 20 Prozent der Brustkrebspatienten berichten von finanziellen Schwierigkeiten. Der Medizinsoziologe unterscheidet bei der objektiven finanziellen Belastung zwischen indirekten Kosten (Einkommensverluste), direkten medizinischen Kosten (etwa Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln) und direkten nicht-medizinischen Kosten wie Haushaltskosten und Fahrtkosten. Sein Fazit lautet: Auch in Deutschland kann eine Krebserkrankung erhebliche finanzielle Belastungen für die Patienten bedeuten. „Das Armutsrisiko ist real“, sagt er auf dem Tag der Krebs-Selbsthilfe, der sich diesem Thema kürzlich gewidmet hat. Dort wird auch die Heidelberger Studie „NET and Poverty“ vorgestellt, welche die wirtschaftlichen Auswirkungen von Krebserkrankungen näher analysiert. Dafür wurden Patienten mit neuroendokrinen Tumoren und kolorektalen Karzinomen befragt sowie Daten der Barmer ausgewertet. Demnach sind für die Betroffenen weniger die Zuzahlungen als viel eher die Einkommensverluste gravierend. 81 Prozent der Befragten haben Mehrausgaben, bei drei Viertel von ihnen liegen diese unter 200 Euro. Ein Drittel der Patienten leidet unter Einkommensverlusten, bei 36 Prozent betragen diese über 500 Euro und bei 24 Prozent liegen die Verluste sogar über 1.200 Euro monatlich.
Die Risikogruppen
Das höchste Risiko, in die Armutsfalle zu rutschen, haben jungen Erwachsene, Selbstständige, Familien mit Kindern, Alleinerziehende und Alleinstehende, sagt Rainer Göbel von der Deutschen Leukämie- und Lymphom-Hilfe. Auf dem Selbsthilfe-Tag berichtet er, dass berufliche und finanzielle Sorgen zunehmend den Gesundungsprozess der Patienten belasten. Folglich hat sich auch der Beratungs- und Unterstützungsbedarf der Betroffenen verändert – „weg von den krankheitsbezogenen Fragen, die früher im Vordergrund standen, hin zum Finanziellen.“ Studien zeigen, dass ein Drittel der Krebspatienten nach der Therapie nicht mehr arbeitet. Göbel weist darauf hin, dass es dafür auch systembedingte Gründe gibt (siehe Infokasten). Ein wichtiges Anliegen ist es ihm daher, dass etwa die Hürden für eine Teilerwerbsminderungsrente abgebaut werden. Im Vergleich zur Vollerwerbsminderungsrente mit 21.245 Empfängern beziehe diese nur ein „verschwindend geringer Teil, nämlich 1.056 Personen (Quelle: DRV Bund, 2016). Viel Potenzial sieht der Patientenvertreter in diesem Segment.
STUDIE KREBS UND ARMUT
Die aktuelle Studie „Krebs und Armut“, für die Patienten befragt und Daten der AOK Nordost ausgewertet wurden, ermittelt Gründe für die Veränderung der Erwerbstätigkeit von Betroffenen. .
Die Interviewten nennen:
• Leistungsfähigkeit durch Erkrankung/Therapie eingeschränkt: 79 %
• keine Anpassung der Arbeitsbedingungen möglich: 23 %
• andere Schwerpunktsetzung im Leben: 17 %
• keine Beratung zur beruflichen Perspektive und Wiedereingliederung: 10 %
• keine schrittweise Wiederaufnahme der Tätigkeit möglich: 9 % .
Mehr zur Studie: http://www.ash-berlin.eu/forschung/forschungsprojekte-a-z/kua/
„Die Verfahren sind an den Rechtswegen vorbei“
Auch Jürgen Walther vom Sozialdienst des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen Heidelberg geht es um die Stellschrauben im System, die verändert werden müssen. Davon nennt er in seinem Vortrag mehrere. Adressaten sind die Krankenkassen: Diese forderten, gerade in der Onkologie, viel zu früh zur Reha auf. Den Gutachten fehle die Sorgfalt. Und: „Die Verfahren sind an den Rechtswegen vorbei.“ Als Beispiele nennt Walther Einschränkungen der Zehn-Wochen-Frist. Diese Frist können nach Paragraf 51 Sozialgesetzbuch V Kassen setzen. Innerhalb des Zeitraumes haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Reha und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. In seiner Beratungspraxis hat der Sozialdienstleiter aber oft erlebt, dass Kassen die zehn Wochen auf drei verkürzen. Ferner gibt es Fälle, in denen sie auf eine Rechtsbehelfsbelehrung verzichten, „das heißt, sie lassen das Widerspruchsrecht auströpfeln“. Walter verweist auf ein Rundschreiben des Bundesversicherungsamts, in dem diese Praxis gerügt werde. Das bedeute, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Hinter diesen Verfahren stecke Systematik, glaubt er. Als Folge werde das Vertrauen der Patienten in diese Institutionen zerstört. „Ökonomische Interessen dürfen nicht dazu führen, dass mit Menschen so umgegangen wird“ – mit diesem Appell schließt er seinen Bericht aus dem Beratungsalltag.
Was Patienten brauchen
Viele der auf der Tagung besprochenen Probleme hat der Bundesverband Haus der Krebs-Selbsthilfe in einem Forderungskatalog zum Thema Krebs und Armut aufgegriffen. Darin wird unter anderem verlangt, dass der Anspruch auf Krankengeld länger und verlässlicher sein müsse. Die Erwerbsminderungsrente müsse angehoben und leichter zu beziehen sein. Weitere Forderungen betreffen die Themen existenzielle Absicherung, Rehabilitation, Rückkehr in den Beruf, Lotsen sowie Mitsprache. Bei dem Tag der Krebs-Selbsthilfe sind sich alle einig: Das Thema gehört auf die politische Agenda. Umso bitterer, dass nur ein einziger Politiker anwesend ist.
Auf dem Verschiebebahnhof – wie soll man da gesund werden?
Beim Tag der Krebs-Selbsthilfe kommen gleich mehrere Betroffene zu Wort. Den Anfang macht Manfred Schmidt*, der einen Verschiebebahnhof zwischen Krankenkasse, Arbeitsagentur und Rentenversicherungsträger erlebte: „Keiner fühlte sich zuständig.“ Obgleich er sich als Kämpfernatur beschreibt, haben ihn die ständigen Auseinandersetzungen mit Behörden zermürbt. „Man fällt in ein tiefes Loch, wie soll man da gesund werden?“
Keine Hilfe, sondern zusätzliche Schwierigkeiten vom System
Ähnlich drückt es die Brustkrebspatientin Sabine Gabert* aus. Sie kritisiert: „Das System, das mir helfen soll, bereitet mir zusätzliche Schwierigkeiten.“ Sie fühlte sich beispielsweise von ihrer Krankenkasse unter Druck gesetzt, die sie noch während der Chemotherapie mehrfach zu einer Reha aufforderte. „Dabei wollte ich erst einmal mein Leben auf die Reihe bekommen und arbeiten gehen“, erläutert Gabert.
Bürokratisch die Hosen herunterlassen
„Man wird medizinisch ausgezogen und dann muss man auch noch bürokratisch die Hosen herunterlassen“, sagt Brustkrebspatienten Yvonne Schubert*. Die junge Frau musste zwischenzeitlich mit extrem wenig Geld auskommen, lebte ein halbes Jahr von Spendengeldern. Allgegenwärtig ist die Angst, dass das Geld nicht reicht. Kleine Extras, um auf andere Gedanken zu kommen – etwa ins Café zu gehen – sind nicht drin. „Alles, was einem gut täte, fällt weg“. Hinzu kommt ein Gefühl der Isolation.
Auf der vermeintlich sicheren Seite
Auf der Veranstaltung wird deutlich, dass auch Patienten, die sich finanziell auf der sicheren Seite wähnten, in Folge einer Krebserkrankung in finanzielle Bedrängnis geraten können. Eine von ihnen ist Marlene Ziegler*, Angestellte im Öffentlichen Dienst. „So etwas passiert mir nicht“, habe sie vor ihrer Darmkrebserkrankung gedacht. Doch Zuzahlungen, Fahrtkosten und Co. brachten sie in eine finanzielle Schieflage, in der sie sehr dankbar war für externe Unterstützung.
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert, da die Betroffenen anonym bleiben möchten.
Berlin (pag) – Muss beim Patientenrechtegesetz nachjustiert werden? Darüber debattieren Politiker auf einer Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes. Insbesondere die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für Opfer von Behandlungsfehlern stößt auf parteiübergreifende Zustimmung.
Mit der Idee, einen Härtefall- oder Entschädigungsfonds einzurichten, können sich alle Diskutanten anfreunden. „Es gibt viele Fälle, in denen man einen entstandenen Schaden nicht eindeutig klären kann“, sagt Maria Klein-Schmeink von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mit Mitteln aus einem Fonds könnten Betroffene entschädigt, ein „Gerechtigkeitsgefühl“ hergestellt und die Situation befriedet werden. Die Grünen schlagen eine Orientierung am Modell des Patientenentschädigungsfonds in Österreich vor, der durchschnittlich 7.000 Euro pro Fall auszahle. Diese Zahlen zugrunde gelegt, würden für Deutschland 80 Millionen Euro benötigt, so Klein-Schmeink. Auch Helga Kühn-Mengel, SPD-Bundestagsfraktion, würde einen Fonds begrüßen, der in den Fällen einspringt, bei denen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Kausalität zwischen Schaden und Fehler vermutet, aber nicht zweifelsfrei belegt werden kann. „Die Entschädigungszahlungen sind für viele Menschen dann der Anlass, mit dem Ereignis abzuschließen“, betont sie. CSU-Politiker Reiner Meier hält den Fonds ebenfalls für ein „grundsätzlich richtiges Ziel“, benennt jedoch die offenen Fragen: Soll er von den Leistungserbringern oder durch Steuergelder finanziert werden? Zu welchem Zeitpunkt kommt der Fonds ins Spiel, erst nach einem Klageverfahren oder schon währenddessen?
Auch die Rolle der Krankenkassen bei einem Verdacht auf Behandlungsfehler ist bei der Veranstaltung ein Thema. Die Unterstützung der Versicherten durch ihre Kasse fällt offenbar unterschiedlich intensiv aus. Für eine deutliche Beweislastvereinfachung für die betroffenen Patienten tritt Kathrin Vogler, Bundestagsfraktion Die Linke, ein. „Wir sehen immer wieder Patienten, die trotz eines schweren Fehlers nicht zu ihrem Recht kommen“, sagt sie. Dagegen warnt Vera von Pentz, Richterin am Bundesgerichtshof und stellvertretende Vorsitzende des Arzthaftungssenats, vor unbedachten Reformen. Die Rechtsprechung habe das vom Gesetzgeber in das Patientenrechtegesetz übernommene Haftungssystem in jahrzehntelanger Detailarbeit entwickelt. Das Ziel sei eine ausgewogene Risikoverteilung und ein gerechter Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen von Ärzten und Patienten gewesen. Drehe man an einer Schraube, könne sich das an vielen Stellen auswirken und möglicherweise das gesamte System aus dem Gleichgewicht bringen. Eine auf den ersten Blick für Patienten vorteilhafte Absenkung des Beweismaßes könne sich als Pyrrhussieg darstellen. „Eine Ausweitung der Haftung birgt die Gefahr, dass Ärzte zur Risikominimierung und zur Vermeidung von Haftungsprozessen komplikationsträchtige, aber sinnvolle und erforderliche Behandlungen unterlassen, sich mit Überdiagnostik absichern, neue Wege in der Medizin gar nicht erst beschreiten oder gar den Beruf an den Nagel hängen“, so die Richterin.
Berlin (pag) – „Wir wollen schauen, wie es um die Gerechtigkeit im Gesundheitswesen steht.“ Mit diesen Worten eröffnen die zwei Moderatorinnen, beide Schülerinnen der Berliner Rahel-Hirsch-Schule, eine Veranstaltung mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Die Diskussion ist Teil des gesundheitspolitischen Forums, das das Oberstufenzentrum für Gesundheit/Medizin kürzlich zum ersten Mal veranstaltet hat. Das Thema: „Gerechte Verteilung von Geldern und Ressourcen im Gesundheitswesen?“
Konkrete und verständliche Antworten werden vom Podium gewünscht, machen die Schüler gleich zu Beginn der Debatte klar, an der neben dem Minister auch Sylvia Gabel vom Verband medizinischer Fachberufe, Knut Lambertin, DGB, sowie Werner Mall von der AOK Nord-Ost teilnehmen. Sie stehen Rede und Antwort zu Themen wie Versorgung im Alter und berufliche Aufstiegschancen, die zuvor von den Schülern in Workshops vorbereitet wurden. Zu Beginn geht es um Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten. Die Ungleichbehandlung fange bereits im Wartezimmer an, konstatieren die Moderatorinnen. DGB-Vertreter Lambertin weist allerdings darauf hin, dass es auch bei der Privaten Krankenversicherung Patienten zweiter Klasse gebe – nämlich jene, die im Basistarif seien. „Die Crux ist, dass die ungleiche Vergütung bei den Ärzten der Ausgangspunkt für den ungleichen Zugang zur Gesundheitsbehandlung ist.“ Besonderes Interesse haben die Auszubildenden an Berufsperspektiven und den Aussichten für medizinische Fachberufe. „Aufstiegsfortbildung ist möglich, aber auch immer eine Frage des Geldes“, sagt Sylvia Gäbel. Sie appelliert, diese finanziell besser zu unterstützen. „Wir erfahren durchaus Wertschätzung, aber davon kann ich nicht einkaufen gehen.“ Ein weiteres Thema ist die betriebliche Gesundheitsförderung. Kassenvertreter Werner Mall sieht dort deutlichen Verbesserungsbedarf: „Wir sind weit davon entfernt, dass das Thema Gesundheit bei allen in der Arbeitswelt angekommen ist.“ Insbesondere für Pflegekräfte sei es eine Herausforderung, gesund im Beruf zu bleiben, erläutert er den Schülerinnen und Schülern. Um Pflege geht es auch, als über die Versorgung im Alter diskutiert wird. „In den Heimen müssen sich viel zu wenige Pflegekräfte um viel zu viele Menschen kümmern. Was dürfen wir erwarten, wenn wir alt geworden sind?“, fragen die Schüler. Gröhe glaubt, dass man hierzulande auch in Zukunft eine der leistungsfähigsten Pfleginfrastrukturen haben werde und verweist auf die jüngsten Reformgesetze. Weniger optimistisch klingt er, als er auf Prävention angesprochen wird. Eine gesunde Lebensweise lasse sich eben nicht befehlen. Speziell zum Thema Impfen echauffiert sich der Minister: „Ein deutscher Wissenschaftler bekommt den Nobelpreis dafür, dass er eine Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs entdeckt. Und wir haben eine beschämend niedrige Impfrate bei uns.“